Hedström, Ingrid Blutige Zeilen

Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de

 

Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer und Maike Barth

 

© Ingrid Hedström 2015
Titel der schwedischen Originalausgabe:
»Måltavla«, Alfabeta Bokförlag AB, Stockholm 2015
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Susann Harring
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: Getty Images/Kurt Vandeweerdt/
EyeEm; FinePic®, München

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

PROLOG

Stockholm, Schweden

15. September 2013

Der König ist vor dem Schloss erschienen. Ja, jetzt ist es so weit, jetzt soll es geschehen. Jetzt wird es endlich ernst. Ein metallischer Geschmack im Mund. Das Herz schlägt hart und schnell, hämmert in der Brust.

Genau so muss es sein – der Körper macht sich bereit, wappnet sich für die bevorstehende Mission, ist in hellem Aufruhr. Jetzt bloß nicht mit wildem Blick um sich starren, nicht in Schweiß ausbrechen. Nichts darf die wachsamen Augen warnen, die hier irgendwo sein müssen, auch wenn sie sich nicht zu erkennen geben. Alles ist so, wie es sein soll, durchgeplant und trainiert. Alles ist unter Kontrolle.

Die Luft an diesem Septembertag ist schwül. Gemächlich ziehen die Wolken über den grau-weißen, dunstverhangenen Himmel und verschleiern die Sonne. Stockholm ist in ein warmes Licht getaucht, ein Licht, das Menschen und Gebäude deutlich hervortreten lässt. Es ist ein Licht, das zu einem Tag passt, der in die Geschichte eingehen wird.

Der Monarch, der heute sein vierzigjähriges Thronjubiläum begeht, lässt seinen Blick vom Lejonbacken – der mächtigen, von zwei Bronzelöwen bewachten Auffahrt zum Schloss – über die barocken Balustraden schweifen. Mit einem unbekümmerten Lächeln auf dem Gesicht und einem Glas Champagner in der Hand betrachtet er die erwartungsvoll murmelnde Menschenmenge, die sich vom Schloss mehrere Hundert Meter weit über die Norrbro-Brücke hinweg bis zum Gustav Adolfs Torg erstreckt und einen riesigen bunten Menschenteppich bildet.

Es liegt eine schicksalhafte Ironie darin, dass die Menschen hier – ohne es selbst zu ahnen – eine Brücke über Raum und Zeit spannen, von den Geschehnissen am Gustav Adolfs Torg im März 1792 bis hin zu denen, die sich gleich hier, an diesem bedeutungsvollen Tag im Jahr 2013, ereignen werden.

Die Zeit scheint stillzustehen. Es ist eine Qual, in solch angespannter Erwartungshaltung der Dinge harren zu müssen, angesichts des kommenden Höhepunktes so unter Strom zu stehen. Jetzt hält der Stadtratsvorsitzende eine Rede, dann der König, sie reden und reden. Hören sie denn nie auf?

Ein königlicher Leibgardist hinter der Absperrung gibt arglos preis, wo das Seil gelöst werden wird, sobald der Menge der Weg zum Schlosshof freigegeben wird. Es gilt, dort unter den Ersten zu sein, um über den besten Ort und Zeitpunkt entscheiden zu können.

Der Gardist ahnt nichts von der Waffe unter der Jacke. Es ist nur eine, eine einzige, die muss ausreichen.

Natürlich hatten sie auch Bomben erwogen, waren dann aber zu dem Schluss gekommen, dass diese unpraktisch und uneffektiv sind, wenn man ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt. Noch dazu ist es gefährlich, mit ihnen zu hantieren und sie aufs Geratewohl zu werfen – man denke da nur an den armen Idioten, der sich in der Bryggargatan selbst in die Luft gesprengt hatte. Bomben eignen sich nur für denjenigen, der blanken Terror säen, nicht für den, der eine klare Botschaft senden will – ohne dabei unnötig Menschenleben zu opfern. Der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik hatte Wochen gebraucht, um seine Bombe zu bauen, und doch so viel mehr mit seinen beiden Handfeuerwaffen erreicht, und Gavrilo Princip hatte nur eine Pistole gebraucht, um an jenem Tag vor bald hundert Jahren in Sarajevo den Lauf der Weltgeschichte zu ändern.

Jetzt kommen die Redner endlich zum Schluss. Ein vierfaches »Er lebe hoch!« ertönt, der König erhebt sein Glas, dann macht sich das Staatsoberhaupt daran, theatralisch die schweren Türen zum Schlosshof zu öffnen. Die Thronfolgerin, weiß gekleidet wie eine Madonna, tritt mit ihrem Kind im Arm auf den Lejonbacken. Es wird kein Vergnügen, den Auftrag auszuführen, aber wann war es schon ein Vergnügen, seine Pflicht zu tun? Man muss Prioritäten setzen, das Ziel im Blick behalten und die lodernde Flamme weißglühenden Hasses, die die ganze Operation antreibt, am Leben erhalten. Man muss sich konzentrieren.

Das Herz schlägt stakkatogleich in einem Rhythmus, der den Körper unter Strom setzt und Sauerstoff in jede Zelle pumpt.

Ob es dem historischen schwedischen Attentäter Jacob Johan Anckarström wohl auch so ergangen war? Hatte er nur sein Ziel vor Augen gehabt – oder auch die grausame Strafe für einen Königsmörder, Axt, Pfahl und das Rad des Henkers? Im heutigen Schweden erwartet einen kein derartiges Grauen mehr, nur ein langes Gerichtsverfahren, bei dem man viel Gelegenheit hat, seine Botschaft unter das Volk zu bringen.

Jetzt erklingt Musik, Spielleute intonieren das Gärdebylåten, eine populäre schwedische Volksweise, dann werden die Absperrungen entfernt, und der Weg zum Schlosshof ist schließlich frei.

Das Herz macht vor Vorfreude und Erleichterung einen Satz. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Als das US-amerikanische Staatsoberhaupt kürzlich Stockholm besuchte, hatten Kampfflugzeuge, Helikopter und bewaffnete Polizisten ihn beschützt. Abflüsse waren verplombt, Züge angehalten und Straßen gesperrt worden, während hier und jetzt jedermann unkontrolliert in den Hof strömen kann und das Staatsoberhaupt und seine Familie noch nicht einmal eine seidene Kordel von der Menge trennt. Ein jeder kann in ihre unmittelbare Nähe gelangen, ein paar Worte mit ihnen wechseln oder ein Foto knipsen. Smartphone-Kameras blitzen auf, ein jeder möchte seine persönliche Nahaufnahme haben. Es ist die perfekte Tarnung für jemanden, der etwas Tödlicheres als ein Handy auf die kleine Gruppe in der Ecke des Schlosshofes richten will.

Dort stehen auch die Gardisten, leicht zu erkennen an ihren wachsamen Blicken, die auf der Suche nach Bedrohungen umherwandern. Aber wie wollen sie unter all den fröhlichen, harmlosen Feiernden eine Gefahr erkennen?

Man sieht das, was man sehen will. Beim Opernball 1792 zum Beispiel beobachtete ein Bediensteter, wie Anckarström einen glänzenden Gegenstand aus der Brusttasche zog und sich damit vorbeugte, hielt es jedoch für eine Dose mit Kautabak – bis der Schuss ertönte.

Jetzt fangen die Spielleute wieder zu spielen an, eine lateinamerikanische Melodie mit viel Tamtam, und einige mutige Paare wagen sich auf die Tanzfläche, die über dem Steinplattenboden errichtet wurde. Ja, wie herrlich ist doch so ein Fest im Schloss …

Doch ganz so erfreulich ist es nicht, wenn man mal ehrlich ist. Nun, da sich die Stunde der Wahrheit nähert, drohen Bauchgrummeln, Angst und ein wachsender Widerwille die Entschlossenheit zu dämpfen. Das Adrenalin wird von sinnlosen Fluchtimpulsen verschluckt. Es ist wie beim Zahnarzt unmittelbar vor der Wurzelbehandlung, wenn man hofft, dass die Arzthelferin erscheint und die Operation verschiebt, weil der Arzt krank geworden ist.

Aber auch diese unangenehme und doch nötige Operation darf nicht aufgeschoben werden. Es gilt, sich zu wappnen, das Ziel ins Visier zu nehmen, einen Moment abzupassen, in dem der König und die Thronfolgerin so dicht beieinanderstehen, dass der ganze Auftrag auf einen Streich erledigt ist. Es wird nur eine einzige Gelegenheit geben.

Auch die vorbereitete E-Mail mit dem Manifest darf nicht vergessen werden, die zeitgleich mit dem Schuss in sämtlichen Nachrichtenredaktionen eingehen soll. Sie darf nur nicht zu früh gesendet werden, das wäre eine Katastrophe – ein aufmerksamer Redakteur könnte alle warnen. Alles hängt an wenigen Sekunden. Zuerst schießen oder zuerst mailen? Ein erneuter Schweißausbruch. Panik steigt auf, doch mit einiger Mühe lässt sie sich bezwingen. Und plötzlich regiert wieder die Gelassenheit, alles erscheint glasklar. Nur ein paar ruhige Schritte in Richtung Ziel, die Hand unter der Jacke, Finger, die sich um hartes, kaltes Metall schließen …

Da taucht plötzlich ein dunkler Haarschopf auf, eine hochgewachsene Frauengestalt, die wie ein Torpedo durch die Menschenmenge pflügt.

Sie ist die Letzte, die hier sein dürfte – Astrid Sammils.

 

KAPITEL 1

London, England & Dalarna, Schweden

Silvester 2012/13

Astrid Sammils trat an die Glaswand und blickte auf London hinab. Tief dort unten glitzerte der Verkehr auf der Kensington High Street, ein Strom von weißen und roten Lichtern, hektisch, aber lautlos von ihrem Aussichtspunkt zehn Stockwerke darüber betrachtet. Sie hob den Blick und ließ ihn über die erleuchtete Weltstadt schweifen, die erwartungsvoll vibrierte, bereit, in Jubel und Feuerwerk zu explodieren, sowie die Uhr Mitternacht schlug.

In der dicken Glasscheibe erkannte sie ihr eigenes Spiegelbild, es zeigte eine hochgewachsene, kräftige dunkelhaarige Frau mit markanten Zügen in schmaler Hose und einer Abendjacke. Sie hatte sie von einem uralten Schneider in Warschau maßschneidern lassen, und obwohl sie perfekt saß, verzog Astrid das Gesicht. Ich wirke wie eine Karikatur, dachte sie, nicht sonderlich überzeugend.

Die Türklingel ertönte in einem gedämpften Dreiklang, wie eine Vorankündigung der Neujahrsglocken. Astrid öffnete, und draußen stand eine Frau mit einer Weinflasche und einem gehetzten Ausdruck in den Augen. Sie war klein und zierlich, hatte dunkle Haare und trug einen eleganten schwarzen Mantel und hochhackige Schuhe.

»Entschuldige, Astrid«, sagte Amanda Forssell. »Ich weiß, dass ich eine Stunde zu früh dran bin – mindestens –, doch ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, im Hotel zu sitzen und …«

»Kein Problem, du darfst gerne schon reinkommen«, erwiderte Astrid und umarmte ihre Freundin flüchtig. »Aber wo hast du Peter gelassen?«

»Das ist es ja gerade« sagte Amanda und warf Astrid über die Schulter einen Blick zu, während sie ihren Mantel an der Garderobe aufhängte. »Er musste zu einem Termin mit der Geschäftsleitung des Unternehmens, das seine Firma übernehmen will, und hätte schon längst wieder da sein sollen. Er geht nicht ans Handy, und ich weiß nicht, wo er steckt, ich kann’s mir einfach nicht erklären!«

Ihre Stimme wurde zunehmend lauter und schriller. Als sie Astrid die Weinflasche reichte, merkte diese, dass Amandas Hände schweißnass waren und ihre Finger zitterten.

»Er ist dort bestimmt nur in eine Silvesterparty geraten«, erwiderte Astrid beruhigend und schlang einen Arm um Amandas Schultern. »Oder er hat kein Taxi mehr erwischt, es ist schließlich Silvester, oder ist mit der U-Bahn irgendwo hängen geblieben. Komm rein, trink erst mal was und sag Stefan und den anderen Hallo.«

Astrid war erstaunt. Dieses Verhalten sah Amanda so gar nicht ähnlich. Solange Astrid sie kannte, war sie eine unbezwingbare und vor Energie sprudelnde Optimistin, ein Dynamo, der sämtliche Hindernisse, die ihr in die Quere kamen, beseitigte. Die Amanda, die jetzt so aufgewühlt vor ihr stand, war nicht die Frau, die sie kannte.

Sie gingen ins Wohnzimmer. Zwei Frauen saßen auf dem großen schwarzen Ecksofa, von ihrem Gastgeber Stefan Hallgrimsson aber war nichts zu sehen. Geräusche aus dem Arbeitszimmer verrieten, dass er immer noch vollauf darin vertieft war, mit seinem dreizehnjährigen Neffen Online-Games zu spielen.

Stefan Hallgrimsson war seit nunmehr zwei Jahren der Mann in Astrids Leben. Sie wusste, dass viele ihrer Bekannten sich darüber wunderten, vor allem diejenigen, die noch ihren Exmann, den Lyriker und Übersetzer Gabriel Wrede, kannten. Der Gegensatz zwischen Stefan und Gabriel hätte kaum größer sein können: Stefan war der Sohn eines Trawlerkapitäns aus Nordisland und ein vermögender Geschäftsmann. Er war im Dunstkreis eines isländischen Bankimperiums tätig gewesen, das 2008 einen sagenhaften Börsencrash hingelegt hatte. Aber Astrid hatte schon bei ihrer ersten Begegnung widerstrebend seine Anziehungskraft verspürt und nach näherer Bekanntschaft mit ihm festgestellt, dass die zynische und ironische Fassade, die er nach außen hin zeigte, etwas anderes verbarg, als sein Äußeres zunächst vermuten ließ, wenn es auch nicht unbedingt ein Herz aus Gold war. Sie konnten zusammen lachen und waren fasziniert von den Eigenarten des anderen. Astrid wusste, dass er im Zuge des Bankenzusammenbruchs nahe daran gewesen war, für Insidergeschäfte angeklagt zu werden. Sie vermied es, ihm zu viele Fragen darüber zu stellen, musste aber zugeben, dass die Vorstellung, dass er sich in Grauzonen bewegte, gefährlich nahe an Grenzen, die nicht überschritten werden durften, sie insgeheim reizte.

Solche Gefühle waren für eine Diplomatin wie Astrid, eine Botschafterin für Menschenrechte, natürlich höchst unpassend und auch der Grund dafür, dass sie nicht zusammengezogen waren und das vermutlich auch nie tun würden. Aber dass Astrid Silvester in Stefans Londoner Wohnung feiern würde, hatte für sie beide gar nicht zur Diskussion gestanden. Vor zwei Tagen war sie angekommen und genoss nun den ungezwungenen Komfort des Appartements in Kensington, nachdem sie wochenlang hart gearbeitet hatte und so viel auf Reisen gewesen war, dass sie beim Aufwachen kaum noch gewusst hatte, in welcher Stadt sie sich gerade befand. Dublin, Straßburg, Warschau … die Bilder der anonymen Hotelzimmer vermischten sich miteinander. Nach einer Besprechung der Menschenrechtskommission des Europarats und einer umständlichen Flugreise von Straßburg nach Schweden, war sie einen Tag nach dem Luciatag am 14. Dezember wieder in ihre Stockholmer Wohnung zurückgekehrt. Dort hatte sie resolut ihre verwelkten Topfpflanzen entsorgt, zwei elektrische Kerzen hervorgekramt und mit viel Glück eine freie Waschmaschine im Waschkeller ergattert. Die letzte Woche vor Weihnachten hatte sie in Besprechungen zugebracht, sehr viel Zeit darauf verwendet, die Papiere durchzugehen, die sich auf ihrem Schreibtisch angehäuft hatten, und an dem abschließenden OSZE-Arbeitsgruppenbericht gearbeitet.

Zwei Tage vor Heiligabend war sie zum Hof ihrer Familie in Granåkers Hästberg, einem Dorf in den tiefen Wäldern Dalarnas, gefahren, um mit einer gemischten Schar von Freunden, Verwandten und Nachbarn Weihnachten zu feiern und sich ein paar Dingen zu widmen, die im vergangenen Herbst liegen geblieben waren.

Nach alldem war sie einfach nur froh, dass von ihr als Gastgeberin niemand erwartete, den Kochlöffel zu schwingen. Andere gastgeberische Pflichten, wie die Unterhaltung am Laufen zu halten und dafür zu sorgen, dass keiner der Gäste ausgeschlossen wurde, gelangen ihr nach beinahe zwanzig Jahren in Diplomatenkreisen mühelos.

Sie versorgte Amanda mit einem Drink und stellte sie den anderen beiden Frauen vor. Das Auftreten ihrer Freundin überraschte Astrid jedoch weiterhin. Amanda setzte sich ganz ans Ende des Sofas und wirkte so geistesabwesend, dass Stefans Schwester Asdis Hallgrimsdottir, genannt Disa, nach einigen misslungenen Anläufen, den neuen Gast in die Unterhaltung miteinzubeziehen, Astrid einen verwunderten, fragenden Blick zuwarf.

Disa lebte seit fünfzehn Jahren in London und war so bodenständig und geradeheraus wie ihr Bruder ironisch und ausweichend. Während Stefan im Cyberspace mit Millionen jonglierte, arbeitete sie als Fitnesstrainerin. Sie war ebenso hochgewachsen wie ihr Bruder, hatte eindringlich blickende blaue Augen und trug ihre dunkelblonden Haare in einer zerstrubbelten Kurzhaarfrisur. Astrid mochte sie sehr, obwohl ihr Disas muskulöse Oberarme das Gefühl gaben, selbst mehr trainieren zu müssen.

Zoe Miller, eine erfolgreiche Psychoanalytikerin und Disas Lebensgefährtin, warf Amanda ebenfalls forschende Blicke zu. Mit ihren wogenden, hennagefärbten Locken und langen, bunten Röcken, exotischem Schmuck und kunstvoll drapierten Schals wirkte sie wie ein moderner Hippie. Ihr Verstand aber war scharf und schnell. Wenn Zoe ihre dunklen Augen auf sie richtete, fühlte sich Astrid oft unangenehm durchschaut.

»Soll ich dir nachschenken, Amanda?«, fragte Astrid.

Amanda, die sich mit einer Miene über ihr Handy beugte, als wäre sie ein gestrandeter Flugpassagier, zuckte zusammen und sah auf.

»Was? Entschuldige, ich frage mich nur, wo Peter bleibt, er hätte doch schon längst hier sein müssen.«

»Peter? Ist das Ihr Mann?«, fragte Zoe freundlich. Die Frage zauberte ein Lächeln auf Amandas Gesicht, und sie begann, lebhaft, ausführlich und etwas zu exaltiert von ihrem Ehemann und seinen Geschäften zu berichten – eine Ausführung, die ebenso deplatziert war wie ihre vorige Schweigsamkeit.

Astrid kannte Amanda aus ihrer Studienzeit in Uppsala Ende der Achtzigerjahre. Sie hatten auf demselben Flur im Studentenwohnheim gewohnt, derselben Studentennation angehört und mit der Zeit auch derselben Clique von Studentinnen, die sich gelegentlich traf, um sich über ihre Erfahrungen mit herablassenden Professoren, niederträchtigen Funktionären der Studentenschaft und weiteren Hindernissen auszutauschen, auf die sie zu ihrem Erstaunen als Frauen stießen.

Ein paar Jahre lang waren Amanda und Astrid nahezu unzertrennlich gewesen, und Astrid hatte Amandas unglaubliches Talent, etwas zu bewegen, bewundert. Wenn die Frauengruppe eine Ausstellung oder eine Vorlesungsreihe organisieren wollte, war es immer Amanda gewesen, die die richtigen Personen zu fassen bekommen und sie von einer Teilnahme überzeugt, finanzielle Unterstützung oder die perfekten Räumlichkeiten aufgetan und ihnen kostenlose Werbung verschafft hatte.

Dennoch hatten sich ihre Wege allmählich getrennt. Während Astrid mehrere Jahre auf dem Balkan gearbeitet hatte und in das Diplomatennachwuchsprogramm des Schwedischen Außenministeriums aufgenommen worden war, hatte Amanda Karriere in der PR- und Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Nach einigen Jahren bei diversen Unternehmen hatte sie ihre eigene PR-Firma »Jaxon Communications« gegründet, die kurz vor der Jahrtausendwende von Peter Forssell, einem namhaften Gründer eines Start-up-Unternehmens in der Mobilfunkbranche, beauftragt worden war. Zwischen beiden hatte es buchstäblich gefunkt, und aus der Geschäftsbeziehung war eine private geworden. Amanda hatte sogar ihre Firma aufgegeben, um ihr PR-Talent ausschließlich für das Unternehmen ihres Mannes einzusetzen – mit großem Erfolg.

In der Woche vor Weihnachten war Astrid Amanda zufällig im Gedränge Shoppingwütiger über den Weg gelaufen. Bei einem Espresso hatte Amanda begeistert und vor Energie sprudelnd wie eh und je erzählt, dass ihr Mann und sie Silvester in London feiern würden, da Peter vor Ort mit dem Management eines internationalen IT-Riesen verhandelte, das ein Übernahmeangebot für sein Unternehmen unterbreitet hatte.

»Lade sie doch für Silvester zu uns ein«, hatte Stefan zu Astrid gesagt, als Astrid ihm via Skype von der Begegnung erzählt hatte. Sie hatte trotz der schlechten Bildschirmqualität ihres Laptops das Funkeln in seinen Augen gesehen, was ihr verraten hatte, dass er einen lukrativen Geschäftsdeal witterte.

»Du willst Peter doch nur betrunken machen, damit er dir Unternehmensgeheimnisse verrät, die du dann bei deinen Börsenspekulationen zu deinem Vorteil nutzen kannst«, hatte Astrid Stefan gleichermaßen verärgert wie amüsiert an den Kopf geworfen, Amanda und Peter aber trotzdem eingeladen.

Und jetzt saß Amanda allein hier.

»Mein Mann ist sehr darauf bedacht, in Form zu bleiben«, sagte sie zu Disa, die gerade von ihrer Arbeit erzählte. »Wir gehen jeden Morgen zusammen joggen und einmal pro Woche zu einem Fitnesstrainer. Peter sagt immer, dass man gut auf sich achtgeben muss, wenn man so viel arbeitet wie wir …«

Plötzlich gab Amandas Handy einen Ton von sich, und sie schoss vom Sofa hoch. Den Blick auf das Telefon geheftet, steuerte sie auf die Diele zu. Nach kurzem Zögern folgte Astrid ihr unter den erstaunten Blicken von Disa und Zoe.

Amanda hatte sich schon den Mantel übergeworfen und eine Hand auf die Türklinke gelegt, als Astrid in den Flur kam. Amandas Augen waren groß und dunkel und ihr Gesicht so blass, dass die Sommersprossen an ihren Nasenflügeln selbst in der gedämpften Flurbeleuchtung zu erkennen waren.

»Sorry«, sagte sie schnell, »aber ich muss mich beeilen, bitte entschuldige, Astrid …«

Lag da etwas Flehendes in ihrem Blick? Astrid legte eine Hand auf Amandas Arm.

»Aber ihr kommt doch wieder, Peter und du? Ihr seid uns willkommen, selbst wenn es spät wird.«

»Das hoffe ich, das hoffe ich wirklich«, sagte Amanda leise und war aus der Tür, bevor Astrid noch etwas sagen konnte. Sie erhaschte noch einen letzten Blick auf ihre Freundin und ihre in der Fahrstuhlkabine mehrfach widergespiegelte Gestalt, bevor sich die Fahrstuhltüren lautlos schlossen.

 

Carina Svahn stand am Küchenfenster und sah auf den dunklen Hofplatz hinaus, der nur von einem blassen Lichtfleck direkt am Haus erleuchtet wurde. Hier gab es keine Straßenlaternen, keine Neonreklame, keine festlich erstrahlenden Neujahrslichter – nur die Sterne und den Mond, die hin und wieder durch Risse in der Wolkendecke schimmerten.

Sie öffnete das Fenster und zündete sich eine Zigarette an, gleichzeitig belustigt und verärgert darüber, dass sie nicht einmal in ihrem eigenen Haus zu rauchen wagte. Doch am Neujahrstag erwartete sie den Besuch ihres Enkels, und ihre Tochter Tina hatte eine Nase wie ein Bluthund – außerdem sehr entschiedene Ansichten über das Rauchen in Räumen, in denen sich der kleine Valle aufhielt.

Genüsslich nahm sie einen Lungenzug und lehnte sich aus dem Fenster, um den Rauch hinauszublasen. Die Luft war feucht und für einen Silvesterabend recht mild, bestimmt mehrere Plusgrade. Der Regen, der früher am Tag durchgezogen war, hatte den meisten Schnee weggespült. Gut so. Weiße Winterlandschaften waren nichts für Carina Svahn und Schneeschaufeln definitiv nicht ihr Ding, obwohl es sich nicht vermeiden ließ, wenn man allein in einem abgelegenen Haus an einem unbefestigten Weg mitten in den tiefen Wäldern der Region Bergslagen wohnte. Aber jetzt waren von dem elenden Schnee nur noch ein paar vereinzelte Häuflein übrig, denen der Regen nichts hatte anhaben können. Was für eine Erlösung, dachte Carina und nahm einen weiteren Lungenzug. Im Fenster sah sie ihr Spiegelbild, eine hagere Frau mit schwarz gefärbten Haaren und spitzem Kinn in Jeans und einem schwarzen Lurexpullover mit V-Ausschnitt, der so alt war, dass die Bündchen an den Handgelenken ausgeleiert waren. Sie war immer noch so dünn wie ein Teenager, obwohl sie auf die fünfundvierzig zuging. Das muss am vielen Rauchen liegen, dachte sie und drückte die Zigarette auf dem Fensterblech aus.

»Na dann«, sagte sie und wandte sich zur Küche um. »Möchtest du etwas trinken, bevor wir das Essen auftischen?«

»Gern«, sagte ihr Silvestergast, »aber du denkst doch noch daran, dass ich nicht alles darf?«

Er lächelte entschuldigend.

»Natürlich«, sagte Carina und nahm zwei Gläser aus dem Küchenschrank, »du bist trockener Alkoholiker, und kein einziger Tropfen Alkohol darf über deine Lippen kommen. Kein Problem, ich habe literweise Apfelsaft, und im Kühlschrank steht Eiswasser. Und ein kleiner Rest Weihnachts-Malzbier, falls dir das lieber ist.«

Sie füllte ihr eigenes Glas mit Weißwein aus dem Tetrapack im Kühlschrank und entkorkte für ihren Gast eine Flasche von Tinas Bio-Apfelsaft. Dann öffnete sie eine Tüte Chips und schüttete sie in eine Plastikschale, die sie auf den Küchentisch stellte, bevor sie sich setzte, um ihr Werk zu betrachten. Jesses, dachte sie selbstironisch, Drinks und Snacks vor dem Abendessen, wer hätte das von Carina Svahn gedacht?

»Skål«, sagte sie und hob ihr Glas. »Schön, dass du kommen konntest, Sölve!«

»Skål, und danke für die Einladung«, antwortete er. »Kaum zu glauben, dass ich mit meiner Schwester Silvester feiere – noch vor zwei Monaten wusste ich nicht einmal, dass es dich gibt.«

Sie lächelten einander an.

Im November hatte Sölve Svahn Carina angerufen und erklärt, dass er ihr Halbbruder sei und sie gerne treffen wolle. An seiner Stimme hatte sie gehört, dass er mit einer Abfuhr rechnete, aber trotzdem – oder vielleicht auch genau deswegen – sofort zugestimmt.

Dass sie einen ihr unbekannten Bruder hatte, war nicht ganz unerwartet. Carinas Vater, Valentin Svahn, Gelegenheitsarbeiter, Akkordeonspieler und berüchtigter Schwarzbrenner, war in seiner Jugend ein fescher Kerl gewesen, und dass er seine Gene über Dalarna verstreut hatte, als er mit Tanzorchestern und dem Tivoli herumreiste, war im Nachhinein keine große Überraschung. Nur war sie selbst nie auf die Idee gekommen, solange sie, schon früh eine Waise, während ihrer schwierigen Kindheit zwischen verschiedenen Pflegeeinrichtungen und -familien herumgereicht worden war.

Sölve war neun Jahre älter als sie und in Malung geboren. Valentin hatte bereitwillig und unbekümmert die Vaterschaft anerkannt, ansonsten aber nichts weiter mit seinem Sohn und dessen Mutter zu tun gehabt. Dennoch hatte Sölve, ein talentierter Saxofonist und Akkordeonist, den Nachnamen des Vaters angenommen, als er Ende der Achtzigerjahre sein eigenes Tanzorchester gegründet hatte. Seine Band »Sölve Svahns« war auf den Tanzböden in Dalarna schnell erfolgreich geworden und hatte es 1991 mit Sölves wehmütigem Song In deinen traurigen Augen in die Hitparade geschafft und sie sogar drei Wochen lang angeführt.

Privat war es für Carinas Halbbruder jedoch nicht ganz so gut gelaufen. Seine zwei Ehen waren zerbrochen, und seine Alkoholsucht war immer schlimmer geworden. Auch die Band hatte sich aufgelöst. Als er Carina anrief, war er gerade aus einer Entzugsklinik entlassen worden. Aus einer unbestimmten Sehnsucht heraus hatte er die Idee gehabt, nachzuprüfen, ob er irgendwelche unbekannten Verwandten hatte, und über das Einwohnermeldeamt Carina problemlos ausfindig machen können.

Sie hatten sich an einem Samstag Ende November in einem Café in Hammarås getroffen. Beide waren ein wenig nervös gewesen, hatten sich aber auf Anhieb verstanden. Sie hatten festgestellt, dass sie die gleichen Augen hatten, grün und gelb gefleckt, und dass ihre Stimmen und ihre Gestik sich ähnelten. Carina hatte außerdem registriert, dass Sölve etwas Weiches an sich hatte, das ihn den Tiefschlägen des Lebens auslieferte, während sie selbst knallhart und unverwundbar war.

Sie beglückwünschte sich selbst zu der großartigen Idee, ihn für den Silvesterabend eingeladen zu haben. Ihre Tochter Tina, die bei ihrem Vater und dessen neuer Frau aufgewachsen war und viele Jahre lang nichts mit ihrer leiblichen Mutter hatte zu tun haben wollen, hatte sie pflichtschuldig zur Silvesterfeier in ihrer Gründerzeitvilla in Falun eingeladen, aber Carina hatte nie die Absicht gehabt hinzugehen. Auf keinen Fall wollte sie dort in einer Ecke stehen und sich zwischen den kultivierten Gästen aus der oberen Mittelschicht Faluns deplatziert fühlen.

Da war ihr die Begründung, bereits ihren Bruder eingeladen zu haben, ganz gelegen gekommen. Carina hatte Sölve mit ihrem alten Auto, das eigentlich ihrer Freundin Astrid Sammils gehörte, in Hammarås abgeholt, nachdem ihr Bruder ihr gestanden hatte, dass ihm der Führerschein für zwei Jahre entzogen worden war. Carina hatte gar keinen Führerschein, aber das ließ sie lieber unerwähnt. Sie war trotzdem eine gute Fahrerin.

Die Schale mit Chips leerte sich schnell, wofür vor allem Sölve sorgte. Er sieht gut aus, dachte Carina, mit seinen grünen Augen, den regelmäßigen Gesichtszügen, die nicht so scharf geschnitten waren wie ihre, und seinem bereits leicht ergrauten Haar, das aber noch immer dicht, dunkel und lockig war. Allerdings war er in schlechter Verfassung, hatte schmale Schultern und einen leichten Bauchansatz über dem Gürtel.

»Und du willst jetzt also dein Abitur machen«, sagte Sölve und tippte die letzten Chipskrümel mit dem Zeigefinger auf. »Darf man dann kommen und gratulieren?«

Carinas Wangen röteten sich. Ja, sie würde tatsächlich ihr Abitur machen, auch wenn sie es selbst nie so formuliert hätte – »das Abitur machen« war etwas, was Jugendliche taten, unbefangene und hoffnungsvolle Jugendliche in weißen Mützen, keine fünfundvierzigjährigen Frauen mit fragwürdiger Vergangenheit. Aber sie war auf das Abendgymnasium gegangen und hatte binnen zwei Jahren die Hochschulreife erlangt – mit Noten, die die meisten ihrer ehemaligen Lehrer in Staunen versetzt hätten.

»Ach was«, sagte sie, stolz und verlegen zugleich, »es gibt ja keine Abschlussfeier oder Studentenmützen und so etwas, und ich habe noch eine mündliche Prüfung vor mir, bevor ich das Abschlusszeugnis bekomme. Aber wenn ich das geschafft habe, kannst du mich ja auf ein Glas im Pub einladen, wenn du magst. Du darfst mich sogar zu einer Pizza einladen, falls du dir das leisten kannst.«

Sie wusste, dass Sölve alles andere als abgebrannt war. Sein Hit In deinen traurigen Augen hatte eine Renaissance erlebt, seit er die Titelmelodie einer neuen schwedischen Fernsehserie war, und offenbar bekam Sölve jedes Mal Geld, wenn er irgendwo gespielt wurde. Großartig, dachte Carina, Geld verdienen, ohne zu arbeiten. Sie selbst lebte von staatlicher Studienförderung und wechselnden Putzstellen … und von einer kleinen Nebenbeschäftigung, von der weder ihre Tochter noch ihre Freunde etwas wussten.

»Deal«, sagte Sölve und hob sein Glas mit Apfelsaft. »Pizza und Wein im Pub, wenn du die Schule abgeschlossen hast.«

»Okay«, sagte Carina, »darauf freue ich mich schon. Und jetzt lass uns ins Wohnzimmer gehen, da steht das Essen. Nimm dein Glas und den Apfelsaft mit.«

Ihre Vorbereitungen für das Abendessen erschöpften sich darin, von den Schüsseln und Tellern, die Tina am Vormittag vorbeigebracht hatte, die Deckel abzunehmen und die Plastikfolie zu entfernen. Ihre Tochter hatte aus dem Delikatessenladen ihrer Familie in Falun ein kleines Büfett der Extraklasse aufgefahren – vermutlich mit einer Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen, weil Carina ihre Teilnahme an der Silvesterfeier abgesagt hatte. Sölve starrte verblüfft auf den reich gedeckten Tisch.

»Wow«, sagte er. »Toast Skagen, Hummersalat, Krabbenmousse, Vitello tonnato, Roastbeef – sollen wir zwei das alles verdrücken? Das würde ja für ein ganzes Orchester reichen.«

»Wir müssen unser Bestes geben«, entgegnete Carina vergnügt. »Setz dich und hau rein!«

Sie prosteten sich zu, sie aßen, sie redeten und merkten dabei, wie das Band zwischen ihnen immer stärker wurde, je mehr Anekdoten sie sich erzählten, je mehr Erinnerungen sie teilten und je mehr sie sich einander öffneten.

Carina konnte sich nicht erinnern, jemals einen so gelungenen Silvesterabend erlebt zu haben. Dann dachte sie an Camilla, die Freundin, von der sie das Haus geerbt hatte, und hob still ihr Glas für einen Toast zu ihrem Andenken.

Sie hatten gerade Fisch und Meeresfrüchte vertilgt und waren zu den Fleischgerichten übergegangen, als es an der Tür klopfte, ein leises und schüchternes Klopfen, dem nach einigen Sekunden ein lauteres Hämmern folgte.

Sölve und Carina sahen einander an, überrascht und ein wenig beunruhigt.

»Shit«, sagte Carina und versuchte, den kleinen Anflug von Unbehagen mit einem Scherz zu überspielen, »das muss der Weihnachtsmann sein, der endlich hergefunden hat. Es war ja auch wirklich nicht die feine Art, dass er Heiligabend nicht aufgetaucht ist, obwohl ich das ganze Jahr über so artig war.«

Mit Sölve auf den Fersen ging sie in die Diele und öffnete vorsichtig die Tür. Draußen stand ein Mann mit einer bis über die Ohren herabgezogenen Strickmütze und einem Zettel in der Hand.

»Guten Tag«, sagte er höflich. »Wir sind falsch … we are lost, please

Auf dem Hof stand ein Auto mit laufendem Motor, ein roter Dacia, ziemlich alt, ziemlich ramponiert und mit dem Nationalitätskennzeichen »RO«. Im Schein der Außenlampe über der Tür sah Carina, dass zwei weitere Männer im Auto saßen. Vielleicht sind das die rumänischen Bauarbeiter, dachte sie, die gerade in Hammarås eine Schule umbauen. Sie hatte in der Lokalzeitung von ihnen gelesen. Schade, dass Astrid nicht hier war, sie sprach perfekt Rumänisch. Aber sie war über Silvester in London.

»Please«, sagte der Mann mit der Mütze, »can you help us find …«

Er schaute auf den Zettel in seiner Hand und sagte langsam und übertrieben deutlich:

»… Ramsnoret?«

»Ramsnoret?«, wiederholte Carina erstaunt.

Sie kannte den Ort – eine ehemalige »Anstalt für Geistesschwache«, vier, fünf Kilometer weiter im Wald, ein unheimlicher Ort, an dem sich Schreckliches abgespielt hatte. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was jemand dort an einem Silvesterabend suchen könnte.

Der Unbekannte sah sie hoffnungsvoll an.

»Sie finden Ramsnoret?«, fragte er.

»Ja«, sagte Carina. »Ich weiß, wo das ist. Aber was wollen Sie dort?«

Der Mann schien zu verstehen, was sie sagte. Er breitete die Arme aus.

»Arbeiten«, sagte er. »Immer arbeiten, arbeiten, make some money

Einer der anderen Männer war ausgestiegen und hatte sich eine Zigarette angezündet. Er war jung und hatte dunkles, lockiges Haar, ein hübscher Junge, vielleicht Anfang zwanzig. Sollte er den Silvesterabend in einem eiskalten, verfallenen Haus ohne Strom und Wasser mitten im Wald zubringen müssen?

Carina fasste einen raschen Entschluss. Was soll’s, sie hatte genug zu essen für ein ganzes Orchester. Sie öffnete weit die Tür.

»Kommen Sie rein«, sagte sie, »schließlich ist Silvester. Kommen Sie rein und essen Sie mit uns!«

 

Disa sah auf, als Astrid ohne Amanda zurückkehrte.

»Was ist aus deiner Freundin geworden? Waren wir ihr zu langweilig? Obwohl – so unterhaltsam war sie selbst auch nicht. Zuerst war sie stumm wie ein Fisch, dann hat sie so lange von ihrem Mann geschwärmt, bis einem die Ohren wehtaten.«

»Sie hat eine rätselhafte SMS bekommen und gesagt, dass sie aufbrechen muss«, erklärte Astrid. »Ich verstehe nicht, was heute Abend in sie gefahren ist. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«

Zoe warf Astrid aus dicht bewimperten Augen einen langen Blick zu.

»Woher kennt ihr beide euch eigentlich, du und Amanda? Das hab ich vorhin nicht richtig mitgekriegt.«

»Wir waren Kommilitoninnen in Uppsala«, sagte Astrid. »Regelrecht unzertrennlich. Manche hielten uns sogar für Schwestern. In letzter Zeit hatten wir allerdings nicht mehr so viel Kontakt. Wenn es hochkommt, haben wir uns vielleicht einmal im Jahr gesehen.«

Zoe nickte nachdenklich.

»Sie hat in der Studienzeit bestimmt zu dir aufgesehen, oder? Hatte dieselben Ansichten wie du, dieselbe Kleidung und dieselbe Frisur?«

Astrid zuckte mit den Schultern. Eine schmerzvolle Erinnerung daran, wie eine Mitstudentin sie einmal als zwei Matroschkas bezeichnet hatte, von ihrer Größe abgesehen identisch, stieg wieder in ihr hoch.

»Ahhh, Doktor Zoe analysiert wieder!«, spottete Disa und strich ihr über die Haare. »Fünfundsechzig Pfund für eine Einzelsitzung, aber heute, bei unserem besonderen Silvesterangebot, eine Schnellanalyse nach nur zehn Minuten ganz umsonst. Wie kommst du denn darauf, Zoe?«

Zoe musterte Astrid nach wie vor, registrierte jede Reaktion.

»Amanda zeigt meiner Ansicht nach typische Symptome für Heldenverehrung«, sagte sie nachdenklich. »Sie ist ein Mensch, der jemanden braucht, den sie bewundern, nachahmen und dem sie den Weg ebnen kann. Und um zu verstehen, dass ihr Mann der Fixstern ihres Universums ist, braucht man noch nicht mal zehn Minuten. Das hat natürlich etwas mit der Lösung ihres Ödipuskomplexes zu tun, ich wüsste nur zu gern …«

Disa lachte lauthals auf.

»O nein, nein und nochmals nein, nicht schon wieder der Ödipuskomplex, Liebling. Nicht heute Abend! Es ist doch Silvester, wir wollen uns amüsieren!«, rief sie aus.

Die Geräusche aus dem Arbeitszimmer waren verstummt. Stefan kam mit Disas Sohn Jon ins Zimmer. Der hielt triumphierend den Daumen hoch.

»Onkel Stefan hat eine Tracht Prügel kassiert«, rief er vergnügt, »ich hatte völlig die Oberhand. Du hattest keine Chance, oder, Stefan?«

Stefan wirkte für einen flüchtigen Moment verärgert, sein Gesicht war nach dem aufgeheizten Spiel immer noch gerötet. Astrid wusste, dass er so ehrgeizig war, dass er auch gegen seinen minderjährigen Neffen mit vollem Einsatz spielte, außerdem war er ein furchtbar schlechter Verlierer. Aber zum Glück war er auch reif genug, um innerhalb kürzester Zeit eine Niederlage zu überwinden.

»Aber das nächste Mal nehme ich Rache«, sagte Stefan und zerzauste Jons dichte braune Locken. »Ich hab dieses Spiel schließlich zum ersten Mal gespielt. Beim nächsten Mal bist du es, der keine Chance hat!«

Jon kicherte, holte sich eine Limo aus dem Kühlschrank und schnappte sich eine Handvoll Nüsse aus einer Schale auf dem Couchtisch.

»Ich surfe noch ein bisschen im Internet«, sagte er lässig. »Ich muss doch nicht hierbleiben und mir euer langweiliges Gerede anhören, oder?«

»Geh nur, mein Schatz«, sagte Disa liebevoll. »Wenn wir essen, kannst du ja aus deiner Höhle kommen.«

Stefan, in Jeans und T-Shirt, auf dem ein Asche sprühender Vulkan die Botschaft »Don’t fuck with Iceland« verkündete, schielte auf seine Armbanduhr und murmelte, dass er sich vielleicht umziehen sollte, bevor die Gäste kämen. Dann hielt er inne und warf einen Blick auf den leeren Platz auf dem Sofa, auf dem gerade noch Amanda gesessen hatte.

»War da nicht bereits jemand gekommen?«, fragte er. »Ich habe doch eine Stimme gehört. Habt ihr die ersten Gäste etwa schon wieder verjagt?«

»Das war Astrids Freundin Amanda Forssell«, sagte Disa. »Sie war von uns nicht so angetan. Sie hat eine seltsame SMS bekommen und beschlossen zu gehen.«

Stefan sah Astrid an.

»Eine SMS? Von wem denn?«

»Das hat sie nicht gesagt«, erwiderte Astrid mit einem Achselzucken. »Aber sie war total nervös. Ihr Mann hat sich offenbar nach einem Termin mit diesem Unternehmen, das seine Firma übernehmen will, verspätet, und sie hat die ganze Zeit nur dagesessen und auf ihr Handy gestarrt. Ich nehme also an, dass er es war.«

Stefan fuhr sich durch seine dunkelblonden Haare. Ein berechnender Ausdruck trat in seine Augen, und auf einmal schien er meilenweit entfernt zu sein. Astrid kannte diesen Blick, es war der eines Spielers, der rasch Chancen und Risiken gegeneinander abwog.

»Sie hat nervös gewirkt, aha …«, sagte er gedehnt, »und ihr Mann ist bei einem Termin, der sich in die Länge gezogen hat. Das muss etwas bedeuten. Mir sind in den letzten Tagen so ein paar Gerüchte über Peter Forssell zu Ohren gekommen …«

Jäh drehte er sich um und ging zurück in sein Arbeitszimmer, statt sich umzuziehen.

»Stefan, du Langweiler!«, stöhnte Disa. »Sag nicht, du willst dich sogar an Silvester deinen ominösen Aktiengeschäften widmen!« Ganz und gar nicht so weltfremd, wie sie sich sonst gern gab, fügte sie an die anderen gewandt hinzu: »Die Börsen sind doch schon geschlossen, oder nicht?«

»Nicht in New York«, rief Stefan.

Schweigen breitete sich aus. Disa verdrehte die Augen, Zoe betrachtete die Ringe an ihrer Hand, und Astrids Gedanken kehrten zu Amanda zurück. Hatte Zoe vielleicht recht? Hatte Amanda sie, Astrid, bewundert, so wie sie jetzt Peter vergötterte? Nein, der Gedanke war einfach lächerlich …

Sie zuckte zusammen, als ihr Handy mit einem Pling den Eingang einer Mail verkündete. Astrid starrte auf ihr Smartphone. Wer um alles in der Welt verschickte denn um diese Zeit, und noch dazu an Silvester, Mails? Wohl kaum jemand aus dem Außenministerium. Vielleicht kam sie ja von dem slowenischen Diplomaten aus ihrer Arbeitsgruppe, der gerade in London war. Er wollte heute Abend zu ihrer Party kommen, womöglich war ihm etwas dazwischengekommen.

Astrid rief die E-Mail auf. Als sie die ersten Worte las, wünschte sie sich augenblicklich, sie hätte es nicht getan. Aber nachdem sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Mit trockenem Mund las sie das ganze Schreiben: »Ich wünsch dir ein sauschlechtes neues Jahr, du hässliche, abscheuliche, zigeunerliebende Fotze. Es ist eine Schande, dass solche wie du unser Land vertreten, aber was soll man auch anderes von diesem blonden Luder von Außenministerin erwarten. Ich hoffe, 2014 wird das Jahr, in dem sie und du und euer gesamter widerlicher Haufen das kriegt, was ihr verdient. Glaub mir, viele von uns sind bereit, etwas zu unternehmen, wenn die Natur es nicht von selbst regelt und ihr über eure eigene Dummheit stolpert. Dass jemand mit einem so niedrigen IQ wie dem deinen es so weit gebracht hat, liegt doch nur an der Quotenregelung. Alle wissen schließlich, dass es in deiner Familie vor Idioten nur so wimmelt und du selbst einer bist. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm, haha. Ja, du bist eine Idiotin und so hässlich, dass es ein Wunder ist, dass dein Mann es über sich gebracht hat, dich so lange zu bumsen. Mit ihm muss etwas nicht stimmen, kein normaler Mann will seinen Schwanz in jemanden wie dich stecken, du fette Kuh, aber selbst er hatte letztlich genug von dir. Hast du dich mal gefragt, was Frauen wie du tun sollten, die zu dumm und zu hässlich sind, um einen Mann abzukriegen? Aber warte nur, eines Tages fällt uns etwas für euch ein, und dann kriegt ihr, was ihr verdient!«

Die E-Mail – Astrid stellte fest, dass der Text vollkommen fehlerfrei war – war nicht unterschrieben. Der Absender war eine Hotmail-Adresse, die keinerlei Aufschluss über den Absender gab.

Ob vielleicht irgendeine Fernsehsendung der Auslöser für diese Hasstirade war? Eine Silvesterreportage oder eine Kultursendung vielleicht, in der Gabriels Buch besprochen worden war? Was für ein Mann wohl dahintersteckte und sich mit so etwas aufmunterte, während er allein und vergrämt vor dem Fernseher saß? Ein junger Mensch bestimmt nicht, dachte sie. Sondern ein Mann mit einer gewissen Ausbildung, bei dem irgendetwas im Leben schiefgelaufen war – eine Frau, die ihn verlassen hatte, eine Karriere, die zum Erliegen gekommen war – und der jemanden suchte, dem er die Schuld dafür geben konnte.

Diese Überlegung machte die ganze Sache aber nicht leichter. Sie merkte geradezu, wie das Zimmer um sie herum schrumpfte, sie von Zorn und Verachtung überschwemmt wurde.

Die Hassschreiben kamen seit der Woche vor Weihnachten. Angesichts der steigenden Anzahl von Bettlern mit Roma-Herkunft in Stockholm war Astrid zu Gast im Studio einer Nachrichtensendung gewesen. Als Arbeitsgruppenleiterin hatte sie zuvor den zehn Jahre alten Aktionsplan zur Verbesserung der Lage der Roma und Sinti im OSZE-Gebiet auswerten sollen, und ihre Mitarbeiter und sie waren gründlich zu Werke gegangen, hatten entsprechende Siedlungen und Elendsquartiere besucht und behördliche Vertreter befragt. Astrid wusste also, wovon sie sprach, und obwohl es ihr gelungen war, sich die ganze Zeit in der Sendung im Rahmen dessen zu bewegen, was für eine Angestellte des Außenministeriums legitim war, hatte sie sich mit einer Klarheit und Schärfe ausgedrückt, die viele Leute als Provokation empfunden hatten.

Unglücklicherweise war am selben Abend ein Interview mit Astrids Exmann über seinen neu erschienenen Roman Verheiratet ausgestrahlt worden, einem hingerissenen Rezensenten zufolge »die schonungsloseste Schilderung einer zerfallenden Ehe seit Strindbergs Beichte eines Toren, die wie ihr Vorgänger nur so von Gift und Herzblut durchtränkt ist« und das Thema in den Kulturnachrichten war. Eine Morgenzeitung hatte noch dazu am selben Tag einen langen Auszug aus dem Buch abgedruckt.

In den sozialen Medien und den Internetklatschseiten war es daraufhin hoch hergegangen. Vor Tagesende hatten alle, die auch nur das geringste Interesse an der Sache hatten, gewusst, dass die kastrierende Karrierefrau Hedvig aus Gabriel Wredes Roman jener Astrid Sammils nachempfunden war, die sich in den Nachrichten so unverblümt geäußert hatte. Tags darauf war das erste anonyme Schreiben auf Astrids Fußmatte gelandet, von jemandem persönlich abgeliefert, der sich dafür keine Briefmarke hatte leisten wollen. Weitere Schreiben analog und digital waren gefolgt, alle mit derselben Botschaft: Astrid sei eine männerhassende Missgeburt, gehöre zu jener staatsfeministischen Mafia, die aus Schweden ein Saudi-Arabien des Feminismus gemacht hätte, in dem schwedische Männer und schwedische Werte nichts mehr gelten würden. Darüber hinaus sei sie so dumm, hässlich und abstoßend, dass jeder normale Mann es als Strafe empfinden würde, mit ihr ins Bett zu gehen.

Astrid konnte nicht begreifen, was an ihr so provozierend sein sollte.

Die abscheulichen Worte aber ließen sich nicht abschütteln, wie sehr sie es auch versuchte. Vor allem die, die ihr Aussehen betrafen, ließen ihre Welt zusammenschrumpfen, als würden ihr auf Schritt und Tritt hasserfüllte Blicke folgen. Als Teenager hatte Astrid von einer Karriere am Theater geträumt, hatte diesen Traum aber aufgegeben, als ihr klar geworden war, dass sie als Schauspielerin immer auch an ihrem Aussehen gemessen werden würde. Wie viel sie auch an Gewicht verlöre, sie würde immer zu groß, breitschultrig und grobschlächtig für die Rollen sein, von denen sie insgeheim träumte. Nie würde sie die Julia spielen können …

»Was ist mit dir, Astrid?«, fragte Disa.

Sie klang besorgt. Astrid versuchte unbekümmert zu lächeln und legte mit einer gleichgültigen Geste das Handy auf den Couchtisch.

»Ach, nur eine blöde E-Mail, die Idiotenbrigade macht an Silvester anscheinend Überstunden.«

Die beiden anderen Frauen starrten sie an. Sie wirkten nicht überzeugt. Anscheinend habe ich mein Schauspieltalent eingebüßt, dachte Astrid. Es war natürlich schön, dass es ihnen nicht egal war, wie es ihr ging, aber sie hatte die Schreiben bisher niemandem gezeigt und hatte es auch jetzt nicht vor.

Doch noch bevor Astrid reagieren konnte, hatte sich Disa, die perfekt Schwedisch sprach, Astrids Telefon geschnappt und fing an zu lesen. Astrid sah ihr mit einem unbehaglichen Gefühl dabei zu.

»Du brauchst wirklich nicht alles für dich zu behalten«, sagte Disa, nachdem sie fertig war. »Glaubst du denn, männerhassende Lesben wie wir wissen nicht, was es heißt, solch einen Müll zu bekommen? Da bist du nicht die Einzige, ganz und gar nicht. Alle Frauen, die auf irgendeine Art herausragen, sind früher oder später von so etwas betroffen.«

Disa übersetzte die Mail für Zoe. Obwohl sie leise sprach, wand sich Astrid vor lauter Unbehagen, als bekämen die hasserfüllten Worte so artikuliert noch mehr Kraft, als erfüllten sie den Raum mit ihrem Gift.

»Nein, du bist nicht die Einzige«, sagte Zoe mit verhaltener Stimme. »Unsere gesamte Zivilisation gründet sich doch auf der Furcht vor den Frauen, vor der weiblichen Macht. In den USA hat man sogar den 11. September den Feministinnen in die Schuhe geschoben, die die amerikanische Gesellschaft verweichlicht und verweiblicht haben sollen. Auch Breivik hat Feministinnen verabscheut. Wir leben in einer Gesellschaft, die von unseren Jungs verlangt, alles Weibliche in sich zu töten, um zum Mann zu werden. In den Augen des Patriarchats öffnet die weibliche Macht der Anarchie, dem Chaos und dem Untergang Tür und Tor. Es ist die Furcht vor der präödipalen Mutter, allmächtig und allumschließend, dem ersten, verlorenen Liebesobjekt …«

Disa lachte gezwungen auf.

»O nein, Liebling, komm mir jetzt bitte nicht mit der präödipalen Mutter, das ist ja noch schlimmer als der Ödipuskomplex. Nimm dir ein Glas Sekt, Astrid, und vergiss diese Blödmänner für heute Abend! Wir sind auf deiner Seite, das ist alles, was ich sagen wollte.«

Astrid lächelte sie dankbar an.

In diesem heiklen Moment kam Stefan, jetzt in einem dunklen Anzug, herein, mit einem Lächeln auf den Lippen, das angesichts der angespannten Atmosphäre langsam erstarb.

»Und, hast du inzwischen eine Million gemacht?«, bemerkte Disa spitz.

»Kann sein, oder aber ich habe eine verloren«, sagte Stefan. »Und ihr? Was ist denn hier los?«

»Ach, nichts weiter«, sagte Zoe und schüttelte ihren Lockenkopf, während Disa ihm wortlos Astrids Handy mit der Mail auf dem Display reichte.

Während Stefan langsam und konzentriert die Mail las, herrschte Schweigen. Astrids Wangen röteten sich. Eigentlich wollte sie wütend auf Disa sein, wusste aber im Grunde, dass diese recht hatte – wenn ihre Beziehung zu Stefan weiterhin funktionieren sollte, durfte sie das nicht vor ihm geheim halten. Andererseits konnte sie es kaum ertragen, ihn das lesen zu sehen, schämte sich und fürchtete, dass er sie mit dem hasserfüllten Blick des Absenders sehen könnte.

Zoe erhob sich von der Couch und zog ihre Lebensgefährtin mit sich.

»Komm, Disa. Lass uns mal schauen, was Jon so treibt und ob es ihm schon gelungen ist, die Welt zu vernichten.«

Als Stefan fertig war, lachte er unsicher auf, um zu demonstrieren, dass er der Sache nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Doch die roten Flecken auf seinen Wangen und die Schweißperlen am Haaransatz passten nicht zu einem Mann, der sich stets darum bemühte, ungerührt zu bleiben.