Das Buch

Weltweit wird Martin Luther King heute als Ikone der Bürgerrechtsbewegung gefeiert, als mutiger Vorkämpfer für die Rechte von Minderheiten. Seine Reden sind legendär, aber er beließ es nicht bei Worten: Er brach Gesetze, die er für ungerecht hielt. Er führte Demonstrationen an, die verboten waren. Er forderte zu zivilem Ungehorsam auf und rief damit zahlreiche Gegner und sogar das FBI auf den Plan.

Alois Prinz zeigt in seinem faszinierenden Porträt, wie King trotz aller Anfeindungen an seinem Traum von einer Welt festhielt, die Rassismus und Krieg überwindet.

Der Autor

Autor

© Christina Häusler

Alois Prinz, geboren 1958, ist einer der meist beachteten Biografen in Deutschland. Er studierte Literaturwissenschaft, Politologie und Philosophie, parallel dazu absolvierte er eine journalistische Ausbildung. Bekannt wurde er durch seine Biografien über Hannah Arendt, Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, Franz Kafka, den Apostel Paulus oder Jesus. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen u.a. den Evangelischen Buchpreis für die Arendt-Biografie und den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Biografie über Ulrike Meinhof sowie 2017 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.

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Viel Spaß beim Lesen!

I have a dream – Das Leben des Martin Luther King

Prolog

Chicago, Sommer 1966

Seit Wochen liegt eine drückende Hitze über der zweitgrößten Stadt der USA. Wer kann, verbringt seine Freizeit am Michigansee oder in einem der Freibäder. Bei einem Teil der Jugend herrscht aufgeregte Erwartung, weil Anfang August die Beatles ein Konzert in Chicago geben werden. Es wird einer ihrer letzten öffentlichen Auftritte sein. Das Geschrei der Fans ist mittlerweile so laut, dass man von der Musik nichts mehr hört. Davon, dass sich das Land in einem Krieg befindet, merkt man kaum etwas. Proteste gibt es nur wenige. Die meisten Amerikaner sind für diesen Krieg in Vietnam, den sie nur aus Zeitungsmeldungen und von den Bildern im Fernsehen kennen. Es sind Bilder von brennenden Reisfeldern, von Hubschraubern, die zwischen Palmen landen, und Soldaten, die in voller Kampfausrüstung durch hüfthohes Wasser waten. Unter den Soldaten sind auch Afroamerikaner, die man in ihrer Heimat, den USA, immer noch »negroes« nennt, also »Neger«, oder auch verächtlich »nigger«. Sie verteidigen zusammen mit ihren weißen Kameraden die demokratischen Werte ihres Landes und verhindern das weitere Vordringen des Kommunismus in diesem Teil der Welt. So jedenfalls lautet die offizielle Begründung für diesen militärischen Einsatz.

Der Krieg in Vietnam ist für die meisten Amerikaner weit weg. Sehr nah dagegen sind andere Kriege, die in den schwarzen Gettos der amerikanischen Großstädte ausgetragen werden. Sie entzünden sich an der Unzufriedenheit der schwarzen Bevölkerung und am anhaltenden Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft. In den »Negervierteln« von New York und Los Angeles war es in den vergangenen Jahren zu blutigen Straßenkämpfen gekommen. Chicago blieb bis jetzt verschont – bis zum 12. Juli 1966.

An diesem Tag wollen sich schwarze Jugendliche in der West Side von Chicago bei den heißen Temperaturen Abkühlung verschaffen. Sie können nicht an den Michigansee und in ihrem Stadtviertel gibt es kein Schwimmbad. Hier gibt es nur Armut, Elend, Drogen, Arbeitslosigkeit und Verbrechen. Sie schaffen es, einen Hydranten aufzudrehen, und springen im Wasserstrahl hin und her. Es dauert nicht lange, bis ein Polizeiauto auftaucht. Ein Polizist dreht den Wasserstrahl wieder ab. Einige Jugendliche wollen ihn daran hindern und werden daraufhin festgenommen.

Kurze Zeit später kommt ein Mann auf das Polizeirevier und erreicht, dass die sechs Jugendlichen gegen Kaution freigelassen werden. Den Mann kennt jeder. Es ist der siebenunddreißigjährige Martin Luther King jr., für viele der moralische Führer des schwarzen Amerika, der Prophet des Widerstands gegen Rassismus. Manche vergleichen ihn mit dem indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi oder sogar mit Jesus. Vor zwei Jahren ist ihm der Friedensnobelpreis verliehen worden. Er hätte es eigentlich nicht mehr nötig, sich mit weißen Politikern herumzuschlagen, in Gefängnissen zu sitzen oder sich auf Demonstrationen beschimpfen und mit Steinen bewerfen zu lassen. Er könnte in der Welt herumreisen, Vorträge halten und viel Geld verdienen. Stattdessen wohnt er seit Januar mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einer schäbigen Wohnung in Lawnsdale, einem berüchtigten Slumviertel Chicagos. In den letzten Jahren hat er durch »direkte Aktionen« erreicht, dass der Rassismus in den Südstaaten gesetzlich verboten wurde. Jetzt will er zusammen mit seinen Mitarbeitern die wirtschaftliche Benachteiligung der Schwarzen in den nördlichen Metropolen der USA bekämpfen.

Inzwischen hat sich der kleine Zwischenfall mit dem Hydranten zu einem Flächenbrand ausgeweitet. Jugendbanden ziehen durch das Getto, werfen Molotowcocktails, liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, zünden Autos an und plündern Geschäfte. King eilt in diesem Chaos von Ort zu Ort und versucht, die Leute von weiteren Zerstörungen abzuhalten. Mit wenig Erfolg. Meistens hört man ihm nicht zu oder er wird ausgebuht. Es sind vor allem die jungen Schwarzen, die sich von Führern wie Malcolm X verstanden fühlen und deren Aufruf folgen, sich gegen die Unterdrückung durch die »weißen Teufel« mit Gewalt zu wehren. Trotzdem versucht King, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, und lädt sie in seine Wohnung ein.

Tatsächlich sitzen wenige Tage später die Anführer der Jugendbanden im engen Wohnzimmer der Kings. Sie gehören Gangs an, die sich Cobras, Vice Lords oder Roman Saints nennen. Sie tragen die Abzeichen ihrer Gruppe auf ihren Jacken und in ihren Taschen stecken Messer und andere Waffen. Sie können es nicht fassen, dass der berühmte Martin Luther King nun mit ihnen belegte Brote isst, die seine Frau Coretta zubereitet hat. »Sind das wirklich Sie?«, fragen sie ungläubig.1 Alle kennen die Geschichte vom Busboykott in Montgomery, den King angeführt hat. Sie haben die Bilder gesehen aus Birmingham und Selma, wo King und seine Anhänger Protestmärsche durchführten und von Sicherheitskräften niedergeknüppelt, mit Hunden angegriffen und von Wasserwerfern zu Boden geschleudert wurden. Sie wissen, dass dieser Martin Luther King x-mal im Gefängnis saß, unzählige Ehrungen empfangen hat und beim Präsidenten im Weißen Haus ein und aus geht. Und natürlich kennen sie auch die berühmten Worte, die King beim großen Marsch auf Washington gesprochen hat: »I have a dream.« Zu diesem Traum gehört, dass die Menschen einsehen, dass sie mit Gewalt nichts erreichen, und alle, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Herkunft, eines Tages friedlich zusammenleben.

Den Jugendlichen erscheint dieser Traum wie ein schönes Märchen, das mit ihrem Leben nichts zu tun hat. Sie erzählen King von ihrem Alltag, der von Kindheit an und von früh bis spät von Gewalt geprägt ist. Gewalt erleben sie in ihren Familien, auf den Straßen des Gettos und von weißen Polizisten. Gewalt sehen sie im Fernsehen und lesen davon in den Zeitungen. Und führt nicht gerade ihr Land, die USA, einen Krieg mit Bomben, Giftgas und Granaten? Für diese Jugendlichen geht es im Leben darum, sich nichts gefallen zu lassen, zurückzuschlagen, rücksichtslos gegen Rivalen und Feinde zu kämpfen. »Wir glauben an die Gewalt«, meinen sie.

Martin Luther King hört ihnen geduldig zu und versucht dann, ihnen nahezubringen, woran er glaubt, nämlich an Gewaltlosigkeit. Normalerweise sind für diese Jugendlichen Pfarrer fast so schlimm wie Polizisten, aber dieser Geistliche mit dem Doktortitel imponiert ihnen. Sie müssen zugeben, dass er kein weltfremder Träumer ist. Er hat Träume, aber er kennt auch Wege, sie zu verwirklichen. Er redet nicht nur über seinen Glauben an die Gewaltlosigkeit, sondern er lebt diesen Glauben auch vor – und riskiert dabei sein Leben. Einige der Bandenführer versprechen Martin Luther, ihn bei den nächsten Demonstrationen zu beschützen, gewaltlos versteht sich, ohne Messer und Pistolen.

Am 3. August 1966 führt Martin Luther King einen Demonstrationszug durch Gage Park, ein Viertel im Südwesten Chicagos, wo nur Weiße leben. Sie wollen dagegen protestieren, dass es in der Stadt kein open housing gibt, also keinen offenen Wohnungsmarkt. Schwarze haben kaum eine Chance, in einer von Weißen bewohnten Gegend eine Wohnung zu bekommen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Spezialeinheiten der Polizei müssen die Demonstranten vor den aufgebrachten Bewohnern beschützen. Junge weiße Männer laufen neben dem Zug her und schreien »Nigger go home!« oder »I hate nigger!«. Andere halten Transparente hoch mit einem Hakenkreuz und der Aufschrift »White Power«. Feuerwerkskörper explodieren. Steine und Flaschen werden geworfen. Die Leute johlen laut und klatschen Beifall, wenn jemand getroffen wird. Mitglieder der Jugendbanden versuchen als Ordnungshüter, Martin Luther King zu schützen. Aber auch sie können nicht verhindern, dass King von einem Stein getroffen wird.

King geht in die Knie und hält sich den Kopf. Begleiter beugen sich über ihn und bilden einen Schutzschild. Nach einer Weile richtet sich King wieder auf. Er hat den jungen Mann gesehen, der den Stein geworfen hat, und will mit ihm reden.2 Seine Freunde halten ihn davon ab. King will sich nicht dazu hinreißen lassen, diesen Steinewerfer zu hassen. Er weiß, dass dieser junge Mann in einer Umgebung aufgewachsen ist, wo ihm ständig eingeredet wurde, dass er als Weißer anderen »Rassen« überlegen ist. Diese Überheblichkeit ist so falsch wie das Gefühl der Minderwertigkeit, von dem so viele Schwarze durchdrungen sind. Beide müssen ihre Einstellungen ändern, um zusammenleben zu können. Trennung, geistige und örtliche, verhindert diese Veränderung. Solange Menschen voneinander getrennt sind, können sie sich nicht begegnen. Wenn sie sich nicht begegnen, können sie einander nicht kennenlernen. Solange sie sich nicht kennen, bestimmen Vorurteile und Klischees ihr Verhalten.

Nach mehreren Demonstrationen gelingt es King, mit dem Bürgermeister von Chicago ein Abkommen zu treffen. Die Wohnsituation im schwarzen Getto soll verbessert werden, schwarze Kinder sollen eine bessere Ausbildung bekommen, für die Bewohner der Slums sollen Jobs geschaffen werden. Ob diese Vereinbarungen auch umgesetzt werden, ist fraglich. King hat es schon mehrmals erlebt, dass Politiker ihre Versprechen nicht eingehalten haben. Sie befürchten, ihre weißen Wähler zu verlieren, wenn sie sich zu stark für die Belange der Afroamerikaner einsetzen. Wenn diese Politiker von »Ordnung« reden, dann ist das eine Ordnung, die auf Kosten von Minderheiten geht, von Afroamerikanern oder Armen, die keine politische Macht und keine Lobby haben, um ihre Situation zu ändern.

Aber dem Baptistenpfarrer King geht es nicht um Ordnung, sondern um Gerechtigkeit, darum, dass jeder Mensch unveräußerliche Rechte hat, weil er ein »Kind Gottes« ist: das Recht auf Arbeit, das Recht auf eine Wohnung, das Recht auf Bildung und auf ein Zusammenleben in Frieden. An diesem »Traum« hält Martin Luther King fest. »I still have a dream«, erklärt er in einer Predigt.3

King blieben nur noch weniger als zwei Jahre, um an der Verwirklichung seines Traums weiterzuarbeiten. Ein bezahlter Killer machte seinem Leben ein Ende, mit neununddreißig Jahren. Aber auch sein gewaltsamer Tod konnte diesen Traum nicht zerstören.

Im Frühjahr 1985 kam ein idealistischer junger Mann von New York nach Chicago. Er hieß Barack Obama und übernahm im Auftrag örtlicher Kirchen einen Job als Community Organizer in den südlichen Slums von Chicago. Die Erfahrungen, die er in den Elendsvierteln machte, bezeichnete er als die wichtigsten in seinem Leben. Vierundzwanzig Jahre später wurde Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt. In seinem Büro im Weißen Haus stellte er eine Büste von Martin Luther King auf. Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages von Kings berühmter Rede ermahnte Obama seine Landsleute, Kings Erbe weiterzuführen. Es seien schon viele Fortschritte gemacht worden, aber Kings Traum sei immer noch unerfüllt: »Wir sind selbst die Herren unseres Schicksals«, so Obama. »Wir können das Versprechen dieses Landes nur erfüllen, wenn wir alle zusammenarbeiten.«

I.

Whites only

Zum Programm eines jeden Touristen, der nach Atlanta in Georgia kommt, gehört der Besuch der Gedenkstätten, die an Martin Luther King erinnern. Auf dem Gelände des Martin Luther King jr. National Historical Park befindet sich ein Museum, das sich dem Leben Kings und der Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung widmet. Inmitten eines künstlichen Sees liegt das Grabmal Kings, in dem später auch seine Frau Coretta beigesetzt wurde. Auf dem Areal des Parks steht auch die original erhaltene Kirche, in der King und sein Vater als Pastoren wirkten. Und man kann eine Führung durch das Haus mitmachen, in dem Martin Luther King seine Kindheit verbrachte. Es ist ein zweistöckiges, verwinkeltes Haus im viktorianischen Stil, mit einer Veranda und Geländersäulen.

Das Haus wurde 1897 gebaut und einige Jahre später kauften es die Großeltern von Martin Luther King, Adam Daniel Williams und seine Frau Jennie Celeste. Pfarrer Williams war der angesehene und hochverehrte Pastor der Ebenezer Baptist Church, eine der vielen Gemeinden der Baptisten in der Stadt. Das Paar hatte eine Tochter namens Alberta, die sich um das Jahr 1920 in den jungen Prediger Michael King verliebte. Am 25. November 1926 heirateten die beiden und zogen in die obere Etage des Hauses in der Auburn Avenue. Ein Jahr später, am 11. September, kam ihr erstes Kind zur Welt, ein Mädchen, das sie Willie Christine nannten. Eineinhalb Jahre darauf, am 15. Januar 1929, wurde das zweite Kind geboren, ein Junge, den man nach dem Vater benannte. »Michael King« ist auf der Geburtsurkunde eingetragen. Erst Jahre später wurde der Vorname durchgestrichen und handschriftlich umgeändert in »Martin Luther jr.«.

Der kleine »Mike« bekam noch einen Bruder, der Alfred Daniel hieß. Acht Monate nach der Geburt seines Enkels starb überraschend Adam Daniel Williams. Und nun sollte sein Schwiegersohn Michael King seine Nachfolge antreten – eine Aufgabe, der er sich anfangs nicht gewachsen fühlte. King entstammte der kinderreichen Familie eines Landarbeiters. Sein Vater, James King, hatte sein Leben lang auf den Plantagen weißer Grundbesitzer gearbeitet. Obwohl er sich Tag für Tag abrackerte, konnte er seine Familie kaum ernähren. Einen »nigger« um seinen gerechten Lohn zu betrügen, war für die reichen Farmer nichts Schlimmes. Umgekehrt genügte für einen Pächter wie James King schon ein falsches Wort oder eine Laune seines Besitzers und er verlor seine Arbeit und wurde mit der Familie aus dem Haus geworfen. Als er einmal einen Weißen angriff, weil der seinen Sohn geschlagen hatte, wurde er vom rassistischen Mob des Ku-Klux-Klan gejagt und musste sich monatelang in den Wäldern verstecken.

Die Verbitterung über sein schweres Los ertränkte James King im Whiskey. Der junge Michael hatte seine Mutter vor dem betrunkenen prügelnden Vater beschützen müssen. Dabei war er selber oft schutzlos der Willkür weißer Männer ausgesetzt gewesen. Schon früh hatte er erfahren, dass »nigger« in den Südstaaten nicht wie Menschen, sondern wie Dinge behandelt wurden. Starr vor Schreck hatte er als kleiner Junge mit angesehen, wie betrunkene Weiße grundlos einen Schwarzen blutig prügelten und ihn mit einem Gürtel am nächsten Baum erhängten.4

Nach dem Willen des Vaters hätte sein Sohn auch ein Landarbeiter werden sollen. Doch Mike King wollte nicht das gleiche Schicksal erleiden wie sein Vater. Eine Möglichkeit, diesem Leben zu entfliehen, sah er in der Kirche. Schon als Kind war er gerne mit seiner frommen Mutter in die Gottesdienste der Baptisten gegangen. Die Gemeinde war für die Baptisten ein Ort, wo sie ihren Gefühlen freien Lauf ließen, wo sie in Liedern und Predigten ihrem Leid und ihren Hoffnungen Ausdruck verleihen konnten. Zu Zeiten der Sklaverei versammelten sich die Menschen nach einem Tag voller Beschimpfungen und Erniedrigungen in der Kirche und gewannen wieder Selbstvertrauen, wenn der Prediger ihnen zurief: »Ihr – ihr seid keine ›nigger‹. Ihr seid keine Sklaven. Ihr seid Gottes Kinder.« Auch Mike King fühlte sich in der Kirche wie ein Kind Gottes. Er war ein guter Sänger und fühlte sich geborgen in dieser Welt, die so weit weg war vom erbärmlichen Leben seines Vaters, in der es keine Schönheit und keine Freude gab. Mit zehn Jahren stand sein Entschluss fest, ein Geistlicher zu werden. Mit fünfzehn wurde er als Prediger zugelassen und drei Jahre später verließ er seine Heimat und fuhr mit dem Güterzug nach Atlanta.

In dieser großen Stadt war er nichts anderes als ein Hinterwäldler, ein »Bauerntrampel«, der nach Maulesel roch und kaum lesen und schreiben konnte. Mit Jobs hielt er sich über Wasser und besuchte nach der Arbeit eine Abendschule. Mühsam holte er nach, was ihm als Kind an Bildung vorenthalten worden war. Mit der ihm eigenen Zähigkeit schaffte er es sogar, in das berühmte Morehouse College aufgenommen zu werden, ein privates College für Afroamerikaner, die Geistliche oder Lehrer werden wollten. Und als er Alberta Williams heiratete und zum Nachfolger des großen Adam Williams ernannt wurde, erfüllte sich sein Lebenstraum, der anerkannte Pfarrer einer großen Gemeinde zu werden.

Die Familie King lebte in der Auburn Avenue, in einer Gegend, die man »Sweet Auburn« nannte, weil hier die wohlhabendsten schwarzen Amerikaner der Stadt ihre Häuser und Geschäfte hatten. Manche sprachen sogar von der »reichsten Neger-Straße der Welt«5.

Atlanta entwickelte sich zum Finanz- und Transportzentrum des Südens und auch die schwarze Bevölkerung profitierte davon. King befreite sich vom übergroßen Schatten seines verstorbenen Schwiegervaters. Er wurde ein angesehener und einflussreicher Pastor und ein erfolgreicher Geschäftsmann, der eine Bank für Schwarze mitbegründete. Weil das Einkommen eines Baptistenpastors vom Reichtum seiner Gemeinde abhing, konnte er bald mit Stolz behaupten, der bestbezahlte Geistliche in Atlanta zu sein.

Auch in den überregionalen Vereinigungen der Baptisten spielte er eine wichtige Rolle. Im Sommer 1934 reiste er zu einem Kongress der weltweiten Vereinigung der Baptisten in Berlin. Im Radio hörte er die Rede des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler, den er nicht verstand, dessen bellende Stimme ihn aber abstieß. Viel beeindruckender war für ihn der deutsche Reformator Martin Luther, dessen Spuren er in Deutschland folgte. Vermutlich war es die Bewunderung für diesen Kirchenrebellen, die King dazu bewog, seinen Namen zu ändern. Nach seiner Rückkehr sollte nicht nur er, sondern auch sein ältester Sohn von nun an Martin Luther King heißen. Der kleine Martin wurde in der Familie jetzt »M. L.« oder weiterhin »Mike« genannt.

Die Kinder der Kings wuchsen in behüteten Verhältnissen auf. Mit einem unverhüllten Rassismus kamen sie nicht in Berührung. Dennoch wussten ihre Eltern, dass Christine, Mike und Daniel früher oder später erfahren würden, was es bedeutet, anders, ein Kind mit einer dunklen Hautfarbe zu sein. Noch so große berufliche Erfolge, eine noch so beeindruckende Bildung schützten einen Farbigen nicht davor, als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Unter Schwarzen kursierte der Witz, wie Weiße einen Afroamerikaner nennen, der ein Haus, ein neues Auto, ein dickes Bankkonto und einen Doktortitel besitzt. Antwort: »Nigger.«

King senior wollte sich nicht mit dieser ungleichen Behandlung abfinden. Wie schon sein Schwiegervater war er ein Pastor, dessen Glaube nicht an der Kirchentür endete. Christ zu sein und sich um die Nöte seines Nächsten zu kümmern, gehörten für ihn selbstverständlich zusammen. In Atlanta galt er als »chronischer Beschwerdeführer«6. Nicht hinnehmen wollte er, dass man den farbigen Mitbürgern das Recht zu wählen mit allerlei Schikanen zu verwehren suchte. Hartnäckig ging er so oft ins Rathaus, bis er als Wähler registriert wurde, und er unterstützte den Protest schwarzer Lehrer, die den gleichen Lohn verlangten wie ihre weißen Kollegen.

Seinen Kindern wollte Pastor King mit seiner Haltung ein Vorbild sein. Er ließ es sich nicht gefallen, wenn ein Polizist ihn wie ein Kind als »boy« anredete. Und als er einmal mit dem kleinen, sechsjährigen Mike Schuhe kaufen ging und man ihn, wie alle Schwarzen, nur im hinteren Teil des Ladens bedienen wollte, verließ er das Geschäft wütend und protestierend. Martin. L. war von diesem Zwischenfall völlig verwirrt. Im Auto bat er seinen Vater, ihm zu erklären, warum man ihnen keine Schuhe verkaufen wollte. King senior war viel zu aufgebracht für lange Erklärungen und sagte nur, dass er sein Leben lang gegen diesen Rassismus kämpfen werde. King junior verstand immer noch nicht, was geschehen war, aber er versprach seinem Vater, ihm bei diesem Kampf zu helfen. Gerührt und schmunzelnd bedankte sich King senior für diese Unterstützung.

Der erwachsene Martin Luther King hat oft versucht zu erklären, wie es ist, ein »Neger« zu sein. Es sei, so meinte er, wie ein Fluch, der über einem liege. Schockartig wird einem bewusst, dass man wegen seiner Hautfarbe abgelehnt wird und dies eine Erniedrigung ist, mit der man sich abfinden muss, weil man abgelehnt wird wegen etwas, woran man keine Schuld trägt und das man nicht ändern kann. Diese Diskriminierung lässt sich nicht mit rationalen Gründen rechtfertigen. Sie beruht einzig und allein auf einem Vorurteil. »Alle Vorurteile sind schlecht«, so wird Martin einmal schreiben, »aber das Vorurteil, das einen Menschen wegen seiner Hautfarbe ablehnt, ist der verächtlichste Ausdruck der Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen.«7

Der Schock dieser Erkenntnis traf das Kind Martin wohl das erste Mal mit voller Wucht, als er in die Schule kam. Zu seinen besten Freunden hatte bisher ein weißer Junge gehört, der Sohn eines Kolonialwarenhändlers aus der Nachbarschaft. Jeden Tag waren sie zusammen gewesen, hatten Ball gespielt und waren auf Bäume geklettert. Doch nun kamen beide in die Schule, Martin in eine Schule für Schwarze, sein Freund in eine für Weiße. Als Martin seinen Freund abholen wollte, meinte dieser, er dürfe nicht mehr mit ihm spielen, weil es ihm sein Vater verboten habe. Martin war untröstlich. Er rannte zu seiner Mutter und wollte von ihr wissen, warum die weißen Nachbarn etwas gegen ihn hätten. Alberta King erzählte ihrem Sohn stundenlang darüber, wie ihre Vorfahren aus Afrika nach Amerika verschleppt worden waren und als Sklaven auf den Baumwollfeldern arbeiten mussten, wie der Präsident Abraham Lincoln die Sklaverei abschaffte und es zum Bürgerkrieg kam, in dem die südlichen Staaten von den nördlichen besiegt wurden. Warum aber die schwarzen Amerikaner immer noch unterdrückt wurden, das konnte sie nicht erklären. »Du bist genau so viel wert wie jedes andere Kind«, versicherte sie ihrem Sohn, und als Christ dürfe er seine Feinde nicht hassen. Martin ließ sich aber nicht trösten und hasste alle Weißen, die ihm seinen besten Freund genommen hatten.

Martin Luther King wurde nicht verbittert und sein Leben wurde nicht vom Hass bestimmt. Dreißig Jahre später erhielt er sogar den Friedensnobelpreis. Seine Entwicklung könne man nur verstehen, so schrieb er als junger Student, wenn man wisse, in welcher Familie er aufgewachsen sei. An erster Stelle stehen dabei die Eltern. Die sanftmütige, immer ausgleichende Mutter, die den Chor der Kirche leitete und am Sonntag die Orgel spielte. Der Umgang mit dem Vater war dagegen weit schwieriger. King senior war kein einfacher Charakter. Er war impulsiv, sein Temperament ging oft mit ihm durch und er war ungeduldig mit seinen Kindern. Trotzdem war er für Martin ein »real father«, ein richtiger Vater, weil er sich fürsorglich um die Familie kümmerte und den Kindern Orientierung gab.

Den Kings ging es gut, aber sie lebten bescheiden, ohne jeden Luxus. »Daddy King« verlangte von seinen zwei Söhnen, dass sie kleine Jobs annahmen. Das Taschengeld, das sie damit verdienten, durften sie zu einem Teil für sich behalten, einen Teil sollten sie sparen und ein Drittel verschenken. Der Tagesablauf war genau festgesetzt. Die Kinder mussten pünktlich zur Schule, nach der Schule ihre Aufgaben machen, dann im Haushalt helfen und nach dem Abendessen zu einer Andacht zusammenkommen. Trotz dieser Strenge war für Martin entscheidend, dass in der Familie ein liebevoller Umgangston herrschte, zwischen den Eltern, den Kindern und der Verwandtschaft.

Die erweiterte Familie war die Gemeinde der Ebenezer Church, wo man sich zu den Gottesdiensten und Versammlungen traf, wo man gemeinsam Feste feierte, sich gegenseitig half und alle Kinder die Sonntagsschule besuchten. All das beeinflusste Martin mehr unbewusst als bewusst und führte dazu, dass er nie Gefahr lief, zum Zyniker oder Pessimisten zu werden. Die liebende Familie, so behauptete er, war für ihn auch die Voraussetzung dafür, warum es ihm leichtfiel, an einen »liebenden Gott« zu glauben und an ein »im tiefsten Grund freundliches Universum«.8

Neben den Eltern war für Martin seine Großmutter der wichtigste Mensch in seinem Leben. Jennie Celeste Williams wohnte nach dem Tod ihres Mannes weiter im Haus in der Auburn Avenue. Martin nannte sie »Mama« und liebte sie über alles. Stundenlang saß er bei ihr und hörte sich ihre Geschichten an. Ihr Tod war für ihn ein furchtbarer Schlag. Damals, am 18. Mai 1941, war Martin neun Jahre alt und hatte sich eine kleine Ungehorsamkeit geleistet. Anstatt seine Hausaufgaben zu machen, hatte er sich weggeschlichen, um sich in der Stadt eine Parade anzusehen. Als er nach Hause kam, war seine Oma gestorben. Martin war so außer sich, dass er in das obere Stockwerk lief und aus dem Fenster sprang. Anscheinend wollte er tot sein wie seine Oma. Das Fenster lag nicht sehr hoch. Martin blieb unverletzt, konnte aber tagelang nicht mehr schlafen und weinte unentwegt, weil er dachte, dass er mit seinem ungehorsamen Verhalten schuld sei am Tod seiner »Mama«. Seine Eltern beruhigten sein Gewissen und sprachen mit ihrem aufgewühlten Sohn lange über den Tod und was danach kommt. Für Martin war es unvorstellbar, dass seine Oma nicht mehr da war. Ein Mensch, den er so sehr geliebt hatte, konnte nicht einfach für immer weg sein. Er hatte nie recht verstanden, was es bedeutete, wenn sein Vater in der Kirche über die Unsterblichkeit redete. Jetzt war er überzeugt, dass seine Oma irgendwie noch lebte. Der Tod sei kein Punkt, so wird er es einmal sagen, sondern ein Komma.9

Martin war ein Kind, das sich viele Gedanken machte, viel las und lernbegierig war. In der Grundschule und dann in der Oberschule gehörte er immer zu den Besten und konnte sogar eine Klasse überspringen. Auffällig war, wie gut er reden konnte. Bei einem Redewettbewerb in seiner Schule gewann er den ersten Preis und wurde mit den Preisträgern anderer Schulen zu einer Ausscheidung nach Dublin in Georgia eingeladen. In seiner Rede dort sprach er über die Schäden, die eine Demokratie nimmt, wenn eine Gruppe der Bevölkerung, nämlich die Afroamerikaner, am Rande der Gesellschaft leben muss.

Hautnah erlebte er diese Ausgrenzung, als er mit seiner Lehrerin und einigen Mitschülern im Bus zurück nach Atlanta fuhr. Die Gruppe setzte sich nichts ahnend auf Plätze, die für weiße Fahrgäste reserviert waren. Als sie sich weigerten aufzustehen, beschimpfte der Busfahrer Martin als »schwarzen Hurensohn«. Die Lehrerin musste lange auf Martin einreden, bis er nachgab und aufstand, aber er war, wie er sich viele Jahre später erinnerte, »so wütend wie nie mehr in meinem Leben«.10

Daddy King hatte schon sehr genaue Vorstellungen von den zukünftigen Berufen seiner Kinder. Christine sollte Lehrerin werden, und seine zwei Söhne Pastoren wie er. Doch je deutlicher die beiden Jungen die Erwartungen ihres Vaters spürten, desto weniger waren sie bereit, seinen Wünschen zu folgen. Alfred Daniel war ähnlich dickköpfig wie sein Vater und sagte ihm rundheraus, dass er nie ein Prediger werden wolle. Martin war zurückhaltender und unentschlossen, obwohl er sich in der Kirche wie zu Hause fühlte, die Lieder, die dort gesungen wurden, liebte und selber gerne sang. Doch zunehmend unbehaglich fühlte er sich, wenn die Menschen in den Gottesdiensten sich zu sehr ihren Gefühlen hingaben, laut schrien und wie in Ekstase sangen und beteten.

Für die Baptisten war die Bibel das Wort Gottes, eine übernatürliche Botschaft, an der man nicht rütteln darf. Für Martin waren die biblischen Geschichten ein lebenswichtiger Schatz, aber auf seinen Verstand wollte er nicht verzichten. Einmal schockierte er die Lehrer in der Sonntagsschule, als er sagte, er könne nicht glauben, dass Jesus leiblich von den Toten auferstanden sei. Martin war nicht dabei, seinen Glauben zu verlieren. Er wollte nur nicht einsehen, warum man nicht gleichzeitig gläubig und kritisch sein konnte. Man brauche, so meinte er später, »ein weiches Herz und einen scharfen Verstand«. Ein weiches Herz hatte er schon. Einen scharfen Verstand und mehr Wissen wollte er sich in höheren Schulen aneignen. Darum befolgte er gern den Wunsch seines Vaters, dass seine Söhne am Morehouse College studieren sollten, jener Schule in Atlanta, die auch King senior als junger Mann besucht hatte.

Bevor Martin im September 1944 sein Studium am Morehouse begann, arbeitete er auf einer Tabakfarm zwischen New York und Boston, um die Studiengebühren zu verdienen. Begeistert schrieb er an seine Eltern, wie wenig hier im Norden vom Rassismus zu spüren war. Er konnte jeden Ort besuchen, den er wollte, Weiße und Schwarze gingen in dieselbe Kirche und aßen in denselben Restaurants. Als Martin seine Heimfahrt antrat, konnte er sich im Zug seinen Platz frei wählen. Erst in Washington musste er zur weiteren Fahrt in den Süden seinen Platz verlassen und in einen »Jim-Crow-car«11 umsteigen, einen Waggon nur für Schwarze. Das war erniedrigend. Noch schlimmer war, dass er im Speisewagen hinter einem Vorhang sitzen musste, damit die weißen Fahrgäste vor seinem Anblick geschützt wurden.12 Er fühlte sich wie eine ekelerregende Kreatur. Musste, wer so behandelt wurde, nicht alle Weißen hassen? Andererseits hatte Martin im Norden auch die Erfahrung gemacht, dass ein Zusammenleben von Weißen und Schwarzen möglich war. Warum war das in den Südstaaten nicht möglich? Warum konnte es hier Gesetze geben, die der Verfassung widersprachen? Diese Gesetze beruhten auf Vorurteilen, die offensichtlich rassistisch waren. Warum halten Menschen an ihren Vorurteilen fest und sind unzugänglich für Argumente, die ihr Welt- und Menschenbild infrage stellen?

Für Martin Luther King ist es eine Form von »Denkfaulheit«, wenn Menschen Verhältnisse einfach hinnehmen und nicht mehr fragen, ob sie gerecht oder ungerecht, falsch oder richtig sind. Die Folge ist eine moralische Verwirrung, eine Orientierungslosigkeit, die sich dann selbst ernannte Führer zunutze machen, um ihre Interessen durchzusetzen. Möglich ist das, wenn in einer Gesellschaft eine »geistige Stumpfheit« herrscht. Durch sie werden Menschen manipulierbar. Sie fallen auf Lügen herein und halten Vorurteile für unverrückbare Tatsachen.13 Bester Beweis für diese Beobachtung war für King Deutschland, wo zu jener Zeit ein mörderischer Krieg herrschte. Dort hatte der »Führer« Adolf Hitler die Welt durch Lügen und Propaganda in ein Inferno verwandelt. Er hatte es verstanden, die Massen in einen Taumel der Begeisterung zu versetzen. Die Menschen verloren ihren Verstand und marschierten blind in den Abgrund. War die Hetze gegen die Juden nicht vergleichbar mit dem Hass gegen Schwarze in Amerika? In beiden Fällen wurde Menschen ihr Menschsein abgesprochen. Zu »Ungeziefer« oder zu seelenlosen Arbeitstieren erklärt, konnte man sie bedenkenlos betrügen, verfolgen, töten.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sollten die Kinder an einigen amerikanischen Schulen Aufsätze darüber schreiben, wie man Hitler bestrafen könnte. Eine farbige Schülerin schrieb, dass man ihm eine schwarze Haut anziehen und ihn zwingen sollte, in den Vereinigten Staaten zu leben. Das Mädchen wurde für ihren Aufsatz mit einem Preis ausgezeichnet und bekam ein Stipendium. Dieser Fall offenbarte den tiefen Widerspruch in der amerikanischen Gesellschaft. Es herrschte darin Demokratie und Meinungsfreiheit. Der 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten garantierte allen Bürgern die gleichen Rechte und den Schutz des Staats, ungeachtet ihrer »Rasse«. Gleichzeitig gab es in den Südstaaten Sondergesetze, mit denen die schwarze Bevölkerung unverhohlen diskriminiert wurde. Präsident Abraham Lincoln hatte mit der Abschaffung der Sklaverei und mit dem Ende der Unterdrückung den Afroamerikanern einen »Scheck« ausgestellt. Dieser Scheck wartete immer noch darauf, eingelöst zu werden.

II.

Schwarz-Weiß

Nach dem Tod der Großmutter war die Familie King in ein neues Haus umgezogen. Es lag nicht weit entfernt vom alten, in einer noch besseren Gegend, am Boulevard. Für King senior erfüllte sich ein Lebenstraum. Als kleiner Junge hatte er vor den schönen Villen der Weißen gestanden, die er nicht betreten durfte, und sich geschworen, auch einmal so ein Haus zu besitzen. Jetzt hatte er es geschafft. Bei vielen Farbigen, die in den heruntergekommenen Vierteln von Atlanta lebten, weckte dieser Aufstieg Neidgefühle. Wer sich so ein Backsteinhaus leisten könne, so meinten sie, müsse mit den Weißen unter einer Decke stecken. Dieser Argwohn wurde noch dadurch verstärkt, dass Reverend King und andere Farbige sich regelmäßig mit den führenden Männern der weißen Bevölkerung trafen, um über Angelegenheiten der Stadt zu sprechen.

Für die weiße Bürgerschaft waren diese Treffen ein Beweis dafür, wie ausgezeichnet die Beziehungen zwischen den Rassen in Atlanta waren. Dabei gehörte Atlanta zu den Städten im Süden, in denen die Segregation, also die Rassentrennung, am schärfsten durchgeführt wurde. Überall, in den Behörden, den Parks, den Schwimmbädern, den Restaurants, den Kinos, hingen die Schilder mit der Aufschrift »WHITES ONLY« oder »COLORED ENTRANCE«. Die Zusammenkünfte änderten daran nichts. Von den farbigen Teilnehmern wurden oft Veränderungen gefordert. Doch die weißen Mitglieder warnten davor, den Frieden in der Stadt zu stören. Veränderungen würden sich mit der Zeit von selbst ergeben. Man müsse Geduld haben.

Martin war fünfzehn, als er in das Morehouse College eintrat. Da er in der Highschool die letzte Klasse übersprungen hatte, war er jünger als seine Mitschüler. Die private Schule war stolz darauf, unabhängig zu sein und selbst bestimmen zu können, was und wie gelehrt wurde. Martin fiel gleich auf, dass hier ein freier Geist herrschte und nicht jene untergründige Angst zu spüren war, wie er sie aus den von weißen Behörden kontrollierten Schulen kannte. Verkörpert wurde dieser Stolz vom Präsidenten des Colleges, Dr. Benjamin Mays. Der große, immer elegant gekleidete Mann mit den grauen Haaren war ein Lehrer, wie ihn Martin bisher nicht kannte. Mays war tief religiös und ein Intellektueller mit großem Wissen. Als Prediger konnte Mays die Menschen aufwühlen und gleichzeitig ihren Verstand anregen. Er sprach sich offen gegen die Rassentrennung aus und war der festen Überzeugung, dass Bildung wesentlich ist für die Befreiung der unterdrückten Afroamerikaner.

Mays und andere seiner Lehrer lösten bei Martin tiefe Zweifel aus an seiner bibeltreuen Erziehung. Geradezu ein Schock war für ihn die Erfahrung, dass vieles, was in der Bibel steht, nicht vereinbar ist mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft und dass die Bibel verfasst wurde von 14