Mårten Sandén

Haus ohne Spiegel

Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer

Mit Vignetten von Cornelia Haas

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Mårten Sandén

Mårten Sandén wurde 1962 in Südschweden geboren. Er studierte Psychologie und Sozialwissenschaften und arbeitet heute als Songwriter und Buchautor. Er hat mehr als dreißig Kinder- und Jugendbücher verfasst, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Mårten Sandén lebt mit seiner Familie in Stockholm, Schweden.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Das alte Herrenhaus von Thomasines Großtante ist wie geschaffen zum Versteckspiel: unzählige Zimmer, verwinkelte Treppen, geräumige Schränke und unentdeckte Nischen. Hier stößt Thomasines fünfjährige Cousine auf einen verborgen achteckigen Raum, in den sämtliche Spiegel des Hauses verbannt wurden. Wer ihn betritt, reist in eine spiegelverkehrte Welt ...

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die schwedische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›Ett hus utan speglar‹ bei Rabén & Sjögren, Stockholm.

© 2012 Mårten Sandén

First publishes by Rabén & Sjögren, Sweden

Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 S. Fischer Verlag GmbB, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: Maria Seidel, unter Verwendung einer Illustration von Cornelia Haas

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-4963-0

»Achtundneunzig, neunundneunzig, hundert! Ich komme!«

Das Echo meiner Stimme hüpfte kurz im Treppenhaus von Henriettas Haus hin und her, bevor es erstarb. Als wieder Stille herrschte, hörte ich in der oberen Etage das Parkett knarren. Das waren meine Cousine Wilma und mein Cousin Erland, die nach einem Versteck suchten.

Wir spielen fast jeden Tag Verstecken, aber ich darf meistens nicht suchen. Sowohl Wilma als auch Erland sagen, es sei ungerecht, dass ich mich hier in Henriettas Haus so viel besser zurechtfinde als sie. Schon möglich, dass ich das tue, mein Papa nimmt mich nämlich immer mit, wenn er herkommt, um nach Henrietta zu schauen, aber es ist trotzdem nicht besonders lustig, nie suchen zu dürfen.

Überhaupt sollte man meinen, dass die beiden das Haus inzwischen auch gut genug kennen. Wilma und ihre Mutter Kajsa, die Schwester meines Vaters, sind vor über drei Wochen hergekommen, und Erland und Signe sind seit Beginn der Schulferien hier. Ihr Vater, mein

Aber so viel Zeit wie Papa und ich hat niemand hier in Henriettas Haus verbracht. Bis auf Henrietta selbst natürlich.

Das Nachmittagslicht fiel durch die bunten Glasscheiben des hohen Treppenhausfensters und ergoss sich in blassen Farbflecken über den Fußboden des Eingangs. Dort ist der Boden schwarzweiß kariert, wie ein Schachbrett, und manchmal erinnere ich mich daran, wie ich auf den Feldern eine Art Phantasie-Schach gespielt habe, als ich klein war. Ich weiß genau, was das für ein Gefühl war, und auch, dass noch jemand dabei war. Vielleicht Henrietta selbst, in der Zeit, als sie noch gehen konnte.

Das Erdgeschoss zu durchsuchen ging schnell. Da gibt es nicht allzu viele Verstecke, weil Henrietta laufend Möbel und Sachen verkauft hat, seit sie allein hier lebt. Papa sagt, sie hat sich schon seit langem darauf vorbereitet, dass sie bald sterben wird.

Viele Zimmer sind inzwischen ganz leer geräumt, bis auf etwas Gerümpel in den Ecken oder vereinzelte Schränke, die zu groß waren, um wegtransportiert zu werden. Wenn man Verstecken spielt, ist diese Leere gut für den, der sucht, und schlecht für alle, die sich verstecken sollen.

Ich schlich durch das Esszimmer, die Salons und das Eckzimmer, das sogenannte Kontor, und huschte weiter

Dort war niemand, und auch nicht in der Küche oder in der Speisekammer. Nicht einmal Signe, meine jüngste Cousine. Signe fürchtet sich vor der Dunkelheit, darum versteckt sie sich meistens in der Nähe der Küche.

Auf der großen Treppe, die in den zweiten Stock führt, wo die Wohnräume liegen, blieb ich stehen und horchte. Das Knarren war nicht mehr zu hören, also hatten die anderen vermutlich ihre Verstecke gefunden. Und die konnten praktisch überall sein.

Papa behauptet immer, er hätte keine Ahnung, wie viele Zimmer Henriettas Haus hat, aber das sagt er nur so. Er weiß genauso gut wie ich, dass es neunzehn sind. Zwanzig mit dem Wintergarten. Zehn davon sind Schlafzimmer, wenn man die beiden Kammern hinter der Küche dazuzählt, wo die Köchin und das Hausmädchen damals schliefen, als Henrietta und der Vater meines Großvaters vor bald hundert Jahren Kinder waren.

Ich hatte noch nicht angefangen, die Wohnräume zu durchsuchen, da sah ich auf der Treppe zum dritten Stock eine Gestalt. Zuerst dachte ich, es wäre Erland, der dort im Schatten auf dem Treppenabsatz stand und die Arme hängen ließ. Aber das war er nicht, zum Glück. Es war Signe, Erlands kleine Schwester.

»Was ist denn, Signe?«, fragte ich. »Findest du kein Versteck?«

Ich stieg zu dem Absatz hoch, wo Signe stand, und reichte ihr die Hand.

»Komm«, sagte ich. »Ich zeig dir eine gute Stelle.«

Signe nahm meine Hand, dann gingen wir die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf. Als wir in den dunklen Flur kamen, an dem mein Zimmer liegt, wurde Signes Griff um meine Hand fester.

Sie hätte sich in meinem Zimmer verstecken können oder in dem, wo Papa manchmal schläft, aber meiner Meinung nach war das Zimmer am Ende des Flurs irgendwie noch spannender.

Ein großer achteckiger Raum, in dem Henriettas englische Mutter vor über hundert Jahren ihre Kleider hatte. Jetzt ist der Raum leer, aber es gibt jede Menge Wandschränke darin, in denen man sich verstecken kann.

»Hier, kleine Maus«, sagte ich und schob sie in das Zimmer. »Du kannst dir einfach irgendeine der Türen aussuchen, okay?«

Signe sah mich mit ihren ernsten grauen Augen an, während ich mich vergewisserte, dass in keiner der halboffenen Schranktüren noch Schlüssel steckten. Nirgends steckte einer, nicht einmal in der mittleren Tür, die abgeschlossen war.

Sie ist erst fünf, und man muss ihr vieles erklären. Manchmal weiß man dann nicht so genau, ob sie alles verstanden hat, aber nun nickte sie tatsächlich.

»Gut«, sagte ich und strich ihr übers Haar. »Versteck dich jetzt, dann komme ich nachher und suche dich.«

Ich wartete nicht ab, um zu sehen, in welchem Wandschrank sie sich versteckte. Dann hätte ich ja geschummelt.

Mit den Schuhen in der Hand schlich ich wieder die Treppe hinunter, zu den Wohnräumen. Ich weiß genau, welche Stufen knarren, und wich ihnen sorgfältig aus.

Das Schwierigste beim Suchen ist jedes Mal, Wilma zu finden. Ihr fallen Verstecke ein, an die man nie gedacht hätte. Einmal hatte sie sich im unteren Salon auf die Saiten des Flügels gelegt und den Deckel zugeklappt. Damals hatte Erland suchen müssen, und er fand sie nie. Als Wilma verriet, wo sie gewesen war, verpetzte Erland sie natürlich bei Onkel Daniel, worauf Wilma ordentlich ausgeschimpft wurde.

Onkel Daniel findet wahrscheinlich, Kinder sollten am besten gar nicht spielen, und man darf auch nicht einfach »Daniel« zu ihm sagen. Wir müssen ihn immer »Onkel Daniel« nennen, obwohl er nur ein wenig älter ist als Papa. Mir ist das egal. Ich finde ihn sowieso ziemlich langweilig.

»Psst.«

Als ich das Zischen hörte, wandte ich nicht einmal den Kopf. Niemand kann so abscheulich psst machen wie Erland. Wie eine Schlange, hinter deren Zischen ein verstecktes Kichern lauert.

»Erland, ich hab dich!«, rief ich. »Oben auf dem Kleiderschrank!«

Er war bereits nach unten unterwegs, als ich mich umdrehte. Normalerweise wird Erland sauer, wenn er bei irgendeinem Spiel verliert, aber diesmal schien es ihn kaltzulassen.

»Bravo«, sagte er und sah mich mit diesem spöttischen Lächeln an, das ich so verabscheue. »Jetzt hast du es mir wohl gezeigt, was?«

Erland ist erst sieben, hat aber gar nichts Kindliches an sich. Er bewegt sich und redet wie ein kleiner Erwachsener. Ehrlich gesagt genau wie sein Vater. Das ist vielleicht nicht verwunderlich, nachdem Erland und Signe alleine mit Onkel Daniel leben. Wo ihre Mutter sich aufhält, darüber spricht niemand, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht tot ist.

Ich ging zurück ins Treppenhaus und hörte, dass

»Hilfst du mir, Wilma zu suchen?«, fragte ich über die Schulter und hoffte, er würde nein sagen.

Aber Erland sagte weder nein noch ja. Er stieg schnell an mir vorbei und versperrte mir oberhalb der Treppe den Weg.

»Guck mal, Thomasine-Kotzmaschine«, sagte er und zog etwas aus der Hosentasche, das wie ein künstliches Gebiss aussah. »Pass auf, sonst beiß ich dich!«

Er klapperte mit dem Gebiss wie mit einer Kastagnette. Die Zähne grinsten mich unheimlich an, fast wie ein echter Mund.

»Lass den Blödsinn«, sagte ich. »Wo hast du das her …«

Als ich begriff, was es war, zog sich mir der Magen zusammen.

Es war Henriettas Zahnprothese. Erland war wohl hinaufgeschlichen und hatte sie aus dem Glas auf Henriettas Nachttisch genommen, als mein Vater nicht hinsah.

»Bist du völlig durchgeknallt? Du kannst doch nicht einfach ihre Zähne klauen!«

Erland lachte nur und schlüpfte rasch in den Korridor – meinem Vater direkt in die Arme.

»Was ist hier los?«, fragte Papa.

Er klang nicht wütend. Nicht einmal, als er das Gebiss sah, das Erland nicht rechtzeitig hatte verstecken können. Papa klingt nie wütend, nur traurig und erschöpft.

Erland starrte auf den Boden.

»Jemand anders hat es genommen«, sagte er. »Ich hab es bloß gefunden.«

Die Art, wie Erland lügt, macht mich ganz rasend. Er spricht dann immer mit dieser bebenden, traurigen Stimme, als wäre er schrecklich bedauernswert.

»Hör auf, Erland!«, fauchte ich. »Wer außer dir könnte so gemein und bescheuert sein und …«

Papa hielt eine müde Hand hoch, und wie immer verstummte ich sofort.

»Das reicht, Thomasine«, sagte er. »Leg es bitte auf die Treppe, Erland. Dann nehme ich es nachher mit, wenn ich wieder nach oben gehe.«

Erland antwortete nicht, machte sich aber auf den Weg zur Treppe, die zu Henriettas Dachzimmer hinaufführt.

Ehrlich gesagt ist Erland der Einzige, außer Papa und mir, der jemals zu Henrietta hinaufgeht. Papa tut es, weil er muss, und ich mache es, weil ich ihm helfen möchte, aber Erland hat keinen echten Grund, dort oben im Dachzimmer herumzuschleichen. Wahrscheinlich hofft er, dass Henrietta stirbt, während er da ist und zuschauen kann.

Kaum war ich allein, sank ich auf die oberste Treppenstufe und ließ mir die Haare übers Gesicht fallen.

Manchmal, eigentlich jeden Tag, gibt es Momente, wo ich nicht weiß, wie ich diesen Sommer überstehen soll, ja, nicht einmal die nächste Stunde. Ich fühle mich in diesem stillen Haus nicht zu Hause. Die Menschen, die behaupten, meine Verwandten zu sein, kommen mir wie Fremde vor.

Ich erkenne hier meinen eigenen Vater sogar kaum wieder.

»Hallo? Thomasine? Sucht überhaupt jemand, oder was ist?«

Wilma stand auf dem Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dem dritten Stock, und wie immer, wenn ich sie sah, beruhigte ich mich. Ohne Wilma hätte ich es kaum ausgehalten, hierzubleiben.

Ich stand auf und strich mir die Haare aus den Augen.

»Nein, wir hören auf«, sagte ich und begann nach unten zu gehen. »Ich hab keine Lust mehr.«

»Gut«, sagte Wilma. »Mama hat sowieso schon die Pizzas gebracht.«

Als ich zu ihr trat, legte sie den Arm um mich. Wilma ist immer noch etwas größer als ich, obwohl ich sie allmählich einhole, und ihr Arm um meine Schultern fühlte sich gut an. Freundlich und warm, fast wie der von Mama.

»Erland ist völlig durchgeknallt«, sagte ich. »Stell dir

Wilma blieb stehen und sah mich an.

»Henrietta hat ein Gebiss?«, flüsterte sie. »Ehrlich?«

Zuerst wusste ich nicht so recht, ob sie Spaß machte, doch dann sah ich, dass sie es ernst meinte. Ziemlich oft kommt es mir vor, als wäre Wilma die Jüngste von uns.

»Wilma, Henrietta ist über hundert Jahre alt«, sagte ich. »Ist doch logisch, dass sie ein Gebiss hat.«

Wir sagten nichts mehr, während wir die Treppe bis ins Erdgeschoss hinunterstiegen, die Salons und das Esszimmer durchquerten und in den Küchengang kamen. Schon bevor wir die Stimmen aus der Küche hörten, stieg mir der Pizzageruch in die Nase. Bis dahin hatte ich Hunger gehabt, doch der verging mir wieder einmal schnell. Früher hatte ich durchaus manchmal Appetit auf eine Pizza gehabt. Aber das ist wohl für immer vorbei. Wenn Kajsa oder Daniel fürs Abendessen zuständig sind, kaufen sie mindestens einmal in der Woche Pizza, manchmal zweimal. Wir haben auch schon an vier Tagen hintereinander Pizza gegessen.

Erland musste die Hintertreppe aus dem dritten Stock genommen haben, er saß nämlich bereits am Tisch. Onkel Daniel saß neben ihm und las die Zeitung, während Kajsa die Pizzakartons aus einer Tragetasche holte. Kajsa hatte immer noch ihren Mantel an, und schon von weitem war ihr anzusehen, wie sauer sie war.

»Perfekt, die sind wieder mal eiskalt«, fauchte sie und stocherte mit dem Finger in einem Pizzakarton herum. »Es ist wie verhext, dass man es nie rechtzeitig nach

Onkel Daniel hob den Kopf und kratzte sich am unrasierten Kinn.