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Hendrik Davids

Deborah

Im Herzen ein Mädchen

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ImPrint eBook, Münster 2018

www.imprint-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Vorrede

Teil I

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Teil II

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Teil III

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Teil IV

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Letztes Kapitel

Schluss

Vorrede

Ein Freund hinterließ mir die folgende Geschichte. Er schrieb, er hätte sonst niemanden, dem er sie hinterlassen wolle. Seine Familie und seine übrigen Freunde hätten keinen Sinn für seine schriftstellerischen Versuche. Und ich wäre schließlich Schriftsteller. Es wäre mir freigestellt, damit so zu verfahren, wie es mir sinnvoll erschiene. Wegwerfen, in der Schublade vergraben oder veröffentlichen, ich sollte tun, was ich für richtig hielte. Ich entschied mich für das Letztgenannte, da in der Erzählung Probleme berührt werden, die gerade in Kreisen der jungen Generation unserer Tage von stetig zunehmender Bedeutung zu sein scheinen.

Teil I

Erstes Kapitel

Ich habe Abschied genommen. Abschied von der Welt der Söhne Adams und einem Lebensweg, der mir vorgezeichnet zu sein schien wie auch meinen Söhnen und Enkeln. Ich habe Abschied genommen. Abschied von einer Welt, die auch die Welt des Krieges, der Geldströme, des erbarmungslosen wirtschaftlichen Wettbewerbs zu sein scheint und immer mehr auch eine Welt ohne Liebe. Ich habe alles hinter mir gelassen und bin bereits auf der Reise, einer Reise ohne Wiederkehr über einen unbekannten Ozean und ohne Gewähr, dass ich je mein Ziel erreiche und das gelobte Land finde, in dem mein Leben besser und glücklicher ist. Ich bin auf der langen und aufregenden Reise von der Welt der Söhne Adams in die Welt der Evastöchter.

Ich bin froh, in eine Epoche hineingeboren zu sein, die Menschen wie mir eine Chance gibt, ihr Leben zu leben, eine kleine Chance nur, aber immerhin eine Chance, wenn auch der Weg steinig ist. Im Mittelalter hätten sie uns auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch noch in unserem Jahrhundert gibt es Reiche des Bösen, in denen wir mit Kerker, Folter und Todesstrafe bedroht werden. Und selbst in unserer modernen westlichen Welt gibt es viele, die uns hassen. Es scheint mir zwei Horrorvorstellungen zu geben, die für viele Männer bestehen. Erstens, entmannt zu werden. Zweitens, dass eine neue Freundin, die einem als die Frau seines Lebens erschien, sich als Tranny entpuppt. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin selbst ein Tranny.

Dabei hat, jedenfalls dem äußeren Anschein nach, mein Leben eigentlich wie das eines ganz normalen Jungen begonnen, nun ja, wie das eines fast normalen Jungen. Mit vier Jahren bekam ich einen Blechpanzer geschenkt. Ich hasste ihn, weil er, mittels einer durch den Schwungradantrieb zum Rotieren gebrachten Reibfläche, Funken sprühte. Ich hatte Angst davor, weil ich immer fürchtete, dass er alles in Brand setzen würde, und verstand nicht, dass mein Vater darüber lachte. Ich wünschte mir eine Puppe, wie meine ältere Schwester sie hatte, und einen Puppenkochherd.

Ja, fast hat es den Anschein, dass mir schon früh in meinem Leben die Welt der Frau näher stand als die des Mannes, wie es mir heute vorkommt. Zu den Sachen, die ich in meinem Leben wie Heiligtümer bewahre, gehört ein von meiner Mama hinterlassenes Photoalbum, dessen vergilbte Bilder sie in jungen Jahren als Model vor der Pyramide des Sonnengotts im fernen Mexiko zeigen und vor dem Colosseum in Rom oder auf der Akropolis. Ich war fasziniert von ihrer Welt. Mein Vater war ein Mensch, der es eher mit der Politik hielt, ohne jemals wirklich in die Politik zu gehen, weil es eine Partei, die für ihn als politische Heimat in Frage gekommen wäre, nicht gab. Er schrieb gelegentlich Briefe an hohe NATO-Politiker. Manchmal kamen freundliche Antworten zurück, was er sehr gerne bei Tischgesprächen erwähnte.

Die familiären Wurzeln meines Vaters führten nach Bern, die meiner Mutter nach Amsterdam und von dort weiter zurück nach Griechenland. Mein Großvater Steinheim war einer der vornehmen alten Kaufleute in der Berner Oberstadt an der Gerechtigkeitsgasse. Ich erinnere mich noch gut an das mittelalterlich anmutende Stadtbild mit seinen grauen steinernen Fassaden und den breiten Arkadengängen. Mein Vater und mein Großpapa verstanden sich nicht besonders, aber mein Vater hütete sich davor, mit ihm zu brechen, weil er wusste, dass mein Opa ihm mal ein gewaltiges Vermögen hinterlassen würde, und so war es dann auch. Seit dem Tag, an dem mein Opa starb, ist mein Vater aus allen finanziellen Sorgen raus und ein reicher Mann.

Ich wuchs auf bei meinem Vater und einer Tante, die ihm den Haushalt führte. Meine Mutter hatte meine Geburt nicht überlebt. Gern sprach mein Vater davon, dass sie ihr Leben gelassen habe, um ihm einen gesunden Stammhalter zu schenken. Nun ja, einen fast gesunden. Ich litt darunter, dass ich einen körperlichen Fehler hatte. Mein linkes Bein war zu kurz. Ich hinkte deswegen. Eine Operation in einer Spezialklinik hätte damals angeblich unsere finanziellen Verhältnisse überstiegen. Man kann es später immer noch machen, wenn er ins Heiratsalter kommt, tröstete man sich. Der Junge ist gehbehindert, na und? Niki ist ein so hübscher Junge, dass er auch so eine Frau finden wird. Die Mädchen meiner Altersgruppe schienen das anders zu sehen. Ein Junge, der gehbehindert war, kam für sie als Freund nicht in Betracht, jedenfalls nicht wenn damit so etwas wie ‚der feste Freund’ eines Mädchens gemeint ist. Ich wurde deswegen viel gehänselt. Und so begann ich schließlich, mich selbst zu hassen. Ich hasste den Körper, in dem ich auf die Welt gekommen war. Ich fand ihn hässlich und abstoßend. Ich hasste alles an ihm, und ich hätte ihn gerne gegen einen anderen getauscht, egal wie.

Ein erstes Erlebnis, bei dem die Welt des Transsexualismus in meinen Gesichtskreis trat, hatte ich, als ich sechs war, wenn es mir auch erst später richtig bewusst wurde, was es bedeutete. Ich hatte einen Onkel, der eine Tischlerwerkstatt betrieb. Er hatte einen neuen Lehrling angestellt. Es war ein hübscher, lustiger Junge mit einem Pferdeschwanz, milchigweißer Haut und schlankem, zierlichem Körperbau, der auf den ersten Blick fast zu zerbrechlich für das Tischlerhandwerk wirkte. Er war ein gewissenhafter Arbeiter, der mit Eifer auch die härtesten Arbeiten auf sich nahm, und alle liebten sein Gitarrenspiel. Zunächst fiel niemandem auf, dass sich nach einigen Monaten eigenartige Veränderungen bei dem jungen Kollegen anzudeuten schienen. Es war, als ob seine Haut noch zarter würde. Es war, als ob ihm ein zarter Busen zu wachsen begann und seine Hüften dabei waren, sich zu Kurven zu runden. Und irgendwann erzählte mein Onkel dann, dass er ihn zur Rede gestellt hätte. Es soll eine harte Aussprache gegeben haben. Wie es scheint, musste der Junge zugeben, bei der Einstellung verschwiegen zu haben, dass er vorhatte, was zu machen, wovon er nach einiger Zeit Brüste und Kurven haben würde. Und dann hörte ich, dass mein Onkel ihn gefeuert hätte. Man hatte den Jungen einfach gefeuert, obwohl er bis zuletzt ein gewissenhafter Arbeiter war.

Zwei Tage später alarmierte ein Schrei das ganze Dorf. Ich spielte zufällig in der Nähe. Und so kam es, dass in der allgemeinen Bestürzung niemand mich aufhielt, als ich, von Neugier getrieben, zur Unglücksstelle rannte. Und da lag er. Unten vor der Hauswand des Hauses, dort, wo er gewohnt hatte, das Dachfenster seines Zimmers stand offen, und die Flügel schlugen im Wind hin und her. Er lag auf dem schmutzigen Pflaster, das mit seinem Blut verschmiert war, sein zierlicher Körper war zerschmettert, sein Pferdeschwanz war von Blut getränkt, und seine Augen waren verdreht und schienen ins Leere zu starren mit einem Blick, der voll Sehnsucht zu sein schien, voll Sehnsucht nach etwas, was unerreichbar war. Und auf einmal fühlte ich eine tiefe Traurigkeit in mir, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich weinte hemmungslos. Und obwohl ich den Jungen kaum gekannt hatte, war mir, als hätte ich einen Bruder verloren.

Aber der Schock war bald überwunden, da das Leben seinen gewohnten Gang ging und überdies nicht lange danach das erste Schuljahr für mich begann. Die Fülle neuer Eindrücke, die mein Kinderkopf kaum zu fassen vermochte, trug dazu bei, dass die Erinnerung an jenes Ereignis allmählich verblasste. Drei Jahre gingen ins Land. Man sprach nie mehr von dem Vorfall, es war, als hätte es den besagten Lehrling nie gegeben.

Und dann hatte ich eines Tages ein eigenartiges Erlebnis. Meine Schwester und ich waren wieder einmal auf Besuch zu unserer Cousine nach Hiltrup gefahren. Sie war ungefähr so alt wie meine Schwester. Es war ein schwüler Sommernachmittag, und wir gingen schwimmen. Auf dem Rückweg vom Hiltruper See wurden wir von einem furchtbaren Platzregen überrascht und waren nach kurzer Zeit bis auf die Haut durchnässt. „Ich kann euch auf keinen Fall so nach Hause fahren lassen, da kann man sich ja eine Lungenentzündung holen“, meinte unsere Cousine. „Ich schlage vor, ihr zieht bei uns die nassen Sachen aus, und ich gebe euch ein paar trockene alte Sachen von mir. Sie werden euch ungefähr passen, und es ist ja nicht für lange.“ Ich bekam einen Mädchenslip, der ihr nicht mehr passte, ein trockenes Baumwollhemd, eine Mädchenjeans und trockene Strümpfe. Als ich mich in das ungewohnte Höschen zwängte und die Jeans darüberzog, stellte ich fest, dass plötzlich ein merkwürdiges Gefühl dabei war, wenn ich daran dachte, was ich nun trug. So war das also, Mädchenkleidung zu tragen. Es war mein erstes Erlebnis dieser Art.

Und dann kam er, der Tag, den ich nicht vergessen werde, jener Tag, mit dem alles richtig begann. Dabei dachte ich mir zunächst nicht viel dabei, als ich im Zimmer meiner Schwester eine Zeitschrift herumliegen sah und in ihr zu blättern begann. Bis ich plötzlich auf ein Bild stieß, das meine Blicke magnetisch anzog. Es war ein Bild, auf dem sich zwei Mädchen zärtlich umarmten, beide halbnackt, wobei raffinierte Teeny-Dessous ihre sich gerade erst entwickelnden jugendlichen Formen mehr offenbarten als verhüllten. Das Bild sprang mir förmlich ins Auge und ließ mich nicht mehr los, und es war mir, als ob mein Herz schneller klopfte.

Und dann verstand ich plötzlich selbst nicht mehr, was ich tat. Es kam mir auf einmal etwas in den Sinn, was mir so verrückt erschien, dass ich dabei anfangs über mich selbst erschrak. Ich musste es einfach tun, ohne dass mir damals recht klar war, warum. Einer spontanen Eingebung folgend, ging ich zum Ankleidespiegel, mit einer mechanischen Bewegung glitten meine Hände an der Brust hinauf, ich streifte mir mein T-Shirt hoch, so dass es knapp unterhalb der Brustwarzen endete und der Stoff dort eine kleine Ausbuchtung hatte, und bog meinen Kopf und Oberkörper zurück, soweit es ging. Ich betrachtete meine Silhouette. Wäre da nicht ein kleiner Unterschied gewesen, hätte man sie mit der langen Mähne, die ich hatte, und dem festen, runden Po fast für die eines noch busenlosen Teeny-Girls mit Jeansfigur und knabenhaftem Hinterteil halten können, auf den ersten Blick jedenfalls. Mit gemischten Gefühlen musterte ich die Konturen. Mir war, als wäre da etwas, was mich plötzlich störte. Ja, das war es, die kleine Ausbeulung unter dem Jeansreißverschluss schien mir nicht ins Bild zu passen, sie passte nicht zu einem Girl. Und für einen Moment hätte ich einiges darum gegeben, mir den ganzen Käse entfernen zu lassen, um einen Körper zu haben, wo, wie mir schien, alles zusammen passte und nichts den harmonischen Verlauf der Linien störte. Ja, ich stellte mir vor, dass es ein herrlich befreites Gefühl sein musste, wenn man knallig enge Jeans tragen konnte, ohne dass sich unförmige Auswüchse darunter abdrückten und einem entgegenquollen.

Und plötzlich hatte ich einen Einfall. Ohne lange nachzudenken, kramte ich aus der Schublade meinen knappsten Slip heraus, schlüpfte hinein und zog ihn stramm, so, dass die Geschlechtsteile nach hinten weggeklemmt waren. Kritisch betrachtete ich das Ergebnis. Es zeichnete sich nun praktisch nichts mehr ab, es gab keine Ausbeulungen mehr, auf den ersten Blick jedenfalls. Aber es fehlte noch etwas, damit ich rundum zufrieden war. Ich schob das Höschen hinten zusammen und klemmte mir alles zwischen die Pobacken, so dass es nun wie ein Tanga wirkte, und räkelte mich im Spiegel. Und da war es plötzlich wie eine Offenbarung. Ich fand mich auf einmal unten herum richtig gut. Hingerissen starrte ich auf das Ergebnis. Ja, das war’s!

Das Bild der beiden Mädchen verfolgte mich noch in meinen Träumen. Einmal träumte ich sogar, ich wäre eines der Mädchen. Wir lagen uns zärtlich in den Armen. Die Hand meiner Freundin glitt über meine Brust und weiter abwärts. Und ich stellte fest, dass ich kein Junge war, sondern einen wunderschönen Mädchenkörper hatte. Wir streichelten und küssten uns. Der Traum war so schön, dass ich ganz traurig war, als ich daraus erwachte. Und ich wünschte mir von nun an sehnlichst, nicht nur im Traum ein Mädchen zu sein, sondern morgens aufzuwachen und für immer ein Mädchen zu sein mit allem, was ein Mädchen hat. Da das aber, soweit ich wusste, in der Realität nicht ging, versuchte ich es manchmal mit Beten, ich betete, dass ein Wunder geschehen und es wahr werden möge, oder ich war einfach nur traurig. Ich war damals acht oder neun.

Meine transsexuelle Neigung fiel zum ersten Mal auf, als ich elf war. Damals ließ ich mich durch einen unwiderstehlichen Drang dazu verleiten, in einem Kaufhaus einen Mädchen-Wäschebikini zu klauen. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich dann mal allein zu Hause war und die Sachen heimlich vor dem Spiegel anprobieren konnte. Es war ein tolles Gefühl. Noch nie hatte ich vorher ein solches Kribbeln gespürt, mir war, als ob ich Schmetterlinge im Unterbauch hätte. Zwar waren körperliche Empfindungen erotischer Art nicht gänzlich neu für mich, aber das Gefühl war noch nie so stark gewesen. Leider blieb mein heimliches Tun aber nicht unentdeckt, da mein Vater und meine Tante zu früh zurückkamen. Es gab ein fürchterliches Donnerwetter. Besonders mein Vater gebärdete sich wie ein Besessener. „Unser Sohn ist nicht normal!“, schrie er. „Der Doktor soll mal untersuchen, ob bei dem Jungen alles in Ordnung ist.“

Ich schämte mich ganz schön, als ich beim Doc alles ausziehen musste. Die ganze Untersuchung war so verdammt peinlich. „Äußerlich ist alles normal, wenn auch unterentwickelt“, stellte der Arzt fest, „aber das ist durchaus noch in Ordnung in dem Alter. Es gibt sich meistens ganz von selbst.“

„Hoffen wir, dass Sie recht haben!“, meinte mein Vater.

Ich war da selbstverständlich ganz anderer Ansicht. Ich hasste es nun erst recht, ein Junge zu sein. Dabei machte ich mir anfangs gar nicht so eingehende Gedanken darüber, ob ich später auch die Genital-OP tatsächlich wollte. Meine Vorstellungen in dieser Hinsicht waren noch nicht ganz klar.

„Wir sollten in Ruhe die weitere Entwicklung abwarten“, riet der Arzt, bevor wir gingen. „Ich verschreibe Ihnen noch etwas zum Dämpfen gegen Hyperaktivität. Jeden Abend vor dem Schlafen einzunehmen.“

So hatte ich zusätzlich zu meinen Problemen auch noch diese Prozedur zu ertragen. Ich empfand es fast als Vergewaltigung. Aber nach wie vor träumte ich davon, ein Mädchen zu sein. Es war ein Traum, der blieb.

Mandy war mächtig stolz auf ihren neuen Freund. Er war ein ausgesprochenes Prachtexemplar von einem jungen Mann. Und sie wusste, dass auch sie selbst nicht schlecht aussah. Sie war knapp fünfundzwanzig und von großer, kräftiger Statur mit schmalen Hüften, idealer Oberweite, langen flachsblonden Haaren und einem selbstbewussten, fraulichen Gesicht mit strahlenden blauen Augen, kurzum das, was man eine Klassefrau nennen konnte. Gute Voraussetzungen also, um ihn zu halten. Nur eine Kleinigkeit war da, die sie ihm noch sagen musste …

Es war einer jenen langen Ausgehabende gewesen, die erst in den frühen Morgenstunden enden. Auf Mandys Vorschlag hin hatten sie eine Travestieshow besucht, in einem der Musikclubs, die in der Kulturszene der Region so zahlreich waren. Micha hatte sich an ihrer Seite prächtig amüsiert und die Show sichtlich genossen. Und danach waren sie in der Altstadt, jenem Viertel, mit dem sich der Ruf der „längsten Theke Europas“ verbindet, von Kneipe zu Kneipe gezogen. Und schließlich, als der Morgen graute, waren sie mit der Vorortbahn hinaus zu jenem Viertel gefahren, in dem Mandy seit einiger Zeit eine billige Zwei-Zimmer-Wohnung in einem tristen alten Mietskasten bewohnte. Micha hatte es sich nicht nehmen lassen, sie nach Hause zu begleiten, und vorgeschlagen, dass man bei ihr zum Abschluss des Abends noch einen Kaffee trinken könne.

„Tolle Show! Sowas wie heute sieht man wirklich selten!“, schwärmte Mandy und schlürfte ihren Kaffee.

„Ja, wirklich! Werd lange an den Abend denken“, bestätigte Micha. „Aber nicht nur wegen der Show. Auch wegen dir. Auch diesmal war unser Abend einfach super. Sag mal, glaubst du, dass die Akteure nur als Travestiekünstler Frauenklamotten anziehen, oder sind die wohl … transsexuell?“

„Ich kann mir gut vorstellen, dass die echt transsexuell sind, so, wie die aussehen“, meinte Mandy mit sachkundiger Miene und schob ihm die Zuckerdose hin, „aber ich bin mir nicht sicher.“ Sie ergriff die Kanne, um nachzuschenken. „Na, und wenn schon … Ich jedenfalls hab nichts gegen Transsexuelle.“

„Ich natürlich auch nicht“, erklärte Micha mit Nachdruck. „Schließlich sind sie genauso Menschen wie wir! Ich finde, jeder sollte das Recht haben, so zu leben, wie er will, solange er damit nicht anderen schadet!“

„Eine gute Einstellung“, lobte Mandy. „Leider denken nicht alle so. Na ja, wie man hört, werden diese Menschen ja manchmal immer noch ganz schön diskriminiert. Auch in unserer modernen, angeblich so aufgeschlossenen Gesellschaft. Ich kann dir da Sachen erzählen …“

Micha sah sie verwundert an. „Ja, wirklich? Na, wenn du es sagst …“ Seine Stimme wurde plötzlich ernster, ein entschlossener Zug trat in sein Gesicht. „Mich packt immer die Wut, wenn ich höre, wie unsere angeblich so aufgeschlossene Gesellschaft mit Minderheiten umgeht!“

„Ja, mich auch“, bekannte Mandy mit einem Augenaufschlag und sah ihn mit ihren großen, unschuldigen blauen Kinderaugen treuherzig an. „Gut, dass wir wieder mal einer Meinung sind. Das heißt also, du könntest dir zum Beispiel auch vorstellen, eine Freundin zu haben, die … na, sagen wir mal, ein Tranny ist?“

Micha grinste. „Habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, um ehrlich zu sein“, meinte er lässig. „Ich hatte mal eine Freundin, die Vietnamesin war. Kann mir auch gut vorstellen, eine Freundin zu haben, die dunkelhäutig ist. Oder Muslimin. Ja, ich denke, ich bin da sehr aufgeschlossen nach allen Seiten. Sympathie und gegenseitiges Verständnis, das ist das Entscheidende. Und was Transsexuelle angeht, so finde ich, jeder sollte das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben, das gilt auch für sexuelle Minderheiten! Man darf diese Menschen nicht diskriminieren!“

„Schön, dass du so denkst“, meinte Mandy. „Man hört ja auch ganz andere Sachen. Mal Hand aufs Herz, wie würdest du reagieren, wenn ich dir zum Beispiel sagen würde, dass ich selbst …“ Sie führte den Satz nicht zu Ende.

Micha sah verdutzt von seiner Kaffeetasse auf. „Na, ich würde sagen, dass das ein süßer, verfrühter Aprilscherz ist, mein Schatz!“, antwortete er gutgelaunt und küsste sie mit einem Lachen.

Zu seiner Verblüffung blieb Mandy ernst. „Und wenn es nun kein Aprilscherz wäre?“

„Das glaube ich dir nicht!“, rief Micha. „Dir schon gar nicht! So, wie du aussiehst!“

„Doch, es wäre möglich!“, erwiderte Mandy unbeirrt. „Es gibt heutzutage Transsexuelle, die total wie eine Frau aussehen!“

Er sah sie für einen Moment irritiert an. „Kann ja sein. Aber du … ein Kerl? Nein, niemals!“ Auf seinem Gesicht erschien ein Grinsen. „Zum Glück bin ich da meiner Sache sehr sicher. Und nun lass uns über erfreulichere Dinge reden, man sollte sich über sowas nicht lustig machen.“

Er wollte sie zärtlich in die Arme nehmen, stockte aber plötzlich, denn es war etwas in ihrem Gesichtsausdruck, was ihn davon abhielt. Ihre todernste Miene ließ ihn auf einmal unsicher werden.

Mandy sah ihn lange an, in ihren großen blauen Augen schimmerten jetzt Tränen. „Du, Micha, ich muss dir was gestehen“, begann sie schließlich zögernd. „Ich bin eine Transsexuelle. Ich wurde als Junge geboren.“

Micha starrte sie eine Weile an, er schien wie unter einem Schock zu stehen. „Nein, das kann ich nicht glauben!“, sagte er schließlich. „Ich kann es einfach nicht glauben. Sag, dass es nicht wahr ist! Dann hättest du ja die ganze Zeit ein falsches Spiel mit mir gespielt! Ich hätte eine Illusion geliebt! Was ich für die Liebe einer Frau gehalten habe, wäre nur Heuchelei gewesen. Nein, du kannst nicht so schlecht sein. Einem Menschen, den man liebt, verschweigt man nicht eine so furchtbare Wahrheit.“

Mandy tupfte mit einem Taschentuch ihre Augen ab. Ihr Blick war klar und offen. „Vielleicht doch. Weil ich am Anfang nicht wusste, wie du reagierst. Ich wollte es dir schonend beibringen. Aber meine Liebe ist keine Heuchelei. Du hast keine Illusion geliebt. Mag mein Körper auch unecht sein, meine Gefühle für dich sind tief und aufrichtig.“

Er starrte sie immer noch an. Seine Finger hielten den Kaffeebecher, umschlossen ihn so fest, dass dieser klirrend zerbarst und der Rest des Inhalts auf den Boden spritzte. „Es gibt eine Art von Gefühlen, auf die ich verzichten kann!“, schrie er. „Gefühle! Ich soll auf einen Kerl hereingefallen sein! Auf einen Kerl! Ich! Das darf doch nicht wahr sein! Das darf einfach nicht wahr sein!“

Sie wollte etwas erwidern, aber er sah sie an mit einem Blick, der sie zurückweichen ließ. „Micha!“, rief sie besorgt. „Micha, komm zu dir! Sei vernünftig!“