image

Zum Buch:

Luis Seebacher erzählt facettenreich sein Aufwachsen als Laubengassler im Bozen der Zwanziger- und Dreißigerjahre: von Lausbubengeschichten, der faschistischen Schule und seiner Leidenschaft für den Boxsport. Hautnah erlebte er als junger Bub den Besuch des italienischen Königs auf dem Waltherplatz oder den Brand des Vogelweider-Verlages unter den Lauben mit. Auch die Weltwirtschaftskrise von 1929 machte vor Bozen keinen Halt: Hungrig klopfte er an die Pforte des Franziskanerordens und bettelte um „a Schtickl Prout“. Die Optionsnachricht erreicht ihn während seines Militärdienstes in Turin. Er ging und wurde in die deutsche Wehrmacht überstellt. Lebhaft schildert Seebacher die Jahre des Kriegseinsatzes in Russland, den langsamen Rückzug vor den vorrückenden Sowjets, das Bangen und Hoffen, heil zu seiner frisch gegründeten Familie heimzukehren, welche bald selbst dem Bombenhagel der Alliierten ausgesetzt ist.

image

Luis Seebacher

Wenn alles in Scherben fällt

Erinnerungen eines Bozner Laubengasslers

Bearbeitet von Thomas Hanifle
Mit einem Vorwort von Leopold Steurer

image

Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung

image

Die Buchreihe Memoria mit Aufzeichnungen, Tagebüchern

image

Titelbild: Die bombardierte Bozner Pfarrkirche 1944/1945, Bild im Besitz von Judith Melchiori, Bozen (Foto Fränzl)

Alle Abbildungen im Buch stammen vom Autor bzw. aus seiner Postkartensammlung (die Bilder auf den Seiten 158 u., 159 und 160 o. hat Rudolf Soppelsa aus Bozen fotografiert)

Der Buchinhalt ist urheberrechtlich geschützt.

© EDITION RÆTIA; BOZEN 2012

Grafisches Konzept: Dall’O & Freunde

ISBN e-book: 978-88-7283-487-9

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Inhalt

Leopold Steurer:

Ein Krieg kennt nur Verlierer, keine Helden

Da fiel mir meine Kindheit ein

Haus Nummer 57

Durch die Altstadt

Si parla italiano!

Revier Waltherplatz

Ferien im Ländle, Freizeit in Bozen

Über den Gugler und das Stadttheater

Patres als Professoren

Harte Zeiten

Faszination Radio und faschistische Subversion

Leidenschaft Boxen

Servus Bozen

Vom Regen in die Traufe?

Kriegsernst

Gebremster Vormarsch

Wir setzen uns nach Westen ab

München im Bombenhagel

Das Ende naht

Vom Auffanglager in die Freiheit

Vom Neuanfang zur Pensionierung

Markante Erlebensdaten

Thomas Hanifle: Sie sollen wissen, wo ich herkomme

Ein Krieg kennt nur Verlierer, keine Helden

Luis Seebacher und seine Familie gehörten zu jenen circa 75.000 Südtirolern, die im Verlauf von Option und Umsiedlung zwischen 1939 und 1943 ihre „alte Heimat“ Südtirol verließen, um im damaligen Deutschen Reich eine „neue Heimat“ zu finden. Sie waren Teil jenes gigantischen Stroms von Flüchtlingen, Umgesiedelten, Vertriebenen, die die beiden totalitären Regime in Berlin und Rom und der von Hitler entfesselte Krieg verursacht hatten.

Fast 50.000 dieser Südtiroler Umsiedler kehrten nach Kriegsende nicht mehr nach Südtirol zurück, der Großteil von ihnen hatte in den am Rande der verschiedenen Städte und größeren Zentren Vorarlbergs, Tirols und Salzburgs erbauten „Südtirol-Siedlungen“ Unterkunft gefunden, wo nicht selten bis heute noch deren Kinder und Enkelkinder wohnen. „Neue Heimat“ hatte ja auch nicht zufälligerweise jenes NS-Siedlungswerk geheißen, das zumeist noch während des Krieges diese Wohnungen erbaut hatte.

Luis Seebacher war nach seiner Heirat 1940 in München fünf Jahre lang Soldat einer Nachrichteneinheit an den verschiedenen Fronten und fand dann mit seiner Familie zunächst in Bludenz Wohnung und Arbeit. Dort wohnten nämlich die Eltern seiner Mutter, die Familie Fasolini. Diese gehörte zu jenen vielen Familien, die im Zuge der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Trentino, dem „Armenhaus Tirols“, oder aus dem Veneto nach Vorarlberg gezogen waren, um hier als Beschäftigte in der florierenden Textilindustrie des Landes eine bessere Zukunft zu erhoffen. Ein Leben unter sozial prekären Verhältnissen beziehungsweise als „Migranten“ – denn auch seinen Vater hatte es als Zimmerer und Baupolier für einige Jahre nach Bayern verschlagen, wo ja Luis selbst 1920 in Altötting kurz vor der Rückkehr der Familie nach Südtirol geboren wurde – war also Luis Seebacher quasi mit in die Wiege gelegt. Zu den Kindern aus begüterten Familien, „nati con la camicia“ (nicht arm und nackt, sondern eben schon „mit einem Hemd bekleidet geboren“), wie es der italienische Volksmund so schön formuliert, gehörte Luis wahrlich nicht. Er musste sich alles selbst und hart erarbeiten. Dieser sein ausgeprägter Leistungswille, sein Bewusstsein, dass beruflicher Aufstieg über den Weg der Bildung möglich ist, gepaart mit der Überzeugung von der Notwendigkeit größerer sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft, prägte das ganze Leben Luis Seebachers und findet sich auch auf allen Seiten seiner Erinnerungen wieder. Und so übernahm er gewissermaßen den Beruf des Vaters, wenngleich sozusagen in einer potenzierten Form beziehungsweise auf einer höheren Ebene, denn sein Weg führte ihn zielstrebig von einer kurzen Zeit als Holzfäller und fünf Jahren im Stollen beim Kraftwerksbau über die Betriebsratsfunktion, die Absolvierung der Sozialakademie der Wiener Arbeiterkammer in Mödling, die Funktion eines Landessekretärs für die Arbeiter des Bau- und Holzsektors in Vorarlberg bis zum jahrelangen Einsatz als Anwalt und Interessenvertreter aller Bau- und Holzarbeiter Österreichs in seiner Funktion als Zentralsekretär dieser Kategorie im Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB).

Seebachers Erinnerungen sind vor allem ein nostalgischer Rückblick auf die Zeit seiner Kindheit und Jugend im Alt-Bozen zwischen den beiden Weltkriegen. Aber es ist, bei aller Nostalgie über die Verspieltheit, Unbekümmertheit, Abenteuer- und Unternehmungslust des Jugendlichen, k e i n Blick zurück mit n u r romantisch-verklärendem Anstrich. Stets ist die Schilderung von schulischen und „freizeitlichen“ Erlebnissen und Abenteuern der „Laubengassler-Buben“ um Luis, dessen zwei Jahre jüngeren Bruder Norbert, den unzertrennlichen Freund Rudi Mair und andere Jugendfreunde a u c h ergänzt mit Informationen über die oft schwierige finanzielle Situation der Familie. Ein angenehmes, sorgenfreies oder gar luxuriöses Leben war es zweifellos nicht, dieses Leben der Angestellten, Arbeiter, Beamten, kleinen Ladenbesitzer oder Handwerker im Herzen des deutschsprachigen Bozen, zu denen der Kreis der Verwandten und Bekannten um die Familie Seebacher gehörte. Auch so mancher schon vor ein bis zwei Generationen zugewanderte (und inzwischen weitgehend assimilierte) „Welschtiroler“ aus dem Trentino befand sich darunter, sodass für das Stadtkind Luis der Wechsel vom deutschsprachigen Kindergarten bei den Barmherzigen Schwestern zur italienisch-faschistischen Volksschule ein nicht ganz so traumatischer „Kulturschock“ gewesen sein mag wie für die allermeisten deutschsprachigen Kinder in der ländlichen Peripherie Südtirols.

Oftmals finster, grau und feucht war das Wohnen der kleinen Leute unter sanitär-hygienisch prekären Verhältnissen in den damaligen Bozner Lauben, und wer als Bewohner des obersten Stockwerkes das Glück hatte, Licht, Luft, Sonne und eine schöne Aussicht auf die umliegenden Berge zu haben, musste dafür als Strafe zumindest das Wasser für den täglichen Gebrauch über die engen und steilen Treppen kübelweise hinauf- und wieder hinunterschleppen. Früh schon waren die Kinder mit den Alltagssorgen der Familie konfrontiert, denn der karge Verdienst (Vater Seebacher war immerhin leitender Arbeiter im Baugeschäft, bis er 1934 nach einem Konkurs der Firma, bei der er angestellt war, für einige Zeit arbeitslos wurde) reichte oft kaum zum Bezahlen der Monatsmiete und des Nötigsten an Essen und Kleidung. „Verzichten und Sparen“, so heißt es einmal kurz und bündig in diesen Erinnerungen, war zumeist die notwendige „Überlebensstrategie der Familie“. Dass zur Aufbesserung des oft kaum reichenden Geldes für den täglichen Haushaltsbedarf gelegentlich sogar ein Zimmer der Wohnung an italienische Beamte, die im Zuge der faschistischen Migrationspolitik nach Bozen kamen, „untervermietet“ werden musste, veranschaulicht diesen Sachverhalt recht deutlich.

So ist Luis Seebacher in diesen seinen Memoiren nicht nur ein penibler Chronist der sprachlich-kulturellen Veränderung der Stadt unter dem faschistischen Regime, angefangen von den Umbenennungen von Schulen, Plätzen und Straßen bis hin zu den alltäglichen Erfahrungen Schule und Freizeit betreffend, sondern er gibt auch immer wieder präzise Informationen über Lebensmittelpreise und Löhne, über Eintrittspreise in die Gugler’sche Schwimmschule in Quirein an der Talfermauer, bei kulturellen Veranstaltungen in den Bürgersälen oder im Stadttheater, über die Preise für Trinken und Essen in den Gasthäusern rund um Bozen, in denen bei den sonntäglichen Ausflügen eingekehrt wurde, sowie über die seinerzeitigen Essensgewohnheiten. Da angesichts der damals noch geringen Mobilität der Großteil solcher familiärer Wochenendausflüge von den „Stadtlern“ zu Fuß absolviert wurde, kam diesen Gasthöfen auch eine nicht unerhebliche gesellschaftliche und politische Funktion zu. Solche Landgasthöfe waren beispielsweise das „Scharfeck“ in Gries, die mitten in den Weingärten von Quirein gelegene „Hofer-Katl“ (einige Jahre lang ein Treffpunkt für die Sympathisanten der illegalen NS-Bewegung), vor allem aber die beiden Gasthöfe „Wendlandt“ und „Kohlerhof“ auf dem Virgl, wo für die Familie Seebacher mit der Familie Werner auch verwandtschaftliche Beziehungen bestanden. Als Chronist für das Praktisch-Konkrete vergisst Luis Seebacher natürlich auch nicht uns mitzuteilen, was damals bei den herbstlichen Ausflügen das Herz aller Kinder höher schlagen ließ: Maroni mit Maibutter (gebratene Kastanien mit Schlagsahne und ein bisschen Zimt drauf).

Zumindest erahnen lässt uns so manche Erzählung Seebachers, inwieweit der gesellschaftliche „Modernisierungsschub“, den die faschistische Politik in den Dreißigerjahren auslöste, vor allem bei Jugendlichen auch auf Zustimmung stieß, trotz aller Unterdrückungsmaßnahmen im sprachlich-kulturellen Bereich. Dies war in erster Linie die bewusste Forcierung des Sports in Schule und Freizeit, die Einrichtung der „Gratis-Ferienkolonien“ am Meer als Prämie für begabte und fleißige Schüler, das neue Wahrnehmungsgefühl von Raum und Zeit, das mit einer größeren Mobilität und dem technischen Fortschritt, den ersten Stummfilmen im Kino, mit Motorrad, Auto und Radio verbunden war. Auch wenn all dies für die breite Masse der Bevölkerung zumeist noch unerschwingliche Luxusgüter waren (ein Telefunken-Radio, so erfahren wir, kostete ungefähr die Summe von drei durchschnittlichen Monatslöhnen eines Arbeiters!), so war die Faszination, die davon ausging, wahrscheinlich umso größer.

Wichtige und große, explizit politische Ereignisse und Veränderungen der Bozner Stadtgeschichte jener Zeit bleiben in den Erinnerungen von Seebacher eher ausgeblendet. Dies ist wohl eine bewusste Entscheidung, denn ihm geht es nicht um eine (weitere) wissenschaftlich-historiografische Rekonstruktion der Veränderungen des Stadtbildes von Bozen zwischen den beiden Weltkriegen, sondern vielmehr darum, wie sich diese in der subjektiven Wahrnehmung eines Jugendlichen von damals ins Bewusstsein einprägten.

Erst die in Zusammenhang mit dem Baubeginn der Industriezone und dem Abessinienkrieg stehenden Propagandaveranstaltungen des Regimes in den Jahren 1934 und 1935 sowie die fast zeitgleich und vor allem durch die Saar-Abstimmung vom Jänner 1935 verstärkt ausgelösten Hakenkreuzschmierereien vonseiten der entstehenden autochthonen nationalsozialistischen Bewegung finden Erwähnung. Nicht zuletzt mag das auch damit zu tun haben, dass die Welt des heranwachsenden Luis Seebacher zunächst einmal hauptsächlich durch das schulische und soziale Ambiente des Franziskaner-Gymnasiums – und das hieß durch eine von den großen politischen Umwälzungen der Zeit zwar nicht unberührte, aber im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen doch eher nur marginal betroffene Welt – geprägt wurde. Hier galten denn auch spezielle Regeln, von denen die beiden wichtigsten „Disziplin und Subordination“ hießen, um das Studium bis zur Matura erfolgreich bestehen zu können.

Nichtsdestoweniger kann der Leser dieser Memoiren die radikalen Veränderungen städtebaulicher, sozialer und ökonomischer Natur, die seit der Erhebung der Stadt in den Rang einer Provinzhauptstadt im Jahre 1926 und sodann seit Beginn der Dreißigerjahre mit der Ausarbeitung eines neuen Bauleitplans, gemäß dem Bozen nach den Intentionen der faschistischen Machthaber zur „Città di Druso“ mit 100.000 Einwohnern werden sollte, zumindest ansatzweise mitvollziehen. Geradezu symbolisch und stellvertretend für diese Veränderungen auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene kann es wohl gelesen und verstanden werden, wenn die Gruppe von deutschsprachigen Jugendlichen um Luis Seebacher (die „Schcolaparkler“) mit den gleichaltrigen italienischsprachigen Jugendlichen um die Brüder Pietro und Andrea Mitolo (beide nach 1945 charismatische Leader der neofaschistischen Partei des MSI) sozusagen in einem „Kampf um die Besetzung eines öffentlichen Raumes“ sich um den zwischen Franziskaner-Gymnasium, Jahn-Turnhalle und Goethe-Schule rund um die Mariensäule liegenden Spielplatz rauften. Während die (vom deutsch-national-liberal ausgerichteten Turnverein 40 Jahre zuvor errichtete) Jahn-Turnhalle inzwischen längst vom Regime enteignet und dem faschistischen Jugendverband der „Gioventù del Littorio“ übertragen und die Goethe-Schule in eine faschistische Volksschule mit dem Namen „Adelaide Cairoli“ umbenannt worden war, hatte nur das Franziskaner-Gymnasium diese Auswirkungen der „nationalfaschistischen Säuberung“ einigermaßen unbeschadet überstanden. Dies dank des guten Einverständnisses und der weitgehend konfliktfreien „Kollaboration zum gegenseitigen Vorteil“ zwischen faschistischem Staat und katholischer Kirche, wie sie mit den Lateranverträgen von 1929 sanktioniert worden war und damit in Südtirol für die kirchlichen Schulen (das Franziskaner-Gymnasium ebenso wie das Vinzentinum in Brixen und das Johanneum in Dorf Tirol) einen beschränkten „Schonraum“ unter ethnisch-weltanschaulichem Aspekt eröffnete.

Anlässlich der Option des Jahres 1939 gehörte die Familie Seebacher wahrscheinlich zu jener Gruppe von Optanten, denen aufgrund ihrer sozialen Lage (städtische Arbeiterfamilie mit prekären Zukunftsaussichten und ohne jeglichen Immobilienbesitz) die Entscheidung nicht unbedingt schwer fiel. Ob dabei die langjährige Mitgliedschaft von Vater Seebacher im bekannterweise deutschnational ausgerichteten Turnerbund und Männergesangsverein von Bozen diese Entscheidung begünstigt und beschleunigt hat, kann nicht mit Eindeutigkeit gesagt, sondern nur vermutet werden. Jedenfalls entschied sich Vater Seebacher als einer der ersten Optanten in Südtirol für sich und seine Familie, die Ehefrau und die drei noch minderjährigen Kinder Norbert, Helma und Hermann, schon im September 1939 für die Auswanderung. Luis Seebacher selbst absolvierte damals gerade seinen Militärdienst in Turin. Den Südtiroler Wehrpflichtigen war schon im Sommer 1939 – wenngleich sie formalrechtlich gesehen noch nicht volljährig waren – das Recht auf die persönliche Entscheidung für die italienische beziehungsweise deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt worden. So wie bei fast allen damaligen Südtiroler Rekruten war das Erlebnis der als vollkommen chaotisch und persönlich ganz unangenehm empfundenen Zustände beim italienischen Heer ausschlaggebend für eine relativ schnelle und spontane Entscheidung für die deutsche Staatsbürgerschaft und Auswanderung. Wie wir aus der historiografischen Forschung wissen, hat diese (weil von den realen Bedingungen der Auswanderung noch gänzlich unberührte und daher) überstürzte Entscheidung der jugendlichen Südtiroler Rekruten die spätere Entscheidung der Familie in so manchen Fällen vorweggenommen. Im Falle der Familie Seebacher war dies allerdings nicht der Fall.

Die fünf Jahre Weltkrieg verbrachte Luis Seebacher als Soldat einer Nachrichteneinheit, die meiste Zeit davon an der Ostfront. Mit Glück und Geschick hat er sich gewissermaßen durch diese schreckliche Zeit „gewurstelt“. Dass er dabei als Teil einer Nachrichteneinheit nicht an vorderster Front agierte, hat Seebacher vielleicht das Leben gerettet. Die Gräueltaten und Verbrechen des Kriegsalltags zu erleben, blieben aber auch ihm nicht erspart – und haben sich tief in sein Gedächtnis gemeißelt. Seebacher war kein Kriegsheld, zumindest nicht nach nazistischer Definition. Er hat einfach versucht, zu überleben. Ein Krieg, zumal immer unmenschlich, kennt auch keine Helden, sondern nur Verlierer. Ob bei der Schilderung von Kontakten mit der russischen Zivilbevölkerung, des Umgangs mit den Kameraden der eigenen Einheit oder mit Kriegsgefangenen, der Bombardierung Münchens und dabei der Zerstörung des Hauses, in dem seine Frau mit ihren Eltern lebte, oder der abenteuerlichen Heimkehr nach Bludenz bei Kriegsende, nie verfällt Luis Seebacher in den apologetischen Ton und militaristischen Stil eines „Landser-Romans“. Eine gewisse kritische Distanz zu den Propagandaparolen des NS-Regimes und ein humanitären Werten verpflichtetes Verhalten waren nicht nur Grundprinzipien seines Denkens und Handelns, sie prägen auch seinen Rückblick auf diese schwierige Zeit. Andeutungen heroischen Widerstandsgeistes oder gar Beschreibungen heldenhafter Einsatzbereitschaft gehören jedenfalls nicht zum Charakterzug und Lebensstil Luis Seebachers.

Publikationen von betroffenen Zeitzeugen zur „Erinnerungskultur“ Südtirols in den letzten Jahrzehnten, ob von Intellektuellen, „einfachen Leuten“ oder Politikern verfasst, sind eher rar. Luis Seebachers Erinnerungen bilden daher einen neuen wertvollen Beitrag und eine wichtige Bereicherung für eine differenziertere Sichtweise auf die Südtiroler Zeitgeschichte.

Leopold Steurer

Meran, Dezember 2011

Da fiel mir meine Kindheit ein

Versuche, Erinnerungen aus frühester Kindheit wachzurufen, scheitern meist am Fehlen handfester Anhaltspunkte. An das elementarste Ereignis, den Eintritt ins Leben zum Beispiel, kann sich nicht einmal das Unterbewusstsein erinnern. Es ist wie weggewischt.

Im Alter von dreizehn Monaten wurde ich Opfer eines Hundeangriffs. Unser Rattler hat sich meine Sekkaturen nicht länger gefallen lassen und sich in meine Backe, die linke, verbissen. Eine böse Geschichte, laut meiner Mutter, und gebrüllt soll ich haben wie eine Horde „tifosi“ auf dem Fußballplatz. Die ganze Baumannschaft samt Kapo (das war mein Vater) ließ die Arbeit liegen und rannte zur Unfallstelle. So passiert auf dem Hof eines Fabrikareals in Sinich bei Meran, wo Vater nach seiner Bewährungsprobe im bayrischen Burgkirchen eine Großbaustelle zu leiten hatte. So sehr ich mein Gedächtnis auch anstrenge, kein Fünklein eines Erinnerungsblitzes leuchtet auf. Wäre da die Narbe nicht, man könnte den Vorfall als ein Fantasiegebilde abtun.

1922 war ich zwei, als mich die Masern befielen. Wir hatten bereits unser Zuhause in Bozen, eine Wohnung in der Laubengasse Nummer 57. An dieses Ereignis erinnere ich mich genau: Wir wohnten im ersten Stock, zur Laubengasse hin. Ich lag im vorderen der beiden großen Zimmer, in einem großen Bett. Mama hatte das Zimmer vorsorglich abgedunkelt, weil mir die Augen brannten, und sie hat mich gesund kuriert. Dann bricht der Faden der Erinnerungen ab. Das Nächste, woran ich mich erinnere, sind Szenen einiger weniger Meter eines Stummfilmes, der in den Bürgersälen aufgeführt wurde und den ich auf Mamas Schoß sitzend miterleben durfte. Das war bald nach der Geburt meines Bruders Norbert.

Sehr deutlich erinnere ich mich an meine Versuche, auf dem Waltherplatz einer Taube habhaft zu werden; zweieinhalb war ich. Von da ab reiht sich Erinnerung an Erinnerung, als hätte ich das Markanteste in einem Tagebuch aufgezeichnet.

Im Gedächtnis verankert ist auch jenes Schreiben vom 29. September 1939, mit dem der Präfekt von Bozen, Giuseppe Mastromattei, meinem Vater mitteilte, dass er dessen Entscheidung, den italienischen Staatsverband samt Familie verlassen zu wollen, zur Kenntnis genommen hatte und die nötigen Maßnahmen veranlassen würde. Eines jener unzähligen gleichlautenden Schreiben, die in jenen Tagen und Wochen Südtiroler Landsleute als Adressaten erreicht haben. Mit zwanzigjähriger Verzögerung schien sich nun auch das zu erfüllen, mit dem Mussolini-Handlanger Ettore Tolomei seit der Zerreißung Tirols unablässig beschäftigt war: das Land an und ober der Etsch bis zum Brenner von den „Barbaren“ zu säubern und für alle Zeiten zu italianisieren. Gelegenheit dafür bot die Umsiedlungsvereinbarung zwischen Italien und Deutschland, der zufolge alle Südtiroler, so sie sich der Italianisierung nicht beugen wollten, in deutschen Landen jenseits des Brenners angesiedelt werden sollten. Das Resultat ist bekannt: Rund neun von zehn Südtirolern entschieden sich fürs Gehen.

Ich habe von der teuflischen Intrige gegen unser Volk von einem Kameraden während meines Militärdienstes in Turin erfahren. Oberto Chiap war stets über alles informiert; er schöpfte sein Wissen aus Quellen, die mir verschlossen waren. Chiap warnte mich vor den Ränken Mussolinis und Hitlers, zumal der Führer auf Krieg aus sei und reichlich Kanonenfutter brauchen würde. Hitler war für mein Dafürhalten weit weg, und an Krieg wollte ich nicht glauben, trotz des deutschen Angriffs auf Polen am 1. September 1939. Ob auch uniformierte Südtiroler den Weg der Optanten gehen könnten? Sie konnten. Hierzu bedurfte es lediglich einer Erklärung vor dem zuständigen Militärkommando.

Soll ich, soll ich nicht? Ich schwanke zwischen der Chance, dem Turiner Militärchaos zu entrinnen, ohne fahnenflüchtig zu werden, und dem Festhalten am Heimatboden. Bleibe ich, begehe ich Verrat an meinem Tiroler Deutschtum; gehe ich, verliere ich meine Heimat. Eine schlimme Situation, in der ich mich plötzlich befand. Das deprimierende Milieu des Turiner Militäralltags gab schließlich den Ausschlag. Ich ging!

Noch zum Unteroffizier befördert, meldete ich meinen Optionsentscheid an. In der zweiten Dezemberwoche von 1939 wurde ich in Ehren aus dem italienischen Wehrverband verabschiedet, vom Regimentskommandeur höchstpersönlich. 14. Dezember: Endlich wieder daheim, und Weihnacht steht vor der Tür. In die Freude, dem Turiner Albtraum entronnen zu sein, mischt sich Traurigkeit. Mein Bruder Norbert ist nicht mehr da, Rudi Mair, Freund seit Kindestagen, auch nicht mehr. Und nicht mehr da sind die beiden Kasseroler Brüder Fritz und Karl, Teddy Maier aus der Goldschmiededynastie, und viele andere. Wo sind sie? Schon in den Fängen des Raubvogels jenseits der Alpen?

Ich irre durch die Straßen der Stadt meiner Kindheit. Wie leergefegt kommen sie mir vor. Alle, die mir etwas bedeutet haben, sind weg. Ich vermisse ihren Klatsch, ihre „Narreteien“, die „Salta-la-Mula“ und die „Määässen“-Rufe, ihr Mogeln beim Kartenspielen. Und plötzlich fühle ich mich einsam und elend. Mir ist zum Heulen. Da fiel mir meine Kindheit ein! Den Unzähligen, die das Ende des Vernichtungswahns im letzten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben, sind meine Aufzeichnungen gewidmet.

Mein Dank gilt allen, die mir vom Kindergarten an bis in die heutige Zeit Freunde geblieben sind. Wenige genug sind es, die die Zeitläufte unbeschadet überstanden haben und mir als Zeitzeugen manch wertvollen Hinweis geben konnten. Mein Dank gilt auch meiner Tochter Heidi; sie war es, die Ordnung in meine „Zettelwirtschaft“ gebracht hat.

Luis Seebacher

Haus Nummer 57

Was heute am unteren Ende des Eisacktales als Bozen figuriert, das ist längst nicht mehr Bozen, das ist für mich Bolzano. Das wirkliche Bozen war das merkantile Zentrum des Tirols unterhalb des Brenners, wie es trotz der zunehmenden Italianisierung ab Beginn der Zwanzigerjahre noch heute im Alt-Bozner Stadtteil unverkennbar und spürbar ist: eine sich um die Laubengasse, diese von Ost nach West ausgerichtete Handelszeile, entwickelnde Metropolis, überschaubar und ökologisch vertretbar. Von der Talfer im Westen, dem Eisack im Süden, dem „Dorf“ und St. Oswald im Norden und Zwölfmalgreien im Osten geografisch umzingelt ist der Standort meiner Stadt. Dort habe ich meine Kindheit und meine Jugend verbracht.

Den genauen Zeitpunkt des Transfers von Altötting in Bayern über Sinich bei Meran nach Bozen in das Haus Nummer 57 unter den Lauben habe ich wohl mitgekriegt, aber nicht behalten. Wenn ich ein bisschen zurückrechne, komme ich auf das Jahr 1921. Wie dem auch sei: In der „Beletage“ habe ich den Keuchhusten überstanden, die Masern überwunden und meine erste Influenza gemeistert, und das alles innerhalb eines einzigen Jahres, von meinem zweiten zum dritten Lebensjahr. Mama, die in diesem Zeitraum mit meinem ersten Bruder schwanger ging, hatte alle Hände voll zu tun. Norbert kam am 6. Juli 1922 in Bozen zur Welt: Getauft wurde er auf Josef, was Vater aber absolut nicht in den Kram passte. „I will koan Seppl!“, sagte er, deshalb wurde er einfach Norbert gerufen.

Im Oktober des gleichen Jahres lernte ich Schwester Davida kennen, im Kindergarten der „Barmherzigen“ in der Franziskanergasse, wohin mich Mama brachte, kaum war ich stubenrein geworden. Zwei Kindergartenjahre war ich mit einer Schar gleichaltriger und älterer Buben und Mädchen der Schwester anvertraut gewesen. Und wie elend war mir zumute, als ich den Klosterkindergarten mit dem städtisch-faschistischen an der Vintlerstraße, nächst dem Marienplatz, tauschen musste. Das mir völlig fremde Milieu traf mich wie eine harte Strafe, für die ich nicht die geringste Schuld trug. Per Dekret wurden alle privaten und geistlichen Kindergärten gesperrt und die Eltern verpflichtet, ihre Kinder mindestens ein Jahr vor Beginn des Schuljahres 1926/27 in öffentliche Kindergärten zu schicken. Dort sollten sie quasi spielerisch im Kontakt mit Kindern zugewanderter Italiener mit der fremden Sprache vertraut gemacht werden. Denn in der Volksschule war es mit unserer Muttersprache aus und vorbei.

Drei Stockwerke ragt das Haus Nummer 57 laubengassenseits der Sonne entgegen und hat ein zur Wohnung ausgebautes Dachgeschoss, das bis zur Lichthaube reicht. Der gegen Süden ausgerichtete Trakt ist um eine Etage höher, was wohl mit der Konstruktion der Lichthaube zusammenhängt; zudem birgt er noch den geräumigen Dachboden. In der Laube, dem Gewölbe im Erdgeschoss, war das damals wohl größte und schönste Blumengeschäft Bozens untergebracht, der Detailhandel der Großgärtnerei Streiter. Das Streiter’sche Anwesen lag im „Dorf“ am Oswaldweg und erstreckte sich bis zur Oswaldpromenade, wo die „Wildn Mandr“, zwei spitzkegelförmige Porphyrriesen, aus dem Berg ragen und auf die zu ihren Füßen liegende Stadt herunterschauen.

Dem „Blumendoktor“ Streiter gehörte auf Nummer 57 nicht nur das ganze Parterre bis hin zum Hof des Nachbarhauses an der Silbergasse, sondern auch die ganze Kelleranlage, sodass den Mietern der sieben Wohnungen der Gang in den Keller erspart geblieben ist. Diese „Wohltat“ war dadurch eingeschränkt, dass jedem der Kellerlosen eine Ablage hinter einem Lattenverschlag auf dem Dachboden zugestanden worden war. Etwa zwei Quadratmeter Bodenfläche hatten die „Holzlegen“, gerade ausreichend, unverzichtbaren Krimskrams unter Verschluss zu halten. Wir hatten Glück: Unsere Holzleg war gemauert, hatte ein Fenster zum Stiegenhaus und eine volle Tür. Dieser Umstand kam Vater ganz besonders entgegen, denn er konnte dort vor fremden Zugriffen ziemlich sicher seinen umfangreichen Bestand an teuren Werkzeugen aufbewahren.

Unser Domizil umfasste zwei große Zimmer und eine um die Hälfte kleinere, dunkle Küche; Wasser und Klo befand sich auf dem Gang. Wenn man durch eines der Küchenfenster schaute, sah man den gitterbewehrten „gläsernen“ Flur und das Treppenhausvisavis: düster und unbesonnt, denn von oben durch das Glasdach reichte kein Sonnenstrahl bis zu uns herab. Sonne und Grün konnten wir nur im Freien genießen, abseits der romantischen Gassen, Durchgänge und Winkel der Altstadt, im Marienpark zum Beispiel.

Irgendwann im Laufe des Jahres 1924 sind wir von dem an und für sich bequemen, aber düsteren ersten Stock in den dritten gezogen, und zwar in dem südseitig gelegenen Trakt, wo nicht lange vorher die Wohnung frei geworden war. Sie entsprach schon eher den Vorstellungen meiner Eltern von Wohnwert und Wohnkultur: viel Himmel, viel Sonne, mit Blick auf Kohlern, einen der schönsten Hausberge der Bozner. Sogar die Spitze des Turmes der Pfarrkirche mit der großen goldenen Kugel, in der angeblich ein Erwachsener sitzend Platz hätte, und dem Kreuz darauf war zu sehen.

Kaum mehr als einen Katzensprung betrug die Distanz vom Streiter-Haus zum Kindergarten. Uns gegenüber war der Durchgang zum Fischmarkt/Dr.-Streiter-Gasse, die kürzeste Verbindung zur Franziskanergasse und sicher genug, mich nach einer gewissen Übergangszeit allein auf den Weg zu den frommen Schwestern zu schicken. Den besagten Durchgang gibt es heute noch, wie eigentlich alle Passagen von den Lauben zur Silber- und zur Dr.-Streiter-Gasse. Ursprünglich waren die Durchgänge als strategische Passagen zum Ringwall in die beiden Häuserzeilen, die heutige Laubengasse, eingeplant worden, vor beinahe tausend Jahren.

Bei den frommen Schwestern entwickelten sich die ersten Freundschaften, die bis ins Pflichtschulalter hinein und auch darüber hinaus, ja ein Leben lang hielten. So die mit Rudi Mair, der, sieben Monate älter als ich, mir immer eine Schulklasse voraus war. Unsere Mütter (Rudi nannte seine „Minca“, wohl dem kosenden slawischen Diminutiv von Matka: „Mamuschka“, „Maminka“, nachempfunden) kannten einander wegen der Kindergartenkontakte und waren befreundet. Kaum war Norbert im „Mitzieh-Alter“, ergab sich aus ihm, Rudi und mir ein schier unzertrennliches Freundestrio, voller Lebenslust und Lebensfreude, ständig auf Achse und Abenteuer ausheckend, keiner Lausbüberei abhold, sofern sie das Beichtgeheimnis unserer Seelsorger nicht allzu sehr strapazierten. Es war unsere „glorreiche“ Zeit nach dem Kindergarten. Ich will uns nicht besser machen, als wir waren, aber es ist schon so: Wir waren im Grunde brave und folgsame Lausbuben. Der quirligste war Norbert, dem die Lust nach Abenteuer geradezu in die Augen geschrieben stand.

Obwohl in der Wohnung über den Lauben die Küche nicht viel Platz bot, spielte sich trotzdem ein Gutteil des Familienlebens dort ab. Einmal war ich gerade erst vom Kindergarten heimgekehrt und schnupperte Rasierwasser an Vaters frisch rasiertem Gesicht. Auch er dürfte gerade erst vom Friseur heimgekommen sein; diesen Luxus leistete sich Vater jeden Samstag, solange er sich’s eben leisten konnte. Er war gut gelaunt, zeigte sich übermütig, schnappte sich Norbert, der sich schon aufrecht halten konnte, schubste ihn gegen den Plafond und fing den Kleinen im Fallen wieder auf. Norbert machte es hörbar Spaß: Er quietschte derart vergnügt und laut, dass man es bis auf den Gang hinaus hörte. Mama gefiel das Treiben der beiden ganz und gar nicht. „Hear decht au, i konn schun nimmer zuaschaugn!“, mahnte sie Vater. Und dann war es passiert: Norbert rutschte dem Vater durch die Hände und klatschte bäuchlings auf dem Küchenboden auf. Das vergnügliche Gequietsche war urplötzlich einem gotterbärmlichen Gebrüll gewichen. Ich selber blieb vor Schreck ein paar Augenblicke regungslos stehen, hörte noch Mama, wie sie händeringend dem Vater die heftigsten Vorwürfe an den Kopf warf. Während sie Norbert aus seiner jämmerlichen Lage zu sich ans Herz nahm, rannte ich in panischer Angst zur Tür und auf den Gang hinaus. Norbert war Gott sei Dank nichts weiter passiert, keine innere Verletzung, kein Knochenbruch, „nur“ ein handtellergroßer Bluterguss auf Brust und Bäuchlein zeugte von dem Unfall, der sehr bös hätte ausgehen können. Ober uns ordinierte der Zahnarzt Dr. Dejaco, 1928 wechselte er seine Ordination in die Nähe der Buchhandlung Vogelweider. Ober dem Zahnarzt, im dritten Stock, wohnte das kinderlose Ehepaar Giovannini (keine Italiener, wie der Name vermuten ließe). Wenn die Frau nach „Guiidooo!“, also ihrem Mann, rief, dann hörte sich das wie „aiuto“ an. Giovanninis bestritten ihren Unterhalt mit einem Wasch- und Bügelservice. Noch ein Stückchen weiter oben, schon unter dem Dach, wohnte bis Ende 1933 das Ehepaar Pancheri, kinderlos auch sie; dann zog das jungvermählte Paar Füller ein, froh, ein Nest unter dem Dach gefunden zu haben. Sie, italienischen Ursprungs, hütete das Heim und sehnte sich nach Mutterschaft; er, Blumengärtner beim Streiter, beherrschte das Okulieren und Kopulieren, sorgte für blühenden Flieder und duftende Maiglöckchen zur Weihnachtszeit und trieb in dunklen Kanälen Importazaleen bis zur Blüte, außerdem war er Herr über eine Vielzahl von Kakteen.

Im südseitigen Trakt wohnte im vierten Stock die Familie Franceschi mit Söhnchen Bruno, Welschtiroler und lange vor dem Ersten Weltkrieg in Bozen ansässig. Mamma Franceschi, ganz Mutter und Hausfrau, sprach nur sehr gebrochen Deutsch. Sie war blond, vollschlank (gut zweimal unsere Mama, was Fülle und Gewicht betrafen) und hatte ein sonnig-warmes Gemüt. Der Babbo Franceschi, mindestens fünfzehn Jahre älter als seine Gattin, war Schuhmacher und hatte seine Werkstätte in der Gerbergasse, ein nicht gerade nobles Viertel. Die Gerberei dort verbreitete zuweilen einen pestigen Gestank.