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Die Autoren

 

Prof. Dr. Mona-Sabine Meis lehrt seit 2005 an der Hochschule Niederrhein am Fachbereich Sozialwesen. Ihre Schwerpunkte sind künstlerisch-ästhetische Methoden in sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern. Auf der Basis ihrer Erfahrungen als zertifizierte Yogalehrerin und ihrer Zusatzqualifikationen in unterschiedlichen therapeutischen Feldern (Kunst-, Klang-, Trance-, Körpertherapie und Theaterpädagogik) lehrt, forscht und publiziert sie außerdem zu den Themengebieten Kommunikation, Selbsterfahrung, Traumapädagogik, interkulturelle und transgenerative Projekte. Vor ihrer Berufung an die Hochschule war sie als Studiendirektorin, in der Erwachsenenbildung und in interaktiven künstlerischen Projekten tätig.

 

Prof. Dr. Georg-Achim Mies war bis 2008 Hochschullehrer am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, wo er auf dem Gebiet der Theater- und Interaktionspädagogik unterrichtete. Während seiner Laufbahn hat Prof. Dr. Georg-Achim Mies zahlreiche „klassische“, „moderne“ und „verrückte“ Theaterprojekte mit Studierenden „drinnen und draußen“ initiiert. Außerdem war er als Regisseur und Dramaturg an verschiedenen deutschen Theatern, Musiktheatern und auch als Dramaturg für Konzertzyklen tätig.

Mona-Sabine Meis/Georg-Achim Mies (Hrsg.)

Künstlerisch-ästhetische Methoden in der Sozialen Arbeit

Kunst, Musik, Theater, Tanz und digitale Medien

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., aktualisierte Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033419-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033420-5

epub:   ISBN 978-3-17-033421-2

mobi:   ISBN 978-3-17-033422-9

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Vorwort zur Reihe

Mit dem so genannten „Bologna-Prozess“ galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin „berufliche Handlungsfähigkeit“ zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

Künstlerisch-ästhetische Methoden aus den Bereichen der Bildenden Kunst, der Musik, des Theaters und der Bewegung/des Tanzes sind seit über vierzig Jahren fester Bestandteil der Ausbildung an den Fachbereichen des Sozialwesens. In der Sozialen Praxis selbst haben sie eine noch längere Tradition. Zunehmende Bedeutung für diesen Bereich haben die später hinzugekommenen digitalen Medien gewonnen.

In dieser Publikation werden im ersten Teil die theoretischen Grundlagen für die Arbeit mit künstlerisch-ästhetischen Mitteln geschaffen. Basiswissen über Ästhetische Bildung wird bereitgestellt, es werden Anregungen zur Reflexion des Verhältnisses der Sozialen Arbeit und der Künste gegeben, Leitziele und Begründungen der künstlerisch-ästhetischen Methoden vorgestellt und eine Einführung in didaktisch-methodische Fragen sowie in die einschlägige Forschung vermittelt. Das Verständnis der Grundlagen aus dem ersten Teil erleichtert die Planung, Durchführung und Auswertung eigener künstlerisch-ästhetischer Projekte.

Der zweite Teil vertieft das Wissen in fünf Beiträgen zu den unterschiedlichen Künsten bzw. Medien, jeweils mit transferfähigen konkreten Praxis-Beispielen. Er enthält

•  Grundlagen zu den Bereichen Kunst, Musik, Theater, Bewegung/Tanz und digitale Medien in der Sozialen Arbeit;

•  Informationen zu ausgewählten Zielgruppen: (Klein-)Kinder, Jugendliche, (geistig und körperlich behinderte) Erwachsene und Senior/innen;

•  die Begründungen für die Wahl eines künstlerisch-ästhetischen Mediums (beispielsweise warum eher Musik oder Theater, Kunst oder Tanz, wann eher digitale Medien?);

•  einen Überblick, mit welchen Zielpersonen und in welchen Zusammenhängen künstlerisch-ästhetische Methoden in der Sozialarbeit eingesetzt werden (können);

•  praxis- und handlungsorientierte Informationen zu den wichtigsten Methoden in der Arbeit mit den Künsten (u. a. Einzelarbeit, Gruppenarbeit, offene Arbeit, halboffene Projekte, Werkstatt- und Projektmethode und unterschiedliche Formen der Anleitung);

•  kommentierte konkrete Projektbeschreibungen, die als Handlungsanleitungen genutzt und auch auf andere Praxis-Beispiele transferiert werden können.

Im zweiten Teil wird in den Autorenbeiträgen jeweils ein unterschiedlicher Praxis-Schwerpunkt behandelt. Die einzelnen Beiträge fügen sich so zusammen, dass ein umfassendes Spektrum an künstlerisch-ästhetischen Medien, Methoden, Schwerpunkten der künstlerisch-ästhetischen Arbeit sowie der Zielgruppen und Einsatzmöglichkeiten abgedeckt wird.

So wird beispielsweise die Werkstattmethode anhand des Mediums Kunst und der Zielgruppe Kinder vorgestellt. Die Schwerpunkte in diesem Beitrag sind individuelle bzw. Einzelarbeit und im Praxisbeispiel das experimentelle, forschende Handeln (Meis, Teil II, 1).

Die Möglichkeiten der Durchführung von künstlerisch-ästhetischen Projekten mit Jugendlichen werden an Beispielen aus den Bereichen digitale Medien (Hoffmann, Teil II, 2) und Tanz/Bewegung (Behrens/Tiedt, Teil II, 3) ausgeführt. Die Schwerpunkte sind dabei digitale Medien als Sozialisationsfaktor, kritische Mediennutzung/Mediengestaltung sowie die Konzeptentwicklung in der offenen, außerschulischen Jugendarbeit.

Der Beitrag zu Tanz und Bewegung fokussiert Ganzkörperlichkeit, Routinebruch sowie systematische Gestaltung in der Schulsozialarbeit bzw. der Arbeit in Jugendzentren.

Die (offene) Projektmethode wird am Beispiel der Erarbeitung eines Theaterstücks mit geistig und körperlich behinderten Erwachsenen erläutert (Mies, Teil II, 4). Der Schwerpunkt liegt auf spielerischem, weitgehend selbstbestimmtem Vorgehen im Rahmen einer betreuten Wohngruppe.

Die Arbeit mit Senior/innen wird mit dem Medium Musik verknüpft (Hartogh/Wickel, Teil II, 5). Die Schwerpunkte sind schöpferische Gemeinschaft durch synchrones Handeln und Kommunikation in der offenen, ambulanten und (teil-)stationären Altenhilfe (Lebenswelt- und Biografie-Orientierung, Capability-Approach).

Doch diese Verknüpfungen von den jeweiligen Künsten und Medien mit den Methoden, den gewählten Schwerpunkten, den einzelnen Zielgruppen und den Rahmenbedingungen sind nur exemplarisch zu verstehen: Die einzelnen Bausteine können auch anders kombiniert und das in den Beispielen erworbene Wissen auf andere Projekte transferiert werden. So kann beispielsweise die Projektmethode in der tänzerischen Arbeit mit Kindern, die Musik in Projekten mit Jugendlichen und die Kunst in der Arbeit mit Senior/innen eingesetzt und dabei die Schwerpunkte neu gewählt werden.

Das Buch ist so aufgebaut, dass es sowohl chronologisch als auch in Abschnitten gelesen und verstanden werden kann. Das Buch wendet sich an

•  Studierende, die ein Studium der Sozialen Arbeit beginnen wollen oder bereits studieren;

•  Studierende der Sozial- und Kulturpädagogik;

•  Studierende, die ihre Abschlussarbeiten (Bachelor und Master) im Bereich künstlerisch-ästhetischer Projekte anfertigen möchten;

•  Sozialarbeiter/innen, Sozial- und Kulturpädagog/innen, die ihr Wissen auffrischen, aktivieren oder erweitern möchten;

•  Studierende benachbarter Studiengänge und Berufstätige in der Sozialen Arbeit verwandten Feldern (z. B. Heil- und Pflegepädagogik, Früh- und Kindheitspädagogik).

Der Band beruht auf den langjährigen Erfahrungen aus Lehre und Praxis der Herausgeber/innen und der Verfasser/innen der Beiträge im zweiten Teil. Einbezogen wurden damit Perspektiven und Kompetenzen aus unterschiedlichen Hochschulen, Künsten und Praxen, um dem komplexen Gebiet gerecht zu werden. Die meisten Autor/innen sind Mitglied im BAKÄM, dem Bundesarbeitskreis Kunst-Ästhetik-Medien der Lehrenden an Fachbereichen des Sozialwesens.

In unserer Publikation kann nicht das gesamte Spektrum der Studienangebote aus dem Bereich Kunst-Ästhetik-Medien an den Fachbereichen des Sozialwesens berücksichtigt werden. Da aus Gründen des Umfangs Schwerpunkte gesetzt werden mussten, wurden die Angebote und Aktivitäten der Spiel-, Sport-, Event- und Erlebnispädagogik sowie der Kulinarik zugunsten des künstlerisch-ästhetischen Schwerpunktes ausgeklammert.

Innerhalb des künstlerischen Spektrums blieb zudem die Sprachkunst/Literatur unberücksichtigt. Die Autor/innen wissen zwar um die hohe gesellschaftliche Relevanz der Wortsprache, um ihre Beherrschung als Schlüssel zur Teilhabe und um ihr großes künstlerisches Spektrum. Auch die meisten Bereiche der Sozialen Arbeit, vorgestellt in den anderen Bänden der vorliegenden Buchreihe, basieren auf der (diskursiv-symbolischen) Wortsprache. Um das Andersartige der präsentativ-symbolischen Ausdrucksformen herauszustellen, wurde der Schwerpunkt in diesem Band auf die Bereiche der Bild-, Körper- und Klangsprachen sowie auf die digitalen Medien gelegt.

An den Hochschulen und in der Praxis gibt es (noch) keine einheitliche Terminologie für die Prinzipien und Praktiken des Schwerpunktbereiches der vorliegenden Publikation: Neben Begriffen wie Ästhetische Praxis, Kulturpädagogik, Gestaltungspädagogik, Angebote und Aktivitäten aus dem Bereich Kunst-Ästhetik-Medien, Verfahren aus den Künsten, Ästhetik und Kommunikation, Ästhetische Erziehung, Ästhetische und Kulturelle Bildung wird – besonders in der Praxis – auch von Medienpädagogik gesprochen (heute jedoch verstärkt auf digitale Medien bezogen). Auch die Begriffe Soziale Kulturarbeit und Kulturelle Sozialarbeit sind zu finden.

In der vorliegenden Publikation werden dem Schwerpunkt entsprechend überwiegend die Adjektive künstlerisch und ästhetisch sowie ihre Verbindung verwendet, verknüpft mit den Nomen Methoden, Verfahren, Projekte und Praxis. Die oben aufgezählten Begriffe werden darüber hinaus ebenfalls genutzt, besonders dann, wenn durch sie Nuancen und Unterschiede betont werden können. So fokussiert Soziale Kulturarbeit stärker auf kulturelle Ziele, während die Kulturelle Sozialarbeit stärker die Anwendung der kulturellen Praktiken im Sinne der Sozialarbeit betont.

Die Schreibweise der sich auf Personen(-gruppen) aller Geschlechter beziehenden Wörter ist in den Beiträgen dieser Publikation nicht vereinheitlicht. Es gelten jedoch jeweils alle als einbezogen, solange dies nicht anders ausgewiesen oder aus dem Kontext erkennbar wird.

 

Prof. Dr. Mona-Sabine Meis (Wuppertal)
Prof. Dr. Georg-Achim Mies (Mönchengladbach)

Inhalt

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Zu diesem Buch
  3. TEIL I Allgemeine Grundlagen der künstlerisch-ästhetischen Praxis in der Sozialen Arbeit
  4. Mona-Sabine Meis
  5. 1 Ästhetische Bildung
  6. 1.1 Die Begriffe künstlerisch und ästhetisch
  7. 1.2 Die Begriffe Ästhetische Bildung und Ästhetische Erziehung
  8. 1.3 Historischer Hintergrund und gesellschaftliche Einordnung
  9. 1.4 Subjektbezug und Selbstbildung in der Sozialen Arbeit
  10. 1.5 Die Bedeutung der Wahrnehmung in der Ästhetischen Bildung
  11. 1.6 Ästhetische Erfahrung – alltäglich und künstlerisch
  12. 1.7 Ästhetische Praxis
  13. 2 Die Künste und die Soziale Arbeit
  14. 2.1 Kunst und Kunstschaffen heute
  15. 2.2 Kunst als Medium zum Verständnis der Welt oder als Mittel der Distinktion
  16. 2.3 Die Künste als Initiatoren sozialen Handelns
  17. 2.3.1 Religiöse Kunst, frühe Revolutions-Comics und sozial-politische Kunst
  18. 2.3.2 Soziale Plastik
  19. 2.3.3 Randgruppen agieren lassen
  20. 2.3.4 Benefizveranstaltungen
  21. 2.3.5 Interventionen im Öffentlichen Raum
  22. 2.3.6 Gleichberechtigt und gemeinsam: Partizipatorische Kunst
  23. 2.3.7 Nachhaltige soziale Eingriffe
  24. 2.3.8 Folgerungen für die Soziale Arbeit
  25. 3 Leitvorstellungen und Leitziele der künstlerisch-ästhetischen Praxis in der Sozialen Arbeit
  26. 3.1 Resilienz
  27. 3.2 Das Konzept der Selbstbildung in der Sozialen Arbeit
  28. 3.3 Aktivierung von Ressourcen
  29. 3.4 Kreativität
  30. 3.4.1 Historische Entwicklung
  31. 3.4.2 Kreativitätsbegriff
  32. 3.4.3 Kreativität konstituierende Faktoren
  33. 3.4.4 Flow
  34. 3.4.5 Kreativität fördern?
  35. 3.4.6 Möglichkeits- und Entscheidungsräume schaffen
  36. 3.4.7 Kreativitätsphasen
  37. 3.5 Kompetenzen
  38. 3.5.1 Kompetenzbegriff und Kategorisierung
  39. 3.5.2 Kompetenzen und Bildung
  40. 3.5.3 Lebenslanges, non-formales und informelles Lernen
  41. 3.5.4 Zertifizierung der künstlerisch-ästhetischen Praxis?
  42. 4 Didaktik und Methodik
  43. 4.1 Didaktik
  44. 4.2 Methodik
  45. 4.2.1 Traditionelle und neue Methoden in der Sozialarbeit
  46. 4.2.2 Grundlagen der Methodenwahl
  47. 4.3 Vorbereitung geschlossener und teiloffener künstlerisch-ästhetischer Angebote
  48. 4.3.1 Zur Planung einzelner Einheiten auf der Mikro-Ebene
  49. 4.3.2 Konzepterstellung für teiloffene Vorhaben
  50. 4.3.3 Die Planung größerer Projekte
  51. 5 Ein Blick in die Forschung
  52. 5.1 Relevante Studien
  53. 5.1.1 UNESCO-Studie
  54. 5.1.2 Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
  55. 5.1.3 Studie zu den Potenzialen der Ästhetischen Praxis
  56. 5.1.4 Studien zur Mediennutzung
  57. 5.2 Künstlerische Therapien, Neurobiologie, Hirnforschung, Neuroästhetik
  58. 5.3 Ursachen- und Wirkungsforschung/Transferforschung
  59. 5.4 Schwierigkeiten und Schwächen
  60. 5.5 Methodische Herausforderungen
  61. 5.6 Forschung im Wandel der Forscherperspektive
  62. TEIL II Beiträge zu den künstlerischen und medialen Schwerpunkten
  63. 1 Verfahren der Bildenden Kunst in der Sozialen Arbeit – verdeutlicht am Beispiel der Einzelarbeit mit Kindern
  64. Mona-Sabine Meis
  65. 1.1 Funktion und Bedeutung von Bildender Kunst in der Sozialen Arbeit
  66. 1.2 Bildende Kunst im Kontext der Sozialen Arbeit
  67. 1.2.1 Auswahlkriterien für Kunstwerke und künstlerische Verfahren
  68. 1.2.2 Die Rolle der Sozialarbeiterin und des Sozialarbeiters
  69. 1.2.3 Begabung und künstlerische Qualität
  70. 1.2.4 Techniken
  71. 1.2.5 Präsentationen
  72. 1.2.6 Rezeption
  73. 1.3 Schwerpunkt: Künstlerische Arbeit mit Kindern
  74. 1.3.1 Kindheit heute
  75. 1.3.2 Auswirkungen der geänderten Lebensbedingungen
  76. 1.3.3 (Früh-)Förderung
  77. 1.3.4 Kognitive und künstlerische Entwicklung
  78. 1.3.5 Verortung der Bildenden Kunst in der Sozialen Arbeit mit Kindern
  79. 1.3.6 Einzelbetreuung
  80. 1.4 Praktische Beispiele für die künstlerisch-ästhetische Arbeit mit Kindern
  81. 1.4.1 Die Werkstattmethode in der Sozialen Arbeit
  82. 1.4.2 Der Kunst-Koffer
  83. 1.5 Beispiele aus der Praxis
  84. 2 Digitale Medien im Kontext Sozialer Arbeit – dargestellt am Bereich offener Jugendarbeit
  85. Bernward Hoffmann
  86. 2.1 Digitale Medien – Funktionen und pädagogische Bedeutung
  87. 2.1.1 Medien-Begriff
  88. 2.1.2 Mediennutzung
  89. 2.1.3 Pädagogische Bedeutung
  90. 2.2 Digitale Medien im Kontext Sozialer Arbeit
  91. 2.3 Bezugsdisziplinen von Medienpädagogik in der Sozialen Arbeit
  92. 2.4 Schwerpunkt offene Jugendarbeit
  93. 2.4.1 Bedeutung des Jugendalters (Adoleszenz)
  94. 2.4.2 Offene Jugendarbeit als Teil der Jugendhilfe
  95. 2.4.3 Verortung von Medienpädagogik mit digitalen Medien in der (offenen) Jugendarbeit
  96. 2.4.4 Aktivierende Medienarbeit mit Jugendlichen
  97. 2.5 Praxisbeispiel Medienarbeit im Jugendzentrum
  98. 2.5.1 Beispiele medienpädagogischer Strukturen
  99. 2.5.2 Eine Medienwerkstatt im Jugendzentrum
  100. 2.5.3 Praktische Medienarbeit in der Werkstatt des Jugendzentrums
  101. 2.5.4 Ein Medienkonzept für eine Jugendeinrichtung
  102. 2.6 Zum Abschluss: Sozialpädagogen als Medienpädagogen
  103. 3 Bewegung und Tanz als Gegenstand der ästhetisch-kulturellen Bildung in der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen
  104. Claudia Behrens & Wolfgang Tiedt
  105. 3.1 Funktion und Bedeutung von Bewegung und Tanz in der Sozialen Arbeit
  106. 3.2 Bewegung und Tanz in Kultur, Politik und Medien
  107. 3.3 Zum (Wirkungs-)Forschungsstand in Bewegung, Tanz und Tanzpädagogik
  108. 3.4 Die Zielgruppe Jugendliche
  109. 3.4.1 Bildungspotenziale für Jugendliche von, durch und in Bewegung und Tanz
  110. 3.5 Vermittlungswege – der künstlerisch-pädagogische Ansatz der Tanzund Bewegungserziehung
  111. 3.5.1 Umgang mit Aufgabenstellungen
  112. 3.5.2 Bedeutung der Wahl der Sozialform
  113. 3.5.3 Umgang mit Organisationsformen
  114. 3.5.4 Berücksichtigung von Stimmigkeit und Können
  115. 3.5.5 Konstruktives Feedback und Anerkennung
  116. 3.6 Ausgangspunkte zum Tanzen und Gestalten
  117. 3.6.1 Ausgangspunkt Bewegung
  118. 3.6.2 Ausgangspunkt Musik und Bewegung
  119. 3.6.3 Ausgangspunkt Objekt und Bewegung
  120. 3.6.4 Ausgangspunkt Sprache und Bewegung
  121. 3.7 Exemplarische Einheit zum Thema Routinebruch
  122. 4 Theater und Soziale Arbeit – Ein „offenes“ Theaterprojekt mit geistig und körperlich behinderten Erwachsenen
  123. Georg-Achim Mies
  124. 4.1 Theaterspiel in der Sozialen Arbeit
  125. 4.2 Funktion und Bedeutung
  126. 4.3 Begründungen und Legitimierungen
  127. 4.3.1 Wissenschaftliche Orientierungen und Begründungen
  128. 4.3.2 Rechtliche Legitimierung – beispielhaft aufgezeigt für die Situation behinderter Menschen
  129. 4.3.3 Pädagogisch-praktische Orientierungen und Begründungen
  130. 4.4 Theaterspielen in der Sozialen Arbeit
  131. 4.5 Zielgruppen und Felder
  132. 4.6 Theaterspielen kann so einfach sein
  133. 4.7 Mutmachen zum Theaterspielen
  134. 4.8 Nach der „offenen“ Projektmethode in der Sozialen Arbeit Theater machen
  135. 4.9 Zehn Fähigkeiten, die ein Spielleiter für „offene“ Theatervorhaben benötigt
  136. 4.10 Das „offene“ Theaterprojekt „Krippenspiel“
  137. 4.10.1 Theater mit geistig und körperlich behinderten Erwachsenen
  138. 4.10.2 Das Theaterprojekt, seine Teilnehmer/innen und seine Bedingungen
  139. 4.10.3 Die Projektart
  140. 4.10.4 Die Sitzungen des offenen Theaterprojektes „Krippenspiel“
  141. 4.11 Was sich während und nach der Aufführung herausstellte
  142. 4.12 Fazit
  143. 5 Musik in der Sozialen Arbeit – aufgezeigt am Arbeitsfeld Soziale Altenarbeit
  144. Theo Hartogh & Hans Hermann Wickel
  145. 5.1 Funktion und Bedeutung von Musik
  146. 5.2 Musikalische Gestaltungen in der Sozialen Arbeit
  147. 5.3 Bezugsdisziplinen von Musik in der Sozialen Arbeit
  148. 5.4 Schwerpunkt Altenarbeit
  149. 5.4.1 Demografische Entwicklung und Altersbild
  150. 5.4.2 Aufgaben der Sozialen Altenarbeit in Alteneinrichtungen
  151. 5.4.3 Verortung des Mediums Musik in der Sozialen Altenarbeit
  152. 5.4.4 Musikalität
  153. 5.4.5 Das Bildungspotenzial aktiven Musizierens
  154. 5.4.6 Lebenswelt- und Biografieorientierung
  155. 5.4.7 Musikalische Aktivitäten in der Altenarbeit
  156. 5.5 Praxisbeispiel: Begegnungsstätte „Die Brücke“ in Emsdetten
  157. 5.6 Professionalisierung von Sozialpädagogen/Sozialarbeitern
  158. Zu den Autoren und Autorinnen

TEIL I
ALLGEMEINE GRUNDLAGEN DER KÜNSTLERISCH-ÄSTHETISCHEN PRAXIS IN DER SOZIALEN ARBEIT

Mona-Sabine Meis

Was Sie im ersten Teil dieses Buches lernen können

Teil I des Buches stellt Basiswissen für die soziale Zielgruppen-Arbeit mit künstlerisch-ästhetischen Methoden bereit, welches im zweiten Teil in den Autorenbeiträgen zu den verschiedenen Künsten und Medien vertieft und konkretisiert wird. Er vermittelt

•  eine Einführung in die Theorie und Praxis der Ästhetischen Bildung und der niedrigschwelligen ästhetischen Praxis;

•  einen Zugang zum weiten Feld der Künste;

•  einen exemplarischen Überblick über Kunstwerke und Kunstaktionen, bei denen sich Künstler/innen gezielt sozial engagieren;

•  einen Überblick darüber, was die künstlerisch-ästhetischen Aktivitäten bei den Zielpersonen bewirken sollen und können;

•  ein Verständnis davon, was unter Kompensation, Ressourcen-Aktivierung, Kompetenzen und Kreativität sowie ihrer Förderung im Kontext der kulturellen Sozialarbeit konkret zu verstehen ist;

•  eine Einführung in die didaktisch-methodischen Grundlagen der künstlerisch-ästhetischen Praxis in der Sozialen Arbeit, die zur eigenen Planung und Durchführung künstlerisch-ästhetischer Angebote befähigt;

•  einen Einblick in den Stand der einschlägigen Forschung.

1          ÄSTHETISCHE BILDUNG

In nie vorher gekanntem Ausmaß wird heute die Bedeutung und Wirksamkeit der Ästhetischen Bildung propagiert. So ist in der Agenda der zweiten Unesco-Weltkonferenz zur Kulturellen Bildung zu lesen, dass Kulturelle Bildung als Grundlage einer ausgewogenen kreativen, kognitiven, emotionalen, ästhetischen und sozialen Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und lebenslangen Lernern begriffen werden muss (Unesco 2010). Auch die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ betont die Relevanz der kulturellen bzw. ästhetischen Bildung und legt in ihrem Abschlussbericht 2007 einen Katalog von konkreten Handlungsempfehlungen vor (Deutscher Bundestag 2007). 2017, also zehn Jahre nach Erscheinen des Enquete-Dokuments betont der Deutsche Kulturrat die Aktualität und Relevanz dieses Referenzdokumentes (kulturrat.de).

Künstlerisch-ästhetische Projekte mit gesellschaftlichen „Problem“-Gruppen werden gegenwärtig auch in den Medien bejubelt. An sie werden in diesem Zusammenhang hohe Erwartungen zur Lösung sozialer und kultureller Herausforderungen bis hin zu Heilszuschreibungen herangetragen. Die kulturelle Bildung soll Persönlichkeitsentwicklung, Empowerment und die Entwicklung von Kompetenzen und Kreativität fördern helfen. Außerdem soll sie die Zielgruppen zur Kooperation, Verantwortungsübernahme und zu gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe befähigen. Frühe Beispiele für medienwirksame Projekte sind das durch den Film „Rhythm is it“ (2004) bekannt gewordene Tanzprojekt unter Leitung des Choreografen Royston Maldoom und den Berliner Philharmonikern u. a. mit schulmüden Jugendlichen (vgl. Behrens/Tiedt, Teil II, 3), die Kunstaktionen der Künstlerinnen Christine & Irene Hohenbüchler mit gesellschaftlichen Randgruppen, der von Bob Cilman initiierte Seniorenchor (Verfilmung: „Young@ Heart“ 2007; vgl. Hartogh/Wickel, Teil II, 5) und das gigantische Kunst-Projekt des amerikanischen Künstlers Vik Muniz mit Catadores – Sammler/innen wiederverwertbaren Mülls – aus brasilianischen Favelas (Verfilmung als „Waste Land“ 2011). Ebenfalls bekannt und exemplarisch als Belege für die Popularität der ästhetischen Bildung zu nennen sind die Programme „Kulturrucksack“, „Kunst und Schule“, „JeKits“ (Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen), Musik-, Kunst- und Theaterklassen in Schulen, Sprachförderung in Kunstmuseen (u. a. „Bilder als Brücke zur Sprache“, Von der Heydt-Museum Wuppertal) sowie großzügige Finanzierungen von sogenannten Leuchtturmprojekten durch öffentliche Gelder, Stiftungen und Sponsoren.

In der Sozialen Arbeit sind künstlerisch-ästhetische Projekte mit Klient/innen meist weniger spektakulär – für die Zielgruppen jedoch höchst wertvoll und möglicherweise gewinnbringender als die großen, öffentlich beifallsheischenden Aktionen: Eine Senior/innengruppe besucht gemeinsam eine Theater-Aufführung von Shakespeares Sommernachtstraum, eine Rollstuhlfahrerin fährt in eine Picasso-Ausstellung, die Tonarbeiten einer Gruppe von Menschen mit seelischer Erkrankung werden auf einem Basar verkauft, eine Gruppe von Straßenkindern aus dem Kongo führt die Ergebnisse aus einem biografischen Theaterprojekt vor, traumatisierte Kriegswaisen verarbeiten ihre Erlebnisse in Bildern, Collagen von Migrantinnen dienen dem Austausch über ihre Herkunftsländer und ihre Situation, drogensüchtige Frauen gehen fotografisch auf Identitätssuche (vgl. Hoffmann et al. 2004; Jäger/Kuckhermann 2004; Hölzle/Jansen 2011; Grosse/Niederreiter/Skladny 2015).

In Anlehnung an Paul Watzlawick formulieren wir: „Ein Mensch kann sich nicht nicht ästhetisch verhalten.“ Damit verweisen wir auf die Tatsache, dass ästhetische Wahrnehmung und ästhetisches Verhalten nicht nur mit Kunst, Musik, Tanz und Theater verbunden sind, sondern auch in ganz alltäglichen Zusammenhängen „passieren“. Dies ist beispielsweise schon beim morgendlichen Frisieren und Ankleiden der Fall und setzt sich in der Wohnraum-, Arbeitsplatz- und Mahlzeiten-Gestaltung fort.

Doch trotz einer umfassenden Ästhetisierung unseres Alltags haben nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen und Ressourcen, sich künstlerisch-ästhetisch zu verhalten oder anregen zu lassen: Viele Menschen, mit denen die Sozialarbeit zu tun hat, gehen kaum in die Oper und ins Museum, besuchen weniger häufig Kurse an Jugendkunstschulen oder bekommen seltener Ballettunterricht als Mitglieder des so genannten Bildungsbürgertums. Wer hat schon die Möglichkeit, seine „Sinne zu verfeinern“? Gleichzeitig wird ästhetische Bildung und Verfeinerung der Sinne (oder ihr Gegenteil) jederzeit im Alltag sichtbar (Selbstinszenierung durch Kleidung etc., Wohnraumgestaltung, Teilhabe am kulturellen Leben …). Daraus ergibt sich ein Teufelskreis, mit dem die Soziale Arbeit umgehen muss: Wer weniger Chancen auf ästhetische Bildung hat, kann sie oft weniger genießen. Das wiederum wird auch durch das ästhetische Verhalten ausgedrückt, welches zu Hierarchien, zu Abwertungen und sozialer Deklassierung führen kann: Die Chancen auf Anerkennung und soziale und kulturelle Teilhabe werden erschwert (vgl. zu dieser Thematik auch Bourdieu 1982 und Corbin 1990). Ästhetische Bildung und die Arbeit mit künstlerisch-ästhetischen Verfahren, wie sie in diesem Buch vorgestellt wird, sollen einer möglichen Ausgrenzung auf vielen Ebenen entgegenwirken, zu einem Mehr an kultureller Teilhabe beitragen und somit die Klient/innen stärken (ermächtigen). Und obwohl im Zuge der zunehmenden Professionalisierung des Berufsstandes der Sozialen Arbeit eine Tendenz hin zu Verwaltungsaufgaben, neuen Steuerungsmodellen (Schilling 2016, 263–280) und verbal geprägten Techniken unübersehbar ist, konnte die gesicherte Stellung der „Angebote und Aktivitäten aus dem Bereich Kultur, Ästhetik, Medien“ in der Sozialen Arbeit nachgewiesen werden (Marquardt/Krieger 2007, 13). Künstlerisch-ästhetische Angebote bereichern die Soziale Arbeit in allen Handlungsfeldern und gehören in einigen vielfach – beispielsweise in der Arbeit mit Kindern und Senior/innen – sogar zu den „Basics“. Eine entsprechende Vor- und Ausbildung ist daher auch für potenzielle Arbeitgeber/innen von Interesse. Diese Tendenz wird sich vor dem oben skizzierten Hintergrund vermutlich weiter verstärken.

1.1       Die Begriffe künstlerisch und ästhetisch

Die Begriffe künstlerisch und ästhetisch werden teilweise als Synonyme, also mit gleicher Bedeutung verwandt. Beide verweisen dann auf Handlungen und Phänomene, die im weitesten Sinne mit den Künsten zu tun haben: auf künstlerisches Schaffen, künstlerische Werke oder ein künstlerisches Leben. Der Begriff ästhetisch ist jedoch offener und umfassender als der Begriff künstlerisch und bezieht sich nicht immer direkt auf künstlerische Phänomene, sondern verweist in seiner weiten Bedeutung auf das Sinnenhafte und auf das Schöne.

Ästhetik – eine wissenschaftliche Disziplin

Der Begriff Ästhetik geht zurück auf Aisthesis (griechisch): (sinnliche) Wahrnehmung. Ästhetisch heißt daher auch sinnenhaft, mit allen Sinnen.

Die Wissenschaft der Ästhetik ist die Disziplin, die „ein Wissen vom Sinnenhaften“ anstrebt (Welsch 2003) und dabei sowohl die Künste, das „Schöne“ als auch die Wirkung von Alltags und Naturphänomenen erforscht: Warum kann uns eine Blumenwiese betören und eine Schale Pommes verführen? Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit, von Schein und Sein, von Selbst- und Weltzugang und mit der Erkenntnis mit allen Sinnen.

Grundlegende Kategorien der Ästhetik sind das Schöne und das Hässliche, das Erhabene und die Negation, das Versprechen einer Alternative durch das Aufzeigen von andersartigen Möglichkeiten (vgl. Majetschak 2006 und Welsch 2017).

Umgangssprachlich werden die Begriffe Ästhet und ästhetisch oft im Sinne von feingeistig und feinfühlig und im Rahmen geschmacklicher Wertungen verwandt. Man sagt beispielsweise: Ein Ästhet (hier als Feingeist verstanden) weiß, was ästhetisch ist (hier als normativ schön verstanden), und richtet seine Wohnung ästhetisch (hier = geschmackvoll) ein.

Um Missverständnisse zu vermeiden, verweisen wir darauf, dass diesem Beitrag die davon zu unterscheidenden, nicht normativen wissenschaftlichen Bedeutungen zu Grunde liegen.

Ästhetisch – künstlerisch – künstlerisch-ästhetisch

Wir nutzen das Adjektiv ästhetisch, wenn wir stärker die spielerischen, experimentellen, die Sinne einbeziehenden und ansprechenden Prozesse und Tätigkeiten im Umgang mit künstlerischen Materialien betonen wollen. Es verweist dann auf den (eigen-)sinnigen Umgang mit Material und Materialien. Ästhetisches Handeln kann in diesem Sinne ergebnisoffen bleiben, es muss kein präsentierbares Produkt am Ende entstehen. Dieser Aspekt wird in diesem Band besonders im Beitrag zur Bildenden Kunst (Meis, Teil II, 1) hervorgehoben.

Mit dem Adjektiv künstlerisch dagegen betonen wir den gestaltenden und gestalterischen Aspekt, d. h. eine zielgerichtetere und ergebnis-orientiertere Haltung und Handlung. Dieser Aspekt wird besonders in den Beiträgen zu Bewegung/Tanz (Behrens/Tiedt, Teil II, 3) und zur Musik (Hartogh/Wickel, Teil II, 5) herausgearbeitet.

Künstlerisch kann sich zudem auch auf gestaltetes Material und ein gestaltetes Werk beziehen und hebt dann im Gegensatz zu ästhetisch die bewusste Formung, Komposition und Ausarbeitung hervor (Beispiel: Künstlerische Fotografie gegenüber Alltags-Schnappschüssen).

Die Kombination der beiden Begriffe, also künstlerisch-ästhetisch verwenden wir in dieser Publikation, um das Zusammenspiel der unterschiedlichen Schwerpunkte zu betonen.

Die Frage, was Kunst ist und wie künstlerische Qualität definiert werden kann, ist heute selbst in der offiziell anerkannten Museumskunst kaum mehr zu beantworten. Sie weicht daher zunehmend der Frage nach der Funktion von Kunst, also der Frage, was Kunst kann. Interessant werden auch zunehmend die Fragen, wie und warum Kunst gemacht wird und Fragen nach den Bedingungen ihrer Rezeption (vgl. Bourdieu 1999 und Zahner 2006/2016), also Fragestellungen, die von jeher für die Soziale Arbeit und ihre Klient/innen von größerem Interesse waren als die Frage nach Bewertungsmaßstäben für die Produkte.

Wenn über Kunst und künstlerisches Arbeiten gesprochen oder nachgedacht wird, existiert trotzdem noch immer ein nicht weiter definierter Qualitätsanspruch, der häufig mit den Kategorien technische Virtuosität, Innovation, Erfolg und Genialität verknüpft wird.

Die Adjektive künstlerisch und ästhetisch bezeichnen dagegen in allen Beiträgen dieses Buches Tätigkeiten, Ergebnisse und Produkte, die einem anderen, nicht unbedingt geringeren Qualitätsanspruch genügen, als er noch häufig für die offiziell anerkannte Kunst vermutet wird: Die künstlerisch-ästhetische Arbeit wird nicht an technischer Perfektion, an der Abgrenzung von Vorherigem oder an ihrem Marktwert gemessen. Qualität zeigt sich in der Sozialen Arbeit vielmehr darin, wie die künstlerisch-ästhetische Arbeit die Zielpersonen bereichern kann.

Das ästhetische (wissenschaftliche Bedeutung) Experimentieren eines Kleinkindes kann nach diesem Qualitätsanspruch für das Kleinkind und sein Umfeld sehr wertvoll sein, selbst wenn es umgangssprachlich als „unästhetisch“, als Dreck machen und Schmieren bezeichnet wird (vgl. Meis, Teil II, 1).

Und obwohl das künstlerische Werk eines mehrfach behinderten Menschen selten traditionellen künstlerischen Marktansprüchen genügt, ist es für ihn Kunst und kann oftmals auch Außenstehende beeindrucken und berühren. Dies wird in der vorliegenden Publikation besonders im Theater-Beitrag verdeutlicht (Mies, Teil II, 4).

1.2       Die Begriffe Ästhetische Bildung und Ästhetische Erziehung

In der Sozialen Arbeit gibt es sowohl Konzepte zur angeleiteten als auch zur selbstständig erworbenen ästhetischen Bildung. In beiden Konzepten stehen dabei die Sinne und die Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt, und es geht weniger um künstlerische Fertigkeiten im Sinne technischer Perfektion oder um kunstbezogenes Wissen.

Ästhetische Bildung zeigt sich in Ästhetischem Verhalten. Dieses wird in subjektinterne Abläufe und subjektextern beobachtbare Handlungen unterteilt.

Zu den inneren Vorgängen zählt die Wahrnehmung mit allen dazugehörigen emotionalen und kognitiven Faktoren.

Zu den äußeren Vorgängen gehören alle sichtbaren ästhetischen und sinnlichen Formen der Auseinandersetzung mit sich selbst und der äußeren Welt, vor allem in symbolischer Ausprägung, also beispielsweise Aktivitäten wie Malen, Musizieren, Schauspielern, Tanzen und digitale Gestaltungen, aber auch (teilweise) experimentelles sowie spielerisches Verhalten.

Beeinflusst wird das Verhalten durch „dispositionelle“ und „situationale Variable“ (Zimbardo/Gerrig 2004, 6). „Dispositionell“ bezieht sich auf die genetische Ausstattung, die Motivation, Intelligenz und das Selbstwertgefühl eines Menschen und umfasst zunächst dessen rein körperliche, sensomotorische und entwicklungspsychologische Voraussetzungen. Darüber hinaus sind auch Neugier, Interesse, Selbstbild, Vorerfahrungen, die Bildung von Zielvorstellungen sowie sozialisations- und bildungsbedingte Voraussetzungen einbegriffen. Mit situational werden äußere, subjektexterne Variablen bezeichnet, also die materiellen, räumlichen, zeitlichen und personellen Bedingungen der Entfaltung (Zimbardo/Gerrig 2004, 6). Als Beispiele können hier Arbeitslosigkeit, Armut, körperliche und geistige Vernachlässigung sowie Förderangebote, zuverlässige Bezugspersonen etc. genannt werden.

Spezifisch für das ästhetische Verhalten ist der Bezug zu den Sinnen und zu ästhetischen Kategorien wie das Schöne, das Hässliche, das Erhabene und die Atmosphäre (vgl. Goetz/Graupner 2007; 2011).

1.3       Historischer Hintergrund und gesellschaftliche Einordnung

Die Diskussion um das Wesen, die Inhalte und die Relevanz der Ästhetischen Bildung haben bereits die großen Denker der Antike wie Platon und Aristoteles geführt. Seitdem werden die komplexen und vielfältigen Sinngehalte in Bezug auf eine Erziehung mit und durch die Künste erörtert (vgl. Bilstein et al. 2009; Zirfas/Lohwasser 2016). Der Terminus Ästhetische Erziehung selbst geht auf Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ (Schiller 1801/2000) zurück.

In den 1970er Jahren erlebte die Diskussion eine Blüte und differenzierte sich in unterschiedliche Hauptstränge, zu deren bekanntesten Protagonisten die Kunstpädagogen Gunter Otto und Gert Selle gehörten. Gunter Otto versuchte im Spannungsfeld zwischen kunstdidaktischem Erkenntnisinteresse und Legitimationsdruck gegenüber den Sprachen, der Mathematik und den Naturwissenschaften in der schulischen Bildung eine Verwissenschaftlichung der künstlerischen Unterrichtsfächer zu erreichen. Ästhetische Erziehung bedeutete für ihn zielorientiertes, geplantes, didaktisch begründetes und strukturiertes Handeln seitens der Lehrenden, was Kunst lehr- und lernbar und den Erfolg messbar machen könne (Otto/Otto 1987). Demgegenüber betonte Selle das Anarchisch-Unkontrollierte von ästhetischen Erfahrungsprozessen, ihre Offenheit und ihren Selbstbildungswert als autonome Form der Aneignung eines Selbst und der Welt. Er plädierte für Methoden zur Unterstützung eines offenen, experimentellen und eigenwilligen Verhaltens (vgl. Selle 1990). Um den Subjektcharakter – anstelle des Anleitungsaspektes – zu betonen, spricht er von Ästhetischer Bildung statt Erziehung. Deutlich ist seine Nähe zu den Positionen von Joseph Beuys und zu Klaus Mollenhauer (1996).

Organisatorisch manifestierte sich die Polarisierung zwischen Verwissenschaftlichung/Lenkung und Freiheit/Subjektbezug darin, dass künstlerisch orientierte Pädagog/innen die Schulen verließen, um in einer neuen außerschulischen sozialen Kulturarbeit/Kulturpädagogik freier wirken zu können (vgl. Mandel 2004).

1.4       Subjektbezug und Selbstbildung in der Sozialen Arbeit

Die Subjektorientierung in der Sozialen Arbeit korrespondiert mit den Veröffentlichungen von G. Selle und K. Mollenhauer. Es geht vor allem um die Förderung der Selbstbildungspotenziale, die das Bundesministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen folgendermaßen definiert:

•  „Differenzierung von Wahrnehmungserfahrung über die Körpersinne, über die Fernsinne und über die Gefühle,

•  innere Verarbeitung durch Eigenkonstruktionen, durch Phantasie, durch sprachliches Denken und durch naturwissenschaftlich-logisches Denken,

•  soziale Beziehungen und Beziehungen zur sachlichen Umwelt,

•  Umgang mit Komplexität und Lernen in Sinnzusammenhängen sowie

•  forschendes Lernen“ (MSJK, 7; vgl. auch Schäfer 2016).

Auch wenn in der Folge von Pisa- und Iglu-Studien zunehmend Ansprüche an die Soziale Arbeit herangetragen werden, die eher der Erziehung zuzurechnen sind, nutzen wir im Folgenden für die künstlerisch-ästhetische Arbeit den Begriff Bildung. Dies soll die Betonung auf den Subjektbezug und den Selbstbildungsaspekt in diesem Bereich der Sozialen Arbeit legen. Der erzieherische Effekt kann sich dabei eher beiläufig und als willkommenes Zusatzprodukt einstellen.

1.5       Die Bedeutung der Wahrnehmung in der Ästhetischen Bildung

Wahrnehmung

Wahrnehmung bezeichnet zunächst einen biologischen und physikalischen Vorgang unter Beteiligung der Sinnesorgane, zu denen traditionell der Sehsinn (Augen), der Geruchssinn (Nase), der Geschmackssinn (Mund), der Gehörsinn (Ohren), der Tastsinn (Haut) und auch der Gleichgewichtssinn (inneres Ohr) gezählt werden. Hinzu kommt das kinästhetische System, der Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn (Propriozeptoren) (Zimmer 2014). Es gibt noch viele andere, differenziertere Kategorisierungssysteme, beispielsweise bezüglich der Wahrnehmung von Temperaturen, Konsistenten usw., die hier jedoch nicht alle vorgestellt werden können.

Wahrnehmung bezeichnet über den reinen Sinnesreiz hinaus auch den komplizierten Auswahl-, Filter-, Kategorisierungs- und Interpretationsprozess im Gehirn, der durch die Sinneseindrücke ausgelöst wird. Wahrnehmung geschieht dabei immer in einem hochkomplexen Vernetzungsprozess mit früheren Wahrnehmungen. Hinzu kommt ein ständig aktiver Rückkopplungskreislauf zwischen äußeren und inneren Vorgängen und Informationen und ihren Interpretationen.

Wahrnehmung bedeutet auch gleichzeitig Nicht-Wahrnehmung: Durch die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit werden immer auch Informationen für die Wahrnehmung ausgewählt und andere wie durch einen Filter ausgeblendet, weil sie in der jeweiligen Situation nicht relevant erscheinen.

Durch Differenzerfahrungen (Begegnung mit dem Andersartigen) wird die Wahrnehmung irritiert, neue Kategorien können gebildet und der Erfahrungshorizont erweitert werden (= Lernen).

Wahrnehmungsprozesse sind komplex und uneindeutig. Dies wird u. a. von der Wahrnehmungspsychologie untersucht (vgl. Arnheim 2000). Einen Einblick in die spannende Problematik vermitteln die vielen Beispiele der optischen Illusionen und visuellen Rätsel, der Obertöne im akustischen Bereich, aber auch der Vorurteilsforschung in der Sozialpsychologie (vgl. Förster 2007).

Wahrnehmungsförderung als Persönlichkeitsentwicklung und Politikum

Die Wahrnehmungsfähigkeit kann angeregt, gefördert und differenziert werden. Sie kann aber auch verkümmern – krankheitsbedingt und durch Unter- oder Überforderung –, was uns in der Praxis der Sozialen Arbeit oft begegnet. Es handelt sich dann um Probleme, die von den oben genannten dispositonellen und situationalen Variablen abhängen. Eine Abstumpfung kann jedoch in Fällen, wo keine Änderung möglich ist, auch hilfreich sein und hat dann eine Schutzfunktion. Wenn beispielsweise ein unangenehmer Geruch immer und unabänderlich da ist, wird er nach einiger Zeit nicht mehr wahrgenommen.

Wahrnehmungsförderung ist ein zentraler Bestandteil der künstlerisch-ästhetischen Arbeit. Die bewusste Wahrnehmung kann zum zentralen Element der (niedrigschwelligen) künstlerisch-ästhetischen Sozialen Arbeit werden.

Warum die genaue Wahrnehmung mit ihrer Leiblichkeit, Gegenwärtigkeit, Öffnung, Achtsamkeit und der Einbeziehung aller Sinne wichtig für das Individuum ist, liegt auf der Hand: Sie fokussiert auf die Gegenwart und macht das Hier und Jetzt ganzkörperlich bewusst. Dies alles bietet ein grundlegendes Gegengewicht zur medial bestimmten Wirklichkeit in unserer technisierten Zivilisation, ein Gegengewicht zu Virtualität, zeitlicher und örtlicher Entgrenzung, Dominanz des technischen und rationalen Denkens, emotionsloser „Coolness“ sowie der Abstumpfung durch Reizüberflutung.

Die sinnenhafte – teilweise unbewusst und/oder verkümmert bereits vorhandene – elementare Wahrnehmungsfähigkeit zu entfalten heißt, sich selbst als ganzheitliches Wesen zu erleben und ernst zu nehmen. Die Stärkung der Wahrnehmungs-Kompetenz kann somit als wichtiger Schritt der Persönlichkeitsentwicklung in der Sozialen Arbeit angesehen werden.

Mit Wahrnehmungsförderung ist in der Sozialen Arbeit jedoch keinesfalls eine Anpassung und Normierung aus vermeintlich höherer und besserwisserischer Warte gemeint. Wie brisant der Bereich des nur vordergründig unpolitischen Themenkomplexes der Sinne und der Wahrnehmung in einer Gesellschaft ist und wie stark ästhetische Fragen zu Ausgrenzung und Randständigkeit beitragen können und damit zum Thema der Sozialen Arbeit werden, wurde bereits thematisiert.

Wahrnehmungsübungen

Die Wahrnehmung intensivierende und lenkende Übungen schaffen auf der situationalen Seite Angebote, die durch ungewöhnliche Maßnahmen die Alltagswahrnehmung auf angenehme Weise irritieren und anregen können, und die darüber hinaus Möglichkeiten der Optimierung der Wahrnehmungsfähigkeit bieten. Angeregt werden kann die Wahrnehmung u. a. durch eine Führung mit verbundenen Augen (vgl. Dorner 2004): Die Teilnehmer/innen helfen sich dabei gegenseitig, die Führenden immer mit offenen Augen. Durch die Ausschaltung des dominanten Sehsinns bei den Geführten wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Einbeziehung aller anderen, oftmals weniger geschulten Sinne gelenkt. Die Führenden leiten die temporär Blinden dabei auch zu Stellen, an denen sie Besonderes fühlen, riechen und hören können: Raue Tapeten und kaltes Glas, Autos am offenen Fenster, geschäftiges Treiben auf dem Flur, duftende Blüten usw.

Die Wahrnehmung kann dabei gleichzeitig innen- und außengerichtet sein: Was geht in mir vor? Was empfinde ich „draußen“?

Die Angebotsvielfalt für die Wahrnehmung kann auch durch die Bereitstellung von vorbereiteten Gefäßen oder gefüllten Kissen gesteigert werden, die auch mit bewegungseingeschränkten, mit demenziell veränderten und/oder bettlägerigen Menschen erfühlt und erforscht werden können:

•  „Sinnes“-Kissen (z. B. Kissen, in die Steine, Bohnen, Lavendel eingenäht wurden),

•  „Sinnes“-Kisten (z. B. Schuhkartons), in denen unterschiedliche – ggf. blind – zu erforschende Gegenstände bereitliegen (Stoff- und Plastiktiere, Spielzeug, Reis, gekochte Nudeln, Eiswürfel, mit Wasser gefüllte Luftballons, duftende, raschelnde Materialien …),

•  Riechfläschchen (Knoblauch, Honig, Senf, Lavendel …),

•  Geräuschkisten (Papier zum Knüllen und Zerreißen, Klangschale, Besteck/Topf/Teller zum Klappern …).

Lenkung heißt hier Anregung und Fokussierung, aber keineswegs Zielorientierung im Sinne von vorhersehbaren oder gar gesetzten Wahrnehmungsergebnissen oder Leistungserwartungen.

Natürlich kann ein Wettspiel initiiert werden mit der Frage, wer als Erster oder wer die meisten Dinge blind erfühlen oder „erriechen“ kann. Das macht sicherlich besonders Kindern und Jugendlichen Spaß und steigert auch möglicherweise kurzfristig deren – extrinsische – Motivation und Konzentration.

Aber vielschichtiger, individueller und daher wünschenswerter ist die nicht auf ein Ergebnis/Effizienz hin gesteuerte Wahrnehmung. Rosenduft erschöpft sich dann nicht in der Aktivierung begrifflicher Zuordnungen nach dem Muster „aha: Rose“, sondern geht einher mit der Wahrnehmung von Assoziationen, Erinnerungen, Bildern und Gefühlen, die ausgelöst werden, z. B. an den eigenen Kleingarten oder eine romantische Begegnung.

Darüber kann anschließend gemeinsam gesprochen werden. Eine Verbalisierung muss aber auch nicht in jedem Fall erfolgen. Mit oder ohne Besprechung handelt es sich meist um ein sehr intensives Wahrnehmen und Erleben.

Erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit

Der bewussten Wahrnehmung kann eine Analyse folgen, für die eine erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit erforderlich ist: Über die Beschreibung und Benennung der Wirkung und der subjektiven Empfindungen hinaus wird nach den Ursachen geforscht. Die (gemeinsame) Suche nach den entscheidenden Faktoren für die Wirkung beispielsweise der Farbgestaltung eines Raums oder einer Tischdekoration beim festlichen Speisen hilft, diese erweiterte Kompetenz zu entwickeln und zu entfalten. Es schließt auch ihre Verbalisierung, die Benennung von Faktoren, Kriterien und Wirkungen ein, also die Nutzung – oder vielleicht auch erst Vermittlung und Bereitstellung – eines entsprechenden Vokabulars.

Bei Klienten/innen, die hierzu nicht fähig sind, sind die Anleiter/innen gefordert, mit besonderer Sensibilität aus den möglichen Interaktionsformen Aussagen und Wünsche abzuleiten. Sie müssen möglicherweise das Blinzeln eines schwerstbehinderten Menschen bei zu grellem Licht, die kommentierende Geste einer sprachgestörten Schlaganfallpatientin bei zu stark duftenden Blumen oder das Lächeln eines taubstummen Menschen bei der Hängung neuer Bilder entsprechend interpretieren.

Die Beschäftigung mit den Künsten kann die Vorstellung schärfen helfen, welche Faktoren bei Wahrnehmung und Wirkung eine Rolle spielen. Kunst und Künstler/innen sind gewissermaßen auf die Erzeugung von Wirkungen spezialisiert: Sie analysieren und greifen aktiv gestaltend ein.

Ästhetische Bildung in der Sozialen Arbeit hat jedoch vor allem Alltagsrelevanz und ist nicht notwendigerweise mit den Künsten im engeren Sinne verknüpft. Die Arbeit der Wohn- und Aufenthaltsraumgestaltung (Einrichtung, Farben, Beleuchtung, akustische Möblierung etc.), jahreszeitliche Dekorationen, Inszenierung gemeinsamer Mahlzeiten und Feste – all dies sind Bereiche der sozialarbeiterischen ästhetischen Arbeit und Bildung. Bekannt sind zudem auch die Verfahren aus der Sozialraumforschung und -arbeit, die alle Sinne einbeziehen und daher ebenfalls der ästhetischen Arbeit zugerechnet werden können: die gemeinsame Raumerkundung beispielsweise blind oder mit virtueller Landkarten, verschiedene Arten des Kartografierens und Mappings (vgl. Busse 2007) – u. a. die Nadelmethode, subjektive Landkarten und Autofotografie (vgl. Meis 2003; Deinet 2012). Diese Bereiche können ebenso wie die im zweiten Teil dieser Publikation vorgestellten Verfahren alle Aspekte der Ästhetischen Bildung umfassen: Wahrnehmung und ihre Förderung, ästhetische Erfahrungen und ästhetische Praxis.

1.6       Ästhetische Erfahrung – alltäglich und künstlerisch

Ästhetische Erfahrungen werden sowohl in Alltags- und natürlichen Situationen gemacht als auch im Zusammenhang mit den Künsten. Sie sind eng verknüpft mit dem bereits erörterten Phänomen der Wahrnehmung.