Der Bergpfarrer – 208 – Eva kommt nach St. Johann

Der Bergpfarrer
– 208–

Eva kommt nach St. Johann

Ein neues Leben auf dem Gerstacker-Hof?

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-323-4

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»Guten Tag, Frau Berger. Bitte nehmen Sie Platz.«

Heinz Reimann wies auf den lederbezogenen Sessel vor seinem Schreibtisch und lächelte der jungen Textildesignerin Eva Berger höflich, aber distanziert zu.

Eva erwiderte sein Lächeln, trat dann zögernd näher und setzte sich auf die äußerste Kante des Stuhls.

Fast acht Jahre arbeitete sie nun schon in der Textilfirma Reimann und Co., und trotzdem klopfte ihr, wenn sie in das Büro ihres Chefs gerufen wurde, noch immer das Herz bis zum Hals. Was allerdings weniger mit der attraktiven Erscheinung des braungebrannten, sportlichen Mittvierzigers Heinz Reimann zu tun hatte als vielmehr mit der abweisenden Kälte, die von ihm ausging.

Obwohl Eva sich keiner Schuld bewusst war, fühlte sie sich verunsichert.

Unruhig ließ sie ihre Augen in dem ganz in Schwarz- und Weißtönen gehaltenen kahlen Büroraum umherschweifen. Bis sie schließlich an einer Radierung hängen blieben, die eine Berglandschaft zeigte.

Berge …

Unwillkürlich entspannte sich Eva ein wenig.

Früher hatte sie immer ihre Ferien in St. Johann im Wachnertal verbracht. Bei Onkel und Tante auf dem Gerstacker-Hof, der in herrlicher Lage am Ortsrand …

Ein Räuspern ihres Chefs brachte Eva wieder ins Hier und Jetzt zurück.

»Tja, Frau Berger. Was ich Ihnen sagen will oder … sagen muss …« Heinz Reimanns Blick flackerte kurz. »Nun, wir sind zwei vernünftige, erwachsene Menschen, deshalb will ich nicht lang herumreden. Zumal Sie mit Sicherheit bereits davon gehört haben, dass in unserer Firma grundlegende Umstrukturierungsmaßnahmen in Angriff genommen werden müssen«, begann Heinz Reimann.

Eva rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.

Bedeuteten diese Worte, dass

die grundlegenden Umstrukturierungsmaßnahmen sie betrafen? Dass sie hierherbestellt worden war, weil Dr. Reimann ihr Kurzarbeit ankündigen wollte – oder gar die Entlassung?

Eva schluckte trocken, als säße ein Kloß in ihrem Hals.

Warum gerade ihr?

Sie teilte ihren Arbeitsraum mit drei weiteren Textildesignerinnen, die nicht schlechter, aber auch nicht besser waren als sie.

»Und im Zuge dieser Umstrukturierungsmaßnahmen sehen wir uns gezwungen, Personal abzubauen«, fuhr in diesem Moment Heinz Reimann in Evas Gedanken hinein fort.

Obwohl sie geahnt hatte, was kommen würde, breitete sich in ihrem Magen ein Gefühl aus, als säße sie in einer Achterbahn, die

in Schwindelerregendem Tempo berg­ab sauste.

»Aber … aber ich habe immer mein Bestes gegeben«, stammelte sie zu Tode erschrocken.

Heinz Reimanns professionelles Lächeln bekam nun doch einen Anstrich leisen Bedauerns.

»Das mag sein«, erwiderte er dennoch kühl. »Nur darum geht es leider nicht. Die Firma sieht sich, wie gesagt, in der traurigen Lage, einem gewissen Prozentsatz ihrer Angestellten kündigen zu müssen. Auch die anderen von dieser Maßnahme Betroffenen sind zum großen Teil verdiente Mitarbeiter.«

Der Kloß in Evas Hals wurde immer dicker, bis er ihr fast die Luft abschnürte. Nun war es also amtlich. Sie war ohne Arbeit, ohne Geld. Sie stand auf der Straße. Von einer Sekunde auf die andere schwammen ihre Augen in Tränen.

Heinz Reimann fühlte sich zunehmend unbehaglich. Über den Schreibtisch hinweg reichte er Eva mit spitzen Fingern ein Papiertaschentuch.

»Sie sollten sich diese Kündigung nicht so zu Herzen nehmen, Frau Berger«, versuchte er, die

Angelegenheit herunterzuspielen. »Sie sind schließlich noch jung. In Ihrem Alter und bei Ihrer Qualifikation dürfte es keine Schwierigkeit darstellen, in absehbarer Zeit wieder in Lohn und Brot zu kommen. Wer weiß, vielleicht gelingt es Ihnen sogar, sich zu verbessern. Und in einem halben Jahr sind Sie froh, dass alles so und nicht anders gelaufen ist.«

Eva sagte nichts.

Sie schnäuzte sich. Dann nickte sie mechanisch, während sie sich die Tränen abwischte.

»Wir haben unsere Entscheidung durchaus nach sozialen Kriterien ausgerichtet«, redete Heinz Reimann weiter, um die Stille zu überbrücken. »Zwei Ihrer Kolleginnen haben im Gegensatz zu Ihnen Familie. Und Frau Höfer ist bereits über Vierzig.«

Wieder nickte Eva, obwohl sie gar nicht richtig zugehört hatte.

Wie betäubt verabschiedete sie sich von ihrem Chef, als dieser sich nach ein paar Minuten demonstrativ erhob und ihr die Hand hinstreckte.

Sie hätte später nicht mehr sagen können, wie sie es geschafft hatte, den Weg an der Vorzimmerdame vorbei zu ihrem Arbeitsraum zurückzulegen, ohne dass ihre zitternden Knie unter ihr nachgaben. Und dabei war sie noch froh, dass Frau Höfer und die anderen beiden Frauen bereits nach Hause gegangen waren und ihr somit wenigs­tens neugierige Fragen und mitleidige Blicke erspart blieben.

Rasch packte Eva ihre Sachen zusammen und verließ, immer wieder von heftigem Schluchzen geschüttelt, ihren langjährigen Arbeitsplatz, ohne sich noch ein einziges Mal umzublicken.

Während sie ihren kleinen Wagen durch den dichten Frankfurter Berufsverkehr heimwärts lenkte, sehnte sie sich einzig und allein danach, sich in ihrer Wohnung zu verkriechen.

Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen fort, die ihre Sicht behinderten.

Vielleicht war sogar Lukas, mit dem sie seit zwei Jahren zusammenlebte und der als Angestellter in einem Reisebüro arbeitete, schon zu Hause.

Beim Gedanken an Lukas fühlte Eva sich unwillkürlich ein wenig erleichtert.

Sie würde sich in seine Arme flüchten und sich ein bisschen von ihm trösten und verwöhnen lassen. Und sich die Liebe und Geborgenheit holen, die sie nach dem schrecklichen Gespräch mit ihrem Chef so bitter nötig hatte.

*

Lukas Frommelt zündete sich eine Zigarette an und vertiefte sich, den Rauch in die Luft blasend, in eine knallbunte Broschüre über Thailand. Das Blatt hatte er zuoberst von einem unordentlichen Stapel mit Reiseprospekten genommen, der sich auf dem Küchentisch türmte.

Mit jeder Zeile, die Lukas las, wurde der Ausdruck seiner wasserblauen Augen sehnsuchtsvoller: traumhaft schöne Tempel, Sandstrände mit Palmen und blauen Lagunen, exotisch gewürzte Speisen, freundlich lächelnde Menschen, die nichts von dem Alltagsstress und der beispiellosen Hektik einer Großstadt wie Frankfurt wussten, tropische Wärme und Sonne pur.

Er würde sich in diesem Land fühlen wie ein junger Gott! Endlich würde er leben und nicht nur dahinvegetieren wie ein eingesperrtes Tier!

Und dabei würde Thailand nur eine unter vielen Stationen seiner Weltreise sein!

Lukas merkte nicht, wie der Rest seiner Zigarette ungeraucht herunterbrannte. Er hörte nicht, wie sich der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür umdrehte, und bemerkte Evas Anwesenheit erst, als die junge Frau längst neben ihm stand.

Als sie Lukas auf die Schulter tippte und ihn ansprach, erwachte er wie aus einem tiefen Traum und fuhr erschrocken herum. Er brauchte eine Weile, um sich wieder in der profanen Wirklichkeit seiner Umgebung zurechtzufinden, zumal Evas vom Weinen gerötetes Gesicht wie eine kalte Dusche auf ihn wirkte.

Unwillkürlich runzelte er die Stirn.

»Hallo, Eva«, sagte er beinahe ein wenig unwillig, »auch schon zu Hause? Ausnahmsweise keine Überstunden heute?«

Eva presste die Lippen aufeinander, um nicht laut herauszuschreien.

Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr schmerzlich bewusst, wie oft sie länger in der Firma geblieben war, um irgendeine Arbeit fertig zu machen. Wie viele Abende sie daheim über besonders interessanten und ausgefallenen Stoff­mus­tern gebrütet hatte, um ihren anspruchsvollen Chef zufriedenzustellen. Abende, an denen Lukas enttäuscht und verärgert allein auf ein Bierchen in die Kneipe nebenan gegangen war. Abende, an denen sie Freunden und guten Bekannten abgesagt und sie dadurch verprellt hatte.

Und wofür das alles?

Für eine Kündigung wie ein Blitz aus heiterem Himmel, für einen Karriereknick, für eine ungewisse Zukunft!

Eva schämte sich mit einem Mal derart für die erlittene Niederlage, dass sie es nicht schaffte, auf Lukas’ Frage hin sofort mit der ganzen unerfreulichen Wahrheit herauszurücken.

Zumal Lukas, der doch sehen musste, dass sie geweint hatte, nicht einmal nach dem Grund für ihre Tränen fragte.

»Was ist denn das? Was sind das für Prospekte? Hast diesmal etwa du Arbeit mit nach Hause genommen?«, erkundigte sie sich und begann, in den Reiseprospekten zu blättern.

Lukas zögerte ein wenig mit seiner Erwiderung.

Wie, um Himmels willen, sagte man einer Freundin, mit der man schon zwei Jahre Tisch und Bett teilte, dass …

»Berge! Was für wundervolle Berge!«, stieß Eva im selben Augenblick hervor und breitete eine Broschüre von Kanada auf dem Tisch aus. Auf ihr von Tränenspuren entstelltes Gesicht wagte sich ein zaghaftes Lächeln. »Das … das sieht fast ein bissel aus wie St. Johann.« Sie schluckte und schniefte. »Weißt du, Lukas, ich hab dir doch schon ein paar Mal vom Wachnertal erzählt und von Tante Waltraud und Onkel Erich, die dort einen Bauernhof betreiben.«

Lukas sah Eva so entgeistert an, als wäre sie soeben vom Mond gefallen. Dann schüttelte er missbilligend den Kopf.

»Eva, bitte. Fang nicht schon wieder mit deinem Wachnertal an«, wies er sie zurecht. »Und mit St. Johann und Engelsbach und Waldeck. Oder wie die ganzen Bergdörfer sonst noch heißen. Und mit deiner Tante und deinem Onkel. Das ist echt nervig, weißt du. Wie ich dich kenne, wirst du gleich auch noch von diesem Bergpfarrer Dingsda erzählen. Und von deinem umweltbewussten Fabian auf seinem Biohof, der seinem Getreide immer freundlich Gute Nacht und Guten Morgen wünscht, damit es besser wächst und gedeiht.«

Eva prallte gekränkt zurück. Um ihre Lippen zuckte es verdächtig, aber sie schwieg.

Mit versteinerter Miene faltete sie den Prospekt von Kanada wieder zusammen und legte ihn an seinen ursprünglichen Platz zurück. Ein Streit mit Lukas hätte ihr heute Abend gerade noch gefehlt.

»Tut mir leid, Lukas«, sagte sie nach einer Weile versöhnlich. »Aber die Bilder haben mir so gut gefallen und mir ein Stückerl von früher zurückgebracht. Von einer Welt, die noch überschaubar und in Ordnung war. Ein bissel spür ich noch immer die Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat in mir.«

Lukas verdrehte genervt die Augen.

»Ein bissel, ein Stückerl«, äffte er Eva nach. »Jedes Mal, wenn du Berge siehst, fällst du wieder in diesen kindischen bayerischen Dialekt zurück. Du weißt, dass er mir nicht gefällt. Er klingt provinziell und rückständig und passt mit seinen Verniedlichungen nicht mehr in unsere Welt, die nun einmal nicht mehr klein und überschaubar ist.«

Eva senkte den Kopf.

Sie schämte sich vor Lukas, weil er sie für eine Provinzgans hielt, doch gleichzeitig ärgerte sie sich über ihn.

Da hatte sie nun gehofft, sich an seiner Schulter ausweinen zu können und von ihm ein bisschen Rückenwind zu bekommen, und was tat er? Er kanzelte sie stattdessen ab wie ein dummes kleines Mädchen.

Mit müden, langsamen Bewegungen schlüpfte Eva aus ihrer Jacke und zog sich einen Stuhl heran.

»Kann ich eine Zigarette haben, Lukas?«, fragte sie, während sie bereits nach der halb leeren Schachtel und dem Feuerzeug auf dem Tisch griff.

Lukas sah sie überrascht an.

»Eine Zigarette? Seit wann rauchst du denn?«, fragte er verblüfft. »Ich dachte immer, du seist überzeugte Nichtraucherin.«

»Das war ich auch. Und bin es im Grunde immer noch«, gab Eva zurück. »Aber jetzt brauche ich einfach eine Zigarette. Oder meinetwegen auch ein Bier oder einen Kognak. Jedenfalls irgendetwas, das mich beruhigt. Heinz Reimann, mein Chef, hat mir nämlich vor einer knappen Stunde mitgeteilt, dass …«

»Apropos Chef«, unterbrach Lukas sie in diesem Moment. »Ich wollte dir eigentlich schon vorhin sagen, dass ich im Reisebüro gekündigt habe.«

Eva war sich im ersten Moment nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte.

»Du hast was? Du hast … wirklich gekündigt? Aus freien Stücken? Einfach so?«, bohrte sie nach.

»Ja, das habe ich«, gab Lukas ungerührt zurück. Diesmal war es an Eva, den Kopf zu schütteln.

»Und warum? Hast … hast du etwas Besseres gefunden oder …«, begann sie, brachte jedoch auch diesmal ihren Satz nicht zu Ende.