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Hannes Bahrmann
Christoph Links

Finale.

Das letzte Jahr
der DDR

Mit Fotos von
Andreas Kämper

Ch. Links Verlag, Berlin

Editorischer Hinweis

In die Chroniken der einzelnen Monate wurden nicht alle Tage und Ereignisse aufgenommen, sondern vornehmlich jene, die für die politische Entwicklung von Bedeutung waren.

Die dort angebrachten Verweise beziehen sich auf nachfolgende Dokumentationen (D), Hintergrundberichte (H), Porträts (P) und Zeitzeugenberichte (Z).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, August 2019

entspricht der 1. Druckauflage von August 2019

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Layoutentwurf und Covergestaltung: Ole Bahrmann,

unter Verwendung eines Fotos von Andreas Kämper:

Die geöffnete Berliner Mauer in der Nähe des Brandenburger Tores

hinter dem Reichstagsgebäude, Februar 1990

Lektorat: Jana Fröbel, Ch. Links Verlag

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-061-2

eISBN 978-3-86284-464-7

Inhalt

Prolog

Oktober 1989

Z – Michael Dulig zur Demonstration in Dresden

D – Erklärung des Staatsschauspiels Dresden

H – Der Tag der Entscheidung am 9. Oktober in Leipzig

Z – Hans-Joachim Hanewinckel über den Gewalteinsatz in Halle

P – Erich Honecker: Der Vater der Verschuldung

Z – Anneliese Saupe zur Demonstration in Plauen

Z – Tom Sello über die inoffizielle Zeitung telegraph

H – Die SED als DDR-Staatspartei

Z – Wolfgang Templin zur DDR-Opposition

H – Das »Schürer-Papier«: Eine Bankrotterklärung

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

November 1989

Z – Henning Schaller über die Großdemonstration am 4. November in Berlin

D – Transparentaufschriften

D – Appell an alle Ausreisewilligen

Z – Aram Radomski zur Öffnung der Berliner Mauer

H – Die Berliner Mauer

D – Erklärung des Neuen Forums zur Reisefreiheit

D – Ex-Minister Mielke vor der Volkskammer

P – Erich Mielke: Der Meister der Angst

Z – Bärbel Bohley über die Situation im November 1989

H – Staatsjagd in der DDR

H – Das Zehn-Punkte-Programm von Helmut Kohl

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Dezember 1989

Z – Birgit Teschke zur Flucht von Schalck-Golodkowski

H – Der Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo)

P – Alexander Schalck-Golodkowski

H – Waffen für den Klassenfeind: Das Sturmgewehr 940

Z – Klaus Wolfram zur Eröffnung des Runden Tisches

P – Gregor Gysi: Der Unterhaltsamste unter den Linken

Z – Jürgen Siebert zum Einsatz von Soldaten in Leipzig

H – PDS die erneuerte SED

H – Die letzten Staatsbesuche in der DDR

H – Die Situation nach den Weihnachtsreisen in den Westen

H – Neonazis in der DDR

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Januar 1990

Z – Wolfgang Stamnitz über den Soldatenstreik in Beelitz

Z – Sonja Süß zum Austritt des ökosozialen Flügels des DA

H – Udo Lindenberg auf lang ersehnter DDR-Tournee

H – Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS)

Z – Reinhard Schult zur Erstürmung der Stasi-Zentrale

H – Moskau akzeptiert die deutsche Einheit

D – Rechenschaftsbericht des Neuen Forums

Z – Heiko Lietz über die Einbindung der Opposition

D – Hans Modrow zu den vorgezogenen Wahlen

H – Das Gesundheitswesen der DDR

Z – Jens Reich zum Bildungssystem in der DDR

H – Keiner will die Hunde von der Grenze

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Februar 1990

P – Hans Modrow: Der zu spät gekommene Reformer

H – Bedenken von Großbritannien und Frankreich

H – Österreich unterstützt die deutsche Einheit

Z – Carlo Jordan über die Haltung der Opposition zur deutschen Einheit

Z – Matthias Platzeck zum Besuch der DDR-Regierung in Bonn

D – Hans Modrow zum Treffen mit Kanzler Kohl

H – »Bremer Initiative« fordert Finanzausgleich für DDR

H – Die Reparationsleistungen der DDR

Z – Markus Meckel zur Wahl Ibrahim Böhmes als SPD-Vorsitzenden

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

März 1990

Z – Wolfgang Ullmann zum Treuhandgesetz

H – Wer bekommt das DDR-Volksvermögen?

Z – Tatjana Böhm zur Sozialcharta des Runden Tisches

Z – Ulrich Schröter zieht eine Zwischenbilanz der Auflösung der Staatssicherheit

H – »Kommt die D-Mark, bleiben wir …«

Z – Frank Pörner über die letzte Montagsdemo in Leipzig

P – Spitzenkandidaten der Opposition werden enttarnt

D – Die ersten freien Wahlen in der Geschichte der DDR

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

April 1990

Z – Sabine Bergmann-Pohl zu ihren neuen Funktionen

D – Die neue DDR-Regierung

P – Der erste frei gewählte Regierungschef

D – Regierungserklärung des Ministerpräsidenten

H – Neue Regierung trifft auf alte Macht

H – Die DDR-Mark

D – Preise in der DDR (1980er Jahre)

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Mai 1990

H – Die Deutsche Volkspolizei

Z – Sybille Reider über den Versuch, Ostprodukte im Westen zu verkaufen

H – Niedrige Mieten, abrissreife Altbauten

H – Der erste Staatsvertrag mit der Bundesrepublik

H – Die deutsche Einigung im westdeutschen Wahlkampf

H – Anarchie im Alltag: Alles ist möglich …

Z – Rainer Eppelmann zur Zukunft der beiden deutschen Armeen

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Juni 1990

H – RAF-Terroristen in der DDR

Z – Walter Siegert zur Entscheidung »Rückgabe vor Entschädigung«

Z – Lothar de Maizière zum Eigentumsproblem

H – Studieren in der DDR

D – Regelung der Eigentumsfrage im ersten Staatsvertrag

H – Enteignungen in der DDR

H – Die Bodenreform in den Jahren 1945 bis 1949

H – Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953

D – Volkskammer-Debatte über Artikel 23 GG

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Juli 1990

Z – Lothar de Maizière zum Währungsumtausch

H – Reisefreiheit: »Visafrei bis Hawaii«

Z – Walter Siegert zu den Folgen des Umtauschs

Z – Richard Schröder zum Kaufverhalten der Mitbürger

H – Plötzlich sind fast alle Kunden weg

H – Die DDR-Wirtschaft

H – Das Strickjackentreffen im Kaukasus

H – Atomkraft in der DDR: Strahlende Zukunft?

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

August 1990

H – Der Canossagang zum Wolfgangsee

H – Streit um Beitrittsmodus und Wahltermin

Z – Günther Krause zu den Bauernprotesten

H – Die Scheunen voll, die Bauernkassen leer

P – Der gescheiterte Tausendsassa Günther Krause

Z – Lothar de Maizière zum Einheitsvertrag

H – Der deutsch-deutsche Einigungsvertrag

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

September 1990

H – Schüsse auf Hooligans in Leipzig

H – Die Besetzung des Stasi-Archivs

H – Die Sowjetarmee in der DDR

Z – Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen

H – Das Ende der Nachkriegszeit

H – Die Fußballelf der DDR verabschiedet sich mit einem 2 : 0

D – Schwierige Lage im Strafvollzug

H – Der Strafvollzug in der DDR

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Oktober 1990

Z – Der letzte Staatsakt der DDR

H – Die Umwelt profitiert von der Einheit

P – Der Vater der DDR-Nationalparks Michael Succow

H – Umweltzerstörung in der DDR

H – Deutschland wird wieder souverän

Die DDR im Spiegel ihrer Witze

Epilog

Anhang

Zitierte Quellen

Verwendete Literatur (Auswahl)

Abkürzungen

Personenregister

Die Autoren

Prolog

Im Berliner Palast der Republik feiert am 7. Oktober 1989 die Parteiund Staatsführung den 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik. In der vordersten Reihe sitzen zwei Männer und eine Frau, die schon bei der Gründung 1949 dabei waren: Staats- und Parteichef Erich Honecker, damals Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, damals Chef der Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft, und Bildungsministerin Margot Honecker, die damalige Vorsitzende der Jungen Pioniere.

Honecker sieht mitgenommen aus. Hinter ihm liegen eine schwere Operation mit wochenlanger Rekonvaleszenz, die beunruhigenden Meldungen über die Öffnung des Eisernen Vorhangs durch die ungarische Führung und die anschließende massenhafte Flucht von DDR-Bürgern sowie die Offenbarung der Verantwortlichen für die Staatsfinanzen, dass das Land wirtschaftlich und finanziell am Ende ist. Hinzu kommt Honeckers private Trauer um die verstorbene Enkeltochter.

Die Gründung der DDR war eine Reaktion auf die Errichtung des westdeutschen Teilstaats. Die drei Besatzungsmächte USA, Großbritannien und Frankreich hatten im Mai 1949 in der von ihnen seit Mai 1945 verwalteten Trizone den Weg frei gemacht für die Gründung der Bundesrepublik. Ein Jahr zuvor hatte der US-Kongress den Marshall-Plan verabschiedet, der die zerstörte Wirtschaft Westeuropas mit Krediten, Lebensmitteln, Rohstoffen und Gütern aller Art wieder ankurbeln sollte. Dafür stellte die US-Regierung 12,4 Milliarden Dollar zur Verfügung.

Stalin brauchte längere Zeit, um dem Plan zur Gründung des zweiten deutschen Staates seine Zustimmung zu erteilen. Er hatte zunächst mit der Blockade West-Berlins die Gründung des West-Staates zu verhindern versucht, was durch die größte Luftbrücke der Geschichte 1948 gescheitert war. Auch die sowjetische Kampagne, die Westalliierten als Spalter zu diskreditieren und eine nationale Erhebung Gesamtdeutschlands zu initiieren, schlug fehl. Besorgt stellten die Funktionäre der 1946 gegründeten Sozialistischen Einheitspartei (SED) fest, dass die Westalliierten und deren politische Verbündete großen Zuspruch in der westdeutschen Bevölkerung erhielten: Während die Kommunistische Partei (KPD) bei den Wahlen 1949 gerade so die Fünf-Prozent-Hürde übersprang, lag der Anteil der Parteien, die die neue Republik unterstützten, bei 92 Prozent. In einem Brief an Stalin schrieb die SED-Führung: »Die am 14. August durchgeführten Wahlen für den sogenannten Bundestag zeigen, daß ihnen dieser Massenbetrug gelungen ist.«

Die Unterstützung für die SED hingegen lag deutlich unter den Erwartungen der sowjetischen Besatzungsmacht. Im Oktober 1946 hatte sie noch Wahlen in Gesamtberlin zugestimmt, bei denen die Sozialdemokraten, die sich einer Vereinigung mit der KPD widersetzt hatten, fast die absolute Mehrheit errangen. Die Christlich Demokratische Union (CDU) landete auf Platz zwei, und erst an dritter Stelle kam die SED durchs Ziel. Die Wahlbeteiligung betrug 92 Prozent. Darum erklärte der kurz zuvor aus den USA geflohene illegale Vertreter der Komintern Gerhart Eisler drei Tage vor der Gründung der DDR: »Wenn wir eine Regierung gründen, geben wir sie niemals wieder auf, weder durch Wahlen noch andere Methoden.«

Diese Linie hielt die Führung bis 1989 durch. Bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 kamen jedoch erstmals Bürger in die Wahllokale, um die Auszählung der Stimmen zu verfolgen. So wurden die Wahlfälschungen öffentlich. Das stärkte die Oppositionsbewegung. Am 7. jedes Monats kam es fortan in Ost-Berlin zu Demonstrationen.

Auch am 7. Oktober 1989 ziehen Demonstranten vom Ost-Berliner Alexanderplatz zum Palast der Republik, wo die Partei- und Staatsführung mit ihren ausländischen Gästen den 40. Jahrestag feiert. »Gorbi, Gorbi – hilf uns«-Rufe erschallen aus dem Demonstrationszug. Denn der prominenteste Gast bei der Geburtstagsfeier ist Michail Gorbatschow. Er ist der erste sowjetische Parteichef, der sich der Vergangenheit des Landes stellt. Er hat die Verbrechen Stalins öffentlich gemacht, Opfer des Großen Terrors rehabilitiert, er holte Regimekritiker wie Andrej Sacharow aus der Verbannung zurück, ließ die sowjetischen Truppen aus Afghanistan abziehen und versuchte, die gravierenden Probleme der Wirtschaft zu lösen. 1989 steht das größte Land der Erde mit seinen unendlichen Reichtümern kurz vor dem ökonomischen Kollaps. Die Mängel der Planwirtschaft sind dafür ebenso verantwortlich wie die völlig aus dem Ruder gelaufenen Militärausgaben. Fast ein Fünftel der Staatsausgaben geht in die Rüstung, um mit den USA mithalten zu können. Die Konsumgüterproduktion macht hingegen nur sechs Prozent aus. Um eine Katastrophe zu verhindern, setzt Gorbatschow in seiner Politik auf »Glasnost« (Offenheit) und »Perestroika« (Umbau). Beides lehnt die DDR-Führung vehement ab.

Ende 1988 verkündete Gorbatschow auf der UN-Vollversamlung einseitige Abrüstungsschritte, traf sich mit US-Präsident George Bush sen. und hat anschließend den Kalten Krieg beendet. Dann setzt Gorbatschow die »Breschnew-Doktrin« außer Kraft. Nach der Invasion der Armeen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 in die ČSSR, um den liberalen Kurs der dortigen Parteiführung zu beenden, hatte der damalige Partei- und Staatschef Leonid Breschnew erklärt, dass die Souveränität innerhalb des sowjetischen Machtbereichs in Europa beschränkt sei. Die Sowjetunion habe das Recht, immer dann einzugreifen, wenn der Sozialismus ihrer Meinung nach bedroht sei.

Gorbatschow erlaubt nun den Warschauer-Pakt-Staaten, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln. Das Ergebnis ist die Öffnung der Grenze: Am 27. Juni 1989 durchschneiden die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, symbolisch den Eisernen Vorhang. Damit wird Ungarn für DDR-Bürger zum offenen Tor auf ihrer Flucht in den Westen.

Mit brutalen Übergriffen der Sicherheitskräfte gegen demonstrierende Ost-Berliner endet der 7. Oktober 1989. Es beginnt das letzte Jahr der DDR.

Oktober 1989

Nach Monaten des Machtvakuums verschärft sich die Staatskrise: Zehntausende DDR-Bürger sind über die durchlässige Grenze zwischen Ungarn und Österreich in den Westen geflohen. Die Kassen des Staates sind leer, und der Machtanspruch der SED, das Volk zu vertreten, wird von Hunderttausenden Demonstranten mit dem Ruf beantwortet: Wir sind das Volk!

Erich Honecker tritt zurück, und seinem Nachfolger Egon Krenz traut kaum jemand zu, die Krise zu entschärfen. Stattdessen werden die Bürgerbewegungen immer stärker, vernetzen sich und entwickeln sich zu einem Machtfaktor, den die Noch-Herrschenden ernst nehmen müssen. Die Forderungen der Demonstranten im ganzen Land werden konkreter: radikale Reformen, Demokratisierung nach innen und Reisefreiheit nach außen.

7. Oktober: Feiern zum 40. Jahrestag der DDR. Die Demonstrationen für Reformen in vielen Städten werden durch brutale Polizeieinsätze aufgelöst.

Gründung der Sozialdemokratischen Partei (SDP), die demokratische Machtkontrolle und die Einführung der Marktwirtschaft fordert.

8. Oktober: Protestaktionen in Berlin und Dresden mit gewaltsamen Auseinandersetzungen und zahlreichen Festnahmen.image Z

Bürgerrechtler gründen in Dresden die »Gruppe der 20«. Im Dresdner Staatsschauspiel wird eine Resolution für politischen Pluralismus und Reisefreiheit verlesen.image D

9. Oktober: 70 000 friedliche Demonstranten erzwingen in Leipzig den Rückzug der Polizeikräfte. Die befürchtete »chinesische Lösung« – der Einsatz von Panzern gegen Demonstranten – bleibt aus.image H

In Halle hingegen kommt es erneut zum Schlagstockeinsatz.image Z

10. Oktober: Auf der Sitzung des SED-Politbüros findet sich keine Mehrheit für eine politische Erneuerung mit dafür notwendigen personellen Konsequenzen.

Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt fordert eine Reform des Wahlrechts und die Gewaltenteilung zwischen Parlament, Justiz und Regierung.

11. Oktober: Aufruf des SED-Politbüros zum »sachlichen Dialog«. Eine Reform des politischen Systems wird abgelehnt. Die Protestdemonstrationen in mehreren Städten werden fortgesetzt.

12. Oktober: Reisen in die ČSSR werden eingeschränkt.

Das Neue Forum fordert seine Zulassung und die Freilassung aller verhafteten Demonstranten. Die Oppositionsgruppe Vereinigte Linke verlangt den Rücktritt von SED-Politbüro und Regierung sowie die Bildung einer Übergangsregierung.

13. Oktober: Treffen Erich Honeckers mit den Vorsitzenden der »befreundeten Parteien« (CDU, LDPD, NDPD, DBD) der »Nationalen Front der DDR«, die keine offene Kritik vortragen.

14. Oktober: Koordinationstreffen des Neuen Forums, dessen Gründungsaufruf vom 9. September inzwischen 25 000 Menschen unterschrieben haben.

Der 50 000. DDR-Flüchtling trifft über Ungarn in der Bundesrepublik ein.

15. Oktober: Die Verhafteten der Demonstrationen vom 7. und 8. Oktober in Berlin werden nach tagelangen Protestaktionen und Mahnwachen freigelassen. In Berlin findet ein »Konzert gegen Gewalt« statt.

16. Oktober: 120 000 Menschen demonstrieren in Leipzig, jeweils 10 000 in Dresden und Magdeburg sowie 5000 in Halle und 3000 in Berlin. Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer trifft sich mit Vertretern der Bürgerbewegung Gruppe der 20.

17. Oktober: Mitarbeiter des Volkseigenen Betriebs (VEB) Geräte- und Regler-Werk Teltow rufen zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften auf.

Im überalterten SED-Politbüro kommt es zum offenen Machtkampf.

18. Oktober: Rücktritt Erich Honeckers als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED.image P Egon Krenz wird zum Nachfolger gewählt, die ZK-Sekretäre Günter Mittag (Wirtschaft) und Joachim Herrmann (Agitation und Propaganda) werden abgesetzt. Krenz kündigt eine politische »Wende« an und ruft zum Dialog auf.

21. Oktober: Die bisherige Blockpartei LDPD erkennt das Neue Forum an und bietet deren Vertretern Listenplätze für die nächsten Wahlen an.

In Plauen kommt es zur ersten Demonstration für die deutsche Einheit.image Z

22. Oktober: Die inoffizielle Zeitung telegraph berichtet über Verhaftungen und gewaltsame Übergriffe in den letzten Wochen.image Z

23. Oktober: 300 000 Menschen demonstrieren in Leipzig.

24. Oktober: Die Volkskammer-Abgeordneten wählen Egon Krenz gegen alle Proteste auf der Straße zum Vorsitzenden des Staatsrates und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. So soll die Vormachtstellung der SED im Staat gesichert werden.image H

25. Oktober: Die SED-Führung lehnt einen »Dialog auf der Straße« ab.

26. Oktober: Öffentlicher Dialog in Dresden, an dem 100 000 Menschen teilnehmen.

Erste Kontakte zwischen Egon Krenz und Bundeskanzler Helmut Kohl.

27. Oktober: Amnestie für alle »Republikflüchtigen« und nicht gewalttätigen Demonstranten.

28. Oktober: 20 000 Menschen fordern in Plauen die Zulassung des Neuen Forums.

29. Oktober: Gründung des »Demokratischen Aufbruch«, der sich für eine Annäherung an die Bundesrepublik ausspricht. Eines der ersten Mitglieder ist die Physikerin Angela Merkel. Weitere Oppositionsgruppen wagen sich an die Öffentlichkeit.image Z

30. Oktober: Dem SED-Politbüro wird eine von Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, erarbeitete Geheime Verschlusssache vorgelegt, in der erstmals die hohe Auslandsverschuldung und die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der DDR sowie der katastrophale Zustand der Volkswirtschaft offen benannt werden: Mehr als die Hälfte der Industriebetriebe gelten als verschlissen.image H

Z – Michael Dulig zur Demonstration in Dresden

»Am Abend des 8. Oktober fuhr ich nach einer Party noch mal ins Stadtzentrum von Dresden, um zu sehen, was dort passierte. Überall in der Stadt war Polizei. Auf dem Pirnaischen Platz traf ich auf einen Demonstrationszug von etwa 300 Leuten, die ganz still durch die Straßen liefen. Unter den Demonstranten waren viele mir vertraute Gesichter, die ich zum Beispiel von der Arbeit oder vom Theater kannte. Sie trugen Kerzen und riefen: ›Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann!‹ und: ›Wir bleiben hier, Reformen wollen wir!‹

Und das war genau das, was ich fühlte: Ich spürte in dem Moment ganz stark, dass etwas hier verändert werden muss, dass ich deshalb hiergeblieben bin, dass es meine Straße ist, auf der ich laufe, und dass es das einzige Mittel ist, das ich noch habe. Für mich wie für die anderen Demonstranten war Gewalt kein akzeptabler Weg. Und so wollte ich mit meinem Laufen dort zeigen, dass es so nicht mehr weitergeht. Ich konnte nicht anders.«

Michael Dulig, Jahrgang 1963, Fotograf und Bildredakteur, Teilnehmer an der Demonstration am 8. Oktober auf dem Dresdner Theaterplatz

D – Erklärung des Staatsschauspiels Dresden

Erstmals verlesen am 6. Oktober 1989 im Kleinen Haus nach der Abendvorstellung. Die Zuschauer spendeten stehend Applaus.

»Wir treten aus unseren Rollen heraus. Die Situation in unserem Land zwingt uns dazu. Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft. Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig. Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt. Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden. Die Wahrheit muß an den Tag. Unsere Arbeit steckt in diesem Land. Wir lassen uns das Land nicht kaputtmachen. Wir nutzen unsere Tribüne, um zu fordern:

1.Wir haben ein Recht auf Information.

2.Wir haben ein Recht auf Dialog.

3.Wir haben ein Recht auf selbständiges Denken und auf Kreativität.

4.Wir haben ein Recht auf Pluralismus im Denken.

5.Wir haben ein Recht auf Widerspruch.

6.Wir haben ein Recht auf Reisefreiheit.

7.Wir haben ein Recht, unsere staatlichen Leitungen zu überprüfen.

8.Wir haben ein Recht, neu zu denken.

9.Wir haben ein Recht, uns einzumischen.«

H – Der Tag der Entscheidung am 9. Oktober in Leipzig

Die Staatsmacht der DDR wurde in den letzten Wochen auf das Äußerste herausgefordert. Seit dem 4. September fanden in Leipzig Montagsdemonstrationen statt, bei denen von Mal zu Mal mehr Demonstranten verhaftet wurden. Am 4. Oktober erschienen 5000 Demonstranten am Dresdner Hauptbahnhof, als die Sonderzüge der Botschaftsflüchtlinge aus Prag in den Westen fuhren, und am 7. Oktober störten Demonstranten in Ost-Berlin den Staatsakt zum 40. Jahrestag der DDR. Tags darauf erließ Erich Honecker den Befehl an die Bezirksleitungen der SED, neue »Krawalle« durch den Einsatz von Sicherheitskräften schon im Entstehen zu verhindern.

In Leipzig begann am Morgen des 9. Oktober, einem Montag, die Sitzung der Bezirkseinsatzleitung unter dem Vorsitz von Helmut Hackenberg, der den erkrankten 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung vertrat. Anwesend waren der Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei, der Leiter der Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und ein Vertreter der Nationalen Volksarmee (NVA). Es wurde das Einsatzkonzept für die zu erwartende Montagsdemonstration besprochen. Die Demonstration in der Vorwoche war gewaltsam beendet worden: mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Hunden. Autos brannten, Scheiben wurden eingeworfen, es gab Verletzte unter den Demonstranten und den Polizisten.

Deshalb wurden die Einsatzkräfte nun auf 6000 Mann verstärkt, Lastkraftwagen mit Räumgittern sollten die Demonstranten abdrängen, die Zahl der Wasserwerfer wurde verdoppelt. Ihrem Hochdruckstrahl wurde Farbe beigemengt, um die Demonstranten zu markieren. Für die Rädelsführer wurden Sammellager errichtet. Hier konnten bis zu 800 Personen mit Fotos und Fingerabdrücken erfasst werden. Gegen 14 Uhr bezogen die Sicherheitskräfte ihre Bereitstellungsräume. Die Losung des Tages lautete: »Genossen, heute ist Klassenkampf!«

Die Innenstadt wurde leer geräumt: Wer dort arbeitete, wurde vorzeitig nach Hause geschickt. Eltern wurden aufgefordert, ihre Kinder bis 15 Uhr aus den Kindergärten abzuholen. Gerüchte verbreiteten sich: In den Krankenhäusern seien Stationen geräumt, zusätzliche Blutkonserven herbeigeschafft und alle Chirurgen in Bereitschaft versetzt worden. Ärzte und Schwestern des Universitätsklinikums sollten sich besonders auf Schlag- und Schussverletzungen einstellen. Leichenwagen seien bereitgestellt worden, an diesem Tag gelte der Schießbefehl. Viele Gerüchte wurden gezielt gestreut, um die Menschen davon abzuhalten, am Abend zu demonstrieren. Die SED-Führung wollte die Proteste nicht länger hinnehmen.

In der Stadt ging die Furcht um, Honecker plane für Leipzig eine »chinesische Lösung«. Vier Monate zuvor hatte das chinesische Militär im Zentrum Pekings die Proteste der Bevölkerung gewaltsam niedergeschlagen. Daran schloss sich eine Welle von Repressionen gegen die Demokratiebewegung an. Die DDR-Führung erklärte am 6. Juni 1989, sie unterstütze die Niederschlagung der »konterrevolutionären Unruhen«. Egon Krenz lobte, es sei »etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen«.

Viele, die am Abend demonstrierten, hatten zuvor ihre wichtigsten Angelegenheiten geordnet und Abschiedsbriefe geschrieben, denn sie hatten in der Leipziger Volkszeitung an diesem Tag den Aufruf eines Kampfgruppenkommandeurs gelesen: »Wir sind bereit und willens, das von und mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand.«

Doch so entschlossen, wie sich die Staatsmacht gab, war sie nicht. In Ost-Berlin begann sich Egon Krenz mit Stasi-Minister Erich Mielke gegen Erich Honecker zu verbünden. Er wollte nicht als der »blutige Egon« in die Geschichte eingehen und hatte bereits mit Michail Gorbatschow einen wichtigen Unterstützer gefunden. Der wies den Chef der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, Armeegeneral Boris Snetkow, an, seine Truppen in den Kasernen zu lassen.

Aber nicht nur in der Führung kriselte es. Seitdem Einheiten der Betriebskampfgruppen gegen Demonstranten eingesetzt wurden, wuchs dort der Widerstand. Am 9. Oktober kamen nur noch 58 Prozent. Als sie den Einsatzbefehl hörten, gingen weitere zwölf Prozent nach Hause. Ähnlich sah es bei den Soldaten und Unteroffizieren der NVA aus: Angehörige der Unteroffiziersschule im benachbarten Bad Düben, von denen viele nach ihrem dreijährigen Armeedienst studieren wollten, weigerten sich, dem Befehl zum Einsatz gegen die Montagsdemonstranten zu folgen.

Auch in den Reihen der Opposition wurde nach den Zusammenstößen in der Vorwoche ein Verzicht auf jede Gewalt gefordert, um keinen Anlass zum Eingreifen zu geben. Menschenrechtsgruppen mahnten in einem gemeinsamen Appell: »Enthaltet Euch jeder Gewalt! Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absperrungen! Greift keine Personen oder Fahrzeuge an! Werft keine Gegenstände und enthaltet Euch gewalttätiger Parolen! Seid solidarisch und unterbindet Provokationen! An die Einsatzgruppen appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt! Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!«

Um 17 Uhr waren Tausende Menschen in den vier großen Kirchen der Leipziger Innenstadt versammelt. Doch als das wahre Ausmaß der Demonstration erkennbar wurde, erwies sich das Handlungskonzept der Bezirkseinsatzgruppe als obsolet. Später wurde anhand von Filmaufnahmen rekonstruiert, dass 70 000 Menschen auf der Straße waren, um die politischen Verhältnisse in der DDR zu ändern. Es war das Vielfache der angenommenen Menge. Einsatzleiter Hackenberg rief Erich Honecker an, der war nicht zu sprechen. Krenz bat um Bedenkzeit.

Während die Demonstranten über den Georgiring zum Hauptbahnhof liefen, ertönte plötzlich die Erkennungsmelodie des Stadtrundfunks. Nach 1945 hatte die Sowjetische Militäradministration an allen zentralen Plätzen Lautsprecher anbringen lassen, um ihre Befehle zu verkünden. Die Stadtverwaltung hatte diese Kommunikationsform beibehalten. Zehntausende von Demonstranten hörten die Stimme von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Der verlas einen Aufruf, den der Theologe Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und drei lokale SED-Funktionäre verfasst hatten: »Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung.« Masur verlangte einen »freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land«, der »auch mit unserer Regierung geführt« werden müsse. »Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.«

Die Demonstration verlief ohne Zwischenfälle. Um 18.35 Uhr verzeichnete das Protokoll der Bezirksverwaltung des MfS: »Vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung / Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung.« Schon am Abend sendeten die Westsender ARD und ZDF Berichte von der Leipziger Großdemonstration. Die Oppositionellen Siegbert Schefke und Aram Radomski waren trotz mancher Hindernisse von Ost-Berlin nach Leipzig gekommen, hatten sich im Turm der evangelisch-reformierten Kirche am Tröndlinring postiert und die Demonstration mit der Kamera dokumentiert. Spiegel-Korrespondent Ulrich Schwarz brachte die Kassetten nach West-Berlin, wo sie der aus der DDR ausgewiesene Dissident Roland Jahn in der Redaktion der Sendung Kontraste aufbereitete. Nun wurde die Ohnmacht der DDR-Führung für die ganze Welt sichtbar. Eine Woche später versammelten sich in Leipzig 120 000 Demonstranten, und am 23. Oktober waren es schon etwa 300 000.

Z – Hans-Joachim Hanewinckel über den Gewalteinsatz in Halle

»Für den 9. Oktober 1989 um 17 Uhr hatten wir zur ersten Demonstration in Halle an der Marktkirche eingeladen. Sitzend, mit Blumen und Kerzen, wollten wir schweigend für das Hierbleiben eintreten, Reformen anmahnen und die Freilassung der zu Unrecht Inhaftierten fordern. Die Kirche sollte für den Notfall geöffnet sein. Als wir ein Transparent aus der Kirche trugen, um es draußen auszubreiten, sahen wir, dass ein Polizeikessel um uns gebildet wurde. Bis 17 Uhr konnte man noch bis zur Kirche gelangen, aber nicht mehr zurück. Einige der Pfarrer (in Talar) suchten daraufhin das Gespräch mit den Sicherheitskräften, von der Bereitschaftspolizei bis zur Stasi war ja alles vertreten. Auch ich bin ich auf die Polizeikette zugegangen und habe gebeten, den Kessel wieder zu öffnen, damit jene, die noch draußen waren, zu uns reinkommen konnten. Als das an einer Stelle gelang, hat es großen Applaus gegeben. Sofort stürzten Offiziere dazwischen und haben die Polizeikette wieder geschlossen. Mir wurde verboten, mit den Uniformierten weiterhin zu sprechen.

In der Zwischenzeit hatten sich viele Bürger und Bürgerinnen in die Kirche zu einem spontanen Friedensgebet zurückgezogen. Mit Polizei und Staatssicherheit konnte dann ausgehandelt werden, dass alle, die in der Kirche am Gebet teilgenommen hatten, freies Geleit bekamen und abziehen konnten. Dennoch sind einige von ihnen schwer geprügelt worden. Sogar ein Kollege in Amtstracht wurde jämmerlich bedroht, sodass wir sofort einen Kreis um ihn bildeten, um ihn zu schützen.«

Hans-Joachim Hanewinckel, Jahrgang 1943, Pfarrer der Georgengemeinde in Glaucha

P – Erich Honecker: Der Vater der Verschuldung

Am 17. Oktober 1989 trat das Politbüro des Zentralkomitees der SED in Ost-Berlin zusammen. Erich Honecker kam zu spät. Er begann mit der Routinefrage, ob es Zusätze zur Tagesordnung gebe. Ministerpräsident Willi Stoph meldete sich und stellte den Antrag, den Generalsekretär von seiner Funktion abzuberufen. Er fügte hinzu: »Erich, es geht nicht mehr. Du musst gehen.« Es waren die gleichen Worte, mit denen Honecker 18 Jahre zuvor den damaligen Parteichef Walter Ulbricht zum Machtverzicht gezwungen und selbst die Führung übernommen hatte.

Erich Honecker war 1912 im saarländischen Neunkirchen zur Welt gekommen, wo er auch eine Lehre als Dachdecker begann, bevor er sich ganz der politischen Arbeit zuwandte. 1928 wurde er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes, ein Jahr später stieg er in dessen Bezirksleitung auf. 1930/31 absolvierte er die Internationale Lenin-Schule in Moskau. Nach illegaler Arbeit und Flucht nach Paris 1935 Verhaftung in Berlin. 1937 wurde er zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Strafe verbüßte er im Zuchthaus Brandenburg, wo auch der zum Tode verurteilte Robert Havemann einsaß. Nach Kriegsende kam Honecker mit der »Gruppe Ulbricht« in Kontakt, die aus Moskau kommend die politischen Bedingungen in Berlin erkunden und die Nachkriegsentwicklung maßgeblich beeinflussen sollte. 1946 wurde er der erste Vorsitzende der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Seine Weltsicht galt manchem Mitstreiter als eher schlicht. Hermann Axen, Politbüromitglied der SED, sagte über ihn: »Für Erich war wichtig, ein Dach überm Kopf zu haben, genug zu essen, warme Kleidung, genug Geld für eine Eintrittskarte fürs Kino am Wochenende und ein Kondom.«

Obwohl in zweiter Ehe verheiratet, begann Honecker 1947 eine Affäre mit der Vorsitzenden der Pionierorganisation, der damals 22-jährigen Margot Feist, die er nach seiner Scheidung 1953 heiratete.

Um seine weitere Parteikarriere zu befördern, ging Honecker 1955 für zwei Jahre nach Moskau an die Parteihochschule der KPdSU und wurde daraufhin 1958 Mitglied des Politbüros des ZK der SED. Zugleich erhielt er den zentralen Posten eines Sekretärs des ZK, er war verantwortlich für Sicherheitsfragen. Sein Gesellenstück lieferte er mit der Abriegelung West-Berlins durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 ab. Doch auch nach dem Verschluss der offenen Grenze in Berlin, die Millionen Menschen zur Flucht in den Westen genutzt hatten, wurden die wirtschaftlichen Probleme der DDR nicht kleiner.

Der Chef der Staatlichen Plankommission Erich Apel sollte die DDR-Wirtschaft langfristig auf stabile Grundlagen stellen. Er entwickelte das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL), mit dem Elemente der Marktwirtschaft in die sozialistische Planwirtschaft übernommen werden sollten. Einige Mitglieder des ZK unter Führung von Erich Honecker betrachteten das Vorhaben mit Misstrauen und fürchteten einen Einflussverlust der Partei gegenüber den wichtiger werdenden Ökonomen und Kybernetikern. In Moskau war 1964 Parteichef Nikita Chruschtschow abgesetzt und von Leonid Breschnew abgelöst worden. Dieser teilte Honeckers Besorgnisse und bremste die Reformbestrebungen mit einem deutsch-sowjetischen Handelsabkommen aus, das die DDR so eng an die UdSSR band, dass kaum noch Freiräume für eigene Entwicklungen vorhanden waren. Kurz vor der Unterzeichnung des Abkommens am 3. Dezember 1965 setzte sich Erich Apel die Dienstwaffe an die Schläfe und beging Selbstmord.

Fortan verband Breschnew und Honecker ein enges Vertrauensverhältnis. Als 1970 die Sowjetunion aufgrund eigener Probleme ihren Lieferverpflichtungen von Erdöl, Steinkohle und Walzstahl in die DDR nicht mehr im vereinbarten Umfang nachkommen konnte, verschärften sich die wirtschaftlichen Probleme in der DDR erneut. Bald machte sich das auch in einer wachsenden Missstimmung der Bevölkerung bemerkbar. Honecker sicherte sich im Politbüro eine Mehrheit mit dem Ziel, Partei- und Staatschef Walter Ulbricht abzusetzen. Am 21. Januar 1971 schrieben 13 der 20 Mitglieder und Kandidaten des Politbüros einen geheimen siebenseitigen Brief an Leonid Breschnew mit der Bitte, Walter Ulbricht abberufen zu dürfen.

Während einer mehrwöchigen Reise Ulbrichts in die Sowjetunion organisierte Honecker daheim den Machtwechsel. Nach der Rückkehr kam es auf Ulbrichts Sommersitz in Dölln zur Entscheidung, wie der Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes Markus Wolf in seinen 1997 veröffentlichten Memoiren berichtete. Honecker kam mit einem schwer bewaffneten Kommando, ließ alle Tore besetzen und die Telefonleitungen kappen. »Honecker schien also entschlossen, seinen Ziehvater festzusetzen, falls dieser sich seinen Forderungen verweigern sollte. Soweit kam es nicht. Nach eineinhalbstündiger harter Auseinandersetzung resignierte Ulbricht, verlassen von Moskau und der Mehrheit des Politbüros. Er unterschrieb das geforderte Rücktrittsgesuch an das Zentralkomitee«, hielt Wolf fest.

18 Jahre stand Honecker an der Spitze der DDR. In der Anfangsphase sollte die Bevölkerung mit einer verbesserten Versorgung beruhigt werden. Doch der steigende Konsum wurde auf Pump finanziert und brachte das Land in noch größere wirtschaftliche Schwierigkeiten. Am 16. Mai 1989 machte Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission, den Mitgliedern des Politbüros eine schonungslose Rechnung auf: Zur Bedienung der Schulden wurden bereits 65 Prozent aller Exporterlöse aufgewendet. Ohne eine dramatische Änderung sei die DDR spätestens 1991 zahlungsunfähig. Die einzige Lösung sei eine Reduzierung des Inlandskonsums um 30 Prozent und die so frei werdenden Güter auch noch zu exportieren. Dies wäre das Ende von Honeckers »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« gewesen, weshalb er sich mit seinen Getreuen dagegen wehrte.

In dieser schwierigen Phase war Erich Honecker gesundheitlich angeschlagen. Anfang Juli 1989 wurde er an der Gallenblase operiert. Seine Leber war von einer Hepatitis befallen, die linke Niere arbeitete nicht mehr richtig, die Herzkranzgefäße waren besorgniserregend verengt. Es folgten Rehabilitation und ein Genesungsurlaub. Während Tausende zu dieser Zeit über Ungarn in den Westen flüchteten und sich die wirtschaftliche Krise verschärfte, war das Land faktisch führungslos. Niemand im Politbüro übernahm die Verantwortung, fast drei Monate lang.

Am 17. Oktober 1989 wiederholte sich die Geschichte: Egon Krenz, nach Stationen wie Honecker als Vorsitzender der FDJ, Kandidat und später Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK für Sicherheitsfragen, hatte den Sturz seines Förderers seit Tagen organisiert und die notwendige Mehrheit dafür beschafft. Er ließ Gorbatschow über seinen Plan informieren – der wünschte viel Glück.

1992 wurde Erich Honecker wegen seiner Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen in der DDR in Berlin vor Gericht gestellt. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes wurde das Verfahren jedoch eingestellt. Honecker reiste zu seiner Ehefrau Margot nach Chile, wo er im Mai 1994 starb.

Z – Anneliese Saupe zur Demonstration in Plauen

»Die Atmosphäre auf dieser und den folgenden Demos war fröhlich und nicht mehr gewalttätig. Da wurde auf einem Transparent zum Beispiel die Losung herumgetragen: ›Helmut, kauf uns auf, ehe es zu spät ist!‹ So war die Stimmung zu dieser Zeit. Und als die erste schwarz-rot-goldene Fahne oder gar Fahnen, aus denen das DDR-Emblem herausgeschnitten war, entrollt wurden, da war ein Klatschen und Jubeln unter der Menge, genauso wie zuvor an den Gleisen, als die Züge durch Plauen fuhren, die die DDR-Flüchtlinge von Warschau und Prag in den Westen brachten.«

Anneliese Saupe, Jahrgang 1912, ehemalige Lehrerin, Rentnerin

Z – Tom Sello über die inoffizielle Zeitung telegraph

»An diesem Sonntag stand die fünfte Ausgabe des telegraph an. Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten sich überschlagen, und wir mussten etwas dazu herausbringen. Wie immer erhielten wir die Hintergrundinformationen über das Kontakttelefon oder persönlich von Helfern aus der ganzen Republik. Wir arbeiteten damals mit drei Leuten im Keller der Zionsgemeinde in Berlin-Mitte, in einem acht Quadratmeter kleinen Redaktionsraum, mit einem Tisch drin, ein paar Stühlen, einem Computer, in dem unsere Texte waren, und ringsherum Haufen von Papiermüll.

Als die ersten Seiten fertig waren, wurden sie mit einem Nadeldrucker auf Wachsmatrizen gedruckt. Die Matrizen gingen sofort in die Druckmaschine, die im Nachbarraum stand, sodass die ersten Blätter abgezogen werden konnten. Das waren etwa 1500 bis 2000 Exemplare, mehr gab so eine Matrize nicht her. Dann wurde eine neue Matrize in die Maschine gespannt. Pro Ausgabe haben wir auf diese Weise 6000 bis 8000 Hefte hergestellt.«

Tom Sello, Jahrgang 1957, Maurer

H – Die SED als DDR-Staatspartei

Einen Monat nach der deutschen Kapitulation gab die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) am 11. Juni 1945 ihre Gründung bekannt. Drei Tage später folgte die Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD). Beide Parteien wurden in allen vier Besatzungszonen der Alliierten zugelassen. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) kam es unter Druck der Sowjetischen Militäradministration 1946 zur Vereinigung beider Parteien. In West-Berlin und in Westdeutschland lehnte die SPD die Vereinigung ab.

Zum Zeitpunkt ihrer Gründung hatte die SED etwa 1,3 Millionen Mitglieder, die zu fast gleichen Teilen aus KPD und der SPD kamen. Bereits wenige Monate nach der Vereinigung begannen die führenden früheren KPD-Funktionäre unter Anleitung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), den Einfluss der Sozialdemokraten in der SED zurückzudrängen. Die paritätische Besetzung von Gremien wurde abgeschafft. Auf der I. Parteikonferenz 1949 wurde die Bekämpfung sozialdemokratischer Tendenzen zum Ziel erhoben und 150 000 Parteimitglieder ausgeschlossen. Auf dem III. Parteitag im Juli 1950 wurde das Vereinigungsprogramm außer Kraft gesetzt. Die Formulierung eines neuen Parteiprogramms dauerte bis 1963.

In der SED zogen »Säuberungen« nach stalinistischem Vorbild ein. Instrumente waren vor allem die Parteikontrollkommissionen und das Ministerium für Staatssicherheit. Opfer waren zunächst ehemalige Sozialdemokraten, KPD-Funktionäre, die während der Hitler-Diktatur in westlichen Ländern Zuflucht gefunden hatten, und Funktionäre von kommunistischen Splitterparteien aus der Zeit der Weimarer Republik.

Basis der Parteiarbeit der SED waren die Betriebe. Wer nicht arbeitete, etwa Rentner, war im Wohngebiet organisiert. In regelmäßigen Parteiversammlungen wurden die Mitglieder geschult. Alle fünf Jahre fand ein Parteitag statt. Dort wurde das Zentralkomitee mit 165 Mitgliedern und 57 nicht stimmberechtigten Kandidaten gewählt, das das Politbüro mit 22 Mitgliedern und fünf Kandidaten bestimmte. Die Delegierten des Parteitags wurden nach dem Prinzip des »demokratischen Zentralismus« ausgesucht: theoretisch von unten nach oben, in der Praxis aber umgekehrt: Die übergeordneten Parteigremien suchten die Delegierten von der Parteibasis aus. Die operative Arbeit der SED erledigte das Sekretariat des ZK der SED. An der Spitze stand der Erste Sekretär, der mit der Machtübernahme von Erich Honecker 1971 zum Generalsekretär aufgewertet wurde. 1987 hatte die SED 2,3 Millionen Mitglieder.

Z – Wolfgang Templin zur DDR-Opposition