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Faika El-NagashiMireille Ngosso

FÜR
ALLE
DIE HIER SIND

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Wir verwenden die Begriffe Schwarz und People of Color (PoC) als politische Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismus erfahren. Dabei geht es nicht um die Beschreibung einer Hautfarbe oder einer biologischen Eigenschaft, sondern um eine politische und soziale Konstruktion. Wir verwenden daher die Großschreibung. Mit dem Begriff Weiß wird auf die privilegierte Position innerhalb der rassistischen Machtverhältnisse verwiesen.

Für
Younis und Samuel

ZUM ANFANG

Alle, die hier sind, sind von hier

1

HERKUNFT

Die Dame in Schwarz

Es war einmal

Wer bin ich?

Lesben sind immer und überall

Vorbilder, die wir brauchen

Vorbilder, die wir haben

Ungerechtigkeiten die Stirn bieten

A room of our own

2

MUT

Poster Girl

Du flammende, du rote Fahne

Aufstehen!

Weiterkämpfen!

System Change?

Geschichte schreiben

Ubuntu

Gemeinsam mehr erreichen

3

VERÄNDERUNG

Schweigen hilft uns nicht

Habibi

Alle anders, alle gleich

Der lange Sommer der Solidarität

Mord aus Leidenschaft? Nein, Femizid!

Gesundheit für alle

Doppelmoral

Applaus ist nicht genug

Kein Tier ist egal

4

ZUKUNFT

Für euch

Für uns

Für die Politik

Für die Nächsten

Anmerkungen

ZUM ANFANG

ALLE, DIE HIER SIND, SIND VON HIER

Wie sieht eine Politik aus, die für die Veränderung der Verhältnisse steht? Die soziale Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen bekämpft, statt Menschen in Gruppen einzuteilen und sie gegeneinander auszuspielen. Die eine faire Verteilung der Ressourcen anstrebt und sich nicht den Interessen derer verschreibt, die ohnehin Macht und Möglichkeiten haben. Die gute Bedingungen für ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben für alle schafft. Was ist unsere Vision? Was ist die Politik, für die wir stehen? Wir wollten diese Frage gemeinsam beantworten, obwohl wir aus zwei verschiedenen Parteien kommen, den Grünen und der SPÖ. Oder gerade deshalb. Weil es uns darum geht, trotz all unserer Unterschiede Zusammenhalt zu schaffen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Religionszugehörigkeit oder Behinderung. Und weil wir uns gegenseitig Raum für unsere Sichtweisen geben und trotzdem auch mit einer Stimme sprechen wollten.

Wir haben uns vor etwa fünf Jahren, Ende 2017, das erste Mal persönlich kennengelernt. Es war an einem Novembervormittag. Wir waren mit einigen Dutzend Aktivist:innen bei einer Kundgebung vor der libyschen Botschaft im 19. Bezirk in Wien. Wir protestierten gegen die Versklavung von Menschen auf der Flucht durch libysche Milizen und gegen die Rolle der EU, die diese Truppen finanziert, um Flüchtende an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Es war ein kalter und nebeliger Tag, außer unserer kleinen Protestgruppe war kaum jemand zu sehen. Wir hielten gemeinsam ein Schild mit der Aufschrift „Black Lives Matter“, und obwohl wir noch wenig voneinander wussten, fühlten wir uns politisch verbunden. Wir trafen uns wieder auf Demos, bei Pressekonferenzen, Diskussionsveranstaltungen. Und wir begannen uns auszutauschen: Über unsere Erfahrungen in der Politik und in unserer Partei, über Rassismus und Diskriminierung, über Erfolge und Misserfolge. Bei allen Unterschieden spürten wir, wie es uns stärkte, einander zuzuhören, Gemeinsamkeiten zu finden und uns zu unterstützen. Und wir erlebten, wie es andere motivierte, zu sehen, dass wir Seite an Seite stehen. Dass es möglich ist, über Parteigrenzen hinweg zusammenzukommen und solidarisch in der Sache zu sein. Gemeinsam zu handeln ist auch für uns wichtig geworden. Uns aufeinander zu beziehen, miteinander die Bühne zu teilen, gemeinsam ein Buch zu schreiben.

„Das wird ein Power-Buch!“ Darin waren wir uns von Anfang an einig, als wir vor etwas mehr als einem Jahr darüber sprachen, unseren Weg in die Politik, unsere Erfahrungen in sozialen Bewegungen und unsere politischen Positionen zu verschriftlichen und gemeinsam ein Manifest zu schreiben. Ein Empowerment-Buch, das zeigt, was möglich ist. Wie wir es für uns möglich gemacht haben. Und wofür wir stehen. In die Politik zu gehen war für uns als Kinder von Migrant:innen kaum vorstellbar. Zu weit war das Parlament von unserer Lebensrealität entfernt und zu oft hörten wir, dass wir anders seien, fremd und nicht Teil dieser österreichischen Gesellschaft. Wir müssten uns erst beweisen und etwas leisten, und selbst dann würden immer andere entscheiden, ob wir gut genug waren. Das zu überwinden war nicht einfach. Selbstbewusst unseren Platz einzunehmen. Sichtbar zu sein in unserer Andersartigkeit, uns nicht zu assimilieren, widerständig zu bleiben. Es war und ist ein Kampf gegen die Ausschlüsse, die wir selbst erleben und gegen ein System, das auf dieser Grundlage funktioniert. Erfahrungen, die uns wütend machen. Aber aus der Wut schöpfen wir auch Kraft und Mut. Wir sind österreichische Politikerinnen, und wir sind stolz darauf. Wir haben hart dafür gearbeitet, und es ist für uns nicht nur ein persönlicher Erfolg, sondern ein Weg, den wir gemeinsam gehen und den wir für andere beschreiten, die nachkommen werden. Unsere Perspektiven erweitern die institutionelle Politik in Österreich und es sollte eigentlich gar nicht ungewöhnlich sein, uns am Redner:innenpult im Parlament und im Landtag, in einem Fernsehinterview oder bei einer Pressekonferenz zu sehen. Aber wir wissen, dass wir immer noch Ausnahmen sind. Wir sind in Ungarn und in der Demokratischen Republik Kongo geboren. Wir sind mit vier Jahren mit unseren Eltern nach Österreich gekommen und hier aufgewachsen. Wir sind sichtbar als Schwarze Frau und als Woman of Color, wir sind Aktivistinnen und Politikerinnen. Ein neues Gesicht österreichischer Politik. Eines, in dem sich andere vielleicht auch wiederfinden können. Auch deshalb erzählen wir unsere Geschichten.

Dabei ist es nicht so, dass wir immer einer Meinung sind. Wir streiten. Oft sogar. Weil wir unsere Überzeugungen mitbringen, mit viel Leidenschaft und auch etwas Sturheit. Und weil wir unterschiedliche Erfahrungen machen. Als lesbische Frau und als heterosexuelle Frau; als Woman of Color und als Schwarze Frau; als „Grüne“ und als „Rote“; als Politologin und als Ärztin. Es gibt viel, das uns unterscheidet. Aber das hindert uns nicht daran, das Verbindende finden zu wollen. Und so haben wir dieses politische Manifest geschrieben. Gemeinsam – und jede von uns auch aus ihrer eigenen Biografie und ihrer eigenen Perspektive heraus. Im Kapitel HERKUNFT erzählen wir abwechselnd von unseren frühen Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung und darüber, welchen Umgang wir damit gefunden haben. In MUT beschreiben wir unsere Anfänge in der institutionellen Politik und die harte Realität des Wechsels aus dem politischen Aktivismus in die Parteipolitik. In VERÄNDERUNG geht es um unsere inhaltlichen Kernthemen, in denen wir uns engagieren und für die wir Forderungen formulieren: Eine Politik für alle, die hier sind. Im letzten Kapitel ZUKUNFT teilen wir gemeinsam unsere Empfehlungen für diejenigen, die sich für die politische Arbeit interessieren oder die institutionelle Politik auch für andere öffnen möchten.

Wir möchten Diskussionen anregen über eine Politik für alle, die hier sind – aber wir können das nicht allein machen. Auch wir haben unsere Auslassungen. Wir brauchen den Austausch mit Vielen, die Zusammenarbeit und die Bündnisse, um uns zu ergänzen, zu widersprechen, zu verändern, zu bewegen. Wir haben in diesem vergangenen Jahr viel zu zweit diskutiert. Über unsere Kindheit und Jugend, unseren Werdegang und unsere Zukunftspläne, unsere politischen Höhepunkte und Rückschläge. Wir möchten diese Gespräche öffnen und erweitern. Das, was uns durch den Alltag in der Politik trägt, ist unsere Verankerung in der Zivilgesellschaft, sind unsere Communities und Familien. Mit eurer Unterstützung sind wir hier. Wir sind mit Leidenschaft Politikerinnen und überzeugt davon, dass eine solidarische Politik möglich ist. In diesem Buch haben wir unsere Überlegungen dazu formuliert – und einen Teil unserer Geschichte selbst geschrieben. Mit zwei Stimmen und einer gemeinsamen Haltung: Alle, die hier sind, sind von hier.

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HERKUNFT

Mireille Ngosso

DIE DAME IN SCHWARZ

Ich bin siebzehn Jahre alt und stehe am Hauptplatz von Wiener Neustadt, inmitten von dutzenden Menschen. Sie sind alle gekommen, um den Stern am Polithimmel mit eigenen Augen zu inspizieren. Genau wie meine Klasse. Wir haben gerade Freistunde und ein paar Mitschüler:innen beschlossen spontan: „Kommt, lasst uns die Rede von Jörg Haider anhören“, der an diesem Tag vor versammelter Menge Wahlkampf für sein Weltbild macht.

Es geht um „Ausländer raus“ und „Ihr gehört nicht zu uns“. Ihr, das sind Menschen wie ich. Menschen, die Österreich als ihr Zuhause betrachten, aber nicht hier geboren wurden. Menschen, die keine andere Heimat kennen und denen trotzdem gesagt wird: „Ihr seid nicht willkommen.“

Aus vollem Hals schreie ich „Buuuuh!“ Genau wie meine Mitschüler:innen. Anders als sie gehe ich aber nicht in der Masse unter. Anders als sie steche ich hervor. Nicht aufgrund meiner schwarzen Lederjacke, meiner blauen Bluse oder meiner schwarzen Hose, sondern wegen meiner braunen Haut. Und als Haider genug von unseren Buhrufen hat, nutzt er genau dies, um mich vor versammelter Menge bloßzustellen.

„Die Dame in Schwarz braucht gar nicht ‚Buh‘ schreien! Sie soll lieber froh sein, dass sie in Österreich ist!“ Diese Worte brüllt er ins Mikrofon, und noch während sie über den Hauptplatz dröhnen, drehen sich die ersten Köpfe um. Ich weiß nicht mehr, wie meine Klasse reagiert hat. Ich erinnere mich nur an die stechenden Blicke und daran, wie elend mir in diesem Moment zumute ist. Doch obwohl ich innerlich zittere, flammt Wut in mir auf. Sie gibt mir die Kraft, nicht davonzulaufen, sondern mit erhobenem Kopf stehen zu bleiben, bis Haiders Rede endlich zu Ende ist. Langsam löst sich die Versammlung auf und ich beobachte, wie er, flankiert von zwei Bodyguards, im nächsten Café verschwindet.

„Jetzt oder nie!“, schießt es mir durch den Kopf und ich haste mit meiner Freundin Tamara hinterher. Vor dem Eingang bleibt sie stehen und drückt mir die Daumen. Als ich allein durch die Tür trete, hält mich einer der Bodyguards auf. „Was wollen Sie?“, fragt er schroff. „Ich möchte mit dem Haider sprechen.“ Der Bodyguard blickt zu Haider. „Ja, passt, sie soll kommen.“

„Wollen Sie einen Kaffee“, fragt er, als ich ihm gegenüber auf den Stuhl plumpse. „Nein, danke.“ Ich will keinen Kaffee. Ich will wissen, was das eben sollte. Ich will ihm klarmachen, dass seine Aktion nicht okay war.

Seine Antwort lautet: Er habe ja nicht mich gemeint. Die „Dame in Schwarz“, das könne jede sein. Aber ich weiß genau, dass er mich gemeint hat. Mit Sätzen wie „Sei froh, dass du hier sein darfst!“ sind nun mal nicht meine Weißen Mitbürger:innen gemeint, deren Zugehörigkeit zu Österreich nicht infrage gestellt wird, sondern People of Color, also Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft als die „Anderen“ markiert werden, aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Aussehens, ihres Namens, ihrer Religion oder Kultur. All das würde ich Haider gerne erklären, aber ich bin siebzehn Jahre alt. Ich kann meine Wut über diese Ungerechtigkeit noch nicht artikulieren und weiß nicht, wie ich gegen rechte Rhetorik und Populismus geschickt kontern kann. Ich kann meine Trauer über Rassismus nicht in adäquate Worte packen. Ich rede und rede, doch Haider verdreht mir die Worte im Mund und setzt sie gegen mich ein. Ich bin verunsichert und wütend, während sein Grinsen immer breiter wird. Irgendwann reicht es mir. Ich springe auf und will davonstürmen. „Nur zu Info: In unserem Land verabschiedet man sich!“, ruft mir Haider nach.

Das gibt mir den Rest. In diesem Moment spüre ich deutlich, was mir viele Menschen seit Jahren implizit vermitteln: Mireille, du musst aus diesem Land verschwinden. Du bist in Österreich unerwünscht. Du wirst nie selbstverständlich hierher gehören, sondern immer die „Andere“ sein, der erklärt werden muss, wie sie sich zu verhalten hat, und die selbst dann nicht als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft akzeptiert wird, wenn sie sich an alle Spielregeln hält. Dieses Gefühl begleitet und prägt mich und wird noch stärker, als ich ein paar Jahre später gemeinsam mit 150.000 Menschen durch die Wiener Innenstadt ziehe, um gegen die erste Schwarz-blaue Koalition zu demonstrieren. Die Stimmung unter meinen Freund:innen an diesem kalten Wintertag ist gedrückt. Sie sind schockiert, deprimiert, ernüchtert. Wir haben Angst und fragen uns: „Gibt es in diesem Land eine Zukunft für uns?“ In den folgenden Jahren kehren viele meiner afro-österreichischen Bekannten Österreich den Rücken. Sie gehen nach Frankreich, Großbritannien oder nach Amerika, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Auch ich beschließe fortzugehen. Nachdem ich meine Matura absolviert habe, verlasse ich Österreich mit dem Gedanken: „Ich komme nie wieder hierher zurück.“ Doch kaum bin ich in London angekommen, spüre ich, dass Wien meine Heimat ist. Keine Frage: London ist überwältigend und beeindruckend. In dieser Metropole finde ich mich wieder. Meine Nachbar:innen sehen aus wie ich. Meine Lehrkräfte kommen aus aller Welt. Ich kann in die nächste Drogerie gehen und Pflegeprodukte für mein Haar kaufen, genauso wie Make-up in meiner Hautfarbe. Packt mich plötzlich der Hunger auf frittierten Yams mit Kochbananen, muss ich nicht erst dreißig Minuten in den Exotic-Shop pendeln, sondern bloß zum Supermarkt um die Ecke laufen. Wie schön wäre es, wenn ich auch beim Spar Lebensmittel aus Afrika in meinen Einkaufswagen legen könnte und in den Regalen vom DM Shampoos, Conditioner und Kämme für meine Afrolocken finden würde. Bis heute träume ich davon. Trotz all dieser Vorzüge vermisse ich Wien. Die schönen Bauwerke, die guten Verkehrsanbindungen, das köstliche Trinkwasser, der Wiener Schmäh, ja selbst der Wiener Grant geht mir ab und ganz besonders das leckere Essen. Kürbiskernöl, Gulasch, Sachertorte, all das finde ich in London nicht. Meine Rettung ist die Mama meiner Mitbewohnerin. Eine begnadete Köchin, die uns mit Semmelknödeln und Geselchtem, mit Sauerkraut und Strudel verwöhnt. Wenn mit ihr der Duft nach warmen Äpfeln und Zimt durch die Eingangstür hereinweht, freue ich mich wie ein kleines Kind. Häppchenweise frieren meine Mitbewohnerin und ich die Leckerbissen ein und tauen sie an unseren Wien-Abenden auf. Alle paar Wochen, wenn uns wieder das große Heimweh packt, versammeln sich meine österreichischen Freund:innen und ich in unserer Wohnung, schalten „I am from Austria“ ein und spielen anschließend die Songs von Rainhard Fendrich und Wolfgang Ambros rauf und runter, bevor wir uns für eine Folge „Kaisermühlen Blues“ auf die Couch verziehen. Das sind wundervolle Momente, die mir deutlich vor Augen führen: Ich muss zurück nach Österreich!

Klar, London hat viel zu bieten und mir neue Perspektiven und Türen eröffnet. Ich studiere an der Kingston University Biomedical Science und entdecke so meine Leidenschaft für die Medizin. Aber London ist auch laut und hektisch. Wien dagegen gemütlich und überschaubar. Bei uns kann man auch mit wenig Kohle ein gutes Leben führen, eine Gemeindewohnung beantragen, ohne Studiengebühren studieren. Museen, Konzerte und Festivals oft kostenlos genießen, mit seinen Freund:innen in liebevoll gepflegten Parks chillen oder zum Schwimmen an die Alte Donau radeln. Kein Wunder, dass Wien in den City-Rankings immer wieder zur Stadt mit der höchsten Lebensqualität gewählt wird. Natürlich gibt es auch bei uns Probleme. Mir ist bewusst, das Leben in Wien wird nicht nur rosig. Trotzdem kann ich mir keine bessere Stadt vorstellen, um später einmal mein Kind großzuziehen. In Großbritannien gibt es zwar mehr Menschen wie mich und es ist schön, mehr Menschen mit meiner Hautfarbe auf der Straße, auf der Uni und in den Medien repräsentiert zu sehen. Trotzdem fühle ich mich dort nicht zugehöriger. Und warum? Weil ich eine Wienerin bin, oder genauer gesagt: eine Österreicherin mit kongolesischen Wurzeln.

Im Ausland ging mir auf, was ich vorher nicht sehen konnte: Es ist egal, was andere denken. Es ist egal, dass es Menschen gibt, die glauben, dass ich mit meiner Hautfarbe keine „echte Österreicherin“ sein könne. Tief in meinem Herzen weiß ich, dass das nicht stimmt, und solange ich fühle, dass Österreich meine Heimat ist, gehöre ich hierher.

Ich muss mich auch nicht für eine Wurzel entscheiden, ich darf viele haben. Sie alle machen mich aus. Wir dürfen uns nicht entzweien lassen. Nicht in unserem Inneren und nicht in unserer Gesellschaft. In Wien allein hat fast die Hälfte der Einwohner:innen eine Migrationsbiografie, und das ist wundervoll. Es gibt Hunderttausende von uns. Auch wir sind Österreich.

Faika El-Nagashi

ES WAR EINMAL

„Aber ihr seid sicher Kopten“, stellte ein flüchtiger Bekannter abends in einem Lokal fest. Es war keine Frage, es war eine Feststellung, im besten Fall eine unausgesprochene Bitte, diese Zuschreibung anzunehmen und uns beiden eine Diskussion und etwaigen Dissens zu ersparen. Um ehrlich zu sein hatte ich damals keine Ahnung, wer oder was Kopten sind, und schon gar nicht, ob wir, also meine Familie, das nun waren oder nicht. „Ja, ja, sicher!“ war meine Antwort in der Annahme, dass ich damit safe war, und ich erhielt die Bestätigung umgehend: Zufriedenheit und Erleichterung zeigten sich im Gesicht meines Gesprächspartners. Offensichtlich sah sich mein Gegenüber selbst als großer Experte für Ägypten und die verschiedenen religiösen Gruppen, sodass er sogleich meine Herkunft kontextualisieren und wichtige Entscheidungen für mich treffen konnte: Willst du hier dazugehören, dann seid ihr Kopten.

Wir sind aber Muslime. Und Musliminnen. Eine Zugehörigkeit, die damals schon – und heute, also nach 9/11, noch viel mehr – Projektionsfläche für Ängste und Abwertung bietet. Aber: Wir sind Muslim:innen aus Ägypten. Das heißt, im Grunde sind wir Pharaonen aus der Wiege der Welt. Damit ist mit etwas Glück (und je nach aktueller politischer Lage) das Wohlwollen eventuell wiederhergestellt. Pharaonen welcome!

Fragen nach Heimat, nach Wurzeln, nach Zugehörigkeit sind persönliche und intime Fragen. Danach, was mir wichtig ist und warum. Was mich ausmacht. Nach meiner Identität. Wie sehe ich mich und mit wem fühle ich mich verbunden? Es sind aber auch politische Fragen, und ich meine nicht Identitätspolitik. Es ist eine Illusion zu glauben, nur Menschen wie Mireille und ich, die auf eine bestimmte Art „markiert“ werden, brächten ihre Biografien, ihre Erfahrungen oder ihre Überzeugungen in die Politik mit ein. Bei scheinbar „Unmarkierten“ bleibt das nur unsichtbar und unbenannt. Wir sind diejenigen, die von dieser verdeckt gehaltenen Norm abweichen, auffallen und uns meist in Bezug dazu erklären müssen.

Meine Herkunft ist ein Märchen. Eines, in das ich gedrängt werde. Aber auch eines, das ich (mir) selbst erzähle. Jedes Mal aufs Neue und bald auch meinem Sohn. Es sind die Bewertungen meiner Geschichte(n) und auch der Motivation, mit der ich sie erzähle, die es zu einer ständigen Prüfung machen. Die Abwertungen und auch die Aufwertungen. Und natürlich die politische Verwertung.

Wo komme ich also her? Ich bin in Ungarn geboren und war bis kurz vor meinem 18. Geburtstag Ungarin. Also: Puszta und Gulasch und Csárdás, Magyaren und Husaren. Aber auch Thermenbesuche, Shoppingtrips und Mehlspeisen. Kurzum: Ungarn ist eigentlich immer noch k.u.k., also eh schon als Teil von Österreich diesem einverleibt. „Aber wie eine Ungarin siehst du nicht aus!“ Doch. Schau genau. Aber ja, auch in Ungarn muss ich eine Geschichte erzählen.

„Wo kommst du her?“ ist wohl die am meisten aufgeladene Frage für uns. Wir – das sind all jene, denen die Zugehörigkeit zum Wir der Mehrheitsgesellschaft abgesprochen wird. Weil wir nicht „österreichisch“ genug seien. Wegen unserer Hautfarbe, dem Geburtsland, der Erstsprache oder der Religion. Die Frage trifft uns regelmäßig wie ein Eintrittstest. Daher kann sie auch vor jeder anderen Frage kommen, vor einer Bekanntschaft oder gar Freundschaft, vor irgendeinem Bezug zueinander oder einer Beziehung. Ein immer wiederkehrender Test, unangekündigt, mit einer Vielzahl selbsternannter Prüfer:innen. In der Schule, auf der Uni, beim Fortgehen, in der Arbeit, bei einem Interview, auf dem Amt, vor der Haustüre, bei der Haltestelle. Eine Prüfung in mein Leben hinein, die zu jedem Zeitpunkt möglich ist – und von mir auch erwartet wird. Nochmal mehr als österreichische Politikerin.

Wo komme ich wirklich her? Ich komme aus Simmering. Geiselbergstraße. Substandardwohnung zwischen Simmeringer Markt und Herderpark. Fremd habe ich mich erst am Land gefühlt, in einem kleinen Dorf in Niederösterreich, wo wir hingezogen sind, als ich ein Teenager war. Deutsch gelernt habe ich im Kindergarten und auch noch in der Volksschule gab es Wörter, die ich nicht kannte. Scheune. Skifahren. Turbine. Und Feiertage. Leopold, zum Beispiel. Da standen wir schon mal vor verschlossenen Schultoren, weil unsere Mutter dachte, dieser österreichische Feiertag wäre nur eine kindliche Erfindung zum Schuleschwänzen.

Für meine Eltern war es nicht einfach. Es waren die 1980er Jahre in Österreich, und was wir erlebt haben, kennen viele Familien mit Migration in ihrer Geschichte nur zu gut. Beleidigungen durch die Kindergärtnerinnen, Beschimpfungen auf der Straße und an der Supermarktkassa. Mein Vater hat jeden Job gemacht. Er war Amateurboxer, Schweißer bei Mercedes Benz, verkaufte Luftballons im Prater, war Geschäftsreisender, vertrieb T-Shirts und Polohemden aus der Türkei in den österreichischen Einzelhandel und belieferte schließlich über seine eigene Firma große Baustellen in Wien mit Fenstern, Türen und Parkettböden. Wir zahlten eine überteuerte Miete für die viel zu kleine Wohnung. Und im Sommer lieferten wir Autoladungen voller Schokolade, Cola, Kaugummi und Bananen bei unseren Verwandten im damals noch kommunistischen Ungarn ab. Viel beschwichtigen und ertragen. Für die Kinder. Meine Mutter war zuvor in Ungarn berufstätig, dann aber mit meinem jüngeren Bruder und mir zu Hause. Irgendwann kamen wir aus dem Kindergarten zurück und sprachen mehr Deutsch als Ungarisch. Meine Mutter lernte dann mit Wörterbuch und Schulfernsehen mit uns Deutsch. Gute Schulnoten wurden als selbstverständlich vorausgesetzt. Alle würden sich anstrengen. Wir würden es hier schaffen. Für weniger gab es kein Verständnis.

„Wo kommst du her?“ ist keine neutrale Frage. Es ist eine Kontrollfrage. Eine Bewertung der Ebenen von Zugehörigkeit. Es ist klar, wer Teil dieser österreichischen Gesellschaft ist und wer nicht. Christlich: Ja. Muslimisch: Nein. Deutsch: Ja. Arabisch: Nein. Weiß: Ja. Schwarz: Nein. Wir Anderen stehen unter permanenter Beobachtung und Einordnung. Wo kommen wir her, wer sind wir, was dürfen wir. Wir sind die zu Integrierenden, und ob uns diese Pflichtübung gelungen ist, entscheiden andere für uns. Sie beschreiben uns – faul, fleißig, brav, schlimm – und beurteilen unsere Leistung und unser Leben. Aber was passiert, wenn wir das nicht länger hinnehmen? Wenn wir widersprechen – und selber sprechen?

1994 saßen wir in einem Zimmer auf der Bezirkshauptmannschaft in Gänserndorf und bekamen die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Ich war 17, mein Bruder ein Jahr jünger. Weil wir noch nicht volljährig waren, wurde die Staatsbürgerschaft über unsere Eltern auf uns „erstreckt“. Sie mussten dafür ihre ungarische bzw. ägyptische Staatsangehörigkeit abgeben. Für mich war es nur ein Pass, für meine Eltern ein Teil ihrer Lebensgeschichte. Mein Vater musste eine Gelöbnisformel vorlesen und ich verkrampfte innerlich. Mein Vater ist kein großer Leser. Schon gar nicht hochtrabender Gelöbnisformeln. Lesen und Schreiben hat er auf Arabisch gelernt. Er spricht gefühlt ein Dutzend Sprachen – alle gut genug, um das Gegenüber immer zu beeindrucken. Rumänisch, Türkisch, Ungarisch, Englisch. Selbstverständlich Deutsch. Aber als er vor der Beamtin stand, mit diesem Zettel in der Hand und seiner Lesebrille auf der Nase, in diesem Moment zählten nicht seine Erfahrung, sein Können oder sein Wissen. Es zählte nur dieser eine Absatz und das richtige Verlesen von Worten, die uns nun auf magische Weise in ein neues Wir einfügen würden. Ein weiterer Eintrittstest, diesmal mit viel Theater. Die Performance von Integration. Ich war erleichtert, dass ich selbst keine Rolle spielen musste. Ich hätte mich glatt geweigert, so wütend war ich.

Ich hatte Glück. Ich maturierte noch als Ungarin und begann wenige Monate später mein Studium als Österreicherin. Ohne den Stress, meinen Aufenthaltstitel verlängern oder meinen Studienerfolg nachweisen zu müssen. Gleichgestellt mit meinen österreichischen Studienkolleg:innen. Mit derselben Möglichkeit zu reisen und zu wählen. Und gewählt zu werden. Mir überhaupt vorstellen zu können, mich für ein politisches Amt zu bewerben. 25 Jahre, nachdem wir eingebürgert wurden, konnten meine Eltern bei der Nationalratswahl 2019 meinen Namen auf dem Wahlzettel ankreuzen und mich ins Parlament wählen.

Unsere Herkunft ist ein Märchen. Eines, in das uns das Gegenüber drängt. Aber auch eines, das wir (uns) selbst erzählen. Jedes Mal aufs Neue und bald auch unseren Kindern. „Wo kommst du her?“ ist keine verbotene Frage. Vor allem dann nicht, wenn die Antwort egal ist. Wenn wir uns kennen. Wenn zuerst ein „Wie geht’s dir?“ kommt. Wenn wir beide etwas Verbindendes zwischen uns gefunden haben. Wenn wir mehr voneinander wissen wollen. Wenn ich sagen kann, dass ich aus Wien-Simmering komme. Und aus Ungarn. Oder aus der Moschee. Und jetzt gerade aus der Arbeit. Wenn meine Identität komplex und meine Heimat an mehreren Orten gleichzeitig sein darf. Meine Sprachen vielfältig und widerständig. Wenn es kein Platzverweis ist, sondern das Öffnen von Räumen. Wenn ich selbst darüber entscheide, wem ich wann was über mich und mein Leben erzähle. Wenn ich bestimmen kann, was Integration ist. Wenn wir uns nicht mehr beweisen müssen.

Unsere Herkunft ist unsere Geschichte. Wir schreiben sie jeden Tag.

Mireille Ngosso

WER BIN ICH?

„Wer bin ich?“ Auf diese Frage erwarten manche als Antwort: „das Flüchtlingskind aus dem Kongo“. Ehrlich, selbst als Erwachsene werde ich manchmal noch als das arme Kind vom Kontinent Afrika dargestellt, nicht als Ärztin, Mutter und Politikerin. Für mich ist das sehr befremdlich. Ich frage mich dann immer: Wieso wollt ihr mich auf meine Herkunft fixieren? Wieso wollt ihr mich nur in einer Rolle sehen und andere Teile meiner Persönlichkeit ausblenden?

Natürlich bin ich auch das Kind, das mit vier Jahren in Traiskirchen ankam, auch wenn ich mich an meine Zeit dort nur mithilfe der Erzählungen meiner Mutter erinnern kann. Aber in meinem Leben musste ich in viele Rollen schlüpfen. Sie alle machen mich aus.

Als Ältestes von vier Kindern lernte ich früh, Verantwortung zu übernehmen, denn ich musste oft für meine Mama einspringen: die Windeln meiner Geschwister wechseln, sie in den Kindergarten bringen, von der Schule abholen, für sie Mittagessen kochen, ihnen bei den Hausaufgaben helfen und das Freizeitprogramm für sie organisieren. Als Zwölfjährige überforderten mich diese Aufgaben. Natürlich wäre ich im Sommer lieber mit meinen Freund:innen im Hof herumgetollt, statt die quengeligen Racker bei Laune zu halten und ihre Babysitterin zu spielen.