uf dem Augsburger Reichstag 1550 trafen zwei berühmte alte Herren zusammen: der 72-jahrige Tizian aus Venedig und der 78-jahrige „ehrenfeste, hochweise und fürtreffliche Herr Lucas Cranach, Bürgermeister und Maler aus der Churfürstlich-Sächsischen Hauptstadt Wittenberg“. Welchen Eindruck machten sie auf einander? Was sagte wohl Tizian zu dem Bildnis, das Cranach von ihm malte? Was der Wittenberger Bürgermeister zu dem Bilde, in welchem Tizian Cranachs Herrn, den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich, darstellte? Für uns heute sind in den Namen Tizian und Cranach zwei Welten enthalten. Man denkt an Tizian, und der ganze Glanz der italienischen Renaissance umstrahlt uns. Ein Künstler steht da, der auf den Höhen des Lebens wandelt. Man denkt an Cranach, der zwar ebenfalls Hofmaler, gleichfalls geadelt war. Und man atmet die Stickluft der deutschen Bürgerstube, die dumpfe Atmosphäre mittelalterlichen Zunftwesens. Freies Weltbürgertum und spiessbürgerliche Enge; hohe Kunst und betriebsames Handwerk — davon sprechen uns die Namen Tizian und Cranach.

Die Geschichte unserer deutschen Kunst war eine grosse Elegie. Was für ein gewaltiges, unvergleichliches Schauspiel rollte schon im 15. Jahrhundert in Italien sich ab. Der Künstler erlebte dort Kunst. Denn er war von Schönheit umgeben. Menschen sah er um sich mit gymnastisch beweglichem, „geistvollem“ Körper. Zu einem Volke sprach er, das ästhetisch geschult war, Kunst als Kunst zu verstehen. Der deutsche Maler, zur selben Zeit, war noch der Gehilfe des Religionslehrers. Erteilte er stramm und allgemeinverständlich seinen Unterricht, so erfüllte er alle Forderungen, die das Banausentum an ihn stellte. Gnädig ward neben dem ausbedungenen Preis noch der Frau Meisterin ein Trinkgeld bewilligt. Und was für verrückte, abenteuerliche Gestalten sah er um sich: diese Männer mit dem Harlekinskostüm und den schwerfälligen, wie steifgefrorenen Gliedern; diese Frauen mit der dicken Halskrause und dem armseligen, unter schwerem Korsettpanzer verkümmerten Leib. So erklärt sich die Sehnsucht nach Italien, die seit dem Beginn des Cinquecento unsere Besten erfasste. Sie wollten Schönes sehen, wollten den Kasten- und Philistergeist des Nordens vergessen, wollten ein paar Jahre wenigstens sich als Künstler fühlen. „O, wie wird mich nach der Sonnen frieren, hier bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer“. Diese Worte, die Dürer von Venedig nach Hause schrieb, enthalten die ganze Stimmung eines Künstlers, der in eine kunstlose Welt gesetzt ist. Und die Jahre Dürers bedeuteten noch immer das „goldene Zeitalter“ deutscher Kunst. Denn der Maler hatte sich jetzt wenigstens vom Spiessbürgertum frei gemacht, hatte in der Griffelkunst sich ein Mittel geschaffen, frei sich auszusprechen, aus dem engen Kreis der herkömmlichen „Aufträge“ herauszutreten. Ein Publikum, das in gewissem Sinn künstlerische Qualitäten zu würdigen wusste, war herangezogen. Da kamen die Wirren der Reformation, und der mühsam bereitete Boden ward wieder unfruchtbar. Farblose kirchliche Streitigkeiten begannen die Geister zu beschäftigen. Auf die kirchlichen folgten die grossen politischen Kämpfe. Und es war aus mit der Kunst. Sie musste verdorren. „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht.“

Cranach lebte in diesem Wittenberg, auf das sich damals die Augen von Deutschland richteten. Noch bis zum Beginne des Jahrhunderts, als Cranach, von Gotha kommend, sich dort niederliess, war es ein elendes Landnest. Scheurl rühmt von der Stadt, dass sie „einer gesunden Luft sich erfreue, durch Gottes Schutz von jeder Pest befreit sei, und dass man mit acht Goldgulden jährlich leben könne“. Die Universitätsgründung hatte viele gelehrte Herren dort vereinigt. Freudige Familienereignisse im ernestinischen Fürstenhaus gaben zu Tournieren, Rennen und Stechen Anlass. Sonst war es das Dorado des Stumpfsinns. Und auch später noch, als Luther Bewegung in das pfahlbürgerliche Stillleben brachte, als man am päpstlichen Hofe in Rom den barbarischen Namen des Städtchens aussprechen lernte, von dessen Dasein vorher niemand wusste, blieb Wittenberg der Typus der kleinen verknöcherten Residenz. Ein Weltmann wie Holbein wäre sicher nicht willens gewesen, hier sein Leben zu versimpeln. Es hätte ihn angeödet, dem bleiernen Mechanismus eines kleinbürgerlichen Gemeinwesens sich einzufügen. Cranach im Gegenteil fühlte sich wohl. Volle 46 Jahre, von 1504 bis 1550, hat Cranach in Wittenberg zugebracht. Es war sein Stolz, nicht nur als Künstler, auch als Staatsbürger eine Rolle zu spielen.

Erst Stadtverordneter, dann Kämmerer des Rates, ward er später Bürgermeister. Die ganze Betriebsamkeit des kleinstädtischen Bourgeois kam über ihn. Dass er eine Druckerei errichtete, will noch wenig sagen. Denn Buchdruck und Graphik sind Geschwister. Doch das genügte ihm nicht. Er ward Apothekenbesitzer. Er verkaufte Zucker, verschenkte Weine. Seine Kunst ist das Spiegelbild dieses kleinstädtisch dumpfen, betriebsam nüchternen, pastorenhaft biederen Geistes.

Zunächst die Masse seiner graphischen Arbeiten. Derselbe Mann, der in seiner Jugend das „Wittenberger Heiligtumsbuch“ zeichnete, —die Behältnisse all der ablassspendenden Reliquien, die der damals noch katholische Friedrich der Weise in der Wittenberger Stiftskirche vereinigte — illustrierte später das „Passional Christi und Antichristi“, jene lutherische Streitschrift, die so boshaft das Leben und Leiden Jesu in Gegensatz zu dem Wohlleben und der Hoffart seines irdischen Statthalters setzt. Auch die Illustrationen zu Luthers Bibelübersetzung und vielen andern Schriften des Reformators lieferte er —Werke, die, kirchengeschichtlich und bibliographisch interessant, doch künstlerisch nichts Beachtenswertes bieten. Mit Hilfe seiner „Knechte“, ganz im Sinne mittelalterlichen Kunstbetriebs, stellt er die zahlreichen Altarwerke her, in denen er sich gleichfalls als so glaubensstarker Anhänger der neuen lutherischen Lehre zeigt. Und auch sie beweisen, wie wenig Nahrung der Protestantismus für die Kunst enthielt. Der Katholizismus appelliert an die Sinnlichkeit, an das Dunkel des Gefühlslebens. Musik und Weihrauch ruft er zu Hilfe, um auf die Nerven zu wirken. Der Protestantismus sucht Religion und Verstand in Einklang zu bringen.