Gerhard Roth
Das Labyrinth
Roman
Fischer e-books
Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens«. Anschließend erschienen die Bände des »Orkus«-Zyklus: die Romane »Der See«, »Der Plan«, »Der Berg«, »Der Strom« und »Das Labyrinth«, die literarischen Essays über Wien »Die Stadt« sowie die beiden Erinnerungsbände »Das Alphabet der Zeit« und »Orkus – Reise zu den Toten«. Für sein Werk wurde Gerhard Roth mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
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Die Wiener Hofburg, die riesige Residenz der Habsburger, brennt, und der Psychiater Heinrich Pollanzy hat einen Verdacht: Könnte sein pyromanischer Patient Philipp Stourzh der Täter sein? Während Stourzh auf den Spuren des letzten österreichischen Kaisers Karl nach Madeira und Madrid reist, führt auch Dr. Pollanzys Weg von Wien nach Spanien. Dort kommt es zu einer dramatischen Begegnung mit seinem Patienten. Oder war alles ganz anders?
Gerhard Roths Roman ist eine faszinierende Reise in die Grenz- und Krisengebiete von Wahn und Wirklichkeit. Sie führt uns durch halb Europa und quer durch die Zeiten, vor die Gemälde eines Velásquez, Goya und Arcimboldo, durch die literarischen Schatz- und Dunkelkammern eines Kafka, Pessoa und Cervantes, durch spanische Stierkampfarenen, Wiener Kaffeehäuser und Museumsdepots.
Roths Roman durchbricht mit Kühnheit und Wucht alle Grenzen des Genres. Er ist ein großartiges Kompendium vergessenen Wissens und ein gelehrter Reiseführer durch die verborgenen Zusammenhänge von Kunst, Politik, Religion und Geschichte – eine raffinierte Spurensuche voller unerwarteter Wendungen, ein mitreißendes Abenteuer des Lebens wie des Lesens.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
© 2005 by Gerhard Roth
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ISBN 978-3-10-401318-3
»Feuer«
Das Goldene Vlies stand nur den Habsburgern zu und sollte ihre Auserwähltheit sichtbar machen.
Es war das erste Geschenk, das er mir machte. Außerdem war es kein Zufall, daß er mir ausgerechnet eine Velázquez-Kunstpostkarte schenkte, denn ich hatte ihm von den Hofnarren, Zwergen und Verrückten erzählt, die der spanische Maler dargestellt hatte.
Meines Erachtens sollte die Literatur etwas schaffen, das eine Identifikation mit den Menschen des Landes ausdrückt, genauer gesagt, etwas, in dem sie sich wiedererkennen können, wie zum Beispiel die Russen in den Werken Tolstois oder Dostojewskis oder wir in den Romanen Robert Musils oder Heimito von Doderers.
Der Film griff auf ein Geschehen zurück, das sich tatsächlich ereignet hat und unter dem Begriff »Lucona-Affäre« bekannt wurde.
Das Gebäude war über 600 Jahre Sitz der Habsburger und zweieinhalb Jahrhunderte der Deutsch-Römischen Kaiser, heute wird es vom Bundespräsidenten »bewohnt«, der in den Zimmern Maria Theresias und Josephs II. residiert. Die Hofburg wurde 700 Jahre lang immer wieder erweitert, restauriert und umgebaut – in den verschiedensten Stilrichtungen von Gotik über Renaissance, Barock, Rokoko und Klassizismus bis zur Gründerzeit, so daß die 240 000 m² heute aus einem Wirrwarr von 18 Trakten, 54 Stiegenhäusern, 19 Höfen, 2600 Räumen und unzähligen Gängen bestehen, in denen 5000 Menschen arbeiten. Man findet in diesem unübersichtlichen, verwinkelten Bauwerk die Stallungen für die Lipizzaner, die Nationalbibliothek, in der 3 Millionen Bücher und Handschriften sowie wertvolle Papyri lagern, die Winterreitschule, die Kaiserappartements, die Hoftafel- und Silberkammer und die Schatzkammer; ferner die Augustinerkirche mit der Lorettokapelle, in der die Herzen der Habsburger Herrscher in Urnen aufbewahrt werden, sowie die Albertina, die 45 000 Zeichnungen und Aquarelle besitzt: von Dürer bis Raffael, Holbein, Fra Angelico, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Brueghel, van Dyck, Rembrandt, Munch, Goya, Schiele, Kubin und Klimt. Die Schatzkammer verwahrt in ihren 21 Räumen die Krone des Heiligen Römischen Reiches, das Reichskreuz, den Reichsapfel, das Zepter und das Lehensschwert Maximilians I., außerdem die Habsburger-Krone und die dazugehörigen Insignien sowie Reliquien, Gewänder, Juwelen und den Orden vom Goldenen Vlies.
Ich wußte nicht, für wie viele Pferde, aber am nächsten Tag las ich in den Zeitungen, daß es 69 gewesen waren.
Weshalb ich das alles tat, hätte ich nicht erklären können. Ich gab mir auch keine Rechenschaft darüber. Heute glaube ich, daß es mein Zugehörigkeitsgefühl zur Hofburg war, die ich durchforscht habe wie kaum ein anderer. Ich kenne die Dachböden ebenso wie die Keller, die Gemälde ebenso wie die Bücher, die Lipizzaner wie die Beamten. Ich bin stolz darauf, mich überall und jederzeit in diesem verschachtelten, verwinkelten, unübersichtlichen und bizarren Bauwerk zurechtzufinden. Und es ist für mich im nachhinein betrachtet kein Zufall, daß ich ein gutes Gedächtnis habe, denn ich habe von Kindheit an gelernt, mir, um mir etwas zu merken, ein Gebäude vorzustellen mit einer großen Anzahl von Zimmern und in diesen Zimmern mein Wissen zu deponieren, das ich nach den bildlichen Vorstellungen dieser Räume, mit denen ich es verknüpfe, abrufen kann. Ich bin auf diese Weise in der Lage, mir in kürzester Zeit die verschiedensten Eindrücke zu merken oder eine Rede, die ich auswendig halte, mit einem der Räume eines Gebäudes samt seinen Möbeln zu verbinden, so daß ich bei meiner Ansprache geistig einen bestimmten Weg, bestimmte Stiegen, bestimmte Zimmer durchquere, die für meine Themen und Bemerkungen stehen und die ich daher nicht vergesse. Nichts anderes als die Hofburg war die Vorgabe für dieses Gedächtnis-Gebäude, und im nachhinein interpretiere ich meine Verstörung und Betroffenheit beim Brand der Redoutensäle als existentielle Angst vor einer Beschädigung meines Erinnerungsvermögens.
Die geistige Schatzkammer Österreichs mit ihren 190 000 Büchern ist immer der wichtigste und kostbarste Erinnerungsraum gewesen. Dort habe ich in meiner Vorstellung mein gesamtes Wissen als Psychiater und Neurologe gespeichert. Sie ist fast 80 Meter lang, circa 15 Meter breit und 20 Meter hoch. Die Kuppel bedeckt ein leuchtendes, phantastisches Fresko des Barockmalers Daniel Gran mit historischen und allegorischen Szenen, durch die jetzt, wie ich sah, Löschwasser tropfte. An den Wänden entlang stehen numerierte Bücherschränke und Drehregale, hinter denen Studierkämmerchen entstanden sind, ebenfalls mit Bücherregalen ausgefüllt – ähnlich den »Carrels« in amerikanischen Bibliotheken.
Zu Recht gilt dieser Raum, in dem einst Mozart dirigiert hat, als einer der schönsten und größten Bibliothekssäle der Welt.
Die meisten Stücke sind unersetzlich, wie zum Beispiel die älteste, durchgehend illuminierte Bibel-Handschrift, die Wiener Genesis aus dem 6. Jahrhundert n.Chr. in Gold- und Silbertinte auf Purpurpergament, in der sich durch den fortschreitenden Tintenfraß die Schrift auflöst. Ich hatte sie schon einmal in der Hand, da ein Beamter, Konrad Feldt, mein Patient ist. Mit Feldt entdeckte ich die entlegensten Räume der Nationalbibliothek, und ich kann sagen, daß ich mich heute noch in den alten, aufgelassenen Speicherräumen zurechtfinde.
Es war übrigens nicht sicher, ob die Lipizzaner so bald wieder in der Winterreitschule ihren Exerzitien nachgehen konnten, denn die Statiker mußten nach dem Löschen erst prüfen, ob die Zwischendecke über der Reithalle halten würde, da sie inzwischen mit Wasser vollgepumpt war. Die Hengste, hörte ich, die bereits im Training stünden, würden in den nächsten Tagen weniger Futter erhalten, sie müßten aber nach dem Wochenende wieder bewegt werden, sonst bestünde die Gefahr von Koliken, die durch das »derzeitige Wetter« sowieso gegeben sei. Ich weiß nicht warum, aber diese belanglosen Sätze habe ich mir bis heute gemerkt.
Ich kann mich mit meinem Kater miauend unterhalten. Er blickt mich dabei nicht an, sondern schreitet mit gesenktem Kopf an mir vorbei und antwortet mir speziell dann, wenn er unzufrieden ist oder ich ihn getadelt oder ihm etwas nicht erlaubt habe. Dann versuche ich ihm durch Laute zu erklären, daß meine Entscheidung nicht anders möglich sei, daß ich ihn aber liebe und das Ganze nicht böse gemeint sei.
Es handelt sich um das ehemalige Privatsanatorium Dr. Hugo Hoffmann, in dem sich Franz Kafka vom 19. April bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924 aufhielt. Das Sanatorium hatte acht Einzelzimmer, in einem davon sagte Kafka einen Tag vor seinem Tod zu seinem Arzt: »Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.«
Das Sanatorium am Rande Wiens besaß damals schon einen Lift, und die Dorfbewohner erzählten, daß bei Betrieb in den umliegenden Häusern das Licht flackerte, weil das Stromnetz zu schwach war. Auf Fotografien kann man die einfachen, weißen Möbel der Zimmer sehen: Metallbett, Nachtkästchen, Tisch und zwei Stühle, Waschtisch, Schrank, weißer Leinenvorhang und gelber Fußboden. Kafkas Zimmer war im zweiten Stock, gartenseitig mit Blick auf Rosenbeete, Fichten und Tannen, weiter hinten Weinberge und der Wiener Wald, davor ein Bach. Einmal fuhr Kafka allein in einem Einspänner in Richtung Gugging zur Irrenanstalt, um einen Blick auf die Patienten im Park zu werfen. Er fiel durch seinen dunklen Anzug und sein gepflegtes Aussehen auf. Selbst kurz vor seinem Tod ließ er sich vom jungen Friseurgehilfen Leopold Gschirrmeister, der jeden zweiten Tag ins Sanatorium kam, rasieren. Gschirrmeister erzählte, daß Kafka wie ein »Knochengerüst« ausgesehen und er große Mühe gehabt habe, den Dichter bei der Rasur nicht zu verletzten. Der Friseurgehilfe glaubte übrigens, Kafka verstehe nicht Deutsch, weil er mit ihm kein Wort wechselte, und begriff nicht, daß dieser alles verstand, was gesprochen wurde. Er beschrieb nur noch Zettel, die er dem Betreffenden übergab. Kafka wog zu diesem Zeitpunkt 45 Kilogramm. Er litt an Kehlkopftuberkulose und konnte nichts schlucken. In seinen letzten Lebensstunden korrigierte er den Erzählband »Ein Hungerkünstler«, in dem er das Verhungern eines Artisten beschreibt, das er jetzt selbst durchlitt. Tränen sollen ihm dabei über das Gesicht gelaufen sein.
Ich wäre nie darauf gekommen, daß Kafka für Stourzh’ Geistesverfassung wichtig war, denn gesprochen hatte er immer nur über einen anderen Dichter, über Fernando Pessoa, den Portugiesen, der das legendäre »Buch der Unruhe« geschrieben und zahlreiche Heteronyme entworfen hat: Personen mit eigenem Namen, eigenen Biographien, eigenen Horoskopen, eigenen Dichtungen, die aber allesamt Pessoa selbst waren. Erst über Stourzh habe ich Fernando Pessoas Werk und Leben kennengelernt. Selbstverständlich hatte ich versucht, meinen Patienten über den Dichter zu verstehen. Ich kam dahinter, daß Stourzh Pessoa für exemplarisch hielt. Er war davon überzeugt, daß jeder Mensch viele Charaktere in sich vereinigte, die sich widersprüchlich verhielten. Krankhaft fand er nur den Versuch, eine einzige Person sein zu wollen, »alles in das Scheinbild einer einzigen Persönlichkeit zu pressen«, wie er sagte, was seiner Meinung nach nur durch Verstellung möglich war. Machte er es sich dadurch nicht zu leicht? Wollte er die Verantwortung für seine pyromanische Veranlagung auf einen anderen »in ihm« schieben?
Im Volksmund »Pferdeäpfel« genannt, wie auch der Hundekot in Wien »Hundewürstel« heißt. Ich habe vor, einmal einen Artikel zu verfassen: »Menschliche Exkremente, Körpersäfte und Speisen« und denke dabei an »Pferdeurin« und »Bier«, »Stierblut« und »Rotwein« und anderes mehr.
Auf die Kapuzinergruft war ich spontan gekommen, Margarita Teresa, die Velázquez als Kind viermal gemalt hatte, war spanisch-habsburgische Infantin und Tochter Philipps IV. und Annas von Österreich gewesen. Sie war als Braut des Österreich-Habsburgischen Kaisers Leopold I., der gleichzeitig ihr Onkel und Cousin war, ausersehen gewesen, ein hübsches, blondlockiges Mädchen. Drei der herrlichen Porträts hingen im Kunsthistorischen Museum in Wien. Margarita Teresa starb mit 21 Jahren bei ihrer sechsten Geburt und wurde in der Kapuzinergruft bestattet. Sie war eine römisch-katholische Antisemitin gewesen, auf deren Drängen Leopold I. die Juden aus dem »Unteren Werd« vertrieben hatte, 1600 Männer, Frauen und Kinder. Diese Grundstücke gingen in den Besitz der Stadt Wien über. Anstelle der Synagoge wurde die Leopoldskirche gebaut, und statt »Unterer Werd« hieß der Stadtteil von nun an »Leopoldstadt«. Hatte Stourzh seine Magisterarbeit über die Bilder deshalb abgebrochen?
Seltsamerweise hat sie auch eine zweireihige Perlenkette um den Hals hängen, und ihre Eingeweide im geöffneten Körper sehen aus wie Schätze: die grüngemaserte Lunge scheint aus kostbarem Schildpatt zu sein, das Herz aus roten Korallen und der gelbe Magen aus Bernstein. Vor allem erschütterten mich immer wieder die genau ausgeführten Fingernägel, die den Anschein erwecken, bei dem Wachspräparat handle es sich um einen wirklichen Menschen.
Diese nahe, vergrößerte Sicht auf das Kleid erinnerte mich an meine eigene Arbeit, wenn ich mich mit Details befasse, die mir meine Patienten erzählen.
Mir war jedoch klar, daß Velázquez nicht jeden Pinselstrich durchdacht haben konnte.
Ich erinnere mich, daß auf der rechten Schulter der Infantin eine weitere Rosette gemalt war, und nahm an, daß es sich um diese handelte.
Die Schrumpfköpfe beschäftigten mich damals bis in meine Träume hinein. Die Jivaro-Indianer erhielten durch bestimmte Visionen mehr Seelenkraft, worauf sie den Wunsch zu töten verspürten, erfuhr ich von meinem Vater. Sie seien davon überzeugt gewesen, daß, wenn sie einen Mann mit starker Seelenkraft umbrachten, aus dessen Mund eine Racheseele austrete. Diese Racheseele konnte verschiedene Gestalten annehmen, um den Tod ihres Besitzers zu rächen. Durch das Schrumpfen des Kopfes habe man die Racheseele wehrlos gemacht und sie durch das Zunähen des Mundes eingesperrt, so daß die verbleibenden Seelenkräfte des Schrumpfkopfes nutzbar gemacht werden konnten. Das erschien mir ungeheuer grausam, und gleichzeitig war ich davon überzeugt, daß die Jivaro-Indianer recht hatten.
Mo-li Hung hieß der Hüter des Südens. Er trug den Schirm des Chaos. Wenn er ihn hob, verfinsterte sich die Welt, kehrte er ihn um, entstanden Orkane und Erdbeben. Mo-li Ching, der Hüter des Ostens, war der Träger des magischen Schwertes. Der Hüter des Nordens, Mo-li Shon, besaß hingegen zwei Peitschen und eine Tasche aus Pantherleder, in der, wie mein Vater mit geheimnisvollem Flüstern ergänzte, ein kleines, rattenähnliches Wesen wohnte, das auf Befehl zum geflügelten, menschenfressenden Elefanten wurde. Der Hüter des Westens, Mo-li Hai, trug eine Laute, deren Klang feindliche Lager in Brand setzte.
Ein Spiegelfetisch soll dem Zauberpriester oder Medizinmann helfen, erzählte mein Vater, einen Schuldigen zu bannen. Er fängt den Böswilligen im Spiegel (bildlich) ein und setzt ihn damit der Wirkung seiner Zauberkraft aus, die ihn unschädlich macht. Der Fetisch war aus Holz geschnitzt, ein Männchen mit einem Tierschädel auf dem Kopf. Der Tierschädel hatte das Maul weit aufgerissen und zeigte die Zähne. Die Augen waren die Gehäuse von Meeresschnecken, deren Perlmutt das Sonnenlicht blendend zurückwarf. Unter dem Brustkorb steckte ein Nagel, und darunter war in das Holz ein viereckiger Spiegel eingebaut. Die Beine des Männchens, das auf einem Sockel stand und den rechten Arm emporhielt, waren mit einem Lederriemen gefesselt, damit es nicht zu den Dämonen überlaufen konnte. Die magische Kraft erhielt es von Substanzen, die der Zauberpriester hinter dem Spiegel im Bauch angebracht hatte: Klauen, Haare, Knochen und Zähne von Tieren. Ich nahm, wie gesagt, den Fetisch mit nach Hause, und eine Schwarzweißfotografie steht noch heute auf meinem Schreibtisch, da ich hoffe, daß er mir bei meiner Suche nach dem Wahnsinn behilflich ist.
Das Totem konnte einem einzelnen Menschen gehört haben oder einer Gruppe gemeinsam. Die Menschen waren in der Behandlung des Totems an Vorschriften gebunden, dafür übte dieses eine Schutzfunktion für sie aus.
Ich hatte Angst vor der Ahnenfigur. Sie war die Wohnstätte einer Seele, wie mein Vater ausführte, die Figur galt als Nachbildung des Körpers des Verstorbenen und wurde im Kulthaus aufgestellt. Auf diese Weise war der Ahn, dessen Seele in der Figur ihren Aufenthalt nahm, bei allen wichtigen Ereignissen der Dorfgemeinschaft anwesend und konnte sich überzeugen, daß die Stammesgesetze eingehalten wurden.
Marco Polos »Il Milione«, Vasco da Gamas »Die Entdeckung des Seewegs nach Indien« und Kolumbus’ »Bordbuch«, vor allem aber James Cooks »Entdeckungsfahrten im Pazifik«. Später: Hernan Cortez’ »Die Eroberung Mexikos«, Stanleys »Wie ich Livingstone fand« und Fridtjof Nansens »In Nacht und Eis«.
Und er zeigte mir auch den Belüftungskeller unter der Neuen Hofburg. Er grenzt an den Keller des Völkerkundemuseums und liegt zwölf Meter unter der Straße. Die zahlreichen Gänge lassen einen leicht die Orientierung verlieren. Um den Kern herum zieht sich ein Tunnelsystem. In der Zeit vom 6. bis 9. April 1945 bezog der Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, die Räumlichkeiten. Er ließ ein Büro für seinen Stab einrichten und Abluftventilatoren installieren, da er einen Gasangriff befürchtete. Außerdem bestand er auf einer Einrichtung mit prachtvollen Teppichen, Schlachtenbildern und Porträts von Generälen aus dem 18. Jahrhundert sowie antiken Möbeln aus dem k.u.k. Immobiliendepot. Da es keinen Strom gab, labte man sich bei Kerzenlicht an den reichlichen Eß- und Trinkvorräten. Natürlich verzichtete er auf den Pomp, als die Russen die Stadt einnahmen, und setzte sich rechtzeitig nach Deutschland ab.
Unsere Gespräche gingen zumeist über Menschenopfer, Kannibalismus, Inquisition, Hexenverbrennungen und Kreuzzüge.
Wonach ich strebe, ist eine intensivere Erfahrung der Welt.
Stahlrohrbetten, weiße Schränke, ein Fernsehapparat, mancher besitzt einen bequemen Polsterstuhl.
Dieser Gang hat keinen Namen, andere hingegen wurden historisch bedeutsam, zum Beispiel der Adjutantengang, der Fürstengang, der Fräuleingang, der Gondrecourtgang, der Nopcsagang, der Theatergang oder der Johanngang.
Es gibt, wie bereits angeführt, 54 verschiedene Stiegen, zum Beispiel die Lakaienstiege, die Kaiserschneckenstiege, die Adlerstiege, die Wasserstiege, die Alexanderstiege, die Botschafterstiege, die Marschallstiege, die Wäschestiege, die Zuckerbäckerstiege oder die Säulenstiege.
Daneben gibt es auch den Amalienhof, den Augustinerhof, den Kaiserhof, den Kapellenhof, den Klosterhof oder den Stallburghof.
Ich habe allerdings noch nie etwas veröffentlicht, von dem ich nicht im nachhinein wußte, daß ich letztendlich gescheitert war.
Pascal hat u.a. die Wahrscheinlichkeits- und die Differential- und Integralrechnung erfunden, den Barometer und die hydraulische Pumpe entwickelt und mit neunzehn Jahren die erste Rechenmaschine konstruiert, der fünfzig weitere Modelle folgten.
Ich finde es großzügig, daß Jenner Lindners Kunst fördert, immerhin bezahlt er die Veröffentlichung von Werken, in denen er als Mörder dargestellt wird. Möglicherweise aber hat er ein reines Gewissen und schätzt die Zeichnungen seines Mündels so sehr, daß er sich mit der Rolle des Bösen abfindet. Vielleicht genießt er es sogar, denn er ist in den Augen der gesamten Öffentlichkeit ja ein »Justizopfer«. Oder es schmeichelt ihm, der »Held« – wenn auch ein negativer – des geplanten Buches über Lindner zu sein. Das würde seinem Zynismus entsprechen. Nicht zuletzt könnte er damit eine Reinwaschung beabsichtigen. Der Schriftsteller ist mit besonderer Raffinesse ausgewählt. Zwar hat ihn Primarius Neumann vorgeschlagen, aber die Idee könnte von Jenner selbst stammen, denn der Autor muß sich für sein Buch immer wieder mit ihm treffen. So hat er als Anwalt Kontrolle über alles, was geschieht.
Jenner ist einer jener unangenehmen Menschen, die in Cafés oder Gasthäusern, in Restaurants oder auf der Straße besonders laut reden. Man denkt, sie hätten nichts zu verbergen oder seien so gelassen, daß sie sich um eine schlechte Nachrede nicht kümmerten, tatsächlich aber blähen sie sich auf und wünschen sich insgeheim sogar, belauscht zu werden.
Das überrascht mich, weil ich gerade an das Phänomen der Selbstzündung eines Menschen, das Bachelard in seiner »Psychoanalyse des Feuers« beschreibt, dachte, denn das Sonnenlicht fällt durch das Glasdach so auf Jenners Haar, daß es leuchtet, als ob es brenne. Es ist ein helles, kaltes Winterlicht, und ich stelle mir vor, wie Jenners Kleider in Flammen aufgehen und Feuer aus seinen Augen und seinem Mund hervorbricht. Bachelard berichtete, daß man früher glaubte, schwere Trinker würden sich eines Tages beim Anzünden einer Zigarette selbst in Brand stecken. (Emile Zola und Honoré de Balzac beschrieben solche Szenen.)
Normalerweise liebe ich Homer Simpson, ich finde seinen Erfinder Matt Groening genial.
Was, wenn ich früher nach Hause gekommen wäre? frage ich mich.
Es ist auszuschließen, daß ihm jemand von dem Verdacht, der in den Augen Pollanzys auf mir ruht, erzählt hat, am allerwenigsten Pollanzy selbst. Habe ich mit ihm zu oft über Brände gesprochen? Obwohl es der Wahrscheinlichkeit nach nur ein Zufall sein kann, daß Lindner die Hofburg brennend zeichnete, fühle ich mich ertappt, und ich frage mich, wie ich mich Lindner gegenüber in Zukunft verhalten soll. Wie auch immer es sein wird, es wird mir gekünstelt vorkommen, und ich fürchte mich davor, mich durch ein unnatürliches Verhalten zu verraten.
Ich verfluche gleichzeitig meine Leichtsinnigkeit, selbst diesen Beweis gegen mich herzustellen, gerade jetzt, wo ich verdächtigt werde, die Hofburg in Brand gesteckt zu haben.
verehelicht mit der legendären Kaiserin Elisabeth, genannt »Sisi«
dem Geburtshaus der Kaiserin Elisabeth
es war der Abend des 13. Juni 1886
Ich verstehe nichts von Fischen, aber ich betrachte mit Interesse die künstlichen Fliegen: Streamer, Nymphe, Rotschwanzpalmer und so weiter und die wichtigsten Hakenformen wie Limerick, Kendal, Gladia, Jamison und Sneck Bent und stoße schließlich auf eine Tabelle der größten Fischfänge in Österreich. Ein Herr Schuster hat 1969 in der Traun einen 7 Pfund und 150 Gramm schweren Aal gefangen, lese ich (aus der Gewichtsangabe kann man leicht erkennen, daß es sich um einen deutschen Kalender handelt). Herr Schmidt aus Klagenfurt 1974 in der Drau einen 47pfündigen Hecht und die Brüder Hans und Helmut Raunikar im Ossiachersee einen mehr als 108 Pfund schweren Wels. Das war im Jahr 1966, erfahre ich weiter.
Eine Ehe galt nur dann als »standesgemäß«, wenn sie mit einem Angehörigen des »Allerhöchsten Erzhauses« oder Mitgliedern eines anderen regierenden Herrscherhauses geschlossen wurde, sofern diese bis zu den siebzehnten Urgroßeltern souveränen Hochadel nachweisen konnten.
heute ein Frauengefängnis
Es war die Zeit, als meine Urgroßmutter Anna Kubaczek als Kindermädchen in die Dienste der Kaiserin und des Kaisers trat.
ohne Deutschland
darunter meine Urgroßmutter
und meiner Urgroßmutter Anna Kubaczek
Nur im »Sudetenland« hatte sich die deutschsprachige Bevölkerung kurzfristig gegen das Regime in Prag erhoben, bei dem Aufstand waren zwölf Personen ums Leben gekommen.
Auch Kaiserin Elisabeth hielt sich dort zweimal zur Kur auf und sorgte am Wiener Hof für einige Aufregung, da sie sich auf Madeira abwechselnd von drei Kavalieren bei ihren Unternehmungen begleiten ließ.
Er schenkte meiner Urgroßmutter Anna Kubaczek, die er rufen ließ, die goldene Uhr und dankte ihr für ihre geleisteten Dienste.
Zita wurde in der Kapuzinergruft in Wien bestattet.
Heute befinden sich Zitas und Karls Herz in der Loretokapelle der Klosterkirche von Muri im Schweizer Kanton Aargau.
An diesem Tag verliert sich die Spur meiner Urgroßmutter auf Madeira. Wie kam sie von der Atlantikinsel nach Prag? Wer gab ihr Geld für die Reise? Wurde sie ebenfalls nach Cádiz gebracht? Und dann?
Ich zweifle ohnedies, ob es überhaupt möglich ist, eine biographische oder theoretische Arbeit zuwege zu bringen, die nicht schon von Anfang an durch die Forderung nach Geschlossenheit der Darstellung die Fälschung und den Schwindel unvermeidlich macht.
Übrigens sind die Fotografien der Ausstellung durchwegs falsch beschriftet, die zeitliche Reihenfolge ist durcheinandergebracht, Namen von Personen sind verwechselt, Vorgänge nicht richtig wiedergegeben oder einfach erfunden.
Sie leben in 1000 Meter Tiefe und kommen nachts näher an die Wasseroberfläche, dort werden sie mit mehreren hundert Meter langen Leinen gefangen. Es sind große, schmale Fische, mit mehr als zehn Zentimetern Durchmesser. Da sie keine Schuppen aufweisen, haben sie etwas Schlangenartiges an sich, wie Aale. Ihr Maul ist lang und weist zwei Reihen spitzer Zähne auf.
Genau betrachtet haben sie allerdings etwas von der Symmetrie gewisser Naturerscheinungen wie Schneeflocken oder Blüten und erinnern an mikroskopische Bildchen von winzigen Meereslebewesen, wie sie der deutsche Naturforscher Ernst Haeckel gezeichnet hat. (Sofort fallen mir die Worte »Haeckelmaschine« ein und »ersticken«.)
Ich kenne die typischen Tische mit geschliffenen Kristallaschenbechern darauf oder Kristallvasen mit halbvertrockneten Blumen.
blaue Fliesen
Ein merkwürdiger Brand, denke ich mir, der alles vernichtet, aber die Nachbarhäuser verschont hat. Ich kann noch das Feuer riechen, wenn ich mit meiner Nase an den Wänden schnuppere.
Zuerst würde ich die Quinta do Monte in Brand stecken und dann das Museu Vicente. Wohl kaum jemand wüßte auf die Frage nach dem Motiv eine Antwort.
Laut Alphonse de Sondheimer (Vitrine XIII, Wien, Hamburg 1966) ließ Kaiser Karl noch vor seinem (später widerrufenen) Verzicht auf alle Regierungsgeschäfte aus der Schatzkammer der Hofburg den gesamten Inhalt der Vitrine XIII – mehr als 50 wertvolle Kronjuwelen, darunter den damals viertgrößten Diamanten der Welt, den »Florentiner« und die von Rudolf II. in Auftrag gegebene Habsburgerkrone (die um einige kostbare Edelsteine erleichtert zurückerstattet wurde) – am 4. 11. 1918 per Eisenbahn in die Schweiz schaffen. Nachdem ein Teil verkauft worden war, verlor das Kaiserpaar auch durch Ungeschick den übrigen Schmuck im Wert von damals (1922) 1,6 Millionen Schweizer Franken an die kriminellen Juwelenhändler Jacques und Joseph Bienenfeld und den Sekretär des Kaisers Bruno Steiner de Valmont. Der illegale Transfer der Kronjuwelen ins Ausland hatte 1919 bereits die Beschlagnahme des Habsburgischen Vermögens in der Republik Österreich zufolge gehabt.
der die Narren selbst als Motive für einige seiner Bilder nahm
Der erste baute sich in Prag eine Traumwelt mit Alchemisten, Astrologen und phantastischen Künstlern, der zweite ernannte sich im fernen Mexiko zum Kaiser und endete vor einem Hinrichtungskommando, und der letzte war ein von epileptischen Anfällen Heimgesuchter, bei dem man zu Unrecht Schwachsinn konstatierte.
William Shakespeare, der andere Großmeister der Imagination, hatte 1601 seinen »Hamlet« und 1606 seinen »König Lear« geschaffen, das heißt, fast zur selben Zeit das Thema Wahnsinn erforscht wie der Spanier, und er teilt mit ihm nicht nur das Todesjahr, sondern sogar den Todestag.
Der junge König Sebastian ist ein portugiesischer Mythos. Er kehrte 1578 aus einer aussichtslosen, aber heldenhaft geführten Schlacht nicht mehr zurück. Sein Leichnam jedoch wurde nie aufgefunden. Die Sebastianisten warten auf die symbolisch erhöhte Wiederkehr des Königs.
»Botschaft«
Georg Rudolf Lind, der Übersetzer der ersten deutschen Ausgabe, weist darauf hin, daß wir es im Grunde mit zwei Büchern zu tun haben, »einem Protobuch spätsymbolistischen Charakters und dem aus den Jahren 1929–1934 stammenden Tagebuch«.
Strabo, der griechische Geschichtsschreiber, führt die Stadtgründung auf Ulysses zurück, denn früher hieß sie Olisipon, dann Ulysippo. Die Portugiesen taten es Odysseus gleich und eroberten mit ihren Schiffen die Weltmeere.
Es gibt Beschreibungen des großen Erdbebens, das so gewaltig war, daß die Kompaßnadeln auf der halben Welt verrückt spielten. Auf den Weltmeeren herrschte ein unerklärlich hoher Wellengang. Am Vorabend fiel blutroter Schneeregen im Schwabenland, brauner Nebel senkte sich bei Locarno auf die Berge. Am frühen Morgen des 1. November bebte die Erde von Marokko bis Finnland, von der Karibik bis Lissabon, wo sich das Zentrum des Unheils befand. »Um 9 Uhr 40«, schreibt ein englischer Handelsreisender, »spürte ich einen Stoß. Nicht in der Lage, die Ursache zu erkennen, rannte ich zum Fenster. Zuerst sah ich, wie eine einstürzende Hausecke zwei Passanten begrub. Es war furchtbar. Nun wurde ich Zeuge, wie meine Frau und Tochter, die sich ins Freie gerettet hatten, vom Rest des Hauses verschüttet wurden. Ich rannte, ihnen zu helfen, doch, oh weh, es war alles zu spät! Mit größter Hast begab ich mich zum Platz, weil er so sicher schien, derweil hinter mir eine der schönsten Lissaboner Straßen in sich zusammensank. All die Leute in den Häusern – es mußten Hunderte gewesen sein – kamen zu Tode.« Laut einem anderen Augenzeugen, der sich auf das Dach eines Hauses geflüchtet hatte, »herrschte soviel Staub, daß man wie im dichtesten Nebel nicht mehr als zwei Schritte sehen konnte. Erst nach einigen Minuten legte sich der Staub, und ich konnte in die Nachbarhäuser hineinsehen, da die Außenwände bis zum ersten Stock eingestürzt waren und die Dächer nur noch von den Trennwänden getragen wurden.« Ein Wirbelsturm fegte durch die Stadt. Ein zweiter Stoß, etwa 40 Minuten später, verursachte eine 15 bis 18 Meter hohe Flutwelle über das Tejo-Ufer, die Boote und Segelschiffe mit sich riß. Voller Panik waren Tausende zum Hafen gelaufen, im Glauben, dort vor umherfliegenden Bauteilen und Feuersbrünsten sicher zusein – und liefen direkt in die Flutwelle, die bis in die Unterstadt vordrang und alles, was sich ihr in den Weg stellte, vernichtete. Zehn Minuten hielt das Beben an: Erdkrater öffneten sich und verschlangen Menschen, Kutschen, Pferde, ja sogar ganze Häuser, Paläste und Straßenzüge. Das offene Herdfeuer in den Privatwohnungen und die unzähligen Kerzen, die wegen Allerheiligen in den Kirchen brannten, verwandelten die Stadt gleichzeitig in ein Feuermeer. Das Erdbeben zerstörte drei Viertel von Lissabon, der Rest fiel den Feuern zum Opfer, die noch sechs Tage brannten. Viele Beobachtungen wurden erst später bekannt: So ging nach dem ersten Erdstoß das Wasser des Tejo so weit zurück, daß man den Grund bis hinaus zu einer Sandbank an der Flußmündung sehen konnte. Keiner beachtete das Phänomen, das von Seismologen als sicheres Zeichen dafür betrachtet wird, daß eine Erbebenwelle im Anmarsch ist. Zwei weitere Wellen folgten, die die Bucht in einen Wasserstrudel verwandelten. Starr vor Entsetzen beobachtete ein Schiffskapitän vom Hafen aus, wie die steinernen Gebäude der auf terrassenförmigen Hügeln erbauten Stadt mit Blick auf den Tejo langsam – ja beinahe mit würdevoller Erhabenheit – vor und zurückschwankten »wie ein Weizenfeld im Wind«. Insgesamt erschütterten 500 Erdstöße die Stadt, von 270 000 Einwohnern kamen 50 000 ums Leben, manche sprechen sogar von 100 000 Toten. Ein gewaltiger Spalt hatte sich mitten in Lissabon aufgetan, 18 000 Gebäude waren in sich zusammengefallen, darunter über hundert Kirchen (auf deren Marmor ich jetzt vielleicht bergauf schreite). Die zwei Nonnenklöster der Stadt brannten bis auf die Grundmauern nieder, das neue Opernhaus wurde eingeebnet, der Palast des Marquis de Lourical, der über 200 Bilder von Rubens, Correggio und Tizian beherbergte, wurde dem Erdboden gleichgemacht, außerdem 40 Klöster, 300 Paläste und die von Manuel I. errichtete Königsresidenz Paço da Ribeira. Die Palastbibliothek der Residenz hatte 18 000 Bände umfaßt, unter ihnen ein von Karl V. eigenhändig geschriebenes Werk sowie Weltkarten, die über die Jahrhunderte von portugiesischen Seeleuten erstellt worden waren. Nur das auf felsigem Grund stehende Alfama-Viertel und der Vorort Belèm, wo sich der König samt Hofstaat zum Zeitpunkt des Erdbebens gerade aufhielt, überstanden das Beben mehr oder weniger glimpflich. Die Katastrophe, die in ganz Europa zu spüren war, verursachte Schäden an Häusern und Tote sogar in Nordafrika. In Marokko, speziell in Fez und Mequinez, starben 10 000 Menschen durch Ausläufer des Bebens. In Luxemburg kamen 500 Soldaten beim Einsturz einer Kaserne ums Leben. In Skandinavien traten Flüsse und Seen über ihre Ufer, selbst in England, in Derbyshire, etwa 600 km vom Epizentrum entfernt, öffneten sich Spalten im Boden und fielen Ziegel von den Dächern. In Lissabon beherrschte die Inquisition die Stadt und verbreitete Furcht und Zittern. Ganze Armeen von Geistlichen, unter den schwarzen Kapuzen der Inquisition, streiften jetzt, von Denunzianten angestiftet, durch die Straßen, um »Ketzer« zu finden, die sie in den Trümmerhaufen verbrannten, als Strafe dafür, daß sie die Katastrophe nach ihrer Ansicht herbeigeführt hatten. Der Jesuit und Beichtvater der königlichen Familie, Malagrida, verfaßte rasch die Schrift »Beurteilung der wahren Ursache des Bebens« und reiht darin die Sünden auf, für die Gott Lissabon bestraft hätte. Aber nicht nur in Lissabon erlitt die Aufklärung einen schweren Rückschlag. In ganz Europa herrschte Angst und Schrecken. Goethe hielt fest, daß sich der Dämon der Angst nie so schnell über Deutschland ausgebreitet hätte wie nach der Katastrophe. Der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire griff den Philosophen Leibniz wegen dessen Theorie einer weltbejahenden »prästabilierten« Harmonie an. Voltaire verewigte das Beben in seinem satirischen Roman »Candide oder der Optimismus«, in dem er seinen Protagonisten mit dessen Begleiter in Lissabon ankommen läßt, gerade als das Beben im Gange ist. Er schildert Plünderungen, Raub und Mord. Dort, wo früher Lissabon gewesen war, erstreckte sich nun »ein verkohltes von Gestank erfülltes Ödland«. Als erstes ließ der junge König Dom José I. Galgen errichten, und Hunderte Gefangene, die beim Einsturz der Gefängnismauern entkommen konnten, wurden erhängt. (Ein Ereignis, das Heinrich von Kleist zu seiner Erzählung »Das Erdbeben in Chili« inspirierte.) Dem Staatssekretär Marquez de Pombal war es zu verdanken, daß aus den Provinzen Nahrungsmittel herangekarrt und die Stadt in fünfzehn Jahren wieder aufgebaut wurde, mit schachbrettartig angelegten Straßen, die Plätze und Häuser wie mit dem Lineal gezogen, und Gehsteigen, für die, wie gesagt, der zerbrochene Marmor der eingestürzten Kirchen und Paläste verwendet wurde.
1988 stand ein großer Teil der Baixa in Flammen, die Polizei vermutete Brandstiftung, man hielt es für möglich, daß der Hauptaktionär des Großkaufhauses »Grandellar« (der Name fällt im Vortrag des Fremdenführers) beteiligt gewesen sei. Der Brand wurde als größte Katastrophe seit dem Erdbeben bezeichnet. Das Feuer fraß sich in einer Breite von mehr als 200 Metern durch die engen Altstadtgassen. Sieben Straßenblocks wurden vernichtet. Eine riesige Rauchsäule stand über der Stadt. Da das Zentrum vor allem aus Büros und Geschäften besteht, wohnten damals nur etwa 3000 Menschen dort. Daher kam nur ein 60jähriger Mann ums Leben. Das Viertel war verwüstet: Auf der Straße lag eine Schicht aus nassem Schutt, Asche und verstreutem Mobiliar. Immer wieder flackerten Brandherde auf oder brachten Gasexplosionen Hausruinen zum Einsturz. Geschwärzte Fassaden ragten bizarr in den blauen Himmel.
Auch das Nationaltheater Maria 2 fiel 1964 einem Brand zum Opfer. Das Feuer wurde vier Stunden nach Beendigung der Abendvorstellung von »Macbeth« entdeckt. Nur die Archive konnten gerettet werden. Es war das älteste Theater Lissabons und wurde 1846 eröffnet. 1967 brannte auch das Avenida-Theater, in das das Nationaltheater übersiedelt war, zwanzig Minuten vor einer Vorstellung ab. Das Gebäude stürzte ein.
Das Bauwerk überstand sogar das große Erdbeben unbeschadet, ist über 900 Meter lang und an seiner höchsten Stelle 65 Meter hoch. Pessoa nannte es »ein wahres Nationaldenkmal und in ganz Europa vielleicht das bemerkenswerteste seiner Art«.
Figuren, Episoden und versteckte Gags
Ich könnte diese Erzählung, den Inbegriff einer Erzählung, das Konzentrat aller Märchen und alles existentiellen Entsetzens, die nebenbei die ungeheuerlichste Darstellung des Wahnsinns in der Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Wahns ist, sofort und jederzeit Satz für Satz vortragen. Kafka war ein skrupulöser Schriftsteller und verbrannte die meisten seiner Manuskripte. Sein gesamtes Werk, verlangte er, sollte nach seinem Tod vernichtet werden … Das Vernichtetwerden und die Vernichtung ziehen sich auch als Motiv durch sein literarisches Schaffen. Er wußte, wovon er in seiner Erzählung »Die Verwandlung« sprach.
Die dreibändige Taschenbuchausgabe von Vladimir Nabokovs »Die Kunst des Lesens«
400 n.Chr. fand dort das erste spanische Konzil statt, und die Stadt wurde unter den Westgoten Zentrum des Reiches, der kirchlichen und weltlichen Macht. 712 eroberten arabische Truppen das Toledo der Christen und der kleinen jüdischen Gemeinde. Die Araber bauten Moscheen und Koranschulen und gestatteten die freie Religionsausübung, allerdings lebten die Bevölkerungsgruppen in verschiedenen Vierteln. (Lion Feuchtwanger hält fest: »Die Moslems brachten die vernachlässigte Landwirtschaft wieder hoch … Sie förderten den Bergbau … Ihre Weber stellten kostbare Teppiche her … Ihre Schmiede schufen Gegenstände höchster Vollendung … Auch ein anderes Unheimliches und sehr Gefährliches wurde hergestellt … sogenanntes Flüssiges Feuer.«) Den Juden, die von den christlichen Westgoten unter strenges Ausnahmerecht gestellt worden waren, gaben sie ein größeres Ansehen. Von nun ab durften sie Minister und Leibärzte, Beamte und Dolmetscher der Kalifen sein, Fabriken und Handelsunternehmungen gründen und Synagogen bauen, denen eigene Schulen angeschlossen waren. Die »Sephardim«, die spanischen Juden, nannten Toledo ihr »spanisches Jerusalem«, es stand unter der Oberherrschaft des Kalifen von Córdoba. Als der kastilische König Alfons VI. 1085 Toledo eroberte und die Reconquista, die Rückeroberung des Landes durch die katholischen Westgoten, einsetzte, wanderten vor allem die gebildeten Araber und Juden aus Südspanien in das tolerante Toledo aus und wurden von den kastilischen Königen willkommen geheißen. 200 Jahre übertrugen jüdische und muslimische Gelehrte Medizin, Astronomie, Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaft und Dichtkunst ins Kastilische und Christen vom Kastilischen ins Lateinische. Die damals erstellten astronomischen Lehrbücher dienten später Tycho Brahe, Kepler und Kopernikus als Ausgangspunkt ihrer Forschungen. Der Alchimie und Mathematik, vor allem der rätselhaften Zahl Null, galten neben Physik und Mechanik das größte Interesse. Bis ins 16. Jahrhundert blieb Ibn Sinas medizinisches Kompendium das exemplarische Lehrbuch der Medizin in Europa. Nicht nur die Schriften des griechisch-römischen Arztes Galen wurden auf Umwegen über das Arabische bekannt, sondern auch die Werke des Aristoteles, Averroes und Maimonides. Über die Juden und deren arabische Sprachkenntnisse lernten die kastilischen Könige die überlegene arabische Kultur kennen und finanzierten mit deren Hilfe ihre kostspieligen Pläne. Die Juden waren ihre Verbündeten, mit denen sie sich aus der machtvollen Umklammerung der katholischen Kirche zu befreien suchten. Andererseits benötigten die Juden auch den Schutz der königlichen kastilischen Staatsmacht. Deshalb verwendeten sie bei ihren Übersetzungen das volksnahe Kastilisch und nicht das Latein der Kirche und trugen so entscheidend zur Entstehung einer spanischen Nationalsprache bei. 200 Jahre wehrten sich die kastilischen Könige mit Erfolg gegen den Druck der Kirche, aber ab dem 14. Jahrhundert schwand ihre Macht. 1391 wurden die Judenviertel Toledos vom christlichen Pöbel gebrandschatzt und geplündert und acht der zehn Synagogen zerstört. Hundert Jahre später zwang das Verdikt der katholischen Könige Spaniens alle Juden zur Taufe oder Auswanderung. 30 000 Juden verließen das Land. Die Sephardim nahmen ihre Hausschlüssel mit, die sie als Symbol einer erhofften Wiederkehr ihren Nachkommen weitervererbten. Die Getauften hingegen, die »Marranen« oder »Conversos«, gerieten in die Fänge der Inquisition. In Toledo wütete Tomás de Torquemada, selbst ein »Converso«. Den verbliebenen »Morisken« oder »Mozarabern«, den getauften Arabern, erging es nicht viel besser. Die beiden verbliebenen Synagogen wurden zu Kirchen, in späteren Zeiten nutzte man die Räumlichkeiten der einen als Kaserne und Lagerhalle. (Nun ist sie restauriert und »geschütztes Kulturerbe«.) Nur wenige Schritte entfernt liegt die zweite erhalten gebliebene Synagoge »El Transito« mit einem kleinen Museum der Sephardim. Die Inquisition in Spanien forderte von ihrem Bestehen gegen Ende des 15. Jahrhunderts an bis zu ihrer Abschaffung unter Karl IV. mehr als 300 000 Opfer. Die Kirche stieß die Verurteilten aus ihrer Gemeinschaft aus und übergab sie den weltlichen Behörden. »Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen«, heißt es in der Heiligen Schrift, die als Begründung für die Verbrennungen zitiert wird. Bei einem Geständnis der Ketzerei gab es verschiedene Formen der Bestrafung: Geißelung, die Prozession im Schandkleid durch die Stadt oder die Galeerenstrafe von drei Jahren bis lebenslänglich. Leugnete der Angeklagte, wurde er verbrannt. Ein toter Ketzer wurde ebenso verurteilt wie ein lebender: Sein Leichnam wurde ausgegraben und dem Feuer übergeben. Gestand der Ketzer erst nach seiner Verurteilung, wurde er erdrosselt und nur seine Leiche in Brand gesteckt. Die Vermögen wurden konfisziert, einen Teil erhielt der Staat. Bis ins fünfte Glied durften die Nachfahren eines Verurteilten kein öffentliches Amt bekleiden oder einen angesehenen Beruf ausüben. Freisprüche erfolgten kaum. Es ist überflüssig zu erwähnen, daß die Inquisition wohlhabend war, der Staat Galeerenruderer für seine Armada brauchte und das Volk und der König das Schauspiel der Autodafés, der öffentlichen Ketzerverbrennungen, genossen. Alle, die um ein Amt ansuchten, hatten nachzuweisen, daß unter ihren Vorfahren keine Mauren oder Juden waren. Die Bestätigung des Nachweises oblag der Inquisition. Ihr war es auch vorbehalten zu beurteilen, was Ketzerei war: Die Darstellung des Nackten ebenso wie das Fluchen, Bigamie wie »unnatürliche Unzucht«. Verdächtig war schon das Lesen fremdsprachiger Bücher, ebenso profaner Werke, das Nichtessen von Schweinefleisch, vor allem wurde der Verstoß gegen ein kirchliches Dogma geahndet, worüber die Zensur befand. Von der Bezichtigung der Ketzerei an bis zur Verhaftung des Beschuldigten herrschte strenge Geheimhaltung. Erkundigungen nach dem Befinden des Verhafteten waren verboten. Sowohl Denunzianten als auch Zeugen und Angeklagte waren eidlich zum Schweigen verpflichtet, das Brechen des Schwures galt wiederum als Ketzerei.
In der Maurenzeit hieß der Platz »Suk al Dawâb«, Viehmarkt.
Er bezeichnete den Roman »Moby Dick« als »einzigartig«. Ein Wal bedeute für die Matrosen und Kapitän Ahab »Arbeit«, führte er aus, er stelle die »Wirklichkeit« dar, wie auch ihr Schiff »Pequod« oder die See. Diese Arbeit, diese Wirklichkeit seien schmerzlich. Erst der Wahn mache sie erträglich. Ahab sei auf der Suche nach dem Wahn, das heißt, auf der Suche nach dem mirakulösen weißen Wal Moby Dick. Er ziehe die Mannschaft in seine Wahnvorstellungen hinein und reiße sie mit sich in den Abgrund. Nur der Chronist durchschaue den Irrsinn, verfalle ihm nicht und überlebe daher. Nicht die Suche nach dem Wahn an sich sei das Gefährliche an Ahabs Unternehmen, folgert der Schriftsteller, sondern die Dämonisierung des Wahns, der Drang, diesen herauszufordern und ihm die Stirn zu bieten. Dadurch erst erkenne Ahab den Wahn als Realität an und müsse ihm daher zwangsläufig unterliegen. Ich habe mit Heinrich über die Interpretation des Schriftstellers gesprochen, der sie merkwürdig fand. Es gäbe zahlreiche Deutungen, wofür der Wal stehe, seines Erachtens stelle er die ungeheuerlichen Kräfte der Natur dar, die der Mensch herausfordere.
Seit er blind ist, fürchte ich mich nicht mehr vor seinen Verhören. Früher ging von seinem Auge etwas Durchdringendes aus, ich hatte den Eindruck, er wisse alles und es bliebe mir nur übrig, zu gestehen. Immer betraf es meine Vergangenheit. Heinrich ist eifersüchtig auf jeden meiner Liebhaber gewesen, es machte ihn rasend, wenn er erfuhr, daß ich ihm einen verschwiegen hatte, weil er glaubte, es komme diesem eine besondere Bedeutung zu. Andererseits fühlte er sich gedemütigt, wenn ich einen vergessen hatte. Wie konnte ich so mit meiner Sexualität umgehen, daß ich einen Beischlaf mit einem Mann als etwas Nebensächliches auffaßte, an das ich mich nicht mehr zu erinnern brauchte? Trotzdem hörte er nicht auf, mich zu begehren. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, daß er mich liebt.
Ich selbst habe übrigens seit Monaten eine Fotografie in meiner Handtasche, die vor Weihnachten im »Haus der Künstler« aufgenommen wurde. Ein Gruppenbild vor der gerahmten Zeichnung eines Patienten, die Primarius Neumann darstellt, und davor Franz Lindner, Pflegerinnen und Pfleger, Philipp, Heinrich, Dr. Lesky und ich. Die Gruppe ist in Unordnung geraten. Im Hintergrund öffnet sich eine Tür, und der Oberpfleger tritt unerwartet aus seinem Arbeitszimmer. Der Fotograf (der Schriftsteller, der die Fotografie ohne Blitzlicht mit einem hochempfindlichen Film aufgenommen hat) spiegelt sich im Glas des gerahmten Bildes – die Kamera vor dem Auge. Ungewollt im Mittelpunkt ist der Gefährte eines Pflegers, der schlafende Hund Xaver, auf den einer der Patienten andeutungsweise einen Fuß gestellt hat. Das Bild spiegelt wunderbar das ganze Durcheinander im »Haus der Künstler« wider.
Man dürfe, erfahre ich später, die Schwestern nicht sehen, da es Klausurnonnen seien, die Kontakte mit der Außenwelt möglichst vermieden. Sie schlafen in Steinnischen auf Decken, im Winter auf Holzunterlagen. Vor allem besticken sie Taufkleider und arbeiten im Gemüsegarten.
Ich war während meines Romanistik-Studiums mehrmals in Barcelona, nicht aber in Madrid.
Der Schriftsteller sieht in der Faszination der »Corrida« den Kampf des griechischen Helden Theseus mit dem Minotauros widergespiegelt.
die Gestalt der himmlischen Sphäre in Form einer vollkommenen Kugel
Astrid besteht aber inzwischen darauf, daß ich ihre Aufzeichnungen unverändert wiedergebe.
Doktor Andrej Jefimytsch, von dem noch die Rede sein wird, verschrieb ihm kalte Kompressen für den Kopf und Kirschlorbeertropfen, schüttelte traurig den Kopf und ging weiter; der Wirtin sagte er, daß er jetzt nicht mehr kommen würde, weil man Menschen nicht daran hindern dürfe, den Verstand zu verlieren.
Anton Tschechow, Krankensaal Nr. 6
Der Prozeß der Geschichte ist ein Verbrennen.
Novalis