Open Europe Berlin ist eine eigenständige deutsche Denkfabrik mit europäischer Ausrichtung. Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bestehen, sind in der Europäischen Union grundlegende Reformen nötig, die den Prinzipien der Demokratie, Subsidiarität, Eigenverantwortlichkeit und Transparenz Rechnung tragen.

UNSERE AUTOREN

Michael WOHLGEMUTH

Direktor | Open Europe Berlin

Prof. Dr. Michael Wohlgemuth ist Volkswirt und Direktor der Open Europe Berlin gGmbH. Promotion an der Universität Jena, Habilitation an der Universität Witten/Herdecke. Forschungsaufenthalte, Lehraufträge und Vertretungsprofessuren u.a. an der George Mason University, New York University, und den Universitäten Freiburg, Innsbruck, Erfurt und Bayreuth. 2002-2012 geschäftsführender Forschungsreferent am Walter Eucken Institut. Michael Wohlgemuth ist u.a. Professur für politische Ökonomie an der Universität Witten/Herdecke, Sprecher der “Jenaer Allianz für die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft”, Kollegprofessor des Promotionskollegs “Soziale Markt-wirtschaft” der Konrad Adenauer Stiftung und Associate Fellow am Ratio Institute, Stockholm.

Gérard BÖKENKAMP

Stellv. Direktor | Open Europe Berlin

Dr. Gérard Bökenkamp (Jahrgang 1980) ist Historiker und stellvertretender Direktor von Open Europe Berlin. Sein Forschungsgebiet ist die Geschichte der Wirtschafts- und Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Seine Doktorarbeit erschien unter dem Titel “Das Ende des Wirtschaftswunders”. Dafür wurde er 2011 mit dem Europapreis des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) ausgezeichnet. Er hat zahlreiche Artikel, Rezensionen, Blog- und Radiobeiträge zu politischen und wirtschaftlichen Themen veröffentlicht. Weitere Interessengebiete sind Wirtschaftsgeschichte, die Philosophie und Geschichte des Liberalismus, neue Medien und Demographie. Er wurde von den Lesern von Freiheit.org zum „Autor der Freiheit 2009“ gewählt. Weitere Buchveröffentlichungen u. a. : Milton Friedman für Jedermann. Der Ökonomische Freiheitskämpfer.

Edward ALDRED

Praktikant & Projektleiter (Brexit) | Open Europe Berlin

Stephen BOOTH

Co-director | Open Europe London

Enrico COLOMBATTO

Professor für Ökonomie | Universität Turin

Ottmar ISSING

Ehem. Chefvolkswirt | EZB & Deutsche Bundesbank

Präsident | Center for Financial Studies, Universität Frankfurt

Peter Graf KIELMANSEGG

Prof. em. | Universität Mannheim

SD Prinz Michael von LIECHTENSTEIN

Direktor | Geopolitical Intelligence Services

John O’DONNELL

Transparency International & freier Journalist

Mats PERSSON

Ehem. Direktor | Open Europe

Hubertus PORSCHEN

Bundesvorsitzender | DIE JUNGEN UNTERNEHMER

Alan POSENER

Autor und Korrespondent für Politik & Gesellschaft | Die Welt Gruppe

Raoul RUPAREL

Co-director | Open Europe London

Frank SCHÄFFLER

Politiker (FDP) | MdB 2005-13

Günter VERHEUGEN

ehem. Vizepräsident der EU-Kommission

INHALT

  1. VORWORT
  2. TIMELINE
  3. GROSSBRITANNIEN & EUROPA
    1. Historischer Hintergrund
      1. Ein Europäisches Commonwealth. Großbritannien und die europäische Integration in der frühen Nachkriegszeit
      2. Großbritannien und die EG: Der lange Weg zum Beitritt 1950-1975
      3. Großbritannien und die EU: Zwischen Binnenmarkt und Maastricht
      4. Die britische Vision von Europa
    2. Wie wahrscheinlich ist der Brexit?
      1. John Major und die Pfundkrise 1992. Was wir daraus über die Wahrscheinlichkeit eines Brexits lernen können.
      2. Die Briten vor dem Referendum: skeptische Pragmatiker
    3. Warum die Briten für die EU und Deutschland wichtig sind
      1. The EU’s real exit danger is the United Kingdom
      2. Brexit: Spinnen die Briten?
      3. Mehr denn je: Deutschland braucht Großbritannien an seiner Seite
      4. Brexit: Observations and Illusions
  4. EU-REFORM DEBATTE
    1. Umfrage: UK-Reformagenda findet bei den Deutschen Unterstützung
    2. Brexit: Der Traum von der europäischen Einheit wäre ausgeträumt
    3. Brexit: Die Chance für Reformen nützen
    4. Osborne fordert eine Deutsch-Britische Partnerschaft zur Reform der EU
    5. David Camerons Brief an Donald Tusk: EU-Reform wird etwas konkreter
    6. Rote Karte: Wie nationale Parlamente mehr Einfluss auf die EU erhalten können
    7. Why Ireland will support David Cameron’s EU reform more than other EU member states
    8. Cameron’s push may help EU break out of migrant welfare bind
    9. Das Open Europe Planspiel zu EU-Reform und Brexit
    10. Bringt der Tusk-Vorschlag eine breite EU-Reform?
    11. Donald Tusk revolutioniert Europa
    12. Camerons Reformvorschläge als Rettungsanker für die EU?
    13. Europa neu denken mit Donald Tusk
    14. Die Verhandlungen mit Großbritannien: Worum es auf dem EU-Gipfel wirklich geht
    15. EU-Reformbeschlüsse: Kein großer Wurf, aber viele Verbesserungen
    16. Choices for Britain and the European Union
    17. Widerstand und Unterstützung: Wer ist für und wer gegen die EU-Reformvorschläge Großbritanniens?
  5. THE CAMPAIGN
    1. A Prediction: Cameron has enough tricks up his sleeve to get what he wants
    2. Fördert die Flüchtlingskrise den Brexit?
    3. Where do the papers stand?
    4. Where do the parties stand?
    5. Getting the timing right – Why sooner was better
    6. A guide to the baffling Brexit Brigade
    7. Who wants out? Ten prominent Brexiteers
    8. The Remainers – Are they actually united?
    9. ix. The Anglosphere – Destiny or fantasy?
  6. KONSEQUENZEN & ALTERNATIVEN
    1. Wie tritt man überhaupt aus der EU aus?
    2. Plan B: Sollte David Cameron einen post-Brexit Alternativplan vorlegen?
    3. Im Falle des Brexit: (1. Teil): Vorbild Norwegen, Schweiz oder Kanada?
    4. Im Falle des Brexit (2. Teil): Eine privilegierte Partnerschaft für Großbritannien?
    5. Mehr Handel nach einem Austritt?
    6. Das kanadische Modell oder etwas ganz anderes?
    7. Wie es nach einem Brexit weitergehen könnte. Eine Analyse von Open Europe. Teil 1: Außenhandel
    8. Wie es nach einem Brexit weitergehen könnte. Eine Analyse von Open Europe. Teil 2: Migration
    9. ix. Wie es nach einem Brexit weitergehen könnte. Eine Analyse von Open Europe. Teil 3: Deregulierung
  7. UNTERSTÜTZEN SIE UNS

VORWORT

Open Europe Berlin hat seit seiner Gründung im Herbst 2012 neben ausführlicheren Forschungsbeiträgen zu EU-relevanten Themen über 500 Blogbeiträge in drei Sprachen veröffentlicht. Seit klar wurde, dass es zu einem EU-Referendum in Großbritannien kommen würde, haben wir verstärkt über Möglichkeiten der EU-Reform und flexibleren Integrationsmodellen nachgedacht. Hierzu kamen dann Beiträge zum Verlauf der Debatte in Großbritannien sowie zu möglichen Folgen eines „Brexit“ auch für Deutschland und die EU. Wir dokumentieren hier eine Auswahl der Beiträge. Besonderen Dank schulden wir den vielen Gastautoren, die ihre jeweiligen Perspektiven eingebracht haben und uns erlauben, auch weiterhin für eine lebendige Debatte zur Zukunft der Europäischen Union zu sorgen.

EDWARD ALDRED, GÉRARD BÖKENKAMP UND MICHAEL WOHLGEMUTH

TIMELINE

2013

January: David Cameron promises a referendum on Britain’s EU membership if his Conservative Party wins a majority in the 2015 General Election

2015

7 May: Conservatives unexpectedly win a majority in General Election

27 May: Queen’s Speech outlining government’s planned legislation includes mention of EU referendum

28 May: Legislation to authorise EU referendum brought to House of Commons by Foreign Secretary Philip Hammond

10 November: David Cameron writes a letter to Donald Tusk outlining his proposals for the UK’s EU renegotiation

7 December: Donald Tusk writes letter to all EU leaders in response to David Cameron’s renegotiation proposals

2016

2 February: Donald Tusk publishes his draft proposal on UK/EU renegotiation

18-19 February: EU leaders’ summit in Brussels

20 February: UK/EU renegotiation deal agreed by European leaders in early hours; David Cameron returns to London to hold Cabinet meeting and emerges to announce that a referendum will be held on 23 June 2016

21 February: Boris Johnson comes out in favour of Brexit

11 April: Government sends a leaflet to every UK household urging them to vote Remain. Cost to taxpayer: £9.3m

13 April: Electoral Commission designates Vote Leave and Britain Stronger in Europe as official Leave and Remain campaigns

15 April: Start of official campaign period

21 April: Barack Obama comes to London to warn the British people that they will go to “the back of the queue” for a US trade deal, if they leave the EU

5 May: Local elections in UK, including London Mayoral election

16 June: Jo Cox MP (Labour/Remain) killed. Campaigning suspended for two days.

23 June: EU Referendum

GROSSBRITANNIEN & EUROPA

1. HISTORISCHER HINTERGRUND

EIN EUROPÄISCHES COMMONWEALTH. GROSSBRITANNIEN UND DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION IN DER FRÜHEN NACHKRIEGSZEIT.

Gérard Bökenkamp | 4 Mai 2015

Die Wahlen in Großbritannien rücken näher und damit auch die Frage nach den europapolitischen Weichenstellungen der neuen Regierung. Angesichts der Möglichkeit des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union lohnt sich der historische Blick zurück, um die Rolle des Vereinigten Königreichs im Prozess der Europäischen Integration besser zu verstehen. In diesem ersten Teil geht es um das enge Verhältnis der Britischen Konservativen zur Europäischen Bewegung in den ersten Nachkriegsjahren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte fand sich Großbritannien und Westeuropa in einer schwierigen Lage. Die sowjetische Armee stand im Herzen des Kontinents, und über die Staaten Osteuropas ging der „Eiserne Vorhang“ nieder. Es war längst noch nicht ausgemacht, dass die USA sich dauerhaft in Europa engagieren würden. In dieser Lage schien darum eine engere Kooperation der westeuropäischen Staaten unumgänglich zu sein, um ein Gegengewicht zum sowjetischen Machtbereich aufzubauen. Das hatte kaum ein europäischer Politiker klarer gesehen als Winston Churchill, der in dieser Zeit sowohl den Begriff des „Eisernen Vorhanges“ als auch der „Vereinigten Staaten von Europa“ prägte. In den ersten Kriegsjahren war Großbritannien der wichtigste Förderer der europäischen Idee in Westeuropa. Die Jahre 1947/48 gelten als Blütezeit der Europabewegung. In Westeuropa schossen Europabewegungen wie „Pilze aus dem Boden“ (Brunn).

Winston Churchill als Gallionsfigur der Europäischen Einigung

Die wichtigste politische Identifikationsfigur für die Europabewegung in dieser Zeit war ohne Zweifel Winston Churchill. Die Identifikation der Europaidee mit Winston Churchill ging so weit, dass das geflügelte Wort aufkam: „Ohne Churchill kein Europa.“ Churchill fungierte mit seinem Wort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht nur als Stichwortgeber, sondern griff aktiv in den organisatorischen Aufbau ein. Churchills Schwiegersohn, Duncan Sandys, leitete die Organisation „United Europe Movement.“ In dieser Bewegung waren schon damals die Ideen angelegt, die die britische Vision von Europa später von der deutschen und französischen unterscheiden sollten. Denn die von Churchill angestoßene Bewegung strebte, anders als der Begriff von den „Vereinigten Staaten von Europa“ heute suggerieren mag, keinen europäischen Bundesstand an, sondern eine möglichst enge Kooperation der europäischen Staaten, die aber ihre Souveränität behalten sollten. Passender ist wohl für die von Großbritannien aus forcierte Vorstellung von der europäischen Einigung der Begriff eines „Europäischen Commonwealth.“

Die Konservativen und die Europäische Bewegung

Die Gründungsveranstaltung des UEM (United European Movement) am 14. Mai 1947 in London fand in der Weltpresse ein großes Echo. Der Bewegung ging es darum, Regierungen und Parlamente im Sinne einer stärkeren Kooperation zu beeinflussen. Sie hatte jedoch mit dem Vorurteil zu kämpfen, eine Organisation der Konservativen Partei in Großbritannien zu sein, weshalb die Labour-Regierung und andere sozialistische Parteien Distanz zur UEM hielten. Es gelang Duncan Sandys jedoch andere Europaorganisationen zur Kooperation zu bewegen und ein gemeinsames Verbindungsbüro einzurichten. Das Büro organisierte eine große Konferenz in Den Haag, an der 719 Delegierte aus Wirtschaft, Politik und Kultur teilnahmen mit Winston Churchill als Ehrenpräsidenten und Hauptredner. Die Konferenz übte nachhaltigen Eindruck auf die europäische Öffentlichkeit aus.

Die Gründung des Europarates

Aus dem Kongress gingen eine gemeinsame Dachorganisation der Europabewegung und konkrete Forderungen an die europäische Regierung hervor. Die wichtigste Forderung war die Schaffung einer „Europäischen Versammlung“ aus Vertretern der nationalen Parlamente. Tatsächlich gelang es, die Regierungen zu Verhandlungen über eine engere Kooperation zu bewegen. Diese Verhandlungen führten zu einem konkreten Ergebnis, der Gründung des Europarates am 5. Mai 1949. Die Bundesrepublik Deutschland trat dem Europarat im Mai 1951 bei. Die Gründung des Europarates war der Höhepunkt und zugleich auch Endpunkt des Einflusses der von Churchill und den britischen Konservativen geförderten Europabewegungen: „Nach der Gründung des Europarates neigte sich die große Zeit der Europabewegung dem Ende zu und die Europapolitik ging in die Routine der Berufsdiplomatie über.“ Etwa zeitgleich übernahmen die Franzosen die Initiative und gaben damit dem Prozess der europäischen Integration eine neue Richtung.

Literatur

Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung, Stuttgart 2009 Andrew Geddes: Britain and the European Union, New York 2013.

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GROSSBRITANNIEN UND DIE EG: DER LANGE WEG ZUM BEITRITT 1950-1975. Gérard Bökenkamp | 5 Mai 2015

Die Wahlen in Großbritannien rücken näher und damit auch die Frage nach den europapolitischen Weichenstellungen der neuen Regierung. Angesichts der Möglichkeit des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union lohnt sich der historische Blick zurück, um die Rolle des Vereinigten Königreichs im Prozess der Europäischen Integration besser zu verstehen. In diesem zweiten Teil des historischen Rückblicks geht es um die lange Phase zwischen der Bekanntgabe des Schumann-Plans im Jahr 1950 und dem ersten Referendum in Großbritannien über die EG-Mitgliedschaft im Jahr 1975.

Im Jahr 1950 übernahm die französische Regierung die Initiative in der Europapolitik, nachdem die französische Deutschlandpolitik in eine Sackgasse geraten war. Mit dem Schumann-Plan kam sie in die Offensive und es gelang ihr, ihre eigene europapolitische Konzeption durchzusetzen, die sich von der britischen wesentlich unterschied: „In den ersten Nachkriegsjahren wurde in allen Europamodellen Großbritannien die Führungsposition zugewiesen, und ein Vereinigtes Europa ohne Großbritannien schien undenkbar. Im Jahre 1950 riss Frankreich die Führungsrolle an sich und stellte Großbritannien vor die Wahl, sich zu französischen Bedingungen zu beteiligen oder fern zu bleiben.“ (Gerhard Brunn) Mit der Montanunion wurde eine supranationale Behörde geschaffen, die nach französischer Vorstellung das Herzstück des europäischen Einigungsprozesses darstellen sollte. Dieser Ansatz war für die britische Regierung unannehmbar.

Die EWG und die EFTA

Als sich Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammen schlossen, fand sich Großbritannien aus der weiteren Entwicklung in Kontinentaleuropa ausgeschlossen und suchte nach alternativen Möglichkeiten der europäischen Kooperation. Im Zentrum der britischen Europakonzeption stand die Schaffung einer Freihandelszone. Als Alternative zur EWG gründete Großbritannien 1960 zusammen mit Dänemark, Norwegen, Österreich, Schweden, Portugal und der Schweiz die Europäische Freihandelszone EFTA. Die EFTA entwickelte jedoch nicht dieselbe Dynamik wie die Wirtschaft der europäischen Kernstaaten. Deshalb bemühte sich Großbritannien und andere EFTA-Staaten schließlich um die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft.

De Gaulles Veto gegen den Beitritt Großbritanniens

Nachdem in Frankreich 1958 Charles de Gaulle die politische Führung übernommen hatte, hatte sich das Verhältnis zum Vereinigten Königreich verschlechtert. De Gaulle wollte Europa als eine dritte Macht zwischen den USA und dem Ostblock positionieren. Eine Aufnahme Großbritanniens mit seinen starken transatlantischen Bindungen schien dieser Konzeption zu wieder zu laufen, weshalb Frankreich die Aufnahme Großbritanniens mit seinem Veto blockierte. Erst unter seinem Nachfolger Georges Pompidou besserte sich das Verhältnis deutlich. Pompidou und der britische Premierminister Edward Heath pflegten ein engeres politisches und persönliches Verhältnis, so dass Frankreich Anfang der siebziger Jahre seinen Widerstand gegen die EG-Mitgliedschaft Großbritanniens aufgab.

Labour und die EG-Mitgliedschaft

Zu dieser Zeit waren vor allem die britischen Konservativen Befürworter des Beitritts zur EG. Für die Konservativen war der EG-Beitritt Teil der Öffnung Großbritanniens und der Modernisierung der britischen Wirtschaft. Margaret Thatcher gehörte damals zu den leidenschaftlichen Befürwortern des Beitritts.

Anders als die Labour-Party, in der es genau aus demselben Grund Vorbehalte gegen die Mitgliedschaft gab. Open Europe weist auf den interessanten Report des Diplomaten Nicholas Spreckley über die Beitrittsverhandlungefn hin.1 Trotz der wohlwollenden Haltung von Deutschen, Niederländern und Dänen gelang es der Labour-Regierung, die im März 1974 die konservative Regierung abgelöst hatte, in den Neuverhandlungen mit der EG nicht, über das Verhandlungsergebnis der konservativen Vorgängerregierung hinaus Erfolge zu erzielen. Am Ende musste ein Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Gemeinschaft entscheiden.

Das erste Referendum in der Geschichte von Großbritannien

Da Labour in der Frage des EG-Beitritts gespalten war, überließ Premierminister Harold Wilson es den Briten selbst, die Entscheidung über die Mitgliedschaft in der EG zu treffen. So kam es am 5. Juni 1975 zum ersten nationalen Referendum der britischen Geschichte. Das Lager der Gegner war gespalten. Zu ihm gehörten so unterschiedliche Politiker wie der rechtskonservative Enoch Powell und Tony Benn vom linken Flügel der Labour-Party. Mit einer Zustimmung von 67 Prozent lag das Lager der Befürworter der EG-Mitgliedschaft am Ende klar vorne. Dass sich in den folgenden Jahrzehnten in Großbritannien eine kritischere Sicht auf die Europäische Union weitgehend durchgesetzt hat, hat viel mit der Entwicklung von EG und EU seit den achtziger Jahren zu tun, mit der wir uns im nächsten Teil dieses historischen Rückblicks beschäftigen wollen.

Literatur

Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung, Stuttgart 2009 Andrew Geddes: Britain and the European Union, New York 2013.

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GROSSBRITANNIEN UND DIE EU: ZWISCHEN BINNENMARKT UND MAASTRICHT. Gérard Bökenkamp | 6 Mai 2015

In diesem dritten und letzten Teil des historischen Rückblicks auf das Verhältnis Großbritanniens zur europäischen Integration geht es um die wichtige Rolle, die Großbritannien für die Vollendung des europäischen Binnenmarktes gespielt hat und die Konkurrenz zweier Europakonzeptionen, die mit dem Maastricht-Vertrag offen zu Tage getreten ist.

Als Margaret Thatcher 1979 Premierministerin wurde, galten die Konservativen als europafreundlichere Partei im Vergleich zu Labour. Auf dem Parteitag der Konservativen 1981 stellte Thatcher die besondere Bedeutung der EG und des gemeinsamen Marktes für Wirtschaft und Beschäftigung in Großbritannien ausdrücklich heraus. Was aber das Verhältnis zur EG belastete, war der Umstand, dass das Vereinigte Königreich mit dem Beitritt nach Deutschland zum zweitgrößten Nettozahler geworden war. Durch die Entwicklung lag es im Bereich des Möglichen, dass Großbritannien trotz eigener, schwerwiegender wirtschaftlicher Probleme zum größten Nettozahler werden könnte, da es anders als Frankreich und Deutschland kaum von den hohen Agrarsubventionen profitierte. Vielen Briten schienen den hohen Zahlungen keine adäquaten Gegenleistungen gegenüber zu stehen. Das Problem beschäftigte die EG bis 1984, als Margaret Thatcher eine Reduktion der britischen Zahlungen erreichte, was bis heute als „Britenrabatt“ bezeichnet wird.

Die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes

Die Lösung dieses Problems gab Großbritannien die Gelegenheit in den folgenden Jahren eine sehr viel konstruktivere Rolle zu spielen. In der Tat kam dem Vereinigten Königreich eine Schlüsselrolle bei der Schaffung des Herzstückes der Europäischen Integration, dem europäischen Binnenmarkt, zu. Für Margaret Thatcher war das das zentrale europapolitische Anliegen. Sie stand damit in einer Tradition der britischen Europapolitik, für die europäische Integrationspolitik immer schon Freihandelspolitik gewesen war. Diese britische Tradition findet sich bereits in Churchills Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“ als Kooperation souveräner Staaten angelegt und führte über die Gründung der EFTA zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes im Rahmen der EU. Jacques Delors, der 1985 Kommissionspräsident geworden war, hatte nach einem Weg gesucht der EG wieder ein gemeinsames Ziel zu geben. Dieses gemeinsame Ziel wurde der europäische Binnenmarkt. An dieser Stelle trafen sich die Interessen der britischen Regierung mit denen des französischen Kommissionspräsidenten. Diese Kooperation war von Erfolg gekrönt, zum 31 Dezember 1992 wurden die meisten Handelshindernissen beseitigt.

Vom Binnenmarkt zum Bundesstaat?

Was Thatcher von Delors aber trennte, war der Umstand, dass für sie der Binnenmarkt das Ziel der Europäischen Integration war. Dagegen war dieser für Delors und andere Europapolitiker auf dem Kontinent nur ein Mittel zum Zweck der Schaffung eines europäischen Bundesstaates. Der Schaffung des Binnenmarktes sollten Schritte zur Zentralisierung und Regulierung des Marktes folgen. In der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren trennten sich also die Pfade. Thatchers Hoffnung, dass mit der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes auch die Einführung eines liberalen Wirtschaftsmodells in der Gemeinschaft verbunden sein würde, erfüllten sich nicht. Sie und andere britische Politiker sahen in der Entwicklung eine Bedrohung für die Rechte der nationalen Parlamente, für die Marktwirtschaft und auch für den internationalen Freihandel durch einen schleichenden Protektionismus.

Der Maastricht-Vertrag und die enttäuschten Erwartungen

Zum Kristallisationspunkt dieses Konflikts wurde die Entscheidung für die Europäische Währungsunion und die Verabschiedung der Sozialcharta. Beides zielte darauf ab, nationale Souveränität zu überwinden und den Weg zum europäischen Bundestaat zu ebnen. Den Briten blieb aufgrund der engen deutsch-französischen Kooperation in dieser Frage wie schon in den fünfziger Jahren nicht mehr als die Opt-out-Option. Die hochfliegenden Hoffnungen, die mit dem Vertrag von Maastricht verbunden waren, haben sich jedoch so nicht erfüllt. Galten die Briten lange als Spielverderber auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat, so lässt die andauernde Eurokrise, das Scheitern der europäischen Wachstumsstrategie, die divergierenden Interessen innerhalb der erweiterten Staatengemeinschaft, das Scheitern einer gemeinsamen Wirtschafts- und Außenpolitik, die wachsende Intransparenz der EU-Institutionen und der schwindende Rückhalt der EU beim Bürger, die in dem wachsenden Anteil euroskeptischer Parteien im Europaparlament zum Ausdruck kommt, die britische Kritik an dieser Entwicklung in einem neuen Licht erscheinen.

Eine alternative Vision

Es ist nicht ausgeschlossen, dass am Ende die Vision von Europa als einer Gemeinschaft eng miteinander kooperierender Nationalstaaten, die durch einen gemeinsamen Markt eng miteinander verbunden sind, die in Churchills „Vereinigten Staaten von Europa“ und der EFTA angedacht war, sich langfristig als das realistischere und gangbarere Modell erweisen wird.

Literatur

Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung, Stuttgart 2009 Andrew Geddes: Britain and the European Union, New York 2013.

http://blog.openeuropeberlin.de/2013/04/erganzungen-zu-margaret-thatcher-und.html

http://blog.openeuropeberlin.de/2013/04/margaret-thatcher-der-euro-die-eu-und.html

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DIE BRITISCHE VISION VON EUROPA. Gérard Bökenkamp | 27 März 2016

Die Briten gelten als Euroskeptiker und das angesetzte Referendum über die Mitgliedschaft in der EU scheint dieser Sichtweise Recht zu geben. Dabei wird übersehen, dass Großbritannien über Jahrzehnte hinweg keine Politik verfolgte, die die europäische Integration ablehnte, sondern ein alternatives Konzept verfolgte. Dieses von allen Premierministern, ob konservativ oder sozialdemokratisch, verfolgte Konzept erscheint heute mehr denn je realistischer als das klassische deutsch-französische Modell eines europäischen Bundesstaates mit starker Zentralgewalt. Anhand der folgenden zentralen Reden und Grundsatzerklärungen von fünf britischen Premierministern lässt sich zeigen, worin dieses britische Konzept von Europa besteht und wie groß die politische Kontinuität ist, mit denen es in den letzten Jahrzehnten verfolgt wurde.

James Callaghans europapolitischen Ziele von 1977

Nach dem ersten Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1975 formulierte der damalige Premierminister der Labour-Partei James Callaghan grundsätzliche Ziele für die britische Europapolitik. Dazu gehörte der Erhalt der Souveränität der nationalen Regierungen und nationalen Parlamente. Eine stärkere demokratische Kontrolle der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Wirtschafts-, industrie- und regionalpolitische Ziele sollten vor allem auf nationaler Ebene erreicht werden. Die gemeinsame Agrarpolitik sollte reformiert werden, was nur bedeuten konnte, dass die Kosten für die Agrarpolitik zurückgeführt werden sollten. Darüber hinaus sollte im Einklang mit den nationalen Interessen eine europäische Energiepolitik formuliert werden. Großbritannien setzte sich außerdem für die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft und die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten ein. (Melcher, S. 101)

Thatchers Brügge-Rede von 1988

Am 20. September 1988 legte Margaret Thatcher die Grundprinzipien ihrer Europapolitik in einer Rede im belgischen Brügge dar.2 Der beste Weg eine erfolgreiche europäische Gemeinschaft zu schaffen sei die aktive Kooperation unabhängiger souveräner Staaten. Der Versuch den Nationalstaat abzuschaffen und die Macht in Europa zu zentralisieren, würde die gemeinsamen Ziele gefährden. Statt Zukunftsvisionen forderte sie praktische Lösungen für die Probleme der Gegenwart. Die Politik der Gemeinschaft müsse marktwirtschaftlich ausgestaltet sein und freies Unternehmertum fördern. Das sei auch die Rechtfertigung für den europäischen Binnenmarkt, um die Lage des Verbrauchers zu verbessern und den Einfluss des Staates zu reduzieren. Europa dürfe nicht protektionistisch werden. Größere Bewegungsfreiheit im inneren dürfe nicht zu größerer wirtschaftlicher Abschottung nach außen führen. In der Sicherheitspolitik sah sie nach wie vor die NATO als die wichtigste Säule der Verteidigung an, die durch eine europäische Vereidigungspolitik ergänzt und unterstützt, aber keinesfalls ersetzt werden könnte.

John Majors europapolitische Grundsätze von 1993

In Anlehnung an die Rede Margaret Thatchers entwickelte John Major seine Grundsätze für die Europapolitik in einem Beitrag für den Economist am Ende des Jahres 1993. Die zentrale Aussage des Beitrags war, dass auch weiterhin die Nationalstaaten im Zentrum des Integrationsprozesses stünden. Es sei an den Nationen Europa zu bauen und nicht an Europa zu versuchen die Nationalstaaten zu ersetzen. Da die Europäische Union eine Gemeinschaft von Nationalstaaten sei, erhielt sie ihre demokratische Legitimation durch die Zustimmung der nationalen Parlamente. Die demokratisch gewählten nationalen Parlamente übertrügen ihre Legitimität auf den Europäischen Rat. Er forderte außerdem einen „realistischen“ Ansatz und mehr „Flexibilität“. Ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten dürfe nicht so verstanden werden, dass die Staaten, die bestimmte Integrationsschritte unternehmen, gegenüber den anderen privilegiert werden sollten. (Melcher, S. 132)

Tony Blairs Warschauer Rede von 2003

In seiner Warschauer Rede vom 30. Mai 2003 sprach sich Tony Blair für einen europäischen Staatenbund, „ a union of nations“, und gegen einen europäischen „Super-Staat“ aus.3 Die Verteidigungspolitik und die Entscheidung über Krieg und Frieden werde weiter in der Zuständigkeit der nationalen Regierungen bleiben, ebenso die Steuerpolitik. Die Wirtschaftspolitik werde in Absprache zwischen den nationalen Regierungen koordiniert. Blair betonte, dass in der EU alle Staaten, ob klein oder groß oder alt und neu, gleich behandelt würden. Das war als eine Stellungnahme gegen ein Kerneuropa und ein Europa zweier Geschwindigkeiten zu verstehen und dafür, die neuen Staaten von Anfang an als gleichberechtigte Partner in alle Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Blair sprach sich außerdem für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, für die Liberalisierung des Energie- und Telekommunikationssektors und den Ausbau des Binnenmarktes aus. Die europäische Sicherheitspolitik sollte in die NATO und das transatlantische Bündnis eingebettet sein.

David Camerons Grundsatzrede von 2013

Am 23. Januar 2013 stellte David Cameron fünf Prinzipien seiner Europapolitik vor. Cameron forderte die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch die Vollendung des Binnenmarktes in den Bereichen Dienstleistung, Energie und digitaler Raum. Das zweite Prinzip war das der „Flexibilität“. Das bedeutet, dass es jedem EU-Staat freistehen sollte, an weiteren Integrationsschritten teilzunehmen oder nicht, ohne deshalb Benachteiligungen zu erfahren. Als drittes Prinzip stellte Cameron die Forderung auf, wieder mehr Kompetenzen auf die nationale Ebene zu verlagern. Das war verbunden mit der Forderung die Souveränität der nationalen Parlamente zu stärken. Dabei sollte aber die Integrität des Binnenmarktes unbedingt erhalten werden. (Melcher, S. 349 f.)

Die Britische Idee von Europa

Ohne große Schwierigkeiten lässt sich aus diesen Reden und Grundsatzerklärungen von konservativen und Labour-Premierministern von den ersten Jahren nach dem Beitritt bis zur Gegenwart eine gemeinsame Linie erkennen. Diese lässt die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Regierungsparteien größer erscheinen als die Unterschiede. Die Quintessenz dieser Prinzipien und Vorschläge lässt sich als die britische Idee von Europa beschreiben. Diese zielt auf einen Staatenbund, in dem die Nationalstaaten als wichtigste politische Einheit erhalten bleiben, aber eng miteinander kooperieren. Die nationalen Parlamente bleiben die Basis der demokratischen Legitimation und Kontrolle. Im Zentrum steht der Binnenmarkt, der nicht nur unbedingt erhalten, sondern in vielen Bereichen wie Dienstleistung, Energie und Digitales noch weiter ausgebaut werden soll.

Die innere und die äußere Form

Die britische Europakonzeption gab der Erweiterung grundsätzlich den Vorzug vor der Vertiefung. Grundsätzlich galt das Prinzip größer und lockerer statt kleiner und enger.4 Die größere Union sollte sich auch nicht um ein Kerneuropa gliedern, sondern alle Staaten sollten gleichberechtigt bleiben. Das schließt aber keineswegs aus, dass einige Staaten in bestimmten Bereichen enger kooperieren als andere. Die britische Idee von Europa lehnt einen europäischen Protektionismus ab und bevorzugt den Freihandel. Die Europäische Union erscheint daher nicht als klar abgegrenzter Raum, sondern als ein System sich überschneidender Kreise. Dem entspricht auch die britische Vorstellung einer europäischen Außen- und Verteidigungspolitik. Innerhalb der EU bleiben die Nationalstaaten souverän und entscheiden selbstständig über den Einsatz ihrer Streitkräfte. Gleichzeitig soll die Kooperation jedoch zwischen den europäischen Staaten in sicherheitspolitischen Fragen intensiviert werden. Das allerdings nicht als Gegengewicht, sondern als Ergänzung und Stärkung der NATO und im Rahmen des transatlantischen Bündnisses.

Kooperative Souveränität

Diese Herangehensweise könnte vielleicht am besten als das Konzept kooperativer Souveränität bezeichnet werden. Das im Gegensatz zur konfrontativen Souveränität, die für das Staatensystem Europa im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend war. Es geht nach wie vor um die Suche nach einem angemessenen politischen Rahmen für den europäischen Kontinent. Die Konfrontation zwischen den Nationalstaaten hat im 20. Jahrhundert in die Katastrophe geführt. Der europäische Bundesstaat hingegen erscheint als ein zu enges und der Vielgestaltigkeit Europas unangemessenes Korsett, in das sich die europäischen Staaten nicht hineinzwängen lassen und auch nicht hineingezwängt werden sollten. Die britische Konzeption eines nach innen und außen flexiblen

Staatenbundes erscheint demgegenüber realistischer und angemessener als die Idee vom europäischen Bundesstaat.

Literatur

Michael Melcher: Awkwardness and Reliability. Die britische Europapolitik von 1997 bis 2013, Marburg 2014.

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2. WIE WAHRSCHEINLICH IST DER BREXIT?

JOHN MAJOR UND DIE PFUNDKRISE 1992. WAS WIR DARAUS ÜBER DIE WAHRSCHEINLICHKEIT EINES BREXIT LERNEN KÖNNEN. Gérard Bökenkamp | 4 März 2016