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Herbert Schnädelbach

G.W.F. Hegel zur Einführung

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Meiner lieben Ursa
für ihre Geduld mit Hegel

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 1999 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: Archiv Gerstenberg

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-105-0

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-352-0

6., unveränderte Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

0.Einführung als Problem

1.Die spekulative Grundfigur

2.Zum Begriff der Spekulation

3.Zur Herkunft der spekulativen Grundfigur

Kant

Fichte

Hölderlin

Theologie

4.Phänomenologie des Geistes

»Phänomenologie«

»Bewußtsein«

»Erfahrung«

Das System der Erfahrung des Bewußtseins

5.Das System

Wissenschaft der Logik

Naturphilosophie

Philosophie des Geistes

6.Praktische Philosophie

Begriff des Rechts

Abstraktes Recht

Moralität

Sittlichkeit

Praktische Philosophie als Theorie der Sittlichkeit?

7.System und Geschichte

8.Noch einmal: Hegel zur Einführung

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

0.Einführung als Problem

Wir haben uns daran gewöhnt, von Philosophie im Plural zu sprechen und sie bestimmten Autoren zuzuordnen – also von der Philosophie Platons, der Philosophie Kants oder der Hegels –, und dem entsprechen dann auch die zahlreichen Einführungen in diese vielen Philosophien. Gegen einen Buchtitel »Einführung in die Philosophie Hegels« hätte Hegel selbst aber protestiert, und zwar mit dem (wohl gut erfundenen) Diktum, mit dem er auf die Bewunderung einer Berliner Dame der Gesellschaft reagiert haben soll: »Was in meinen Büchern von mir ist, ist falsch!«1 Hegel lebte noch wie selbstverständlich in der traditionellen Vorstellung, die alle Philosophen vor ihm hegten, daß es nämlich nur eine Philosophie gibt, daß »die« Philosophie niemandem gehört und daß man höchstens einzelne Philosophen erwähnen kann, die am philosophischen Gebäude mitgebaut haben; sind ihre Beiträge aber darin eingegangen, haben sie ihre individuelle Herkunft hinter sich gelassen, und in diesem Sinn sagt Hegel: »Das Wesen der Philosophie ist […] bodenlos für Eigentümlichkeiten.« (TWA2 2,19) Im »Eigentümlichen« der vielen Philosophien – d.h. in dem, was in ihnen Eigentum eines individuellen »großen« Denkers ist – gerade das Wesentliche zu sehen ist hingegen das Eigentümliche des 19. Jahrhunderts mit seiner historistischen Sicht auf die Kultur. »Historistisch« ist diese Sicht, weil sie die Dinge nur mehr historisch zu sehen vermag, in ihrer unwiederholbaren Individualität und Eigenwertigkeit, von der man nur noch berichten (griech. historeîn – forschen, berichten, erzählen) kann. Und was liegt dann näher, als die vermeintlich »eine« Philosophie in ihre vielgestaltigen Erscheinungen aufzulösen und sie den Individuen zuzuordnen, die ihre Autoren sind und darin jeweils ihre Sicht der Dinge präsentieren?

Das 19. Jahrhundert ist die Epoche der Weltanschauungen. Eine Weltanschauung ist so eine individuelle Sicht der Dinge: ein Blick aufs Ganze von einem bestimmten Standpunkt aus, der seinerseits eine bestimmte Perspektive festlegt; dies ergibt ein Weltbild, und das ist buchstäblich »Ansichtssache«, ja sie erfordert (wie bei einem Fernrohr) eine bestimmte »Einstellung«. Wer in dieser Situation mitreden will, muß eine Weltanschauung haben oder zumindest eine teilen, denn als Individuum wäre man schnell überfordert, wenn man nicht selbst ein »großer« Denker ist; also hält man sich an die Gruppen, Klassen oder Rassen, denen man sich jeweils zurechnet, und damit z.B. an die christliche, proletarische oder völkische Weltanschauung. In diesem Umfeld löst sich auch die Philosophie auf in eine historische Pluralität von »Weltanschauungen« oder »Lebensanschauungen großer Denker«3. Und wer selbst philosophiert, ist davon überzeugt, daß er als historisch Gebildeter sich irgendeinem dieser Angebote anschließen muß; es schlägt die Stunde der personengebundenen »…ianer« und »…isten« – d.h. der Kantianer, Hegelianer, Marxisten, Thomisten etc. –, die ihre Positionen bald auch mit dem Kennzeichen »Neu…« oder »Neo…« versehen, wenn sie ihre eigene Kreativität betonen wollen: Neukantianismus, Neuhegelianismus, Neuthomismus, Neomarxismus usf. Neue philosophische Entwürfe treten zu jener Zeit sofort als Weltanschauungen auf, d.h., sie bekennen sich von vornherein zur ihrer Perspektivität, wofür Schopenhauer, Nietzsche, aber auch Friedrich Engels als der eigentliche Erfinder des Dialektischen Materialismus Beispiele sind. Die zeitgenössische Philosophiegeschichtsschreibung gliedert rückwirkend das historische Denken in gleicher Weise, wobei die älteren Bezeichnungen »Platonismus«, »Aristotelismus«, »Epikureismus«, »Cartesianismus«, »Spinozismus«, die einmal Schulzusammenhänge meinten, welche untereinander im erbitterten Kampf um die eine Wahrheit lagen, nun umgedeutet werden zu prinzipiell gleich möglichen Weltanschauungen, die sich einem je nach Perspektive ergeben mögen. Dieser Perspektivismus greift auch auf die alten Kampfbezeichnungen »Idealismus«, »Realismus«, »Materialismus«, »Skeptizismus« etc. über. An die Stelle der Kontroverse, die man nicht mehr für sachlich entscheidbar hält, tritt eine Typologie der Weltanschauungen4, die jeden Weltanschauungstypus in seiner Eigenart verstehen und ihm dann sein relatives Recht einräumen möchte. Erstaunlich ist, daß in diesem Klima das als problemlos erscheint, was für uns als Gefahr auf der Hand liegt: die relativistische Beliebigkeit. Statt dessen gilt die Vorstellung, es gebe nur eine Philosophie oder sonst gar keine, als unaufgeklärt, dogmatisch und veraltet.

Hinter den Historismus können wir nicht zurück, weil er selbst einen Aufklärungsfortschritt bedeutet, sofern wir – wie Max Horkheimer zu sagen pflegte – unter »Aufklärung« die Beseitigung einer Naivität verstehen. Es ist wahr: Es gibt sie nicht, »die« Philosophie; zumindest das historische Philosophieren tritt uns in einer Vielfalt von Methoden und Konfigurationen entgegen, der gegenüber die Beschwörung einer »ewigen« Philosophie (philosophia perennis) ohnmächtig bleibt. Daraus scheint zu folgen, daß es auch nur historische, d.h. berichtende Einführungen in eine historische Philosophie geben könne. Die meisten Einführungen in Hegel sind historisch in diesem Sinne, also berichtende Darstellungen seines Werkes, die den Leser nur mit dessen Inhalt bekannt machen wollen. Dies ist schwierig und dann auch verdienstvoll genug; was aber wäre eine philosophische Einführung in die Philosophie Hegels?

Hier kann man auf Kants Unterscheidung zwischen historischer und rationaler Erkenntnis verweisen:

»Wenn ich von allem Inhalte der Erkenntnis, objektiv betrachtet, abstrahiere, so ist alles Erkenntnis, subjektiv, entweder historisch oder rational. Die historische Erkenntnis ist cognitio ex datis, die rationale aber cognitio ex principiis. Eine Erkenntnis mag ursprünglich gegeben sein, woher sie wolle, so ist sie doch bei dem, der sie besitzt, historisch, wenn er nur in dem Grade und soviel erkennt, als ihm anderwärts gegeben worden, es mag dieses ihm nun durch unmittelbare Erfahrung oder Erzählung, oder auch Belehrung (allgemeiner Erkenntnisse) gegeben sein. Daher hat der, welcher ein System der Philosophie, z.B. das Wolffische, eigentlich gelernt hat, ob er gleich alle Grundsätze, Erklärungen und Beweise, zusamt der Einteilung des ganzen Lehrgebäudes, im Kopf hätte, und alles an den Fingern abzählen könnte, doch keine andere als vollständige historische Erkenntnis der Wolffischen Philosophie; er weiß und urteilt nur so viel, als ihm gegeben war. Streitet ihm eine Definition, so weiß er nicht, wo er eine andere hernehmen soll. Er bildete sich nach fremder Vernunft, aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende, d.i. das Erkenntnis entsprang bei ihm nicht aus Vernunft, und, ob es gleich, objektiv, allerdings ein Vernunfterkenntnis war, so ist es doch, subjektiv, bloß historisch. Er hat gut gefaßt und behalten, d.i. gelernet, und ist ein Gipsabdruck von einem lebenden Menschen. Vernunfterkenntnisse, die es objektiv sind (d.i. anfangs nur aus der eigenen Vernunft des Menschen entspringen können), dürfen nur denn allein auch subjektiv diesen Namen führen, wenn sie aus allgemeinen Quellen der Vernunft, woraus auch die Kritik, ja selbst die Verwerfung des Gelerneten entspringen kann, d.i. aus Prinzipien geschöpft worden.«5

Für Kant ist klar: Philosophie verdient ihren Namen nur, wenn sie rational und nicht bloß historisch ist, d.h. nicht nur vernünftige Einsicht, sondern Einsicht »aus Vernunft«, und zwar aus der Vernunft geschöpft, die der Philosophierende selbst exemplifiziert. Kant spricht von »allgemeinen Quellen der Vernunft«, die er mit ahistorischen Prinzipien identifiziert; wir haben lernen müssen, daß auch unsere Vernunft durch und durch historisch ist, weil das, was wir als das Vernünftige in uns identifizieren können, sprachlichen und pragmatischen Bedingungen unterliegt, die sich in der kulturellen Evolution herausgebildet und gewandelt haben. Gleichwohl können wir dem historischen Relativismus eine revidierte Fassung der Kantischen Unterscheidung zwischen dem Historischen und dem Rationalen entgegenhalten – die zwischen der Perspektive des bloßen Beobachters und des Teilnehmers am philosophischen Diskurs. Der Beobachter berichtet nur: »Kant sagt …«, »Hegel sagt …«, »Nietzsche sagt …«; er ist der Philosoph als historischer Geisteswissenschaftler, dem die Philosophiegeschichte die Philosophie ersetzt.6 Der Teilnehmer am philosophischen Diskurs hingegen ist der, der sich einmischt, der etwas verteidigt oder bestreitet, der »ich« sagt: »Ich meine …«, »ich sage …«, »ich behaupte …«. Nach der historistischen Aufklärung können wir diese Perspektive der 1. Person nicht mehr mit der der Kantischen cognitio ex principiis einfach identifizieren, weil die »allgemeinen Quellen der Vernunft« nicht mehr fließen, jedenfalls nicht als Quellen einer »reinen«, von Empirie, Sprache und Geschichte unberührten Vernunft. Wir müssen hinzusetzen, daß die Perspektive der 1. Person Singular eine bloße Fiktion ist, wenn wir sie, wie Descartes es versucht hat, als die eines isolierten Ich vom Du, dem Wir und der Welt ganz unabhängig machen wollen. Aber festzuhalten ist: Das Philosophische einer Beschäftigung mit historischem Denken verschwindet dann vollständig im bloß noch Historischen, wenn das »Ich«-Sagen dabei ganz unterbleibt – womöglich im Zeichen geisteswissenschaftlicher »Objektivität«.

Die Alternative zum Historischen in der Philosophie ist somit nicht mehr das rein Rationale – das Philosophieren aus »reiner« Vernunft –, sondern das Dialogische. Der Dialog findet nicht statt, wenn jemand immer nur »ich« oder »wir« sagt; das ist bloße Selbstdarstellung oder Propaganda. Doch ohne »Ich«-Sagen gibt es auch keinen Dialog, denn wie soll man mit jemandem reden, der dauernd nur über etwas redet, ohne anzuzeigen, was er selbst dazu meint? Noch schlimmer ist es, wenn solche Redner über etwas reden – z.B. über mich – aber nicht zu mir, d.h. ohne mich mit »Du« oder »Sie« anzusprechen. Daraus folgt: Eine Einführung in eine historische Philosophie muß auch historisch sein, sie muß mithin ihre Grundzüge berichtend und getreu den Tatsachen darstellen; sie wird aber in dem Maße zugleich philosophisch werden, in dem es ihr gelingt, den Leser von ihr angesprochen sein zu lassen und ihren Geltungsanspruch an unser gegenwärtiges Philosophieren deutlich zu machen. Historische Philosophien sind nicht bloße Kuriositäten, die man archivieren, beschreiben und irgendwie »einordnen« kann; ihrem eigenen Sinn nach sind sie Stimmen in dem vielstimmigen Diskurs, den wir »Philosophie« nennen; sie wollen von uns gehört werden und fordern uns zur Stellungnahme heraus. Allein im dialogischen Umgang mit historischem Denken läßt sich die Verbindung des Philosophischen mit dem Historischen erreichen, die nach dem Historismus ohne Alternative ist.

Bei einem Koloß wie Hegel mag das Gesagte großsprecherisch klingen: Wer ist schon Manns genug, mit ihm in eine Beziehung von »ich« und »Du« (oder »Sie«) zu treten? Und gerade dann, wenn es sich erst um eine Einführung handelt? Daß vielerorts und seit langem die Ehrfurcht vor den »Großen«, die »Klassikerverehrung«, das eigene Philosophieren erstickt hat, wäre niemals im Sinne Hegels gewesen, der seine Hörer und Leser immer wieder zum »Mut der Wahrheit« und zum Beharren auf der eigenen Einsicht ermunterte.7 Natürlich muß man viel lernen und gedanklich verarbeiten, ehe man sich ein begründetes Urteil über Hegel zutrauen kann, aber diese Einführung will genau dies: auf der Grundlage zuverlässiger Informationen und nachvollziehbarer Argumente beim Leser ein begründetes Urteil über Hegels Philosophie vorbereiten. Dabei werde ich mit meinem eigenen Urteil nicht hinterm Berge halten, ja ich werde vertreten, daß Hegel eine Philosophie präsentiert, die wir nicht vertreten können; doch was könnte Besseres geschehen als eine begründete Revision dieses Urteils durch die Leser?

Dieser paradox anmutende Versuch einer philosophischen Einführung in eine Philosophie, die man nicht vertreten kann, ist natürlich nicht möglich im Durchgang durch ein Riesenwerk, und dann noch mit dem Anspruch, auch nur den wichtigsten der darin vorgebrachten Einsichten und Argumente gerecht zu werden. Darum konzentriere ich mich auf ein Leitmotiv, das Hegels Philosophie durchzieht, deren Ausbildung von allem Anfang an bestimmte und sich zu dem entwickelte, was ich die spekulative Grundfigur des Hegelschen Denkens nennen möchte; diese Grundfigur definiert auch die argumentative Grundstruktur dessen, was bei Hegel die berühmt-berüchtigte Dialektik ausmacht. Die spekulative Grundfigur strukturiert aber nicht nur Hegels Argumentationen im einzelnen, sondern auch sein System als Ganzes, d.h., Hegels gesamte Philosophie läßt sich von jenem Leitmotiv her aufschließen. Es soll deutlich werden, daß die Dialektik Hegels, wenn man sie von jener spekulativen Grundfigur her versteht, weder Nonsens noch Obskurantismus ist, wie immer wieder behauptet wurde8, sondern die Dokumentation einer gewaltigen, ganz rationalen, wenn auch im Ergebnis gescheiterten gedanklichen Anstrengung. Die Gründe dieses Scheiterns müssen benannt werden. Wenn das alles gelingt, wird vielleicht deutlich, daß wir von Hegel zwar im einzelnen sehr viel lernen können, im ganzen aber, wie es in der Philosophie nicht geht.

1. Die spekulative Grundfigur

Es handelt sich dabei in Wahrheit um einen einfachen und auf den ersten Blick einleuchtenden Gedanken. Gehen wir mit der philosophischen Tradition davon aus, in der Philosophie gehe es um das denkende Erkennen des Ganzen der Welt, der Totalität der Wirklichkeit oder des Absoluten, wie es in der Sprache des deutschen Idealismus heißt, und lassen wir die mit diesen Ausdrücken angezeigten Differenzen zunächst auf sich beruhen, so stellt sich die Frage, wie dieses Ganze zu denken sei. Wir sind daran gewöhnt, das Ganze von den Teilen zu unterscheiden, und dies ist auch richtig so. Wir sagen: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, allerdings ist schon bei arithmetischen Beispielen die Summe mehr als die Teile, d.h., eine Zahlenkolonne muß nicht nur aufgeschrieben, sondern auch noch zusammengezählt werden, um eine Summe zu bilden; die Zahlen addieren sich nicht selbst. Daß das Ganze mehr ist als eine Summe, gilt vornehmlich für strukturierte Körper wie Kristalle, für Organismen, aber auch für soziale Gebilde; die bloße Aufzählung und Addition der darin enthaltenen Atome, Organe oder Personen stellt noch nicht vor Augen, wie sich diese einzelnen Teile in ihrem jeweiligen Zusammenhang zueinander verhalten. Daß das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, wird erst dann problematisch, wenn man annimmt, dieses Ganze existiere als eine unabhängige Entität neben oder sogar vor den Teilen: als ewiges Naturgesetz, als Lebenskraft, Seele oder »das deutsche Volk«; von hier zu »Du bist nichts, dein Volk ist alles« ist es dann nur noch ein Schritt.

Daß es keinen Sinn macht, das Ganze so von den Teilen zu unterscheiden, daß man es ihnen bloß gegenüberstellt, ist die Grundintuition des Hegelschen Denkens. Die Metaphysik hatte seit ihren Anfängen angesichts der unüberschaubaren Vielfalt der Welt nach der Einheit, dem Allgemeinen, dem Wesen oder Grund aller Dinge gefragt und dabei notwendig von dem Vielen, dem Besonderen, der bloßen Erscheinung oder dem abhängig Existierenden abgesehen; dieses Eine wurde fixiert als arché, lógos, Idee, Wesenheit, Gott, aber auch als Materie, Natur oder Substanz. Hegels Grundgedanke ist: Wenn man im Ganzen das Ganze von seinen Teilen so unterscheidet, daß man es als eine gesonderte Entität neben den Teilen anordnet, dann ist das so fixierte Ganze selbst nur ein Teil des Ganzen neben den anderen Teilen; also muß das wahre Ganze als die Einheit des von den Teilen auch zu unterscheidenden Ganzen und der Teile gedacht werden. Ebenso beim Einen und beim Allgemeinen: Das Eine, das dem Vielen, ein Allgemeines, das dem Besonderen nur gegenübersteht, ist selbst nur Eines unter Vielem bzw. selbst nur ein Besonderes; also muß das wahre Eine als Einheit in der Vielheit und damit als Einheit von Einheit und Vielheit gedacht werden, und dementsprechend ist das wahre Allgemeine als Einheit seiner selbst und des Besonderen zu denken. Diese Gedankenfigur ist Hegel zufolge auch auf das Verhältnis von Wesen und Erscheinung, Grund und Begründetem, Substanz und Akzidens wie auf alle grundlegenden Unterscheidungen der metaphysischen Tradition anzuwenden, was uns Hegel in seiner großangelegten Wissenschaft der Logik (WL) vorführt, die in diesem Sinne als eine durchgreifende Metaphysikkritik9 zu lesen ist.

Der zentrale Kritikpunkt ist dabei der der Abstraktheit. Nicht nur die Metaphysiker, sondern auch wir in unserem alltäglichen Denken neigen dazu, die richtige und notwendige Unterscheidung von Einem und Vielem, Allgemeinem und Besonderem so mißzuverstehen, daß wir daraus ein reales Getrenntsein des Einen vom Vielen, des Allgemeinen vom Besonderen machen. Gerade in der philosophischen Lehre wird einem oft, wenn man eine Unterscheidung eingeführt hat, entgegengehalten: »Ja, aber das kann man doch nicht trennen!« Offenbar macht im Denken die Unterscheidung zwischen »Unterscheiden« und »Trennen« Schwierigkeiten, während man wohl nicht in allen Fällen, in denen man den Kopf seines Gegenübers von dessen Rumpf unterscheidet, sofort zur Trennung überzugehen bereit ist. Hegel nennt das Allgemeine, das von dem Besonderen, dessen Allgemeines es ist, nicht nur unterschieden, sondern als Abgetrenntes fixiert und nur noch in dieser Abtrennung betrachtet wird, das »abstrakte« Allgemeine, wobei er sich genau an den buchstäblichen Wortsinn hält (lat. abstraho – wegziehen, -reißen, -schleppen); das abstrakte Allgemeine ist das vom wahren Allgemeinen »abgezogene« Allgemeine, und das wahre Allgemeine als Einheit des (abstrakten) Allgemeinen und Besonderen ist demgegenüber »konkret« (lat. concresco, -evi, -etus – zusammenwachsen, sich verdichten, entstehen).10 Umgekehrt wäre es nach Hegel ebenso abstrakt, wollte man das Allgemeine selbst nur als ein Besonderes unter Besonderem ansehen und damit die Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Besonderem einebnen; also denkt nur der konkret, der imstande ist, das Allgemeine als Einheit seiner selbst und des Besonderen zu denken.

Genau dies jedoch macht logische Schwierigkeiten, die sich am besten anhand der Formel demonstrieren lassen, die Hegel schon in seiner ersten Veröffentlichung, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801) (allgemein Differenzschrift genannt, zit. als DS), für seine spekulative Grundfigur gefunden hatte: »Identität der Identität und Nichtidentität« (2, 96). Ganz gleichgültig, wie man das wahre Ganze, die Totalität, das Absolute denkt – als das Eine, das Allgemeine, das Wesen: nach Hegel denkt man es nur dann »konkret«, wenn man es als etwas denkt, das es selbst ist und zugleich sein Gegenteil, das also mit dem, was es nicht ist, identisch ist. Im »konkreten« Einen ist nach Hegel das Eine vom Vielen zu unterscheiden, also nicht identisch mit dem Vielen; als abstrakt Eines ist es selbst bloß eines unter dem Vielen, also identisch mit dem Vielen; beides muß man in einem Gedanken vereinigen – in dem des einen konkreten Einen, in dessen Identität Einheit und Vielheit zugleich identisch und nichtidentisch sind. Es wird uns also zugemutet, etwas zu denken, was zugleich es selbst ist und nicht es selbst ist: Eines und Nichteines, Allgemeines und Nichtallgemeines, Wesen und Wesenloses etc. Hegel wußte, daß dies eine Zumutung ist, aber er behauptete, daß es ohne sie keine Möglichkeit gibt, das wahre Ganze, d.h. das Absolute zu denken; als Alternative bliebe nur die Resignation.

2. Zum Begriff der Spekulation

Was ist an Hegels Grundfigur »spekulativ«? Spekulation findet heute nur noch am Grundstücksmarkt oder an der Börse statt, und doch meinte dieses Wort einmal die höchste dem Menschen mögliche Erkenntnisweise. Der buchstäbliche Wortsinn von »Spekulation« (lat. speculor – erspähen, auskundschaften) wird in der Philosophensprache der platonisch-augustinischen Tradition auf das »Auge des Geistes« bezogen, mit dem wir angeblich befähigt sind, jenseits der Welt der sinnlichen Erfahrung das wahre Seiende, die Ideen oder Gott zu erfassen. Zu Hegels Zeit wird das Wort »Spekulation« fast durchgängig kritisch verwendet, woran Kants vernichtende Kritik der spekulativen Metaphysik einen wichtigen Anteil hat; daß sich Hegel gemeinsam mit Schelling zu einem positiven Begriff der Spekulation bekennt, unterstreicht sein Programm, nach Kant die Metaphysik zu rehabilitieren und sie den Menschen zurückzugeben.11 Daß der gesunde Menschenverstand die Spekulation ablehnt, ja sogar fürchtet und haßt, hat für Hegel nichts Erstaunliches, und er gibt in der DS sogar eine Erklärung: »Die Spekulation versteht […] den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation. Die Spekulation anerkennt als Realität der Erkenntnis nur das Sein der Erkenntnis in der Totalität; alles Bestimmte hat für sie nur Realität und Wahrheit in der erkannten Beziehung aufs Absolute. Sie erkennt deswegen auch das Absolute in demjenigen, was den Aussprüchen des gesunden Menschenverstandes zum Grunde liegt; aber weil für sie die Erkenntnis nur, insofern sie im Absoluten ist, Realität hat, ist vor ihr das Erkannte und Gewußte, wie es für die Reflexion ausgesprochen ist und dadurch eine bestimmte Form hat, zugleich vernichtet.« (2, 31) Dieses »Vernichten« erfährt der gesunde Menschenverstand als die Aufhebung all dessen, was er in seinen Reflexionen – d.h. in seinen Bestimmungen mittels abstrakter Begriffe – fixiert hat, weil es durch den spekulativen Bezug aufs Absolute seine fixe Bestimmtheit verliert: »Die relativen Identitäten des gesunden Menschenverstands, die ganz, wie sie erscheinen, in ihrer beschränkten Form auf Absolutheit Anspruch machen, werden Zufälligkeiten für die philosophische Reflexion. Der gesunde Menschenverstand kann es nicht fassen, wie das für ihn unmittelbar Gewisse für die Philosophie zugleich ein Nichts ist […].« (2, 31 f.) Hegel hat dafür später die schöne Metapher der »Verflüssigung« verwendet; in der Tat sind Widerstand und panische Angst zu erwarten, wenn alles in Fluß gerät. »Spekulation« muß der »Reflexionsphilosophie«, wie Schelling und Hegel die Position ihrer Gegnerschaft bezeichnen (vgl. 2, 287 ff.), notwendig als Vernichtung der Vernunft selbst erscheinen, und gleichwohl nennt Hegel »diese Nacht der bloßen Reflexion und des räsonierenden Verstandes« den »Mittag des Lebens« (2, 35).

Daß die Spekulation die bloße Reflexion vernichtet, ist hier nicht nur psychologisch zu verstehen; der Anschein der blanken Irrationalität hat logische Gründe. Hegel versucht schon in der DS zu zeigen, daß das Ganze, die Totalität, das Absolute, wenn es wirklich konkret, d.h. in seiner ganzen Wahrheit gedacht werden soll – und nichts anderes ist mit »Spekulation« gemeint – gar nicht anders als in sich widersprüchlich gedacht werden kann: als Antinomie. Er demonstriert dies wie folgt: »Soll das Prinzip der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen werden, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhanden als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und Objektiven, oder das absolute Denken. Die Reflexion aber vermag nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrücken, wenn nämlich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll; sie muß, was in der absoluten Identität eins ist, trennen und die Synthese und die Antithese getrennt, in zwei Sätzen, in einem die Identität, im andern die Entzweiung ausdrücken.« (2, 37) Der reflektierende oder »räsonierende« Verstand muß nach Hegel in der formalen Beschreibung des Wissens als »Synthese des Subjektiven und Objektiven« zugleich die Identität (A = A) und die Nichtidentität (A = B) von beidem behaupten; damit aber hat er sich in eine Antinomie verstrickt. Als Ausweg kann er dann nur noch entweder die Nichtidentität und damit das Phänomen des Wissens leugnen oder darauf verzichten, das wahre Ganze des Wissens zu denken. So behauptet Hegel: »Wenn man bloß auf das Formelle der Spekulation reflektiert und die Synthese des Wissens in analytischer Form festhält, so ist die Antinomie […] der höchste formelle Ausdruck des Wissens und der Wahrheit.« (2, 39)

Später heißt es: »Einem solchen analytischen Wesen liegt das Bewußtsein nicht zum Grunde, daß die rein formale Erscheinung des Absoluten der Widerspruch ist.« (2, 41) Die Spekulation ist somit bestimmt als ein Denken des Absoluten, das der damit notwendig verbundenen Erfahrung der Antinomie standhält und sich vor ihr nicht in die vermeintlichen Sicherheiten des reflektierenden Verstandes flüchtet. Das Vermögen der Spekulation in diesem Sinne nennen Schelling und Hegel gemeinsam »Vernunft« im Unterschied zum bloßen Verstand, und weil der den Widerspruch als irrational aus sich ausschließen muß, kann ihm die spekulative Vernunft gar nicht anders denn als reine Irrationalität erscheinen. Für die Spekulation in diesem Sinne haben Schelling und Hegel später den alten Begriff der Dialektik neu geprägt, und dies mit sehr verschiedener Akzentuierung.12 Wichtig ist hier nur: Wenn man immer wieder von der Irrationalität der Hegelschen Dialektik gesprochen hat – sei es kritisch oder sogar anerkennend13 –, so wäre dies für Hegel selbst nichts Neues gewesen, weil er diese Deutung selbst schon kannte und sogar eine Erklärung dafür besaß.

Hegels und Schellings Wege sollten sich freilich an der Stelle philosophisch und auch persönlich trennen, wo es darum ging, die in der Perspektive des »abstrakten« Verstandes irrationale Spekulation nun selber rational zu bestimmen. In der DS vertrat Hegel noch die Lehre Schellings von der intellektuellen Anschauung; dabei argumentierte er wie folgt: In der Perspektive des Verstandes muß das Absolute, d.h. die absolute Identität des Subjektiven und Objektiven, in Gestalt von Antinomien erscheinen; die Vernunft hingegen als das Vermögen der Spekulation erfaßt in dieser »Nacht des Verstandes« zugleich die Identität des in der Antinomie Entgegengesetzten, und zwar als nichtempirische, intellektuelle oder transzendentale Anschauung: »Dadurch, daß die Anschauung transzendental wird, tritt die Identität des Subjektiven und Objektiven, welche in der empirischen Anschauung getrennt sind, ins Bewußtsein […]. Das Produzieren des Bewußtseins dieser Identität ist die Spekulation, und weil Idealität und Realität in ihr eins sind, ist sie Anschauung.« (2,42 f.)

Wenige Jahre später, in der Phänomenologie des Geistes (PhG) von 1807, geißelt Hegel die intellektuelle Anschauung als philosophischen Obskurantismus und kränkt damit seinen langjährigen Freund und Weggenossen zutiefst. Hat Hegel in der DS selbst geschrieben: »In der transzendentalen Anschauung ist alle Entgegensetzung aufgehoben, aller Unterschied der Konstruktion des Universums durch und für die Intelligenz und seiner als ein Objektives angeschauten, unabhängig erscheinenden Organisation vernichtet« (2, 43), so nennt er in der nachgeschriebenen Vorrede zur PhG das Resultat dieser »Vernichtung«, das er in der DS selbst als »Nacht der bloßen Reflexion und des räsonierenden Verstandes« (2, 35) bezeichnet hat, nunmehr ganz verächtlich die »Nacht, in der alle Kühe schwarz sind« (3, 22). Wichtig ist, daß sich Hegel mit seiner neuen Fassung des Spekulationsbegriffs ganz von der platonischen Prägung durch die Metaphorik des Gesichtssinnes abwendet und die Idee des spekulativen Denkens von allen Assoziationen des »geistigen Auges«, des Schauens und Erblickens reinigt. Man kann sagen, daß Hegel hier von Schelling zu Kant zurückkehrt, der energisch bestritten hatte, unser Denken könnte in irgendeinem Sinne anschauend sein14; auch der damit verbundenen Polemik gegen den neumodischen, vornehm tuenden Platonismus derer, die sich die Genialität geistiger Intuition ohne begriffliche Arbeit zugute halten, hat sich Hegel später wieder ausdrücklich angeschlossen.15 Hegel bemühte sich seitdem, die philosophische Spekulation als ein durch und durch rationales Geschäft darzustellen und die spekulative Grundfigur als eine des Denkens und nicht einer irgendwie gearteten Anschauung zu erweisen; die WL ist nichts anderes als Hegels Durchführung dieses Vorhabens.

Das erste Dokument dieser »Logifizierung« der Spekulation ist der Text über den »spekulativen Satz« in der genannten Vorrede zur PhG. (Vgl. 3, 59 ff.) Hegel vertritt hier wie in der DS die These, daß die Spekulation die Logik des Verstandes sprengt. Doch die Konsequenz ist nicht mehr das Ausweichen in die intellektuelle Anschauung, sondern der Versuch, das, wodurch die Spekulation über die Logik des Verstandes hinausgeht, selbst noch logisch zu fassen, und genau dies geschieht im spekulativen Satz. »Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und des Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält.« (3, 59) Hegel gibt ein Beispiel: »Gott ist das Sein«. Es sieht so aus, als werde »ist das Sein« von Gott prädiziert, so daß Gott und das Sein als verschieden erscheinen, nämlich als ein Besonderes, dem eine allgemeine Eigenschaft zugesprochen wird. So aber ist dieser Satz nicht gemeint, denn in Wahrheit wird darin Gott mit dem Sein identifiziert; damit allerdings entsteht der Eindruck, man könne nun überall den Ausdruck »Gott« durch den Ausdruck »Sein« ersetzen, und das Subjekt des Satzes droht verlorenzugehen, wie Hegel sich ausdrückt. Die Folge ist der »Gegenstoß«: »Das Denken, statt im Übergange vom Subjekt zum Prädikate weiterzukommen, fühlt sich, da das Subjekt verlorengeht, vielmehr gehemmt und zu dem Gedanken des Subjekts [d.h. Gottes], weil es dasselbe vermißt, zurückgeworfen«, d.h., es kommt notwendig auf die Ausgangsbestimmung zurück, um die es ja ursprünglich ging. Dieses »Zurückkommen« bedeutet, daß in der Identität des mit dem grammatischen Subjekt- und Prädikatausdruck Gemeinten auch die Nichtidentität festgehalten werden muß, denn sonst ist der Satz »Gott ist das Sein« kein Satz über Gott. Wichtig ist nun, daß Hegel betont, daß dieses »Zurückkommen« weitere Sätze erfordert: »Daß die Form des Satzes aufgehoben wird, muß nicht nur auf unmittelbare Weise geschehen, nicht durch den bloßen Inhalt des Satzes. Sondern diese entgegengesetzte Bewegung muß ausgesprochen werden, sie muß nicht nur jene innerliche Hemmung, sondern dies Zurückgehen des Begriffs in sich muß dargestellt sein. Diese Bewegung, welche das ausmacht, was sonst der Beweis leisten sollte, ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das wirklich Spekulative, und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung.« (3, 61)

Es kann hier nicht darum gehen, Hegels Lehre vom spekulativen Satz abschließend einzuschätzen16 und es völlig richtig ist, daß dann, wenn man vom Absoluten etwas aussagen will, was es in seinem Wesen trifft, das prädikative Ist-Sagen in das identifizierende übergeht, denn was sollte noch allgemeiner oder wesenshöher sein als das Absolute. Im übrigen ist Hegels Lehre vom spekulativen Satz die Anschlußstelle für seine , von der man sagen kann, daß sie aus lauter spekulativen Sätzen besteht; in diesem Werk erfolgt dann auch eine erhebliche Präzisierung und Exemplifikation dessen, was es heißt, in Sätzen spekulativ zu denken.