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Michèle Minelli

wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane und Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.

ISBN 978-3-7026-5927-1

eISBN 978-3-7026-5928-8

1. Auflage 2018

Einbandgestaltung: b3k

© 2018 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Druck und Bindung: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Diese Publikation wurde unterstützt von der

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Michèle Minelli

Passiert es heute?
Passiert es jetzt?

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Für Wolfgang und seine Brüder

Inhalt

Prolog

Donnerstag

Kurz vor Geisterstunde

Freitag

Das Mädchen

Der Dieb

Der normale Dorfbewohner

Werwolfnacht

Samstag

Die Hexe

Die alte Seherin

Der Hauptmann

Der Jäger

Sonntag

Amor

Drei Monate danach

Dämmerung

Michèle Minelli im Interview

Zitate

Dank

Prolog

Das Leben besteht aus lauter Momenten, die sich aneinanderreihen. Was vom einen zum nächsten führt, lässt sich im Nachhinein kaum sagen. Es ist wie eine Abfolge von Tönen, die eine Melodie ergeben. Manchmal wohlklingend, manchmal nicht. So ist es bei den meisten Familien. Vor Publikum leben sie Übereinstimmung und Harmonie, während es im Innern kracht.

Jede Familie entscheidet, welche Interpretation für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Das ist unser Geheimnis, das geht niemanden etwas an. Fixierte Kompositionen, eingespielte Arrangements. Das Leben, wie ich es kenne jedenfalls, ist so, und es endet in einem einzigen großen Knall.

Ich frage mich: Hat es einen Moment gegeben, einen nur unter den vielen, der eine andere Wendung hätte herbeiführen können? Wäre dann alles anders gekommen? Und hätte mein Leben dann nicht zu diesem einen letzten Moment geführt, in dem alles zerbarst?

Donnerstag

Kurz vor Geisterstunde

Soeben drückt mir jemand einen Energydrink in die Hand. Ich war wohl einen Moment lang weg. Dort, wo ich meine Ruhe habe. Dort, wo ich denken kann. Wo ich immer hingehe, wenn es mir zu viel wird, oder wenn zu viel auf einmal geschieht. Energydrink. Bei uns zu Hause trinken wir keine Süßgetränke.

Irgendwo fiepen Hundewelpen … nein, das ist etwas anderes, ich weiß nicht was. Doch, ich weiß ganz genau was. Die Orte vermischen sich in meinem Kopf. Ich muss mich an etwas festhalten. Ich bin wahnsinnig müde.

Ewig habe ich mir gewünscht, eine solche Dose auch einmal zu Hause, hier, auf dem Sofa, trinken zu dürfen, ewig und einen Tag, wie Wenzel dazu sagen würde. Komisch, wie alles auf den Kopf gestellt wird und Wünsche in Erfüllung gehen.

Grashalme an meinen Beinen. Nein, das war wieder Einbildung. Wie das Fiepen vorhin. Ich muss aufpassen, dass ich hierbleibe, meine Gedanken driften ab und ziehen mich mit. Fort von hier, wo Blaulicht kreist.

Die Energydrink-Dose ist echt, an ihr kann ich mich festhalten. Meine Hände sind sauber. Wenn ich meine Hände betrachte, bleibe ich hier.

Wenn ich die Fahrradkette einlege, trage ich Werkhandschuhe. Warum denke ich jetzt an mein Rad? Was hat mein Rad damit zu tun, dass ich auf dem Sofa sitze mit lauter fremden Menschen in unserem Haus, von denen mir einer einen Energydrink gereicht hat, mitten in der Nacht?

Mir wird flau, gerade rechtzeitig stelle ich die Dose weg. Ich schlucke die Übelkeit hinunter.

Keiner beachtet mich. Sie reden über die Zeit, die vergangen ist. Wollen wissen, was passiert ist. Sie fragen Mami immer wieder: „Warum so spät?“

„Warum erst jetzt?“

„Warum haben Sie uns nicht früher angerufen? Warum nicht gleich?“

Ich muss nicht antworten, ich lasse es ablaufen wie einen Film. Sie reden auf sie ein, und es ist fast so, als wäre ich unsichtbar oder in einer anderen Dimension. In einer Blase. In der Schule haben wir heute von Blasen gesprochen, Bubbles, den Blasen also, in die man sich mit Gleichgesinnten begibt. Bei Facebook, Instagram und so. Bubbles, die sich auftun mit jeder WhatsApp-Gruppe. Fritsche gab uns den Auftrag, die Bubbles aufzuzeichnen, in denen wir uns bewegten. Ein Bubble-Cluster. Einundzwanzig Blasen-Gebilde links und rechts von mir. Benny hat mich mit dem Ellenbogen in die Seite gepufft, mach doch! Dass ich jetzt daran denken muss? Auch ich habe geduldig gemalt. Buchstaben.B U B B L E S.Und in jeden Buchstaben hinein und um ihn herum wabernde Blasen, Blasen.

Zeichnen kann ich nämlich nicht so gut.

Ist das Mami, die heult? Wieso heult sie? So habe ich sie noch nie gehört. Kann sie bitte jemand trösten? Kann sie einfach jemand trösten, ich kann das nicht, ich sitze wie ein Klumpen Lehm auf diesem Sofa, und ich möchte abtauchen und mir Wasser in die Ohren fließen lassen, damit ich das nicht länger hören muss!

Zwei Stimmen kann ich unterscheiden. Sie sind oben, bei Leonie im Zimmer. Sie suchen dort offenbar ihre Sachen zusammen, ohne sie. Leonie sitzt neben der Frau mit Uniform und Pferdeschwanz und bewegt sich nicht. Ob mein Blick auch so ist wie ihrer?

Wir sind Meerschweinchen im Käfig, die ahnen, dass es da draußen noch etwas anderes gibt, die da aber nie hingelangen werden, weil die Gitterstäbe zu eng stehen. Meerschweinchen hätte Leonie gerne gehabt. Eine Katze. Einen Hund.

Eine Stimme sagt, das Spurenbild sei völlig unklar. Ich weiß nicht, wer das zu wem sagt und ob es überhaupt gesagt worden ist. Aber auch die, die nicht sprechen, schauen sich wissend an. Auch der Mann mit dem schief sitzenden Jackett.

Die Energydrink-Dose in meiner Hand knackt. Keiner reagiert darauf, dabei war das Geräusch ohrenbetäubend. Sie alle scheinen genaue Kenntnis darüber zu haben, was sie zu tun haben, als ob sie einem geheimen Ablauf folgten. Es ist ein Gefühl wie bei einer Prüfung, wo alle um dich herum eifrig schreiben und nur du keine Ahnung hast, was Sache ist. Jeder tut, was er tun muss, jeder seinen Teil. Mein Teil ist hier zu sitzen und die Übelkeit hinunterzuringen. In meinem Schädel sirrt und rauscht und fiept es, aber ich lasse nichts hinaus. Keinen Ton.

Vielleicht heißt es deshalb „jemanden zum Singen bringen“. Wenzel hätte seine helle Freude an meinem Gedankengang. In deutscher Sprache bin ich ein As.

Ich bin stark darin, mit Worten der Starke zu sein.

Jetzt kommen die anderen zurück. Sie kommen herunter zu uns ins Wohnzimmer, der eine drückt Leonie ihren halb kaputt geliebten Plüschfrosch Layla-La gegen die Brust, der andere kauert sich vor sie hin. Meine kleine Schwester weint still. Die Uniformen flößen ihr Angst ein.

Ich schaue kurz zu Mami. Friert sie? Warum friert sie? Aber meine kleine Schwester weint, und ich merke, wie ich aufstehe, mein Körper steht ganz von alleine auf. Sie beobachten mich, wie ich zu Leonie gehe, um ihr die Blinke-Blinke-Schuhe festzuziehen. Es gibt jetzt nichts Wichtigeres auf der Welt, als diese Klettverschlüsse mit festem Druck aufeinanderzustreichen. Ich will, dass meine kleine Schwester ihre Lieblingsschuhe anbehält, und dass diese sie sicher tragen.

Aber warum ist da jetzt eine Hand auf meiner Schulter? „Setz dich wieder hin, warte.“ Auch ihre Stimmen tragen Uniform. Von irgendwoher wird mir ein Taschentuch gereicht. Leonie schluchzt jetzt hörbar, oder bin das ich? Ich strecke die Hand nach Leonie aus, aber ich erreiche sie nicht. Die Worte, die ich ihr so oft schon sagte, bleiben in meinem Hals gefangen. Nichts wird wieder gut. Ich muss mich zusammenreißen. Ich muss mich in mir drin eng machen. Wenn ich mich konzentriere, bleibe ich ganz.

Mami soll sich verabschieden von uns. Die Polizistin mit dem Pferdeschwanz führt sie am Unterarm. Ich kann Mamis Gesicht nicht ansehen. Ich kann ihr nicht in die verheulten Augen sehen, also schaue ich weg. In der Sofaecke Krümel. Unser Leben zerkrümelt, ich will das nicht denken, aber meine Gedanken haben sich selbstständig gemacht. Unser Leben zerkrümelt zerkrümelt ümelt elt … In wie viele Krümel kann ein Zwieback-Ananas-Kuchen zerfallen? Wenn ich mich konzentriere, kann ich meine Gedanken vielleicht noch etwas zusammenhalten. Ich denke an die Kuchenstücke, die von niemandem gegessen worden sind. Der Rest steht noch auf dem Tisch. Wenn ich an den Zwieback-Ananas-Kuchen denke, gelingt es mir vielleicht, hierzubleiben und nicht wegzudriften.

Krümelt elt … Ich kann es nicht stoppen, es dreht und dreht, wie die blauen Lichter an der Wand, und wieso trinke ich jetzt wieder aus dieser Dose Energydrink?

„… erschüttert …“

„… komplett neben sich …“

„… kommt nicht an ihn heran …“

„… völlig verstört …“

Ich höre Worte, Silben, ein Takt. Ich vertiefe mich in den Takt. Ich glaube, die Worte kommen von dem, der sich als Notarzt vorgestellt hat, der mit dem schief sitzenden Jackett. Seine Stimme ist ein pochendes Brummen in meinem Schädel. Alles dreht sich, ich glaube, ich muss mich … doch hinlegen … meinen Kopf … hin… …legen –

Das war nur ein kurzer Moment. Ich habe Mami noch nie so laut erlebt. Mami klingt in der Öffentlichkeit stets um Harmonie bemüht, egal, wer ihr Gegenüber ist. Mami schreit nicht, aber eben dachte ich, sie habe geschrien. Ich sitze pfeilgerade. Alle starren mich an. Also halte ich mich aufrecht, obwohl mir schon wieder schwindelig ist.

Was ist passiert?

„Wie? Was sagst du?“, fragt der Notarzt.

Habe ich das eben laut gesagt? Ich bin … irgendwie … verpeilt. Wieder eine Hand auf meiner Schulter. Sie bleibt. Ich schäme mich, mein Körper, meine Beine, meine Hände, alles zittert, ich heule los, als die Tür ins Schloss fällt.

Dann ist Mami plötzlich weg. Ich habe keine Erinnerung, wann das geschehen ist, ob sie sich verabschiedet hat oder nicht. Leonie kreischt, es muss ihr Kreischen sein, denn ich habe mir die Ohren gerieben, und in meinem Kopf ist nichts als eine große Leere. Wann hört denn das endlich auf?

Noch immer ziehen blaue Farbflecken über die Wände im Kreis herum. Rundherum. Rundherum. Rundherum streifen sie Wände, Decke, Boden. Ihr Lauf hat etwas Verlässliches. Das gibt mir Mut. Ich halte mich an dieser Gewissheit fest, als sie zu mir kommen und sich vor mir aufstellen, zwei gegrätschte Beine. Langsam richte ich meinen Blick der Uniform entlang nach oben. Der Polizist bewegt seinen Mund. Etwas in meinem Kopf versperrt sich.

Im Hintergrund strampelt Leonie an der Hand der Polizistin mit dem Pferdeschwanz. Ich will zu ihr, aber der Blick des Polizisten vor mir nagelt mich fest. Ich höre nichts, höre nur den harten Rhythmus, die Worte selbst sind mir unverständlich. Ich muss mich anstrengen.

„Wir bringen deine Schwester jetzt zu euren Großeltern. Verstehst du, was ich sage? Leonie wird so lange bei ihnen wohnen, bis wir wissen, was heute Abend bei euch passiert ist.“

An Leonies Hand baumelt der grüne Plüschfrosch Layla-La.

Passiert es heute? Passiert es jetzt? Echos in meinem Kopf. Offenbar sage ich viele Worte in schneller Folge. Ich höre meine eigene Stimme, viel zu hoch: „Man muss ihm sagen, dass die Feier …“, hier breche ich ab. Stirnfaltengewirr.

„Aber irgendjemand muss ihm doch sagen, dass ich …, dass jetzt …, mein Geburtstag und alles … –“

Leonie hat sich losgerissen. Sie klammert sich an mir fest. Es ist einer dieser Momente, die nicht nach außen dringen sollen, und doch stehen da lauter fremde Menschen in unserem Wohnzimmer, vier Polizisten und ein Notarzt, Augenpaare, in die ich nicht blicken will, auf gar keinen Fall.

Ich sage zu ihr, eindringlich, aber ich höre auch mein eigenes Schluchzen dabei: „Leonie, … zu Omi und Opa, die warten doch schon auf dich. Die haben dein Zimmer doch schon gerichtet für dich und Layla-La. Die freuen sich auf deinen Besuch –“ Worte. Silben. Fragmente, aus dem Takt gefallen. Leonie zieht die Nase hoch. Sie riecht feucht, verschwitzt und warm, und als man sie aus meiner Umarmung hochhebt und zum Wagen mit dem Blaulicht trägt, zerbricht mein Herz doch.

Hier im Ort sind wir so etwas wie eine gut inszenierte Vorzeigefamilie. Ich sehe, was sie sehen, wenn die Nachbarn zu ihren Fenstern hinaus und zu uns herüberschauen. Papa mit seinem Schwung, der eleganten Art, wie er den Wagen einparkt, parallel, wie ausgemessen zum Bordstein. Mit seinen lässigen fünf, sechs Schritten das geschotterte Weglein hinauf und dem für alle Nachbarn vernehmlichen „Hallo-o“, das er kurz vor jedem Eintreten posaunt. Wie bei einem Bühnenauftritt – für wen?

Ich sehe Mami mit ihrer Schürze über dem gelben Kleid, ein ehemaliges Sonntagskleid, das sie nach und nach für den Alltag zurechtgestutzt hat. Man sagt, wir seien uns ähnlich. Wohlmeinend, aber wie mit einer Warnung: Werd bloß nicht wie sie. Mami mit ihrer nachdenklich zurückhaltenden Art, die man so gut für Freundlichkeit nehmen kann. So praktisch ihr Lächeln, so, als sei es stets von einem leichten Zweifel begleitet, ob lächeln überhaupt angebracht sei. Ich weiß nicht, welches Gesicht sie trug, als sie der Polizei die Tür aufschloss, als sie dastand mit hängenden Armen. Sie lächelt nachher eigentlich immer, egal, was gerade passiert ist.

In diesem Moment kippt das Bild. Leonie ist weg, und ich sitze, von fremden Menschen umgeben, alleine da. Meine kleine Schwester mit ihren elastisch wippenden Locken, den Söckchen, die an ihren Waden hinunterrutschen, Söckchen, die sie nie hochzieht, und wenn man sie dazu ermahnt, nur mit einem Schmollgesicht – fort. Ein Vorhang senkt sich über mich. Wenn ich an Leonie denke, halte ich durch. Kleine Grübchen in der Wange. Löchlein in den Ellenbogen. Leonie ist eines jener Kinder, in die du am liebsten hineinbeißen möchtest, ein Marzipankind. Leonie. In Sicherheit gebracht.

Jetzt bin da nur noch ich. Der Rest, der bleibt. Ein Krümel auf dem Sofa. Energydrink-Dose in der Hand. Ich, Wolfgang. Zu klein für mein Alter, zu dünn, zu eckig, zu kantig, zu mittelmäßig, so richtig gut nur in Musik und Deutsch. Zu grüblerisch. Kein Wolf.

„Mit dieser Haltung bringst du es nicht weit, Freundchen!“, sagte mein Vater immer. „Mach nicht so ein Gesicht, Jammerlappen!“ Ich halte mich gerade noch zurück.

Vielleicht habe ich mich unsichtbar gemacht. Sie hängen an ihren Handys. Telefonieren hektisch. Nicken sich zu, verständigen sich mit Mimik. Vielleicht bin ich nicht mehr da.

Jetzt geht die Tür zur Wohnküche auf, und ich will nicht hinübersehen, ich will es wirklich nicht, aber mein Kopf dreht sich mit einer Kraft, die ich nicht steuern kann, und so bin ich zu spät und sehe doch, wie eine Frau in einem weißen Mondanzug jemanden zu sich heranwinkt. Und nun zieht sich eine Hand von meiner Schulter zurück und der Notarzt, der offenbar noch immer oder schon wieder hinter mir gestanden hat, geht mit gemessenen Schritten zu der Frau vom Mond. Sein Blick langt für einen kurzen Moment über seine Schulter zu mir hin, er hat die ruhende Hand durch diesen Blick ersetzt, und ich befürchte, wenn sich auch dieser Blick zurückzieht, werde ich taumeln und endgültig zu Boden gehen.

Da, wo vorher seine Hand gelegen hat, lastet jetzt ein Batzen Eis.

Ich habe immer gedacht, wenn du aufhörst, jemanden zu lieben, kann dich dieser Jemand auch nicht mehr verletzen. Schnell und mit aller Macht drehe ich mein Gesicht weg von dem, was dort auf dem Boden liegt.

„Ich weiß nicht, wo mein Rucksack ist“, stottere ich. Sie fragen mich wiederholt nach meinem Handy. Ich versuche ihnen zu erklären, dass es ein ganz altes Modell ist, das scheint mir wichtig, dass sie das wissen, ein Tastenmodell, aber irgendwie erreichen sie meine Worte nicht. Oder es sind nicht die richtigen – ich muss die richtigen Worte finden, nur mit den richtigen Worten bleibe ich geschützt. Wie bei einem Märchen, einer Fantasiegeschichte, wo man nichts weiter sagen muss als: Sesam öffne dich – ich habe keine Ahnung, was Sesam ist.

Die Sporttasche, die mir hingehalten wird, kenne ich nicht. Aber jetzt sitze ich schon vorne in einem Wagen, neben mir am Steuer der Arzt mit dem schrägen Jackett. Er schaut mir ins Gesicht, als er meinen Gurt einrasten lässt, ich rieche seinen Atem, den säuerlichen Schweiß; er zieht nach, auf seiner Stirn perlen Tropfen. Und plötzlich muss ich wieder an Leonie denken. In einem fremden Wagen weggefahren. Weg von dem Haus, auf das von rundherum gestarrt wird durch weit geöffnete Fenster, mit hemmungslos zurückgezogenen Vorhängen jetzt.

Der Mann murmelt etwas von „fürsorgerischer Unterbringung“. Fürsorge. Ein altertümlicher Begriff, ich würde ihn gern Wenzel geben für seine Sammlung. Er startet seinen Wagen, der Wagen fährt. Mein Herz pocht in meinem Hals. Ich konzentriere mich auf Wenzel, ich bin weit weg. Wir haben mit ihm ein Lexikon begonnen, das Lexikon der schwindenden Begriffe. Jutebeutel. Amtsschimmel. Batzen. Flegel. Vielleicht will er mit uns diese Begriffe ins nächste Theaterstück einbauen. Das wird dann vermutlich ohne mich stattfinden, wie mein Geburtstag morgen auch –

„Bitte! Wissen Sie, ob ihn jemand angerufen hat?“ Mein Hals ist geplatzt.

„Angerufen? Wen angerufen?“, fragt der Arzt und schaut geradeaus in die Lichtbeulen, durch die der Wagen rollt. „Wen angerufen, Wolfgang?“, hakt er nach. „Einen Freund von dir? Einen Verwandten?“

Ich weiß, dass ich seine Frage verstehen sollte, ich denke aber schon wieder an etwas anderes, ich denke an Wahlverwandtschaften. Ich rutsche auf den Begriffen herum wie ein Rad auf der Straße im Winter. Salz. Im Winter muss ich die Zufahrt salzen. Wenn ich die Zufahrt morgens nicht rechtzeitig salze, setzt es was.

„Wen sollen wir anrufen?“, seine Stimme ist nun watteweich.

Draußen ist es dunkel. Aber es liegt kein Schnee. Es ist doch Sommer jetzt. Der Monat meines Geburtstages. Im Dunkel die Bäume mit ihrem Blätterbehang, die Straße, ein Bild von hohem Gras schiebt sich dazwischen, eine Lichtgestalt, entferntes Fiepen. Und dann wieder: Wahlverwandtschaft. Mit Wenzel haben wir letzte Woche das Thema durchgenommen. Verwandtschaften, die sich ein Mensch selber wählt. Und die Fennermann hat uns im Chemieunterricht über das anziehende und abstoßende Verhalten von chemischen Verbindungen vordoziert, von Sauerstoffaffinität und von Bindungsaffinität. Sie vergreift sich andauernd an Themen, die nicht in unserem Lehrplan stehen, vergisst, dass wir nicht auf dem Gymnasium sind. Die Fennermann … –

„Wolfgang? Wen?“

„Einen von uns …“

„Hm? Wie?“

Jetzt scheint es, er wolle den Wagen anhalten, er fährt schon rechts ran. Ich schaufle mit letzter Kraft mein Gehirn um, ein immens großes Salzlager, in dem ich einsinke, kaum finde ich einen Begriff, rieseln tausend andere nach, und der eine, auf den es ankommt, wird im Rutschen begraben. Dabei ist das so wichtig, das richtige Wort, nur mit dem richtigen Wort kann Ruhe bewahrt werden. Es gelingt mir, einen einigermaßen vollständig formulierten Satz zu sagen: „Ich … kümmere … mich selber … darum.“

Er führt den Wagen weiter sicher durch die Nacht. Ich starre an die Innenseite der Windschutzscheibe und weiß nicht, ist es noch heute oder schon ein neuer Tag, und dann sehe ich plötzlich das Gesicht meines Vaters. Er lächelt mich an, wie er den Pastor anlächelt, wenn er ihm begegnet. Mein Möchtegernvater lächelt mich an, formt mit den Lippen meinen Namen. Ich will fort von hier!

„Wo bringen Sie mich …“, meine Stimme krächzt, „… hin?“

Der Mann schaut mich zweifelnd an. Vielleicht hat er mich nicht verstanden. Vielleicht forscht er seinerseits in seinem Gehirn nach Worten, Begriffen, die er fassen kann. Vielleicht hat er vergessen, wer ich bin und was ich in seinem Wagen zu suchen habe. Was passiert mit mir?

Oder er sucht nach meinem Namen: Murks.

Es hat mir nichts ausgemacht, dass mich mein Möchtegernvater Murks nannte. Oder Morph. Das brachte mich meinem geheimen Vater, dem eigentlichen, nur näher. Mein Möchtegernvater spielte damit auf meine Physiognomie an. Für ihn war das ein Spiel, das er gern in der Öffentlichkeit spielte. Er fand das lustig, wenn er vor anderen Menschen zu mir sagen konnte: „Junge, du siehst aus wie am Computer zusammengemorpht. Du bildest da deinen ureigenen Phänotyp.“

Meine Nase. Und mein Blick. Nicht ernst zu nehmen. Morph. Oder eben Murks. Weil ich nichts zustande bringe. Und weil ich ein fliehendes Kinn habe. Das Kennzeichen aller Vermurksten. Ein Kinn auf der Flucht.

„Die ganz gewöhnliche pubertäre Deformation. Das Gummialter der Jugend“, beruhigte ihn der Pastor vor mir – ich stand da, aber ich war Luft! –, „das wächst sich wieder aus.“

Warum denke ich jetzt an den Pastor? Wenn du eine Situation nicht verändern kannst, dann musst du dich fügen. Ist ja schon gut, ich füge mich, und dann werden wir irgendwann einmal erwachsen sein, habe ich gedacht, Leonie und ich, und gehen.

Ich schüttle meinen Arm. Der Mann am Steuer zuckt zusammen. Das aufmunternde Tätscheln des Pastors. Ich konzentriere mich auf Leonie. Leonie kletterte auf ihr Rad. Sie ließ mich nicht aus ihren Augen in diesem Moment. Sie ist noch so jung. Ein so unglaublich unschuldiges Menschenwesen. Viel eher so etwas wie ein Feengeschöpf.

Jetzt fährt er wirklich rechts ran, reicht mir ein Taschentuch, eines aus Stoff, aus seiner Brusttasche. Betroffenheit in seinem Ausdruck, aber ich sehe nur die Lichter der Nacht, und auch die nicht wirklich, sie verschlieren mir vor den Augen.

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Als er einparkt, habe ich mich gefasst. Ich glaube, ich bin jetzt wieder fähig, klar zu denken, geradeaus und vorwärts. Da steht ein Haus vor mir, ein Gebäude, eine Treppe mit hohen Stufen, ich weiß jetzt wieder, wer er ist, er ist der Notarzt, der mich irgendwohin bringt zwecks fürsorgerischer Unterbringung. Er trägt die Sporttasche, ich trage mein Gewicht. Die Lichter der Kandelaber gehen zeitgleich mit unseren Schritten an. Es ist wie der Weg in ein Zauberland, die Lichter zeigen dir an, jetzt kommt etwas, du gehst da auf etwas zu, das du nicht kennst, und dann überschreitest du die Schwelle. Und ich weiß, ohne sagen zu können, woher ich das weiß: Ab jetzt wird nichts mehr sein, wie es vorher war.

Mit meinen Armen umschlinge ich meinen Körper. Neonlicht, Flure, ein Empfangskabäuschen, Boden, der quietscht. Wände mit wenigen Bildern. Mein Blick verfängt sich in einem Plakat mit dem Titel „Leitbild“. Ich komme nicht über den ersten Satz hinaus: „Das Wohl der Patientinnen und Patienten steht bei uns im Zentrum.“ Erst, als er mich festhält, merke ich, dass der Boden unter meinen Füßen wankt. Der Notarzt führt mich zur Sitzecke, aber auch die Couch ist instabil, also lege ich mich seitlich hin und kralle meine Finger in den Stoff, während die Empfangshalle mit mir durch den Raum rauscht. Von weither höre ich ihre Stimmen.

„Wolfgang Brass?“

„Ja, das ist er.“

„Hat er nicht eine Schwester?“

„Die wurde zu den Großeltern gebracht.“

„Kann er das Anmeldeformular …“

„Jetzt nicht. Morgen. Das Nötigste erfahren Sie von mir. Wolfgang ist …“

Fünfzehn, denke ich. Morgen ist mein sechzehnter Geburtstag. „… keine bekannten Allergien, keine bekannten Süchte. Ich stehe bereits in Kontakt mit dem Hausarzt der Familie.“

Unser Hausarzt. Heißluftatmer. In mir wallt Zorn auf, ein riesengroßer Schrei …

„… Adresse seiner Schule, damit Sie sich über den Stand des Stoffes informieren können. Ich weiß ja nicht …“

Ich spüre den abwägenden Blick meines Hausarztes auf mir, sein Blick ist wie ein Tau, seine Stimme das Rauschen der Wellen, aber da ist auch Mamis Blick, und der lässt nicht zu, dass ich den Schrei tue. Mein Mayday, Mayday bleibt ungehört.

„… Mutter in U-Haft.“

„Ist sie denn vernehmungsfähig?“

Ich verschwinde, ich werde untergepflügt.

„Kümmert das die?“, höre ich noch den Notarzt von weit weg antworten.

Dann tauche ich ab.

Schritte. Ich versuche, mich aufzurichten, den Raum um mich herum wahrzunehmen. Ich muss mich konzentrieren. Ein Mann mit blauem T-Shirt, Jeans, Turnschuhen kommt heran. Sein Blick bohrt sich in mich, ich spüre es, schon seit er um die Ecke gebogen ist und in gerader Linie auf mich zuhält, als gäbe es im Leben für ihn kein anderes Ziel.

Als er vor mir steht, reicht er mir die Hand. Ohne, dass ich es will, ergreife ich sie, seine feste Hand, voller Kraft, wie eine Welle, die dich an ihre Oberfläche trägt. Eine Hand, die zu dir spricht, mehr als alle Worte. Durch den hohen Wellengang gelingt es mir immer nur, einzelne Begriffe, abgerissene Wortfolgen zu fischen, „Psychologe“, „Station“, „morgen dann“, „jetzt erst einmal“.

So stelle ich mir Schwimmen in der Karibik vor … Wenn wir erwachsen sind, Leonie, fahren wir da hin. Wenn wir erwachsen sind, werden wir so vieles tun, dann werden wir frei sein. Seinen Namen habe ich bereits wieder vergessen. Oder er hat ihn nicht genannt. Sein Tonfall ist warm und blau, und alles, was ich jetzt noch denken kann, ist: Ich will endlich schlafen.

Er greift nach der Sporttasche, die irgendwann neben mir gelandet sein muss, vielleicht hat sie der Notarzt dort hingestellt. Er lächelt mir zu, aufmunternd oder geduldig oder aufmerksam, in einem Aufsatz müsste ich das passende Wort erst finden. Aber ich sitze immer noch wie eingesunken in Salz, ich kann das jetzt nicht, Worte bestimmen, ich kann das jetzt einfach nicht mehr – Ich stehe auf, er stützt mich, damit ich nicht stürze – werde ich stürzen? Der Notarzt verabschiedet sich von mir, und jetzt bin ich also hier, man sagt mir wo, man sagt es mir, aber ich kann es mir nicht merken, mein Kopf ist schon zu voll, wellenschlagvoll, da ist kein Platz mehr, mein Kopf ist angefüllt mit Bildern und Informationen und warmen Stimmen und gewählten Worten, Neonlicht, ich bin hier, meine kleine Schwester ist bei unseren Großeltern in Sicherheit, meine Mutter in Untersuchungshaft und mein Vater …

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Eine Liftfahrt und ungezählte Flure später sitzen wir zu zweit in einem Raum, Bürotisch, Bürostuhl, Computer, Sideboard mit einem Legoschloss in blau, um das Eisenbahnschienen gelegt sind, auf denen eine kleine Zugformation steht, eine Yuccapalme in der Ecke neben dem Fenster. Wir sitzen in Sesseln, er in einem roten, ich in einem grünen, zwischen uns ein rundes Tischchen mit einer heruntergebrannten Kerze. Er schaut auf seine Uhr, eine alte große mit Ziffern und Lederband. Sorgfältig, damit ich es sehen kann, trägt er die Uhrzeit in ein Kästchen auf ein Blatt Papier ein. Dreiundzwanzig Uhr zweiundfünfzig. Kurz vor Geisterstunde. Er untersucht diese fremde Sporttasche vor meinen Augen, einen Moment lang habe ich Angst, was er darin finden wird. Er macht sich Notizen über die Gegenstände, die man mir eingepackt hat.

„Kein Handy?“

Es gelingt mir, den Kopf zu schütteln.

„Die waren nicht besonders intelligent beim Packen, was?“, sagt er und lächelt mich an. Es kommt mir seltsam unwirklich vor. „Mach dir keine Sorgen. Du bekommst von uns ein paar Casuals.“ Ich verstehe nur Bahnhof. „Sweatjacke, T-Shirt, Trainer, Hemd, Jeans. Die haben dir nur Unterwäsche eingepackt. Und Schulbücher, Hefte, nicht gerade praktisch für den Aufenthalt auf einer Gruppenstation.“