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Der Autor

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Dr. Martin Welz studierte Politik- und Verwaltungswissenschaft sowie Internationale Beziehungen in Konstanz, London und Pretoria. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Er forscht und lehrt zur Afrikanischen Union, Auswirkungen der Dekolonisation, Konfliktmanagement in Afrika, inter-organisationale Beziehungen sowie zu Afrikas Rolle in der Welt.

Martin Welz

 

Afrika seit der Dekolonisation

Geschichte und Politik eines Kontinents

 

 

 

Verlag W. Kohlhammer

Für meine Jungs

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2021

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-032787-0

 

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-032788-7

epub:      ISBN 978-3-17-032789-4

mobi:      ISBN 978-3-17-032790-0

 

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Inhaltsverzeichnis

  1. Danksagungen
  2. Prolog
  3. 1     Vom Goldenen Zeitalter zur Eroberung und Kolonisation
  4. 2     Dekolonisation und Befreiung
  5. 3     Auswirkungen der Kolonialzeit und Dekolonisation
  6. 4     Externe Einflüsse
  7. 5     Wirtschaftliche Entwicklung, 1960–2000
  8. 6     Wirtschaft, sozioökonomische Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit
  9. 7     Staaten, politische Systeme und Akteure
  10. 8     Innerafrikanische Beziehungen
  11. 9     Politische Krisen
  12. 10  Größere Konflikte
  13. 11  Konfliktmanagement
  14. 12  Afrikanische Akteure in der internationalen Politik
  15. Epilog
  16. Anmerkungen
  17. Register

Danksagungen

 

 

 

Am 18. März 2016 erhielt ich aus blauem Himmel eine E-Mail. Sie kam von Daniel Kuhn, einem Lektor von Kohlhammer, der er mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, ein Buch über afrikanische Geschichte und Politik seit der Dekolonisation zu schreiben. Die Anfrage fiel bei mir auf offene Ohren, denn ich hatte mir schon seit einiger Zeit Gedanken darüber gemacht, ein solches Buch zu schreiben, dachte aber, ich würde dies zu einem späteren Zeitpunkt realisieren. Als sich nun aber die Gelegenheit bot und Cambridge University Press Interesse an einer englischen Version des Buches signalisierte, dachte ich, die Zeit sei gekommen.

Der Grund, warum ich bereits länger darüber nachdachte, ein solches Buch zu schreiben, ist simpel: Meine Auseinandersetzung mit afrikanischer Geschichte und Politik zeigte mir, dass ich das vorherrschende Bild über den Kontinent – vor allem jenseits wissenschaftlicher Arbeiten – nicht teile. Zu häufig war ich davon überrascht, wenn Menschen annahmen, Afrika sei ein Land, oder wenn sie komplexe Fragen und Geschehnisse wie Konflikte auf simple Antworten wie Ethnien reduzierten, als ob dies alles wäre, was Afrikanerinnen und Afrikaner antreibt. Der 45. amerikanische Präsident sprach 2018 gar von »shithole countries« oder »Dreckslochländern«, als er sich auf afrikanische Staaten bezog. Man sollte solch offensichtlichen Unsinn nicht wiederholen, aber es hilft, zu unterstreichen, dass es einer rhetorisch weniger radikalen, nuancierteren und besser informierten Betrachtung Afrikas bedarf. Ich dachte, ich kann dazu einen Beitrag leisten und fand eine Inspiration hierzu in der brillanten ironischen und unbedingt zu lesenden Anleitung Wie man über Afrika schreibt von Binyavanga Wainaina.1 Ich denke – und hoffe –, dass ich keinem der Ratschläge des Autors gefolgt bin, und bin angesichts Wainainas Ironie davon überzeugt, dass dies gut für dieses Buch ist. Ich erhebe nicht den Anspruch, das korrekte Bild von Afrika zu haben. Dennoch glaube ich, dass ich eine wohlinformierte Perspektive der afrikanischen Geschichte und Politik besitze, die ich teilen möchte. Ich mache dies in vollem Wissen aller Schwächen, auf die ich im Prolog näher eingehen werde.

Dies ist meine Perspektive, mein Buch und meine Verantwortung. Gleichzeitig stimmt es, dass dieses Buch anders aussehen würde, wenn es nicht eine Vielzahl von Menschen gegeben hätte, die mir geholfen hätten. Für deren Unterstützung möchte ich hier danken. Zuallererst möchte ich mich bei meinen studentischen Hilfskräften für ihre rastlosen Bemühungen bedanken: Annika von Berg, Steve Biedermann, Niki Erikson, Robert Gerardi, Gunnar Hamann, Leon Rein und vor allem Mario Serjoscha Beying. Sie alle haben unzählige Literaturrecherchen gemacht, Tabellen entworfen und eine Fülle von Fakten überprüft. Etliche Kolleginnen und Kollegen halfen mir während des Rechercheprozesses, schlugen Literatur vor, beantworteten geduldig all meine Fragen und gaben mir Anregungen, die ihren Weg in dieses Buch gefunden haben. Ich möchte mich für die Unterstützung von Chris Alden, Wolfgang Eger, Markus Haacker, Katharina Holzinger, Jan Jansen, Thomas Kirsch, Daniela Kromrey, Timo Smit, Karen Smith, Thomas G. Weiss, Micha Wiebusch und Alan Whiteside bedanken. Die Beschäftigten der Bibliotheken an der Universität Konstanz und des GIGA Instituts in Hamburg sowie des Archivs der Afrikanischen Union beschafften Literatur und Quellen auch an den Tagen, an denen ich nicht mehr glaubte, sie jemals in den Händen zu halten.

Cambridge University Press holte vier anonyme Gutachten für das Exposé ein. Die profunden Kommentare und Vorschläge der Gutachterinnen bzw. Gutachter halfen mir in der Frühphase dieses Buchprojekts. Zweifellos würde dieses Buch ohne ihre Vorschläge – und ihren Zuspruch – anders aussehen. Ich bin sehr dankbar für ihre Kritik und ihre Unterstützung. Darüber hinaus bin ich Katharina Coleman, Andreas Freytag, Stefan Gänzle, Julia Grauvogel, Henning Melber, Martin Rempe, Antonia Witt und insbesondere Malte Brosig, Linnéa Gelot und Elizabeth Schmidt für ihre substanziellen Kommentare zu Entwürfen einzelner Kapitel bzw. Lektüre des (fast) ganzen Buches zutiefst dankbar. Ihre Rückmeldungen waren unverzichtbar und ich schulde ihnen eine Menge!

Dieses Buch erscheint in zwei Sprachen und zugegebenermaßen war dies eine logistische Herausforderung. Ohne David Brenner, der die Entwürfe etlicher Kapitel übersetzte und einige weitere Korrektur las, hätte die Vollendung dieses Buches Monate länger gedauert. Ich bin ihm für seine Arbeit und seine fortwährende Unterstützung dankbar. Ich möchte Daniel Kuhn von Kohlhammer und Maria Marsh von Cambridge University Press für ihre Unterstützung von Beginn an danken. Darüber hinaus bin ich Klaus-Peter Burkarth, Charlotte Kempf und Peter Kritzinger von Kohlhammer sowie Daniel Brown, Atifa Jiwa, Stephanie Taylor und Abigail Walkington von Cambridge University Press sowie Rohan Bolton, Penny Harper und Orvil Matthews für ihre großartige Unterstützung dankbar.

Ich danke der Universität Konstanz, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Hamburg dafür, mir eine akademische Heimat gegeben zu haben, während ich an diesem Buch arbeitete. Ich danke dem Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz und den Kolleginnen und Kollegen dort für ihre Unterstützung im vergangenen Jahrzehnt und dafür, dass sie mir alle Mittel zur Verfügung stellten, um zu reisen und zu forschen. Diese Mittel ermöglichten es mir, viele Kolleginnen und Kollegen, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sowie Afrikanerinnen und Afrikanen aus allen Lebensbereichen auf dem Kontinent und der Diaspora zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Diese Begegnungen haben meine Perspektive auf Afrika geprägt.

Letztlich danke ich meiner Familie und meinen Freunden für ihre Unterstützung und ihr Interesse sowie ihr gelegentliches Desinteresse an meiner Arbeit, denn Letzteres bot mir die Möglichkeit, auch über andere Dinge als dieses Buch nachzudenken. Ohne die Liebe und Unterstützung von Mickey, Santino und Heiko hätte ich dieses Buch nicht beendet. Danke an sie alle – und an diejenigen, die ich unabsichtlich vergessen habe.

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Abb. 1: Karte Afrikas.

Prolog

 

 

 

Afrika ist die Heimat von mehr als 1,2 Mrd. Menschen, die geschätzt 3 000 verschiedene Sprachen sprechen. Es gibt 54 von den Vereinten Nationen (UN) anerkannte Staaten in Afrika. Die meisten von ihnen sind auf dem Kontinent, einige sind auf vorgelagerten Inseln. Es gibt Gebiete, die kolonisiert waren oder wo Minderheitsregime herrschten, Gebiete, die nie kolonisiert waren, sowie Gebiete, die noch immer kolonisiert sind. Es gibt Staaten, die eine schwache Wirtschaft von den Kolonialmächten geerbt haben, und Staaten, die eine solide wirtschaftliche Basis bei der Unabhängigkeit hatten. Es gibt Staaten mit kaum natürlichen Ressourcen, welche mit einigen Ressourcen und welche mit Ressourcen im Überfluss. Es gibt Staaten mit niedriger, mittlerer und hoher sozioökonomischer Entwicklung. Es gibt Staaten, in deren Angelegenheiten sich externe Akteure kaum einmischen, Staaten, die gelegentlicher Einmischung ausgesetzt sind, und Staaten, in denen externe Akteure so dominant sind, dass die Regierung kaum handelsfähig ist. Es gibt demokratische, semi-demokratische und nicht demokratische Staaten. Es gibt Staaten mit funktionierenden Institutionen, Staaten mit teils funktionierenden Institutionen und es gibt failed states, also gescheiterte Staaten. Es gibt international anerkannte funktionierende Staaten, international anerkannte faktisch nicht funktionierende Staaten und international nicht anerkannte, aber funktionierende Staaten. Es gibt Staaten mit neopatrimonialen Systemen und Staaten ohne. Es gibt Staaten, in denen traditionelle Führer eine Rolle spielen, und Staaten, in denen sie keine Rolle spielen. Es gibt Staaten, in denen es nie einen Staatsstreich gab, Staaten, die einen Coup erlebt haben, der oftmals schon Jahre zurückliegt, und Staaten, die immer noch regelmäßig Coups erleben. Es gibt Staaten, die von Terrorismus unberührt sind, Staaten, die immer wieder unter terroristischen Anschlägen leiden, und welche, in denen terroristische Gruppen rekrutieren, trainieren und Anschläge verüben. Es gibt Staaten, die einen Bürgerkrieg oder eine andere Form von massiver Gewalt erlebt haben, und Staaten, in denen die Bevölkerung in friedlicher Koexistenz lebte und lebt. Kurz: Afrika – in diesem Buch bestehend aus Nord- und Subsaharaafrika – ist in vielerlei Hinsicht divers. Diese Diversität existierte, bevor die europäischen Mächte große Teile des Kontinents kolonisierten, existierte während der Kolonialzeit und existiert seit der Unabhängigkeit bis heute.

Man könnte auch eine andere Beschreibung für ein erstes Bild der politischen, wirtschaftlichen und sozioökonomischen Situation Afrikas wählen. Letztlich ist die Betrachtung eines so diversen Kontinents eine Frage der Perspektive. Meine Perspektive entstand durch eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kontinent: Ich las unzählige Bücher und Artikel von Menschen aus Afrika und anderswoher, las regelmäßig die Berichterstattung in afrikanischen und nicht-afrikanischen Zeitungen und Internetquellen und schaute Nachrichten und Dokumentationen im Fernsehen, die von Menschen aus Afrika und anderswoher produziert wurden. Ich bin häufig – manchmal für kürzere und manchmal für längere Zeit – nach Afrika gereist und habe mit Menschen aus allen Lebensbereichen bei unzähligen Gelegenheiten auf dem Kontinent und in der Diaspora gesprochen. Darauf basierend präsentiert dieses Buch meine Perspektive der afrikanischen Geschichte und Politik. Wie immer in der Wissenschaft wird niemand meine Perspektive vollständig teilen, weil sie oder er etwas Anderes gehört, gelesen, gesehen oder erlebt hat. Aber es wird mir auch niemand komplett widersprechen. Es fällt mir leicht einzugestehen, dass ich kein allwissender Experte Afrikas bin. Und ich glaube auch nicht, ich könne einem diversen Kontinent auf den rund 240 vor Ihnen liegenden Textseiten gerecht werden. Wahr ist aber auch, dass 1 000 Seiten oder eine noch intensivere akademische und persönliche Auseinandersetzung mit der afrikanischen Geschichte und Politik der reichen Geschichte und der komplexen Politik Afrikas (seit der Dekolonisation) ebenso wenig gerecht geworden wären. Jede wissenschaftliche Arbeit kürzt die Realität, reduziert die Komplexität und unterliegt einem Zeitgeist. Folglich darf dieses Buch nicht als eine abschließende Betrachtung der afrikanischen Geschichte und Politik gesehen werden. Es ist viel eher meine Darstellung und Analyse ausgewählter Themen, die ich aus der Perspektive eines Politikwissenschaftlers, der auf internationale Beziehungen und Afrika spezialisiert ist und der ein Interesse an historischen, wirtschaftlichen und sozioökonomischen Fragen hat, als wichtig empfinde.

Während meines Studiums an der London School of Economics and Political Science habe ich einen Beitrag von John Vincent gelesen, indem er Hedley Bulls akademisches Vermächtnis zusammenfasst. Ich verwende dieses unabhängig von dem Forschungsparadigma, aus dem es stammt, weil ich es für universell anwendbar halte und betrachte es als Leitlinie für meine Forschung, Lehre und das Schreiben. Nach Vincent hatte Bull folgende vier Maxime: Stell’ die großen Fragen und erhalte das große Bild; sei skeptisch gegenüber jeder Verallgemeinerung, inklusive dieser; halte jede Mode in den Spiegel der Geschichte; und akzeptiere, dass wir mehr im Dunkeln stehen, anstatt anzunehmen, wir sehen das Licht.1 Ich hoffe, Sie wenden diese Leitlinien an, wenn Sie dieses Buch lesen und über dessen Inhalt nachdenken. Machen Sie sich ein eigenes Bild und bewerten Sie komplexe Fragen selbst. Dabei – und bei der Beurteilung meiner Arbeit – bitte ich, denselben Maßstab zu verwenden wie ich. Wenn wir uns darauf einigen, können wir es schaffen, nicht aneinander vorbeizureden, weil die Intentionen und die Schwächen dieses Buchs von Beginn an klar sind.

Warum sich mit afrikanischer Geschichte und Politik beschäftigen?

Am 23. Juni 2019 spielte England gegen Kamerun im Rahmen der FIFA Weltmeisterschaft der Frauen in der französischen Stadt Valenciennes. Dieses Fußballspiel wird weniger wegen des Sports in Erinnerung bleiben, als vielmehr wegen der anderen Ereignisse im Stadion, bei denen sich die kamerunischen Spielerinnen vom Schiedsrichtergespann betrogen gefühlt und einige deren Entscheidungen als rassistisch betrachtet haben. Das erste Tor Englands wurde zunächst nicht gegeben, dann aber vom Videoassistenten anerkannt, weil Englands Stürmerin doch nicht im Abseits war. Journalisten aus Kamerun auf den Rängen riefen die kamerunischen Spielerinnen zum Protest und zum Beenden des Spiels auf. Die Fans aus Kamerun unterstützten diesen Aufruf und deuteten an, dass sie glaubten, England habe das Spiel gekauft. Die Kamerunerinnen zögerten erneut das Spiel fortzusetzen, als sie ein Tor geschossen hatten, welches dann vom Videoassistenten annulliert wurde, weil es sich um ein knappes Abseits gehandelt hat. Nach dem Spiel sagte eine Spielerin Kameruns, sie fühle sich, als ob sie an einer Europameisterschaft teilnehme, bei der Afrika nicht willkommen sei.2 Mit diesen Vorwürfen konfrontiert sagte Englands Trainer, dass er ein großer Fan des afrikanischen Fußballs sei, und dass die Ereignisse des Tages ein Einzelfall seien. Aus seiner Sicht waren die Spielerinnen Kameruns sehr emotional. In allen ihren Spielen hätten ihre Fans getanzt und gesungen, und das sei es, was eine Weltmeisterschaft ausmache. Er liebe die Freude, die sie mitbringen, und ihr Tanzen in der Kabine. Man könne ihre Emotionen und ihren Schmerz fühlen.3 Er erwähnte auch noch, dass sich der kamerunische Fußball sehr verbessert habe und sicherlich eine leuchtende Zukunft haben werde.

Nur wenn wir tiefer in die koloniale und postkoloniale Geschichte eintauchen und die gegenwärtige politische Situation in den Blick nehmen und nur wenn wir dies in einer Globalgeschichte und einer Analyse des heutigen internationalen Systems einbetten, können wir eine nuanciertere Perspektive auf die Geschehnisse in Valenciennes entwickeln und die unter der Oberfläche liegenden Probleme und Themen verstehen. Dann sind wir nämlich in der Lage, die Frustration von Menschen aus Afrika – hier die Spielerinnen und Fans Kameruns – über eine andauernde Marginalisierung und die gefühlte unfaire Behandlung gleichermaßen zu erkennen wie die Vorurteile und Stereotypen von Europäern (oder Menschen im Westen) – in diesem Fall Englands Trainer –, als er vom Singen und Tanzen sowie den Emotionen der Afrikanerinnen mit einem paternalistischen Ton sprach. Zwei Perspektiven sind in Valenciennes aufeinandergeprallt. Beide Seiten haben aneinander vorbeigesprochen, obwohl sie eigentlich über das gleiche Spiel sprachen.

Es gibt natürlich weitere Gründe, sich mit afrikanischer Geschichte und Politik zu beschäftigen. Drei will ich hier nennen. Erstens verdienen afrikanische Geschichte und Politik mehr Aufmerksamkeit, als sie gegenwärtig erfahren. Dies gilt trotz des so häufig vorgebrachten Arguments, nur Großmächte seien in der internationalen Politik von Bedeutung. Wie ich zeigen werde, sind afrikanische Akteure keine unbeteiligten Zuschauer der internationalen Politik, sondern beeinflussen diese ebenso. Bücher wie Fernand Braudels A History of Civilizations wirken daher irreführend, wenn sie 120 Seiten der europäischen Geschichte widmen, 76 Seiten dem Islam und der muslimischen Welt, 152 Seiten dem Fernen Osten und 99 Seiten Amerika, aber nur 37 Seiten für Subsaharaafrika übrig haben.4 Das Gleiche gilt für das Buch 1 000 Places to See before You Die, das 355 Orte in Europa enthält, 171 alleine in den USA, aber nur 67 in Afrika.5 Dies sind nur zwei Bücher, ein akademisches und ein populäres, die für viele stehen.

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Abb. 2: Die Staaten der Welt, wie sich sie in New York Times (internationale Ausgabe) 2018 erwähnt wurden. Eigene Auswertung basierende auf Recherche mittels Nexis. Die Größe des Quadrats, das die USA repräsentiert ist auf ein Viertel seiner eigentlichen Größe verkleinert.

Eine Analyse der Berichterstattung in westlichen Zeitungen zeigt, dass Afrika dort ähnlich unterrepräsentiert ist. Abbildung 2 zeigt ein Kartogramm, in dem die Größe des jeweiligen Landes bestimmt wird durch die Anzahl der Artikel in der New York Times (internationale Ausgabe) für das Jahr 2018, in denen das Land erwähnt wurde. Dabei spielt der Inhalt des Artikels keine Rolle. Um andere Länder sichtbarer zu machen, ist das Quadrat, das die USA repräsentiert, auf ein Viertel seiner Größe reduziert. Einige Länder wurden in keinem Artikel der New York Times 2018 genannt (in Afrika war dies Lesotho) und deshalb tauchen diese Länder nicht in der Abbildung auf.

Westliche Medien berichten nicht nur weniger über Afrika im Vergleich zu anderen Weltregionen. Auch Online-Leser, die viele Möglichkeiten in der Auswahl ihrer Artikel haben, beschäftigen sich weniger mit Nachrichten aus Afrika. So berichtete der Economist, dass Leser im Jahr 2017 weniger Zeit damit verbrachten, etwas über Robert Mugabe und dessen Sturz durch das Militär in Simbabwe zu lesen, als über Harvey Weinstein oder über Prinz Harrys Verlobung mit Megan Markle. Während es 2017 eine wahrnehmbare Leserschaft für die Wahlen in Frankreich,Großbritannien und Deutschland gab, interessierten sich deutlich weniger Menschen für die Wahlen in Kenia und das obwohl diese angesichts der Geschehnisse bei der vorausgegangenen Wahl kaum weniger interessant waren. Und obgleich die Situation in Somalia 2017 einige Aufmerksamkeit erfuhr, wenn es um Interesse an Konflikten und am Konfliktmanagement geht, verbrachten Online-Leserinnen und -Leser deutlich mehr Zeit damit, etwas über Afghanistan, den Islamischen Staat, Syrien und Jemen zu lesen.6

Zweitens ist es notwendig, zwei Extreme zu verstehen: Auf der einen Seite wird über »hoffnungslose«, »zerfallende« oder »gescheiterte«afrikanische Staaten oder sogar von ganz »Afrika« gesprochen – ein Kontinent, von dem man annimmt, dass er auf keinen grünen Zweig kommt und u. a. wegen Bevölkerungswachstum, politischen Konflikten und Migration sogar eine Bedrohung darstellt. Auf der anderen Seite wird über »Afrikas Aufstieg« oder »Afrotopia«7 gesprochen. Beides sind problematische Verallgemeinerungen und wir sollten ihnen gegenüber skeptisch sein, denn sie täuschen über die komplexen Dynamiken in Afrika und die politische, ökonomische und sozioökonomische Diversität des Kontinents hinweg. Nach meinem Dafürhalten sollten wir eine Analyse und Bewertung nicht mit normativem oder Wunschdenken vermischen oder einen pessimistischen oder paternalistischen Zugang wählen. Wir sollten uns eher an eine Analyse im Sinne Max Webers halten, also frei von Werturteilen und ohne ein finales Urteil zu fällen,8 denn dies würde der Diversität und Komplexität Afrikas nicht gerecht werden.

Drittens sind in einer globalisierten Welt Ereignisse an einem Ende der Welt am anderen Ende spürbar. Der Arabische Frühling von 2011 und die ansteigende Anzahl von Flüchtenden nach Europa und anderswohin sind nur ein Beispiel dafür wie auch die Flüchtenden aus Eritrea und Somalia. Das Gleiche gilt für einige Terroristen, die aus Afrika stammen. Steigende oder fallende Ölpreise können die Folge eines Konflikts oder dessen Ende in einem der ölexportierenden Staaten Afrikas sein. Und in fast jedem Mobiltelefon befindet sich Metall, namentlich Kobalt, das aus Kongo-Kinshasa importiert wird. Jenseits solch bekannter Beispiele zeigt sich auch, dass die ägyptische Variante von Crocket in den Augen vieler interessanter ist und deshalb andernorts übernommen wurde, sodass sie nun die populärste Spielvariante ist.9 Überdies waren südafrikanische Chirurgen nicht nur die ersten, die 1967 ein Herz transplantierten, sondern auch die ersten, die 2015 ein männliches Geschlechtsorgan transplantierten.10 Kurzum, es gibt reichlich Hinweise in Bezug auf Ressourcen, Wissenschaft, Kultur und Sport, die zeigen, dass Afrika und die Menschen dort von internationaler Bedeutung sind.

Ziele des Buchs – und was dieses Buch nicht kann

Dieses Buch erklärt die Komplexität und Diversität vergangener und gegenwärtiger Politik in Afrika und soll ein Interesse wecken, sich weiter mit afrikanischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Es ist keine allumfassende Analyse von 54 (oder mehr) Ländern und deren Geschichte seit der Dekolonisation bzw. dem Ende der Minderheitsregime. Und Sie werden nicht »Afrika« kennen, nachdem Sie das Buch gelesen haben. Vielmehr haben Sie einen ersten Eindruck, mehr Wissen oder eine neue Perspektive. Ich werde keine Lösungsvorschläge für die Herausforderungen bieten, die ich in diesem Buch beschreibe, oder Vorhersagen machen. Wenngleich Max Weber uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern es erlauben würde, eine Bewertung nach der Analyse vorzunehmen,11 nehme ich davon Abstand. Stattdessen werde ich am Ende des Buches einige Fragen zum Nachdenken in den Raum stellen.

Kurze Vorschau

Dieses Buch besteht aus zwölf Kapiteln. Kapitel 1–6 widmen sich eher dem »großen Bild«, was bedeutet, dass ich Geschehnisse in Afrika in eine Globalgeschichte einbette und eine Analyse der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Situation vornehme. Kapitel 7–12 sind anders, denn hier tauche ich tiefer in die afrikanische Politik ein und nutze mehrere Fallstudien, um die interne Funktionsweise afrikanischer Staaten sowie die Kooperationen, Krisen und Konflikte innerhalb und zwischen ihnen zu beleuchten. Dies wäre ohne die Beschreibungen der Kapitel 1–6 nicht verständlich.

Trotz meines Fokus auf die Zeit nach der Dekolonisation müssen wir die vorkoloniale Geschichte und die Kolonialzeit selbst betrachten, ehe wir zum eigentlichen Thema des Buches kommen. Dies hat zwei Gründe: erstens, um zu zeigen, dass Afrika eine reiche vorkoloniale Geschichte hat und gewiss kein »dunkler Kontinent« war und zweitens, um Pfadabhängigkeiten darzustellen, also wie Vergangenes die Gegenwart beeinflusst. So müssen wir z. B. die Art und Weise, wie die Kolonialmächte ihre afrikanischen Kolonien verwaltet haben, untersuchen, um die postkoloniale Politik und die Machtkonzentration zu verstehen. Und wir müssen die reiche vorkoloniale Geschichte in den Blick nehmen, um nachvollziehen zu können, warum man heute über eine Afrikanische Renaissance12 spricht und warum Intellektuelle ihre Gedanken hierzu mit der vorkolonialen Periode in Verbindung bringen. Kapitel 1 bietet daher einen kurzen Überblick über die vorkoloniale Zeit, den »imperialen Wettlauf um Afrika« und die Kolonialzeit.

Die Kolonialzeit und die Dekolonisation sind eine Zäsur in der afrikanischen Geschichte. Die europäischen Kolonialmächte hatten alle Gebiete Afrikas bis auf Äthiopien und Liberia kolonisiert. Über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erlangten diese Kolonien ihre Unabhängigkeit, mit dem Höhepunkt im Jahr 1960 – dem afrikanischen Jahr – als 18 Kolonien unabhängig wurden. Kapitel 2 identifiziert und beschreibt die Kräfte, die wichtig waren, um afrikanische Staaten nominell unabhängig zu machen, d. h., dass sie von anderen Staaten und den UN anerkannt wurden. Ich betrachte die Dekolonisation aus drei Perspektiven: die der Kolonialmächte, die des Kolonialstaats und die des internationalen Systems und zeige, dass nur in der Gesamtschau der drei Perspektiven die Dekolonisation in ihrer Komplexität zu verstehen ist.

Kapitel 3 untersucht die Auswirkungen der Kolonialzeit und der Dekolonisation in drei Blöcken, namentlich politische und wirtschaftliche Auswirkungen sowie die Auswirkungen auf Individuen. Es zeigt u. a., wie schlecht vorbereitet die Kolonialmächte ihre Kolonien in die Unabhängigkeit entließen und wie die meisten postkolonialen Anführer den Kolonialstaat ohne Veränderung übernahmen. Das Kapitel erläutert überdies, dass es zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit kaum fruchtbaren Boden für Staatsbildung, Demokratisierung, sozioökonomische Entwicklung und wirtschaftliche Freiheit gab.

Eines der wiederkehrenden Themen dieses Buches ist die Einmischung von nicht-afrikanischen Akteuren in afrikanische Angelegenheiten. Kapitel 4 widmet sich explizit diesem Thema und beleuchtet die Einmischung der (ehemaligen) Kolonialmächte, der Supermächte im Kalten Krieg und der heutigen großen und aufstrebenden Mächte. Zu den zentralen Themen gehören die Einmischungen während des Kalten Kriegs, das Eintreten für eine liberal-kosmopolitische Ordnung in den 1990er-Jahren, die Zeit nach dem 11. September und der »Krieg gegen den Terror« sowie der »neue Wettlauf um Afrika« mit einem Fokus auf die Rolle Chinas.

Kapitel 5 und 6 beschäftigen sich mit der wirtschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklung des Kontinents. Während sich Kapitel 5 der Zeitspanne zwischen der Dekolonisation und ca. dem Jahr 2000 widmet und auf Initiativen eingeht, die sozioökonomischen Herausforderungen einiger afrikanischer Staaten zu bewältigen, beschäftigt sich Kapitel 6 mit der Zeit nach 2000, als der Aufstieg Chinas und dessen Interesse in Afrika einen neuen Wettlauf um Afrika eröffneten. Kapitel 5 zeigt, dass die ideologischen Debatten während des Kalten Kriegs eine kollektive Strategie zur Ankurbelung der Wirtschaft unmöglich machten, und dass afrikanische und nicht-afrikanische Akteure häufig aneinander vorbei diskutieren, weshalb es keine gemeinsame Perspektive auf die Ursachen der sozioökonomischen Misere gab, die in etlichen, aber nicht allen afrikanischen Staaten vorherrschte. Kapitel 6 untersucht hiernach die gegenwärtigen Herausforderungen und Erfolgsgeschichten und betont dabei die Diversifikation von Handelspartnern sowie die Rolle Chinas und anderer aufstrebender Staaten. Es gibt mehr Handel, mehr Konsum und mehr ausländische Direktinvestitionen, aber nicht alle afrikanischen Staaten erleben dies.

Die politische Landschaft in Afrika ist divers und Kapitel 7, das längste dieses Buches, geht hierauf ein. Dabei geht es u. a. um den politischen Aufbau der Staaten, die »Big Men«-Politik, Neopatrimonialismus, Machterhaltsstrategien und Demokratisierung. Neben dem Fokus auf die Präsidenten und Präsidentinnen (und in wenigen Fällen auf die Regierungschefs bzw. -chefinnen) gehe ich in diesem Kapitel auch auf die Rolle anderer Akteure ein wie die der Kabinette, öffentlichen Verwaltung, Parlamente, Parteien, Justiz, traditionellen Führer, Militärs sowie von Kirchen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs).

Kapitel 8 beschäftigt sich mit der innerafrikanischen Kooperation und den intergouvernementalen Organisationen, die afrikanische Staaten politisch, wirtschaftlich und sozial integrieren sollen. Ich stelle die Motive hinter der Gründung von Organisationen wie der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), ihrer Nachfolgeorganisation, der Afrikanischen Union (AU), und regionalen Wirtschaftsgemeinschaften wie der Economic Community of West African States (ECOWAS) vor. Darüber hinaus werde ich die normative Basis dieser Organisationen, den politischen Profit sowie die Hürden für eine tiefgreifende Integration betrachten.

Kapitel 9 und 10 beschäftigen sich mit Krisen und größeren Konflikten. Kapitel 9 untersucht politische Krisen, namentlich Sezessionen, Staatsstreiche, Gewalt im Kontext von Wahlen und Terrorismus. Ich konzentriere mich auf Motive sowie Akteure und zeige, dass die weitverbreitete Annahme, Afrika sei ein Kontinent, der unter endlosen Krisen leide, fehlgeleitet ist. Solche Krisen treffen bei weitem nicht jedes afrikanische Land. Viel eher sind sie zumeist lokale oder temporäre Phänomene, die teils weit zurückliegen. Kapitel 10 widmet sich dann größeren Konflikten. Es erklärt, warum es kaum zwischenstaatliche Kriege in Afrika gibt, beleuchtet die Gründe für innerstaatliche Kriege und betont überdies, dass einige afrikanische Länder nie größere politische Gewalt erfahren haben. Weiterhin gehe ich auf die Frage ein, warum Zivilisten Rebellen werden. Das Kapitel behandelt anschließend Völkermorde als eine besondere Form von Konflikten und konzentriert sich dabei auf die Genozide in Darfur und Ruanda. Angesichts der bis zu fünf Mio. Toten verdient »Afrikas großer Krieg« oder der »dritte Weltkrieg«, ein Kriegskomplex in der Region der Großen Seen, der die Grenze zwischen innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Konflikten überschritt, eine separate Analyse. Schließlich gehe ich noch auf die Situation in Flüchtlingslagern ein, weil sie nicht nur ein Zufluchtsort sind, sondern auch ein Ort der Unsicherheit und der Rebellenrekrutierung.

Danach untersucht Kapitel 11 das internationale Konfliktmanagement und stellt die zentralen Akteure vor. Es fragt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, dass internationales Konfliktmanagement erfolgreich sein kann und was »Erfolg« überhaupt bedeutet. Die Analyse unterstreicht, dass es weder einfache Probleme noch einfache Lösung gibt und dass Konfliktmanagement eine komplizierte Angelegenheit ist, bei der es viel abzuwägen und harte Entscheidung zu treffen gilt.

Dieses Buch zeigt, dass afrikanische Akteure nicht passiv sind oder nur Zuschauer. Vielmehr waren sie im Laufe der Geschichte auf vielen Ebenen politisch aktiv und haben Einfluss auf ihre eigene und die internationale Politik genommen. Kapitel 12 widmet sich dem und fragt, welche Rolle afrikanische Akteure in der internationalen Politik spielen, welche Mittel sie hierbei nutzen und welche Hindernisse ihnen im Weg stehen. Der Epilog wirft dann einige Fragen auf und bietet Anregungen zum Nachdenken.

Wie dieser Überblick zeigt, ist dieses Buch thematisch aufgebaut. Es ist möglich, einzelne Kapitel zu lesen, weil sie weitestgehend für sich selbst stehen. Sie beinhalten Verweise auf andere Kapitel, um die Verbindung zwischen den Themen zu markieren und um die Lesenden zu führen. Verweise innerhalb eines Kapitels sind mit »siehe oben« bzw. »siehe unten« gekennzeichnet. Nichtsdestotrotz würde ich mich wie jeder Autor und jede Autorin freuen, wenn Sie dieses Buch in seiner Gesamtheit lesen, sodass sich die ganze Perspektive, die ich biete, entfalten kann. Da dieses Buch vollständig mit Belegen versehen ist, verzichte ich auf Abschnitte mit zu empfehlender oder weiterführender Literatur. Die Endnoten bieten eine Vielzahl an Vorschlägen für eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit allen Themen, die ich auf den folgenden Seiten anspreche.

Lassen Sie mich hier aufhören, über den Hintergrund und die technischen Details des Buches zu schreiben, und Sie bitten, umzublättern und loszulegen.

1         Vom Goldenen Zeitalter zur Eroberung und Kolonisation

 

 

 

Afrikas vorkoloniale Geschichte ist reich und das nicht nur, weil die Menschheit vermutlich ihren Ursprung dort hat.1 Auch wenn ich hier nur einen Bruchteil der Geschichte Afrikas darstelle, sollte doch klar werden, dass die Geschichte des Kontinents nicht erst mit der Ankunft der Europäer begann, wie dieses Buch mit seinem Blick auf die Zeit nach der Dekolonisation ansonsten nahelegen könnte. Wir wissen eine Menge über das alte Ägypten, von dem angenommen wird, es sei eine »schwarze« Zivilisation gewesen,2 oder über das Aksumitische Reich im heutigen Äthiopien und wissen noch viel mehr über die letzten zwei Jahrhunderte seit Beginn der Kolonisation. Über den Zeitraum dazwischen, der auch als »Goldenes Zeitalter« beschrieben wird,3 ist hingegen wenig bekannt.4 Trotzdem ist klar, dass die vorkoloniale Zeit sichtbare Spuren hinterlassen hat und sie ein wichtiger Anknüpfungspunkt für den postkolonialen Diskurs ist. Es ist aber auch klar, dass die im Vergleich dazu recht kurze Kolonialzeit und Dekolonisation mit einer solchen Wucht auf weite Teile Afrikas gewirkt haben, dass sie – aus heutiger Sicht – die wohl umfassendste Zäsur in der Geschichte des Kontinents darstellen. Deshalb geht dieses Kapitels auch auf die Kolonisation und die Kolonialzeit ein, ehe ich in den folgenden beiden Kapiteln die Dekolonisation und ihre Auswirkungen beleuchte.

Das Goldene Zeitalter

Es gibt Historiker und Historikerinnen, die glauben, dass es in Afrika vor der Kolonisation nur »Dunkelheit« gab und dass Afrika – wie auch Amerika vor Christoph Kolumbus – eine »pittoreske aber unwichtige Ecke des Globus« war, die einer Untersuchung nicht wert sei.5 Es ist wahr, dass wir nur wenig über diese Phase wissen. Dies führt François-Xavier Fauvelle auf den Mangel an Schriften und archäologischen Objekten sowie auf ideologische Gründe zurück, namentlich ein Desinteresse an Afrikas Vergangenheit.6 Dieses mangelnde Wissen und das Desinteresse erklären und verstärken einige der Vorurteile über Afrika bis heute. Was wir über die vorkoloniale Zeit wissen ist beispielsweise, dass sich die Menschen in Afrika wie in anderen Weltregionen auch in politischen Systemen organisierten. Eines der ältesten politischen Systeme überhaupt, das bis in die Gegenwart reicht, gab es in Äthiopien, wo bis 1974, als die Kommunisten den Kaiser stürzten, ununterbrochen für rund 3 000 Jahre eine Abfolge von 237 Königen und Kaisern regierte. Als Äthiopien im 4. oder 5. Jahrhundert vom Judentum zum Christentum konvertierte, wurde es das erste christliche Reich der Welt. Imposante Bauten wie die Stelen in Aksum oder die Felsenkirchen in Lalibela sind Zeugnisse dieser Epoche. Nicht minder imposant war das Kaiserreich Mali, das zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert bestand. Dessen Kaiser Mansa Musa I. gilt als reichster Mensch der Weltgeschichte. Das Jolof-Reich im heutigen Senegal und Gambia bestand als politische Einheit von 1530 bis 1890. Das Aschanti-Reich bestand ab ca. 1680 für zwei Jahrhunderte; auf ihm baut das heutige Ghana mit auf. Im heutigen Simbabwe zeugt die Ruinenstätte Groß-Simbabwe davon, dass dort vom 11. bis zum 15. Jahrhundert das Munhumutapa-Reich seine Blütezeit erlebte. Das Luba-Reich im heutigen Kongo-Kinshasa und Sambia bestand von 1585 bis 1889 und das Königreich Kongo von 1390 bis 1857. Das um 1300 gegründete Königreich Buganda lebt heute in Uganda weiter. In Sansibar herrschten die omanischen Sultane vor allem zwischen dem 17. bis 19. Jahrhundert und kontrollierten von dort aus auch große Gebiete in Ostafrika.7 Sie waren die Vorboten der europäischen Kolonisation. Ihr Einfluss reichte bis in den Osten des Kongos, was ein Grund dafür ist, dass dort bis heute Swahili gesprochen wird.

Es gibt wenig Kenntnisse über die genaue Ausgestaltung der politischen Systeme vor der Kolonisation. In der westafrikanischen Savanne bildeten kafus Miniaturstaaten aus, das sarauta System im heutigen Nigeria vereinte Mikrostaaten zu Königreichen samt von Mauern umgebenen Hauptstädten und im heutigen Kamerun organisierte sich die Gesellschaft unter einem »Big Man«, der entweder aufgrund seiner persönlichen Qualitäten oder seiner Abstammung diese Rolle einnahm. Aus manchen Bantu-Sprachen im Osten Afrikas verschwand das ursprüngliche Wort für Chief. Stattdessen wurden Kriegsführer, Älteste oder diejenigen, die Rituale durchführen konnten, zu Autoritäten.8 Manche der Systeme glichen Staaten europäischen Typus, andere waren lokal sehr begrenzt und eher informell organisiert. Es gab viele »dezentral organisierte Gesellschaften«,9 in denen Autorität verteilt war. Catherine Coquery-Vidrovitch zeigt, dass im 19. Jahrhundert die Organisation der Gesellschaften entweder auf militärischer Macht, wie unter Samory Touré in Westafrika, auf Religion, wie der Mahdi-Staat im heutigen Sudan (siehe unten), oder auf Handel, wie bei den Yao am Südufer des Malawisees oder den Nyamwezi in heutigen Tansania, basierte. Diese Gesellschaften und ihre Organisationsformen waren sehr fluide, weshalb der Begriff »traditionell« problematisch ist, da unklar bleibt, auf welche Phase er sich genau bezieht.10 Frauen spielten vielerorts eine zentrale Rolle. Sie regierten Königreiche, gründeten Städte, führten Armeen, begannen militärische Eroberungen und gründeten neue Staaten.11 Einige Gesellschaften in Afrika waren hierarchisch, andere waren staatenlos und in etlichen gab es eine Koexistenz beider Formen.12 Zu den staatenlosen Gesellschaften gehörten Igboland oder diejenigen in Norduganda und im ostafrikanischen Graben, die nicht monarchisch, sondern dezentralisiert mit demokratischen Elementen operierten.13 Im Gegensatz hierzu stand Buganda, wo der König das Land kontrollierte und es eine Verwaltungshierarchie gab.14 Zentralisierter – und despotischer – war des Königreich Zulu. Kaum eines dieser Gebiete hatte feste Grenzen. Herrschaft wurde als Herrschaft über Menschen und nicht über Territorien verstanden.

Es ist überliefert, dass Menschen aus Afrika mit Menschen von anderen Kontinenten interagierten.15 So haben z. B. einige hundert Menschen aus Afrika zwischen 1650 und 1850 Europa besucht.16 Bereits zuvor waren die nordafrikanischen Gebiete mit den europäischen Märkten verbunden, etwa zur Zeit des Römischen Reichs. Wir wissen auch von Waren und Gütern, die vor 2 000 Jahren aus Westafrika nach Asien gebracht wurden.17 Ab dem 7. Jahrhundert breitete sich der Islam von der Arabischen Halbinsel Richtung Afrika aus.18 Menschen in Ostafrika tauschten Gewürze und tropische Waren mit der arabischen Halbinsel und Indien aus. Überdies gab es Handel mit China, Indien und Indonesien.19 Gold aus Westafrika fand ab dem 8. Jahrhundert Abnehmer in Nordafrika und Europa. Kaiser Abubakari II. aus Mali soll bereits 1311 den Atlantik überquert haben. Und ab dem 16. Jahrhundert handelten Menschen aus Afrika afrikanische Sklaven mit Europäern.

Der Sklavenhandel gilt nicht nur als Beginn des rassistischen Denkens, wonach Schwarze als minderwertig betrachtet wurden,20 sondern liefert auch Hinweise darauf, dass afrikanische Gesellschaften gut organisiert waren. Nur so konnten ab dem 16. Jahrhundert Millionen Sklavinnen und Sklaven systematisch aus dem Landesinneren zu den Häfen verschleppt werden, wo die europäischen Schiffe warteten. Bis zum Ende des Sklavenhandels in den 1860er-Jahren waren über elf Mio. Sklavinnen und Sklaven von europäischen Sklavenhändlern über den Atlantik gebracht worden;21 in den Nahen Osten gingen weitere zwei Mio.22 Bezüglich des innerafrikanischen Sklavenhandels wird angenommen, dass im Jahr 1800 10 % der afrikanischen Gesamtbevölkerung versklavt lebten – in manchen Gesellschaften waren es bis zu zwei Drittel der Bevölkerung.23

Der Sklavenhandel variierte stark. Sklaven, die über den Atlantik verschleppt wurden, kamen vor allem aus der Region entlang der Küste vom heutigen Senegal bis zum heutigen Kongo-Kinshasa sowie aus den Küstenregionen des heutigen Mosambiks und Tansanias. Fast die Hälfe stammte aus dem Kongo.24 Andere Gebiete waren wenig oder gar nicht vom Sklavenhandel betroffen.

Das Ende des transatlantischen Sklavenhandels, das auf dem Wiener Kongress 1815 zwar formal beschlossen, aber erst Jahre später faktisch durchgesetzt wurde, bedeutete nicht, dass der innerafrikanische Sklavenhandel endete. In Westafrika blieb der Handel weitverbreitet und im Osten blieb Tippu-Tip, einer der größten Sklavenhändler überhaupt, im Auftrag des Sultans von Sansibar aktiv.25 Sein Handelsimperium im Ostkongo ließ er von tausenden Bewaffneten absichern und die Europäer versuchten, mit ihn ins Geschäft zu kommen. Wenngleich die europäischen Staaten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle im Sklavenhandel gespielt hatten, begannen sie nun, ihn als Argument zu nutzen, um Afrika im Namen der Zivilisation und des Fortschritts unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Kolonisation nahm an Fahrt auf.

Kolonisation

Die Portugiesen machten sich 1414 auf den Weg über die Straße von Gibraltar, um die Hafenstadt Ceuta auf der südlichen Seite der Meerenge zu erobern. Damit begann Afrikas Kolonisation, ein Prozess der Landnahme und Aneignung, der zur Bildung einer Kolonie führt.26 Portugiesische Seefahrer stießen immer weiter nach Süden vor und segelten entlang der afrikanischen Küste mit dem Ziel, den Seeweg nach Indien zu finden. Es gab zwar Interesse an Afrika, doch Kolumbus’ Reise nach Amerika (1492) lenkte den Blick zunächst auf die »neue Welt«. Die Taten eines Hernán Cortés und anderer Konquistadoren in Amerika, denen es rasch gelang, ganze Völker zu unterwerfen, führten dazu, dass die europäischen Mächte die Kolonisation Amerikas vorantrieben und Afrika aus dem Blick verloren. Hierbei spielten auch gesundheitliche Risiken eine wichtige Rolle. Denn während die von Europäern nach Amerika eingeschleppten Krankheiten die dortige Bevölkerung stark dezimierten, führten Malaria und andere Krankheiten in Afrika dazu, dass Europäer starben. Man sprach über Afrika auch vom »Grab des weißen Mannes«.

In Afrika beschränkten sich die Europäer, vor allem die Portugiesen, zunächst auf den Aufbau von Handelsstützpunkten an den Küsten. Frankreich begann ab 1830, das heutige Algerien zu erobern, und brachte das Gebiet des heutigen Senegals unter seine Herrschaft. Spanien beanspruchte die Enklave Ifni und die Insel Bioko im Golf von Guinea. Großbritannien hatte sich die Küstenstreifen der heutigen Länder Gambia, Ghana und Sierra Leone, die Gebiete rund um die heutige nigerianische Hafenstadt Lagos und die namibische Hafenstadt Walvis Bay, Kapstadt samt Hinterland sowie die Insel Mauritius gesichert. Diese Gebiete waren der Nukleus der späteren Kolonien. Mit den Ausnahmen von Algerien und Südafrika, die früh Kolonien im engeren Sinne waren, sollten wir bei den anderen Gebieten eher von »punktuellen Einflüssen« der europäischen Mächte sprechen.27 Diese Einflüsse reichten kaum über die Handelsstationen hinaus, über denen ihre Flaggen symbolisch wehten.

Mit der Unabhängigkeit der meisten Kolonien in Amerika im 19. Jahrhundert richtete sich der Blick Frankreichs, Großbritanniens und anderer europäischer Mächte verstärkt auf Afrika und Asien. Diese Mächte begannen einen »dreifachen Angriff«.28 Staaten, private Handelsgesellschaften und Missionare wurden zu den zentralen Akteuren im »Wettlauf um Afrika«, der Anfang der 1880er-Jahre einsetzte. Christliche Kirchen, die missionieren wollten, und Wirtschaftsunternehmen, die ökonomische Ziele verfolgten, waren essentieller Teil der kolonialen Bewegung und es waren diese beiden Akteure, die anfangs beim Vordringen ins Innere des Kontinents die Hauptarbeit übernahmen. Beispiele hierfür sind Cecil Rhodes British South Africa Company, die Imperial British East Africa Company oder die Aktivitäten des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz. Sie handelten im Namen der drei »Cs«, die einst der schottische Missionar und Forscher David Livingstone postuliert hatte: commerce, christianity, und civilization also Handel, Christentum und Zivilisation. Sie fügten ein viertes C hinzu: conquest, Eroberung.29

Die Kolonisation hatte viele Gründe.30 Die europäischen Regierungen waren von einem Prestigedenken, dem Interesse, ihre Macht durch Kolonialbesitz zu vergrößern, Angst, die anderen europäischen Staaten würden ihre Ansprüche nicht anerkennen und einem Überlegenheitsgefühl getrieben. Zudem wollten sie ihre Stellung innerhalb Europas durch Expansion stärken und ihre Staaten nach außen bzw. die Herrschaft der Regierenden nach innen absichern. Außerdem versprach Afrika einen Ressourcenreichtum und damit wirtschaftlichen Profit. Die Industrielle Revolution in Europa führte zu einer stetig steigenden Nachfrage nach Rohstoffen und Afrika war eine Quelle u. a. für Palmöl, den wirtschaftlichen Schmierstoff dieser Zeit.

Der sich entfaltende Wettlauf um Afrika war von einer Unkenntnis der Europäer über Afrika und dessen wirtschaftliches Potential geprägt. »So war die Teilung Afrikas zuallererst ein diplomatischer und symbolischer, ja nahezu fiktiver Akt, eine Art Wette auf die Zukunft.«31 Der deutsche Kanzler Otto von Bismarck lud die anderen Kolonialmächte zur Berliner Konferenz (1884–1885) ein, die eher als Folge des Wettlaufs um Afrika denn als sein Beginn oder Ende gesehen werden muss. Auf der Konferenz wurde Afrika auch nicht aufgeteilt und niemand stand mit dem Lineal am Tisch und zog die Grenzen. Dennoch veränderten die Konferenzbeschlüsse das Erscheinungsbild Afrikas nachhaltig und prägen die Geschichte des Kontinents bis heute, so dass auch vom »Fluch von Berlin« gesprochen wird.32 Die europäischen Mächte erkannten u. a. die Ansprüche des belgischen Königs Leopolds II. auf das Kongobecken an und es wurde festgelegt, dass eine »Kolonie« auch tatsächlich unter Kontrolle der jeweiligen Kolonialmacht gebracht werden musste. Es sollte nicht mehr nur um die Unterzeichnung von Schutzverträgen und das Hissen von Flaggen gehen, eine bis dahin gängige Praxis, sondern um die faktische Kontrolle der Gebiete. Das Vordringen der Kolonialmächte in das Hinterland setzte erst richtig nach der Berliner Konferenz ein. Die Dinge änderten sich aber nicht überall.

Widerstand

Widerstand gegen die Kolonialmächte gab es vielerorts. So kämpften der oben genannte Samory Touré und seine Soldaten gegen Frankreich, das versuchte, in das Hinterland Guineas vorzudringen. Der Aschantiföderation im heutigen Ghana gelang es mehrfach, die britischen Truppen fernzuhalten. In Südrhodesien erhoben sich 1896 die Ndebele mit mehreren tausend Kriegern gegen die britischen Siedler und die Shona erhoben sich parallel. Dieser später als Erster Chimurenga (Erster Befreiungskrieg) bezeichnete Aufstand konnte erst nach Monaten durch die Siedler und ihnen zur Hilfe eilende Truppen niedergeschlagen werden. Im heutigen Tansania (1905–1907) sowie im heutigen Namibia (1904–1908) kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Maji-Maji bzw. Herero und Nama auf der einen und deutschen Truppen auf der anderen Seite. Letztere schlugen die Aufstände brutal nieder – in Namibia kam es zum ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.33 Und äthiopische Truppen schlugen in der Schlacht von Adua die italienischen Truppen vernichtend, als Letztere versuchten, das Kaiserreich zu unterwerfen.34 In Äthiopien trug dies zu einem bis heute spürbaren Nationalstolz bei; in Italien sann man auf Rache.

Im Sudan gab es einen der größten Aufstände in der Frühphase des Wettlaufs um Afrika: den Mahdi-Aufstand ab 1881 gegen die nominell ägyptische und faktisch britische Herrschaft. Muhammad Ahmad, ein eloquenter und viel geachteter Koranprediger, erklärte sich zum Mahdi35