Frans de Waal

Mamas letzte
Umarmung

Die Emotionen der Tiere
und was sie über uns
AUSSAGEN

Aus dem Englisch von
Cathrine Hornung

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Mama’s Last Hug: Animal Emotions and What They Tell Us about Ourselves«
bei W. W. Norton & Company,
New York, London

© 2019 by Frans de Waal

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Lektorat: Ulf Müller, Köln

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von © Frans de Waal

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN: 978-3-608-96464-6

E-Book: ISBN 978-3-608-12025-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Zweite Auflage, 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Catherine

She lights my fire

Einführung

Verhalten(1) zu beobachten liegt mir im Blut, und zwar so sehr, dass ich es manchmal damit übertreibe. Das wurde mir klar, als ich eines Tages – ich war ungefähr zwölf – nach Hause kam und meiner Mutter berichtete, was ich im Stadtbus gesehen hatte. Ein Junge und ein Mädchen hatten herumgeknutscht, wie Teenager es eben tun, die geöffneten Lippen fest aufeinandergepresst. An sich nichts Ungewöhnliches (außer, dass ich noch nichts damit anfangen konnte), aber als die beiden voneinander abließen, fiel mir auf, dass das Mädchen jetzt Kaugummi kaute, und vor dem Kuss hatte ich nur den Jungen kauen gesehen. Ich war verblüfft, doch dann verstand ich: Es war wie mit dem physikalischen Prinzip der kommunizierenden Röhren. Meine Mutter war allerdings nicht begeistert von der Geschichte. Mit ernster Miene ermahnte sie mich, ich solle anderen Leuten nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, das gehöre sich nicht.

Ich habe das Beobachten zu meinem Beruf gemacht. Allerdings achte ich nicht darauf, welche Farbe ein Kleid hat oder ob jemand ein Haarteil trägt oder nicht. So etwas interessiert mich nicht im Geringsten. Worum es mir geht, sind emotionale(1) Ausdrucksweisen, Körpersprache und soziale Dynamiken. Die sind bei Menschen(1) und anderen Primaten(1) so ähnlich, dass es keinen Unterschied macht, welche der beiden Spezies ich ins Visier nehme, wenngleich meine Arbeit hauptsächlich letztere betrifft. Als Student konnte ich vom Schreibtisch aus eine Schimpansenkolonie im Zoo beobachten, und als Wissenschaftler am Yerkes Primate Center(1) in der Nähe von Atlanta im US-Bundesstaat Georgia habe ich seit 25 Jahren einen ähnlichen Ausblick. Meine Schimpansen leben im Außengehege einer Forschungsstation, und manchmal geraten sie so lautstark aneinander, dass wir zum Fenster stürzen, um das Spektakel zu verfolgen. Die meisten Menschen würden darin lediglich ein chaotisches Durcheinander von zwanzig haarigen Tieren sehen, die mit wildem Gebrüll(1) herumtoben, doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine überaus geordnete Gesellschaft. Meine Mitarbeiter und ich erkennen jeden der Menschenaffen an seinem Gesicht oder sogar an seiner Stimme, und wir wissen, was vor sich geht. Ohne die Fähigkeit, Verhaltensmuster auszumachen, wäre jede Beobachtung ungenau und zufällig, so, als würde man einer Sportveranstaltung beiwohnen, ohne den Sport selbst je betrieben zu haben oder etwas davon zu verstehen. Eigentlich erkennt man überhaupt nichts. Das ist auch der Grund, weshalb ich amerikanische Fernsehübertragungen von internationalen Fußballturnieren nicht ausstehen kann: Die meisten Kommentatoren sind erst spät zu dieser Sportart gekommen und verstehen deren grundlegende Strategien nicht. Sie haben nur Augen für den Ball, und in den entscheidenden Momenten plappern sie einfach drauflos. Das passiert, wenn man keine Muster erkennt.

Hinter die Kulissen zu blicken ist entscheidend. Wenn zum Beispiel ein Schimpansenmann(1)1 einen anderen einschüchtern will, indem er Steine nach ihm wirft oder hinter ihm herjagt, muss man den Blick von den beiden abwenden und schauen, was in ihrem Umfeld geschieht, denn dort entscheidet(1) sich, wie es weitergeht. Ich nenne das die »holistische Beobachtung«, die Notwendigkeit, den größeren Zusammenhang zu betrachten. Dass der beste Kumpel des bedrängten Schimpansen in einer Ecke schläft, heißt noch lange nicht, dass man ihn ignorieren kann, denn sobald er aufwacht und sich dem Schauplatz nähert, verändert das die Lage. Die ganze Kolonie weiß das. Eine Schimpansenfrau(1) stößt einen lauten Schrei aus, um anzukündigen, dass gleich etwas passieren wird, während die Mütter ihren Nachwuchs an sich pressen.

Wenn sich männliche Schimpansen(2) nach einer Auseinandersetzung wieder versöhnen(1), pflegen sie oft das Fell(1) am Hinterteil ihres Rivalen(1), was bei gleichzeitiger Verrichtung dazu führen kann, dass sie eine akrobatische 69er-Stellung einnehmen.

Hinterher, wenn sich die Wogen geglättet haben, ist es ratsam, die Hauptakteure weiter im Auge zu behalten. Sie sind nämlich noch nicht fertig. Eine der ersten Versöhnungsszenen(2), die ich je beobachtet habe (inzwischen sind es Tausende), überraschte mich zutiefst. Im Anschluss an eine Auseinandersetzung gingen zwei männliche(3) Rivalen hoch aufgerichtet aufeinander zu, die Haare aufgestellt, wodurch sie doppelt so groß wirkten wie sonst. Sie hielten Blickkontakt und schauten so bedrohlich drein, dass ich ein Wiederaufleben der Feindseligkeiten befürchtete. Doch als sie nahe beieinander waren, drehte einer der beiden dem anderen plötzlich den Rücken zu. Der reagierte, indem er anfing, bei seinem Widersacher im Bereich des Anus Fellpflege(2) zu betreiben. Dabei schmatzte er laut und klapperte mit den Zähnen, um deutlich zu machen, mit welcher Beflissenheit er dieser Aufgabe nachkam. Der andere Schimpansenmann(4) wollte es ihm gleichtun – und am Ende nahmen sie eine akrobatische 69er-Stellung ein, die es ihnen gestattete, einander gleichzeitig das Hinterteil zu pflegen. Bald darauf entspannten sie sich, drehten sich um und begannen, sich gegenseitig im Gesicht zu striegeln. Der Friede war wiederhergestellt.

Dass die beiden zunächst ausgerechnet am Anus Fellpflege(3) betrieben, mag merkwürdig erscheinen, aber denken Sie nur daran, dass es in zahlreichen Sprachen Ausdrücke wie »Arschkriechen« oder »Schleimscheißen« gibt, und das kommt nicht von ungefähr. Wir haben »Schiss« oder »scheißen uns in die Hosen«, wenn wir Angst haben, und das ist – abgesehen von den Hosen – auch bei Schimpansen(1) der Fall. Körperausgänge liefern also wichtige Informationen. Es kommt vor, dass ein Schimpansenmann(5) noch lange nach einer Auseinandersetzung genau zu der Stelle zurückkehrt, wo sein Rivale(2) gesessen hat, und sie beschnüffelt. Der Sehsinn ist bei Schimpansen(2) ähnlich dominant wie bei uns Menschen(2), aber der Geruchssinn ist nach wie vor von großer Bedeutung, und zwar nicht nur bei Schimpansen: Aufnahmen mit versteckter Kamera haben gezeigt, dass Menschen, nachdem sie anderen die Hand geschüttelt haben, an ihrer Hand riechen, vor allem, wenn sie Kontakt zu einer Person gleichen Geschlechts hatten. Instinktiv(1) halten wir unsere Hand nahe ans Gesicht, um die chemische Duftmarke wahrzunehmen(1), die Aufschluss über die Verfassung des anderen gibt. Das geschieht unbewusst, aber dieses Verhalten(2) ähnelt dem anderer Primaten(2). Und doch betrachten wir uns gern als rationale Akteure, die genau wissen, was sie tun, während wir andere Spezies als Automaten hinstellen. So einfach ist es aber beileibe nicht.

Wir sind laufend in Verbindung mit unseren Gefühlen, aber das Knifflige daran ist: Emotionen(1) und Gefühle(1) sind nicht dasselbe. Wir schmeißen sie gern in einen Topf, aber Gefühle(1) sind subjektive innere Zustände, die im Grunde nur denen bekannt sind, die sie empfinden. Ich kenne meine eigenen Gefühle(2). Ihre kenne ich nicht, es sei denn, Sie erzählen mir davon. Gefühle werden durch Sprache kommuniziert(1). Emotionen(1) sind dagegen körperliche und mentale, das Verhalten steuernde Zustände – von Wut(1) und Angst(1) über sexuelles Verlangen und Zuneigung bis hin zu dem Bestreben, die Oberhand über unsere Rivalen(3) zu gewinnen. Sie werden durch bestimmte Reize ausgelöst und gehen mit Verhaltensänderungen einher. Emotionen(2) lassen sich an der Mimik ablesen, aber auch an der Hautfarbe, der Stimme, der Gestik(1), dem Geruch und so weiter. Erst wenn man sich dieser Veränderungen gewahr(2) wird, werden daraus bewusst wahrgenommene(3) Gefühle. Unsere Emotionen(2) zeigen wir also, über unsere Gefühle(2) sprechen wir.

Nehmen wir die Versöhnung(3). Wenn zwei Widersacher nach einer Auseinandersetzung Frieden schließen, ist das eine messbare emotionale(3) Interaktion. Die Empfindungen(1), die damit einhergehen – Reue(1), Vergebung(1), Erleichterung – lassen sich allerdings erst im Nachhinein verifizieren. Wir vermuten, dass der andere dasselbe empfindet(2), können aber nicht sicher sein, nicht einmal, wenn er unserer eigenen Spezies angehört.

Zum Beispiel kann jeder behaupten, er habe dem anderen verziehen – aber können wir dieser Aussage wirklich trauen? Nur allzu oft wird eine Kränkung allen Beteuerungen zum Trotz bei erstbester Gelegenheit wieder aufs Tapet gebracht. Oft wissen Menschen gar nicht genau, was in ihnen und anderen vorgeht, und sie neigen dazu, sich und ihrer Umgebung etwas vorzumachen. Wir sind Meister der gespielten Fröhlichkeit, der unterdrückten Angst(2) und der geheuchelten Zuneigung. Daher bin ich froh, mit nichtsprachlichen Wesen zu arbeiten. Zwar muss ich raten, was sie empfinden(3), aber wenigstens können sie mich nicht durch das, was sie über sich selbst erzählen, an der Nase herumführen.

Die Ergründung der menschlichen Psyche(1) stützt sich hauptsächlich auf Fragenkataloge, die selbstberichtete Gefühle(3) stärker gewichten als tatsächliches Verhalten(3). Ich ziehe das Gegenteil vor. Was wir brauchen, sind mehr Beobachtungen von sozialen Interaktionen. Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels erläutern. Als junger Wissenschaftler nahm ich an einem großen Kongress in Italien teil, bei dem ich einen Vortrag darüber halten sollte, wie Primaten(3) Konflikte(1) lösen(1). Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass die menschlichen Teilnehmer ein perfektes Anschauungsbeispiel lieferten. Ein bestimmter Wissenschaftler spielte sich in einer Weise auf, wie ich es noch nie erlebt hatte. Vermutlich lag das daran, dass er berühmt und noch dazu ein englischer Muttersprachler war. Bei internationalen Tagungen halten Amerikaner(1) und Briten das große Privileg, sich in ihrer eigenen Sprache(1) verständigen zu können, oft für geistige Überlegenheit. Und da es kaum jemand wagt, ihnen in gebrochenem Englisch zu widersprechen, werden sie selten eines Besseren belehrt.

Es gab eine ganze Reihe von Vorträgen, und nach jedem erhob sich der berühmte Wissenschaftler von seinem Platz in der ersten Reihe, um uns das, was wir soeben gehört hatten, zu erläutern. Anstatt im Publikum sitzen zu bleiben, stieg er auf das Podium und nahm den Referenten das Mikro ab. Kaum war der Applaus für den Kollegen verebbt, gab er auch schon seine Sicht der Dinge zum Besten. Das Ganze war schrecklich angeberisch und die Zuhörer wurden allmählich ungehalten. Die meisten von ihnen hatten Kopfhörer auf und lauschten der Übersetzung, und vielleicht trug die zeitlich verzögerte Übertragung ja dazu bei, dass sie das Verhalten(4) des Wissenschaftlers durchschauten, so, wie man die Körpersprache(1) der Teilnehmer einer Fernsehdebatte besser deuten kann, wenn man den Ton abdreht. Auf jeden Fall entging den Anwesenden nicht, wie dreist und respektlos(1) sich der Wissenschaftler gegenüber den Referenten verhielt.

Im Anschluss an den Beitrag einer italienischen Kollegin trat der Wichtigtuer erneut vor und sagte wortwörtlich: »Was sie eigentlich sagen wollte, ist …« Heute würden wir das als Mansplaining – die herablassende Belehrung einer Frau durch einen Mann – bezeichnen. Ich weiß nicht mehr, um welches Thema es ging, aber die Referentin machte ein empörtes Gesicht und das Publikum begann mit dreißig Sekunden Verzögerung, den Wissenschaftler auszubuhen und auszupfeifen. Der blickte überrascht drein, was zeigte, wie falsch er die Reaktion des Publikums auf seine Mätzchen eingeschätzt hatte. Bis dahin hatte er geglaubt, seine Machtergreifung(1) laufe wie geschmiert. Er wirkte konsterniert, sogar etwas verlegen, und verließ hastig die Bühne.

Ich beobachtete die beiden Akteure, wie sie im Publikum Platz nahmen. Binnen 15 Minuten näherte sich der Wissenschaftler der italienischen Referentin und bot ihr seine Kopfhörer an, da sie keine hatte. Sie nahm höflich an (vielleicht hätte sie gar keinen Übersetzerdienst gebraucht), was als implizite Versöhnung gewertet werden kann. Implizit, weil der vorangegangene Konflikt offenbar nicht thematisiert wurde. Nach Auseinandersetzungen senden Menschen(1) häufig versöhnliche(4) Signale (ein Lächeln(1), ein Kompliment) und lassen das Ganze auf sich beruhen. Ich konnte nicht hören, was die beiden sagten, aber später erzählte man mir, der Wissenschaftler sei im Anschluss an die Vorträge noch ein weiteres Mal auf die Referentin zugegangen und habe zu ihr gesagt: »Ich habe mich wirklich zum Narren gemacht.« Diese bemerkenswerte Selbsterkenntnis kam einer expliziten Versöhnung(5) schon recht nahe.

Obwohl es keine Seltenheit ist, dass Menschen(2) Frieden schließen, verfolgte ich die Szene fasziniert. Die Rückmeldungen auf meinen eigenen Vortrag waren sehr gemischt. Ich stand noch am Anfang meiner Laufbahn, und die Wissenschaft war noch nicht bereit, ein derart komplexes Verhalten(5) wie die Versöhnung(6) auch anderen Spezies zuzutrauen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand meine Beobachtungen als solche in Zweifel zog – schließlich hatte ich zahlreiche Daten und Fotografien mitgebracht, um meine These zu untermauern; aber die Konferenzteilnehmer konnten einfach nichts damit anfangen. Damals befassten sich Theorien zu Konflikten bei Tieren allein mit Sieg und Niederlage. Gewinnen war gut, verlieren war schlecht, und alles drehte sich darum, wer die Ressourcen bekam. In den 1970er-Jahren herrschte eine Hobbes(1)’sche Vorstellung von Tieren: Sie waren brutal, kompetitiv und egoistisch(1), aber unter keinen Umständen aufrichtig freundlich. Dass ich die Versöhnung(7) in den Mittelpunkt stellte, ergab keinen Sinn. Es klang gefühlsduselig, was Wissenschaftler nicht schätzen. Ein paar Kollegen erklärten mir altväterlich, ich hätte mich von einer romantischen Vorstellung leiten lassen, die in der Wissenschaft nichts verloren habe. Ich war noch sehr jung, und die älteren Kollegen belehrten mich, dass es in der Natur nur ums Überleben(1) und um Fortpflanzung gehe und dass ein Organismus mit Versöhnung(8) nicht weit kommen würde. Kompromisse seien etwas für Schwächlinge. Selbst wenn Schimpansen(3) zufällig ein solches Verhalten(6) zeigten, könne man nicht davon ausgehen, dass sie es aus einer Notwendigkeit heraus tun. Und das gelte auch für andere Spezies. Was ich da erforschte, sei ein Zufall, meinten sie.

Mehrere Jahrzehnte und Hunderte von Studien später wissen wir, dass Versöhnung(9) durchaus üblich und weit verbreitet ist. Sie kommt bei allen sozialen Säugetieren(1) vor, von Ratten und Delphinen(1) bis hin zu Wölfen(1) und Elefanten(1), und sogar bei Vögeln. Das Verhalten(7) dient dazu, Beziehungen zu kitten, und es ist so selbstverständlich, dass wir erstaunt wären, ein soziales Säugetier zu entdecken, das sich nach einer Auseinandersetzung nicht mit seinem Widersacher versöhnt(10). Wir würden uns fragen, wie diese Tiere ihre Gesellschaft zusammenhalten. Damals wusste ich das noch nicht und hörte mir höflich die ungebetenen Ratschläge an. An meiner Meinung änderte das aber nichts, denn für mich ist die Beobachtung über jede Theorie erhaben. Was Tiere im wirklichen Leben tun, ist immer wichtiger als vorgefertigte Meinungen darüber, wie sie sich verhalten sollten. Der geborene Beobachter kommt nicht umhin, einen induktiven wissenschaftlichen Ansatz zu wählen.

Wenn man – wie Charles Darwin(1) in seiner berühmten Schrift Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen(1) und den Tieren(1) (1872) – beobachtet, dass andere Primaten(4) in emotionalen(4) Situationen ebenfalls menschliche(2) Gesichtsausdrücke(1) annehmen, liegt der Gedanke nahe, dass auch ihr Innenleben Ähnlichkeiten aufweist. Sie entblößen die Zähne beim Grinsen(1)(1), geben glucksende Laute von sich, wenn man sie kitzelt, und schieben die Unterlippe vor, wenn sie schmollen. Diese mimischen(2) Übereinstimmungen(3) bilden den Ausgangspunkt für die Theorien. Ganz gleich, ob man Tiere als emotionale(5) Wesen betrachtet oder nicht: Man muss einen theoretischen Rahmen vorlegen, der erklärt, warum Menschen und andere Primaten ihre Reaktionen und Absichten über dieselben Gesichtsmuskeln kommunizieren(2). Darwin(2) hat das getan und ist dabei intuitiv von einer emotionalen(6) Kontinuität zwischen Menschen(1) und anderen Spezies ausgegangen.

Dennoch besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen einem Verhalten(8), das Emotionen(7) ausdrückt, und der Art und Weise, wie Tiere(1) (bewusst oder unbewusst) diesen Zustand erleben. Wer behauptet, zu wissen, was Tiere empfinden(4), hat die Wissenschaft nicht auf seiner Seite. Es bleibt eine Vermutung. Das muss nichts Schlechtes sein, und ich bin voll und ganz dafür, anzunehmen, dass Spezies, die eng mit uns verwandt sind, auch ähnliche Gefühle(4) haben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns dabei auf unsicheres Terrain begeben. Selbst wenn ich die Umarmung zwischen einer alten Schimpansin(2) und einem alten Professor wenige Tage vor ihrem Tod(1) beschreibe, können die damit einhergehenden Empfindungen(5) nicht Teil der Beschreibung sein. Sie werden lediglich durch das vertraute(1) Verhalten(9) und den besonderen Kontext nahegelegt, sind aber letztlich nicht greifbar. Diese Unsicherheit macht seit jeher allen zu schaffen, die Emotionen erforschen, und sie ist der Grund, weshalb das Fachgebiet häufig als undurchsichtig und problematisch betrachtet wird.

Die Wissenschaft mag keine Ungenauigkeit, weswegen sie oft von der Meinung der Allgemeinheit abweicht, wenn es um Emotionen(8) bei Tieren(1) geht. Wenn Sie jemanden auf der Straße fragen, ob Tiere Emotionen haben, lautet die Antwort fast immer: »Na klar!«. Schließlich haben die Hunde(1) und Katzen(1), die wir als Haustiere halten, alle möglichen Emotionen, und warum sollten wir nicht auch anderen Tieren Emotionen zugestehen? Wenn Sie aber die gleiche Frage Universitätsprofessoren stellen, kratzen sie sich am Kopf oder machen ein verdutztes Gesicht und bitten Sie, die Frage zu präzisieren. Wie definiert man Emotionen überhaupt? Manche orientieren sich an B. F. Skinner(1), dem amerikanischen Behavioristen, der eine mechanistische Auffassung von Tieren vertrat und Emotionen keinen großen Stellenwert einräumte: Es handele sich lediglich um »hervorragende Beispiele für die fiktiven Ursachen, denen wir gewöhnlich Verhalten(10) zuschreiben«.[1] Zwar würde heute kaum ein Wissenschaftler mehr unverblümt behaupten, Tiere hätten keine Emotionen(9), aber vielen ist es nach wie vor unangenehm, darüber zu sprechen.

Wer sich jetzt im Namen der Tiere echauffiert, weil noch immer Zweifel an ihrem Gefühlsleben(5) bestehen, sollte bedenken, dass wir ohne die sorgfältige Prüfung durch die Wissenschaft immer noch glauben würden, die Erde sei eine Scheibe. Die Wissenschaft ist dann am besten, wenn sie vorgefasste Meinungen hinterfragt. Und obwohl ich nicht zu denen gehöre, die Emotionen(10) bei Tieren skeptisch betrachten, ist mir auch klar, dass man nicht einfach nur behaupten kann, Tiere(2) hätten Emotionen. Das brächte uns ebenso wenig weiter wie die Feststellung, dass der Himmel blau ist. Wir müssen mehr darüber wissen. Um welche Art von Emotionen(11) geht es? Wie werden sie empfunden? Wozu dienen sie? Ist die Angst(3), die ein Fisch(1) möglicherweise empfindet(6), die gleiche wie die eines Pferdes? Eindrücke genügen nicht, um solche Fragen zu beantworten. Denken Sie nur daran, wie wir das Innenleben unserer eigenen Spezies erforschen. Menschliche Probanden werden in einen Raum geführt, wo sie Videos anschauen oder Spiele spielen und dabei an Apparate angeschlossen sind, die ihre Herzfrequenz, ihren Hautwiderstand oder die Muskelkontraktionen in ihrem Gesicht messen. Sogar ihre Gehirne(1) werden gescannt. Mit derselben Gründlichkeit müssen wir auch bei anderen Spezies vorgehen.

Ich liebe es, wilde Primaten(5) zu beobachten, und im Laufe der Jahre habe ich zahlreiche Feldstationen rund um den Globus besucht, aber den Erkenntnissen, die wir aus diesen Beobachtungen gewinnen können, sind Grenzen gesetzt. Einer der emotionalsten(12) Momente, die ich erlebt habe, war, als wilde Schimpansen(4) hoch über mir plötzlich in ein markerschütterndes Gebrüll(2) ausbrachen. Schimpansen gehören zu den lautesten Tieren der Erde, und mir stockte der Atem, weil ich nicht wusste, wem der Rummel galt. Wie sich herausstellte, hatten sie einen Affen(1) erbeutet, und sie machten keinen Hehl daraus, wie sehr sie sein Fleisch schätzten. Während ich zusah, wie sich zahlreiche Tiere um den Schimpansenmann(6) scharten, der im Besitz des Kadavers war, fragte ich mich, ob er den anderen davon abgab, weil er selbst mehr als genug zu essen hatte und es ihm nicht schadete, die Beute zu teilen. Oder wollte er die Bettler loswerden, die winselten und nach jedem Bissen gierten, den er sich in den Mund schob? Oder teilte er die Beute aus Altruismus, weil er wusste, wie versessen die anderen auf das Fleisch waren? Allein durch Beobachtung lässt sich diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten. Dazu müssten wir den Hungerstatus des Beutebesitzers verändern oder den anderen Schimpansen das Betteln erschweren. Wäre der Schimpansenmann(7) dann immer noch so großzügig? Nur kontrollierte Experimente gestatten uns, die Beweggründe hinter einem Verhalten(11) zu verstehen.

Besonders gut funktioniert das bei Intelligenzstudien. Dass wir überhaupt von einem Innenleben der Tiere(3) zu sprechen wagen, verdanken wir Experimenten zu symbolischer Kommunikation(3), Selbsterkennung(1) im Spiegel, Werkzeuggebrauch, Vorausschau oder der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Im Laufe eines Jahrhunderts haben diese Studien große zugige Löcher in die Mauer geschlagen, die den Menschen(4) angeblich vom Rest des Tierreichs trennt. Es ist anzunehmen, dass dies auch bei den Emotionen(13) der Fall sein wird, aber nur, wenn wir systematisch vorgehen. Am besten wäre es, wenn wir Ergebnisse sowohl aus dem Labor als auch aus der freien Wildbahn heranziehen würden, um sie – wie verschiedene Teile desselben Puzzles – zusammenzufügen.

Emotionen(14) mögen schwer greifbar sein, aber sie sind auch mit Abstand der auffallendste Aspekt unseres Lebens. Sie sind es, die allem Bedeutung verleihen. Bei Experimenten können sich Menschen emotional(15) aufgeladene Bilder und Geschichten viel besser merken als neutrale. Außerdem beschreiben wir fast alles, was wir erleben, mit emotionalen(16) Begriffen. Eine Hochzeit ist romantisch oder feierlich, eine Beisetzung traurig oder aufwühlend, und ein Fußballspiel macht Spaß oder enttäuscht, je nachdem, wie es ausgeht.

Diese Neigung haben wir auch im Bezug auf Tiere. Das Video von einem wilden Kapuzineraffen(1), der mit einem Stein Nüsse knackt, wird im Internet viel seltener aufgerufen als das einer Büffelherde, die eine Gruppe von Löwen(1) daran hindert, ein Kalb zu reißen. Gebannt verfolgen wir, wie die Huftiere die Raubkatzen auf ihre Hörner nehmen, während sich das Kalb aus ihren Klauen befreit. Beide Videos sind beeindruckend, aber nur das mit den Büffeln geht uns zu Herzen. Wir identifizieren uns mit dem Kälbchen, hören es blöken und sind erleichtert, wenn es wieder mit der Mutter vereint ist. Dabei sehen wir geflissentlich darüber hinweg, dass die Geschichte für die Löwen kein glückliches Ende nimmt.

Auch das gehört zu Emotionen(17): Sie bringen uns dazu, Partei zu ergreifen. Sie interessieren uns nicht nur brennend, auch unsere Gesellschaften sind in hohem Maße durch Emotionen strukturiert, obschon wir das kaum zur Kenntnis nehmen. Weshalb sollten unsere Politiker(1) nach hohen Ämtern streben, wenn nicht wegen des Machthungers(2), der allen Primaten(6) eigen ist? Weshalb sorgen wir uns um unsere Familie, wenn nicht wegen der emotionalen(18) Bindung(1) zwischen Eltern und ihrem Nachwuchs? Und warum sollten wir Kinderarbeit oder Sklaverei abschaffen wollen, wenn nicht wegen des menschlichen(1) Anstands, der auf sozialer Verbundenheit und Empathie beruht? Um seiner Abneigung gegen die Sklaverei Nachdruck zu verleihen, beschrieb Abraham Lincoln(1), wie er auf seinen Reisen durch die Südstaaten Sklaven in Ketten begegnet war. Unser Rechtssystem ist darauf ausgelegt, Bitterkeit und Rachegefühle durch eine gerechte Strafe zu kompensieren, und unser Gesundheitssystem gründet sich auf Mitgefühl. Hospitäler (von lateinisch hospitare, beherbergen) waren ursprünglich religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen, die von Nonnen geführt wurden. Erst viel später wurden daraus säkulare Krankenhäuser unter der Leitung von Fachleuten. Tatsächlich sind die Institutionen und Errungenschaften, die wir am meisten schätzen, stark mit menschlichen(2) Emotionen verstrickt. Genau genommen gäbe es sie ohne Emotionen gar nicht.

Diese Erkenntnis rückt Emotionen(19) bei Tieren in ein anderes Licht. Für mich sind sie kein Thema, das für sich betrachtet werden muss, sondern sie können über unsere eigene Existenz Aufschluss geben, über unsere Ziele und Träume und unsere hoch strukturierten Gesellschaften. Da mein Fachgebiet die nichtmenschlichen Primaten(7) sind, werde ich ihnen natürlich besonders viel Aufmerksamkeit widmen, aber nicht, weil ich glaube, dass ihre Emotionen mehr Aufmerksamkeit verdienen. Zwar bringen unsere nächsten Verwandten ihre Empfindungen(7) ganz ähnlich zum Ausdruck wie wir, aber Emotionen(20) sind überall im Tierreich anzutreffen, bei Fischen(2) ebenso wie bei Vögeln(1), ja sogar bei Insekten(1) und schlauen Mollusken wie dem Tintenfisch(1).

Ich werde nur gelegentlich von »anderen Tieren« oder »nichtmenschlichen Primaten(8)« reden, wenn ich mich auf andere Spezies als den Menschen(1) beziehe. Der Einfachheit halber werde ich andere Tiere im Folgenden schlichtweg als »Tiere(4)« bezeichnen, obgleich es für mich als Biologen(1) eigentlich selbstverständlich ist, dass wir alle dem Tierreich angehören. Auch wir Menschen sind Tiere. Da sich unsere Spezies meines Erachtens emotional(21) nicht groß von anderen Säugetieren(2) unterscheidet – und tatsächlich wäre es vermessen, menschliche(5) Emotionen(22) als einzigartig herauszustellen –, sind wir gut beraten, uns den emotionalen(23) Hintergrund, den wir mit unseren Mitbewohnern auf diesem Planeten gemein haben, genauer anzuschauen.

Kapitel 1

Mamas(1) letzte Umarmung

Abschied von einer Matriarchin(1)

Einen Monat vor Mamas(2) 59. Geburtstag und zwei Monate vor Jan van Hooffs(1) achtzigstem kam es zwischen diesen beiden betagten Hominiden(1) zu einem bewegenden Wiedersehen. Mama(3), abgemagert und sterbenskrank, gehörte zu den ältesten Zoo-Schimpansen(5) der Welt. Und Jan(2), dessen weißes Haar einen scharfen Kontrast zu seinem knallroten Anorak bildete, war der Biologieprofessor, der vor vielen Jahren meine Dissertation betreut hatte. Die beiden kannten sich seit über vierzig Jahren.

Mama(4) lag zusammengerollt in ihrem Strohnest und blickte nicht einmal auf, als Jan(3) wagemutig ihren Nachtkäfig betrat und sich ihr mit freundlichem Grunzen(1) näherte. Wer mit Menschenaffen(1) arbeitet, ahmt oft ihre typischen Laute und Gesten nach, und leises Grunzen(2) wirkt besänftigend. Als Mama(5) schließlich aus ihrem Schlummer erwachte, brauchte sie einen Moment, um zu begreifen, was geschah. Doch dann brachte sie eine enorme Freude(1) darüber zum Ausdruck, Jan(4) leibhaftig und ganz unmittelbar vor sich zu sehen. Begeistert verzog sie das Gesicht zu einem Grinsen(2), wie es nur Schimpansen(6) hinbekommen: Sie haben unglaublich flexible Lippen, die sie sogar nach außen stülpen können. Mama(6) entblößte nicht nur ihre Zähne und das Zahnfleisch, sondern auch die Innenseite ihrer Lippen. Dann gab sie ein hohes Winseln von sich, wie Schimpansen es in besonders emotionalen(24) Momenten zu tun pflegen. In diesem Fall war die Emotion(25) eindeutig positiv, denn als sich Jan(5) zu ihr herunterbeugte, langte sie nach seinem Kopf, strich sanft über sein Haar und legte dann einen ihrer langen Arme um seinen Hals, um ihn näher zu sich heranzuziehen. Während sie Jan(6) umarmte, tätschelte Mama(7) mit ihren Fingern seinen Hinterkopf und Nacken mit derselben beschwichtigenden Geste, mit der Schimpansen auch einen wimmernden Säugling beruhigen.

Das war typisch Mama(8): Sie musste Jans(7) Scheu beim Betreten ihres Reiches gespürt haben und machte ihm klar, dass er nichts zu befürchten hatte. Sie war hocherfreut, ihn zu sehen.

Im Jahr 2016 besuchte Jan(8) van Hooff die alte Schimpansenmatriarchin(2) Mama(9) ein letztes Mal an ihrem Totenbett im Burgers Zoo(1) in Arnheim. Mama(10) zeigte ein breites Grinsen(3), während sie den Professor umarmte, den sie seit vierzig Jahren kannte. Sie starb wenige Wochen später.

Wie ein Blick in den Spiegel

Diese Begegnung war ein absolutes Novum. Obwohl Jan(9) und Mama(11) im Laufe ihres Lebens unzählige Fellpflegesitzungen(4) durch die Gitterstäbe hindurch absolviert hatten, würde kein vernünftiger Mensch je den Käfig eines ausgewachsenen Schimpansen betreten. Die Tiere mögen uns klein erscheinen, aber ihre Muskelkraft übersteigt die unsrige bei weitem, und es gibt zahlreiche schreckliche Berichte über Angriffe auf Menschen. Selbst der stärkste Profiringer könnte es mit einem erwachsenen Schimpansen nicht aufnehmen. Als ich Jan(10) fragte, ob er dasselbe bei einem anderen Schimpansen im Zoo getan hätte – bei einem, den er ebenfalls schon lange kannte –, erwiderte er, dass er viel zu sehr am Leben hinge, um so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen. Schimpansen sind unberechenbar, und die einzigen Menschen, die nichts von ihnen zu befürchten haben, sind diejenigen, die sie selbst aufgezogen haben, was bei Jan(11) und Mama(12) aber nicht der Fall war. Doch Mamas(13) geschwächter Zustand änderte die Lage. Außerdem hatte sie immer positiv auf Jan(12) reagiert, und im Laufe der Jahre hatten die beiden Vertrauen(1) zueinander gefasst. Das ermutigte Jan(13) zu seinem ersten und einzigen hautnahen Besuch bei der unangefochtenen Königin der Schimpansenkolonie im Burgers Zoo(2) von Arnheim in den Niederlanden.

Auch ich hatte eine enge Beziehung zu Mama(14). Den Namen habe ich ihr wegen ihres Rangs als Matriarchin(3) der Kolonie gegeben. Da ich jenseits des Atlantiks lebe, konnte ich beim Abschied nicht dabei sein. Wenige Monate zuvor hatte ich Mama(15) zum letzten Mal gesehen. Als sie mein Gesicht aus großer Entfernung unter den Besuchern entdeckte, eilte sie trotz ihrer schmerzhaften Arthritis herbei, um mich zu begrüßen. Rufend und grunzend(3) näherte sie sich dem Wassergraben, der uns trennte, und streckte mir einladend ihre Hand entgegen. Die Schimpansen(7) im Arnheimer Zoo(3) leben auf einer bewaldeten Insel – dem weltweit größten Außengehege dieser Art –, wo ich sie als junger Wissenschaftler geschätzte 10 000 Stunden lang beobachtet habe. Mama(16) wusste, dass ich später, wenn alle Schimpansen in ihren Nachtkäfigen waren, auf einen privaten Plausch bei ihr vorbeischauen würde.

Unsere Begrüßungen, die immer gleich herzlich abliefen, weckten auch das Interesse von Dokumentarfilmern. Bevor ich eintraf, ließ sich das Team zeigen, welcher der Schimpansen(8) Mama(17) war, und brachte die Kamera in Position, um ihre Reaktion einzufangen. Die Schimpansen ließ der Rummel kalt, und Mama(18) ging unbeeindruckt der Fellpflege nach oder schlief, bis sie mich mit einem Mal von selbst entdeckte oder durch mein Rufen auf mich aufmerksam wurde. Dann sprang sie auf und lief laut grunzend(4) und hechelnd auf mich zu. Das alles wurde gefilmt, ebenso meine eigenen Reaktionen und die einiger anderer Schimpansen, die mich ebenfalls erkannten. Die Menschen, die Zeugen dieser Begegnungen wurden, waren stets beeindruckt von Mamas(19) gutem Gedächtnis(1) und ihrer Begeisterungsfähigkeit.

Ich hingegen habe mich bei den Dreharbeiten nie ganz wohl gefühlt. Zum einen ging dadurch etwas von dem Zauber verloren, der einem Wiedersehen mit alten Freunden innewohnt. Zum anderen konnte ich nie nachvollziehen, warum alle so erstaunt über Mamas(20) Verhalten(12) waren. Jeder, der Schimpansen(9) kennt, weiß, dass sie über hervorragende Gesichtserkennungsfähigkeiten und ein langes Gedächtnis(2) verfügen. Was also war an Mamas(21) Freude(2), mich wiederzusehen, so besonders? Traute man exotischen Tieren keine Gefühlsäußerungen zu oder war man perplex, dass zwischen Vertretern zweier unterschiedlicher Primatenarten eine Bindung(2) bestand? Wenn ich ein Jahr im Ausland verbringen und nach meiner Rückkehr bei den Nachbarn vorbeischauen würde, käme kein Kamerateam je auf die Idee, mich zu begleiten und unsere Reaktionen zu filmen: Ich klingele, die Tür geht auf und meine Nachbarn rufen »Hallo, da bist du ja wieder!« Würde das irgendwen beeindrucken?

Dass Mamas(22) Reaktion regelmäßig Erstaunen auslöste, macht deutlich, wie sehr der Mensch die emotionalen(26) und geistigen Eigenschaften von Tieren(2) unterschätzt. Wer die Intelligenz(1)(1) von Tieren mit großen Gehirnen erforscht, ist skeptische Reaktionen gewöhnt, besonders von Kollegen, die mit Ratten(1) oder Tauben arbeiten, denn deren Gehirne(2) sind deutlich kleiner als die von Primaten(9). In den Augen dieser Wissenschaftler sind Tiere(2) instinktgesteuerte(2) Reiz-Reaktionsmaschinen ohne Befähigung zu komplexem Lernen(1). Das ganze Gerede von Gedanken, Gefühlen und Gedächtnis(3) geht ihnen auf die Nerven. Dass diese Haltung hoffnungslos veraltet ist, habe ich in meinem letzten Buch – Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are? (2016) – dargelegt.

Jans(14) Begegnung mit Mama(23) wurde mit einer Handykamera aufgezeichnet.[1] Das Video, unterlegt mit Jans(15) emotionalem(27) Kommentar, wurde im niederländischen Fernsehen ausgestrahlt. Die Zuschauer der populären Talkshow waren zutiefst berührt. Sie posteten lange Kommentare auf der Webseite des Senders oder schrieben direkt an Jan(16). Viele berichteten, sie seien vor dem Fernseher in Tränen ausgebrochen. Sie waren erschüttert. Das lag zum einen an dem traurigen Kontext, denn Mama(24) war in der Zwischenzeit gestorben(2). Eine wichtige Rolle spielte aber auch die Art und Weise, wie die alte Schimpansendame den Professor umarmte und seinen Nacken tätschelte. Viele Zuschauer waren regelrecht schockiert darüber, wie sehr dieses Verhalten(13) ihrem eigenen ähnelte. Offenbar wurde ihnen zum ersten Mal bewusst, dass eine vermeintlich »menschliche(6)« Geste in Wahrheit auch bei anderen Primaten(10) selbstverständlich ist. Oft sind es die kleinen Dinge, die uns unsere evolutionären Gemeinsamkeiten vor Augen führen. Diese Gemeinsamkeiten betreffen übrigens 90 Prozent der menschlichen(7) Ausdrücke, von der Gänsehaut (dem Aufrichten unserer spärlichen Körperhaare bei Angst(4) oder Erregung) bis hin zum Schulterklopfen, das unter Männern ebenso üblich ist wie unter männlichen Schimpansen(10). Das lässt sich immer im Frühjahr beobachten, wenn die Schimpansen nach einem langen Winter wieder ins Außengehege gelassen werden und sichtlich das Gras und die ersten warmen Sonnenstrahlen genießen. In kleinen Gruppen stehen sie beisammen, umarmen sich und klopfen sich gegenseitig auf die Schulter.

Die offensichtliche Verwandtschaft verleitet Menschen(8) aber auch dazu, sich über andere Primaten(11) lustig zu machen: Zoobesucher äffen ihre haarigen Vettern oft nach oder lachen(1) über ihr Verhalten(14). Bei Vorträgen zeige ich häufig Videos von Affen(2), und egal, was sie tun – das Publikum biegt sich vor Vergnügen. Diese Belustigung rührt daher, dass wir uns im Verhalten(15) der Tiere wiedererkennen. Sie hat aber auch etwas mit dem Unbehagen zu tun, das mit dieser Spiegelung einhergeht. Einer meiner beliebtesten Videoclips, der millionenfach im Internet aufgerufen wurde, zeigt ein Kapuzineräffchen(2), das sich darüber aufregt, dass ein Artgenosse für die gleiche Leistung eine attraktivere Belohnung bekommt. In dem Moment, da der Affe(3) sich dessen gewahr(4) wird, rüttelt er so aufgebracht an den Gitterstäben des Versuchskäfigs, dass wir in dieser Reaktion unschwer seinen Ärger(1) über die ungerechte Behandlung erkennen.

Schlimmer als die Belustigung ist allerdings die Abscheu, mit der manche Menschen(2) auf ihre nächsten Verwandten im Tierreich reagieren. Zum Glück hat sich das weitgehend gelegt, obschon Primaten(12) bisweilen immer noch als »hässlich« bezeichnet werden und ich schockierte Blicke ernte, wenn ich einen Schimpansenmann(8) als »attraktiv« und eine Schimpansenfrau(3) als »hübsch« bezeichne. Es gab Zeiten, in denen die Menschen der westlichen Welt höchstens das Fell oder ein paar Knochen von Menschenaffen(2) zu sehen bekamen, aber nie ein lebendes Exemplar. Sie trauten ihren Augen kaum, als die ersten Tiere ausgestellt wurden. 1835 wurde im Londoner Zoo(1) ein männlicher Schimpanse(11) vorgeführt, den man in einen Matrosenanzug gesteckt hatte. Als Nächstes wurde ein weiblicher Orang-Utan in einem viktorianischen Kleid zur Schau gestellt. Königin Victoria(1) sah sich die Tiere an und machte aus ihrer Abscheu keinen Hehl. Sie konnte ihren Anblick kaum ertragen und empfand sie auf erschreckende und abstoßende Weise als menschlich. Diese Wahrnehmung war damals weit verbreitet und ist auch heute noch anzutreffen. Sie lässt sich nur so erklären, dass die Menschenaffen etwas über uns erzählen, das wir nicht hören wollen. Auch der junge Charles Darwin(3) besuchte die Primaten im Londoner Zoo(2). Er stimmte der Königin(2) zu, was die menschlich anmutende Erscheinung der Menschenaffen betraf, fand sie aber nicht abstoßend. Er war der Meinung, dass jeder, der den Menschen für überlegen hielt, in den Zoo kommen und sich eines Besseren belehren lassen sollte.

Vermutlich spielten alle diese unterschiedlichen Reaktionen eine Rolle, als Jan(17)(25)(26)(2)(1)(6)