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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

Illustration Volker Brahmer

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-23483-5 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51471-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51471-3

ERSTER TEIL

«An Rheumatismus und an wahre Liebe glaubt man erst,
wenn man davon befallen wird.»

 

MARIE FREIFRAU VON EBNER-ESCHENBACH

KAPITEL 1

Faszinierend, immer wieder: Die Waldameise streckte ihren Hinterleib zwischen ihren sechs Beinen nach vorne, brachte den Acidoporus in Stellung und schoss das Gift mit tödlicher Treffsicherheit auf das fünfzig Zentimeter entfernte Ziel – gewöhnlich ein Angreifer, in diesem Fall ein Streifen Lackmuspapier.

«So möchte ich auch mal abspritzen können.» Die Studenten lachten, sogar die weiblichen Kommilitoninnen zollten dem vorwitzigen Schwachmat gackernd Respekt. Keiner im Kurs schaute mehr durch die Vergrößerungsgläser auf den Versuchsaufbau, bei dem Waldameisen von feindlicher Ameisensäure eingenebelt ums Überleben kämpften.

Isa seufzte leise. Das waren ihre Studenten des Exzellenzstudiengangs. Die Verteidigungskünste der Formica rufa und ihr säurespritzendes Abdomen beflügelten die Phantasie dieser Bachelor-Anwärter zu nichts weiter als einem zotigen Gag. Sie schickte einen kurzen, aber flehenden Blick zum Himmel, bevor ihr wieder einfiel, dass da oben gar niemand war, der ihr hätte helfen können. Isa gab sich einen Ruck, überhörte die weitersprudelnden, mittelprächtig witzigen Kommentare und beendete die Stunde fünf Minuten vor Schluss mit einem milden Lächeln. «Bevor Ihre Köpfe heiß laufen …»

Allgemeines Gejohle. Kaum zu glauben, dass zwischen ihr und dieser Affenhorde kaum fünf Jahre Altersunterschied lagen. «Die Versuchsaufbauten können Sie bitte stehen lassen für die nächste Laborgruppe.» Isa wandte sich wieder der Ameise unter dem Vergrößerungsglas zu. Immer noch verharrte das Insekt in Angriffsposition: den Acidoporus vorgereckt, zum nächsten Schuss bereit, die kräftigen Mandibeln aufgesperrt, als wollte es einen Salatkopf verspeisen, die Funiculi, auch Antennen genannt, weit ausgebreitet und starr. Isa ließ die feindliche Ameisensäure aus dem Behälter entweichen, und sofort entspannte sich die kleine Kriegerin.

«Frau Professor Werner …»

«Huch!» Ihr Schrei klang markerschütternd, als wäre sie nicht angesprochen, sondern angestochen worden. Dummerweise hatte sich nicht nur ihre Stimme, sondern auch ihre rechte Hand erhoben und war im Reflex karatemäßig zur Seite geschnellt. Eine tolle Reaktion. Sehr wirkungsvoll, falls sie wirklich mal mit einem Messer bedroht würde. Der vermeintliche Aggressor lag auf dem Boden und krümmte sich.

«’tschuldigung, ich wollte Sie nicht …», stöhnte der Student mit knappem Atem.

«Schon gut, nichts passiert … also, ich meine … mir ist nichts passiert.» Sie taxierte den Studenten. «Patrick … Patrick …»

«Sedrick», verbesserte er und rappelte sich auf, «Sedrick Fuchs.»

«Ja, richtig!» Peinlich, dass ihr sein Name nicht eingefallen war. Unverzeihlich. Er war einer der wenigen Bachelor-Studenten, die sich in ihre als «Informationstsunami» berüchtigten Vorlesungen trauten, und er war der einzige Student, der jedes ihrer Worte mitzuschreiben schien. Dabei brachte er noch das Kunststück fertig, sie über seinen Laptop hinweg anzustrahlen, als verkündete sie den Verkaufsstart des neuesten Apple-Must-Haves und nicht die Grundlagen der Myrmekologie.

«Geht’s denn wieder?»

Sedrick nickte. Er strich sich zweimal durchs Haar, vermutlich um zu prüfen, ob sein verwegenes Styling noch verwegen genug war. Dann lächelte er sie schüchtern an. Er war ein hübscher Kerl. Isa hatte das bisher gar nicht richtig wahrgenommen. Sie lächelte verlegen zurück.

«Ich würde den Versuch gerne noch einmal wiederholen.»

«Den Versuch, mich anzusprechen?» Sie stand auf dem Schlauch.

Er lachte. «Den Versuch mit der Ameise natürlich.»

«Natürlich.» Sie musste ebenfalls lachen.

«Ameisen sind einfach großartig. Ich würde es wirklich gerne noch einmal sehen.»

Isa zögerte einen Moment. Sedricks Eifer verblüffte sie. Dann nickte sie begeistert. «Warum nicht?» Unglaublich: Da hatte sie endlich einen qualifizierten Studenten unter all den trüben Tassen gefunden, und sie schlug ihn fast k.o. Typisch. «Ich hole nur eben die Ameisensäure.»

Es dauerte keine zehn Sekunden, und sie war mit dem Fläschchen aus dem Nebenraum zurück. Der kurze Augenblick reichte Sedrick, um mit einer weiteren Überraschung aufzuwarten:

«Happy Birthday, Frau Professor!» Er reckte ihr einen kleinen Schokoladen-Gugelhupf entgegen, auf dem die vielen Minikerzen kaum Platz hatten.

Isa zählte die Kerzen: zweiunddreißig. Er musste ihren Geburtstag gegoogelt haben. Sie war verwirrt. War das jetzt eine Privatveranstaltung, oder war das noch Unterricht? War Sedrick Fuchs an Myrmekologie interessiert oder an ihr?

«Ich hab die Streichhölzer vergessen. Sorry, echt blöd.» Er schaute wie ein Hundewelpe. Isa war sprachlos.

«Könnten Sie vielleicht …? Irgendwo gibt’s hier doch bestimmt welche?»

«Was?»

«Streichhölzer. Sieht doch netter aus, wenn es brennt.»

«Also … ich weiß nicht.»

Welpenblick.

Isa lief zum Schrank. Ein leichtes Panikgefühl machte sich in ihr breit. Was sollte sie von der Situation halten? Bisher galt sie bei den Studenten als «die Unberührbare», und sie war froh über diese Distanz. So konnte sie sich besser auf ihre Arbeit konzentrieren. Bei einigen Kollegen hatte ihr das allerdings auch schon Kritik eingebracht. Sie solle sich doch etwas mehr den Studenten öffnen, hieß es gelegentlich. Vielleicht war ja jetzt der richtige Moment dafür …

Isa kam zurück, lächelte Sedrick an, entzündete das Streichholz und wollte gerade «Danke, das ist wirklich aufmerksam von Ihnen» sagen, als sie bemerkte, dass er sich langsam den Laborkittel aufknöpfte. Über seiner Jeans, die so lässig tief hing, dass ein Streifen Unterhose hervorblitzte, kam ein makelloser nackter Oberkörper zum Vorschein – Muskeln bis hinunter zu den Lenden, deutlich definiert, aber nicht protzig. Unwillkürlich musste Isa an antike Götterstatuen denken, bis Sedrick schließlich den Kittel fallen ließ und seine gleichermaßen phantasievoll wie üppig tätowierten Oberarme zeigte. Ein tätowierter Gott oder ein göttlicher Seemann, flitzte es durch Isas überfordertes Hirn, während sie still und verblüfft schaute und schaute und schaute …

«Autsch!»

Das Streichholz war bis zu ihrem Daumen und Zeigefinger niedergebrannt. Isa schnippte es weg. Und wieder einmal stand ihrer schnellen, von Panik ergriffenen Rechten etwas im Weg: die Flasche mit der Ameisensäure. Das Glas zersplitterte auf dem Boden, und während die Säure nach oben spritzte, fiel das glimmende Streichholz nach unten. Bitte nicht … nicht schon wieder, flehte Isa fiebernd. Doch physikalische Gesetzmäßigkeiten sind erbarmungslos. Das fallende Streichholz und die aufsteigende Säure hatten einen gemeinsamen Schnittpunkt: Sedricks Laborkittel, der ihm noch lose um die schlanken Hüften hing. Isa schrie. Die Stichflamme war gewaltig.

KAPITEL 2

«Wieso haben Sie den jungen Mann in Brand gesteckt?»

Isa schnappte nach Luft. Der Psychodoktor war wohl selbst nicht ganz bei Trost. «Ich habe ihn nicht in Brand gesteckt! Sein Laborkittel hat sich entzündet.»

«Aha.» Dies war kein normales, kurzes Aha im Sinne von Ach so. Es war ein gedehntes, unheilschwangeres Aha, ein Aha, das eine Menge Probleme andeuten wollte – ihre Probleme.

Empört starrte Isa den Psychiater an. «Ich habe kein Verbrechen begangen», betonte sie so ruhig, wie es ihr in diesem Moment möglich war. «Mir ist lediglich ein Missgeschick unterlaufen.»

«Ein Missgeschick», wiederholte der Psychiater betont tonlos. Sie wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen. Glaubte der wirklich, bei ihr im Dachstübchen stimme was nicht?

Sie hätte überhaupt nicht herkommen sollen. Alles in ihr hatte sich gesträubt. Doch jetzt war sie hier und – auch wenn sie es nicht gerne zugab – plötzlich ein wenig verunsichert. Lief in ihrem Leben vielleicht doch etwas schief, und sie merkte es nicht? Während sie ihre schlanken Beine unter dem schlichten Sommerrock übereinanderschlug und nervös an ihrem kurzen Haar herumzupfte, scannte sie im Geiste ihr bisheriges Leben. Sie war gerade zweiunddreißig geworden, hatte schon einen Professorenstuhl inne und wusste endlich, welche Frisur nicht unpraktisch war (Herrenschnitt, struppig gegelt, fertig in einer Minute). Außerdem war sie auf dem besten Weg, internationalen Ruhm zu erlangen. In der Ameisenforschung lief praktisch nichts mehr ohne sie.

Beruflich war sie also erfolgreich, resümierte Isa.

Und privat? Gut, sie hatte keinen Mann und keine Kinder. Aber da sie weder das eine noch das andere für erstrebenswert hielt, war auch hier alles im grünen Bereich. Welche Wissenschaftlerin wollte schon Windeln wechseln und nervtötende Beziehungsgespräche führen, wenn sie Forscherin des Jahres werden konnte?

Nein, nichts war schiefgelaufen. Absolut nichts. Bis auf dieses kleine Missgeschick gestern.

Der Psychiater räusperte sich und riss Isa aus ihren Gedanken. «Frau Werner, ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mit mir reden.»

Ungehalten schaute sie ihr Gegenüber an. Sie wollte sich gar nicht helfen lassen! Es war Blödsinn, dass sie überhaupt hier war! Doch sie musste die Sache wohl durchziehen – ihrem Chef zuliebe. Professor Doktor Andreas Heise, eine Koryphäe in der Verhaltensbiologie, war nicht nur sehr kompetent und sehr sympathisch. Er hatte ihr auch sehr dringend empfohlen, einen Psychiater aufzusuchen. Weil er sich Sorgen um sie mache, hatte er gesagt. Isa verstand nicht, warum. Denn sie machte sich keine Sorgen um sich. Doch sie verstand, dass sie sich bald Sorgen um ihren Job machen musste, wenn sie Heises Aufforderung nicht nachkam.

Also beschloss sie, kooperativ zu sein. Offen blickte sie den Psychiater an, bereit, ihm jede Antwort zu liefern, die er haben wollte.

«Eine Chemikalie, die wir für unsere Versuche mit den Ameisenvölkern benutzen, hat sich entzündet», erklärte sie, «und der Laborkittel des Studenten, der neben mir stand, fing Feuer. Das war alles.» Isa setzte ihre schönste Unschuldsmiene auf. Der Psychiater betrachtete sie schweigend. «Der junge Mann ist völlig unversehrt», fügte sie schnell hinzu. «Wenn man von ein paar verkokelten Brusthaaren absieht.» Sie lächelte den Arzt an.

Stumm erwiderte er ihren Blick, er schien auf etwas zu warten. Mehr Informationen? «Na ja … ein paar Bauchhaare waren auch dabei und …» Isa räusperte sich. «Schamhaare.»

Pause. Was sollte sie noch dazu sagen? Etwas ratlos zuckte sie die Achseln. «Er war nicht rasiert. Jedenfalls nicht oberhalb des Slips.»

«Tatsächlich.» Ungerührt blätterte der Psychiater in seinen Notizen. «Sie sagten, es sei schon öfter etwas in Brand geraten?»

«Ja. Ein paar Kleinigkeiten.»

«Zum Beispiel?»

«Servietten, Pappbecher, Computerkabel», gab sie brav, aber nicht ganz wahrheitsgemäß zur Antwort. «Nichts Beunruhigendes also. Ein Mensch war bisher noch nicht dabei.» Sie versuchte unbekümmert zu wirken – der Psychiater sollte die Dinge nicht dramatischer sehen, als sie waren.

«Was fühlen Sie, wenn es brennt?», fragte er, anscheinend unbeeindruckt von ihrem fröhlichen Mienenspiel.

Unwillkürlich ließ Isa einen gequälten Seufzer los. Sich über Gefühle zu unterhalten, zumal über ihre eigenen, empfand sie als besonders absurde Form der Zeitverschwendung. Sie wusste, dass sie mit dieser Einstellung im falschen Zeitalter lebte. Emotionen waren das Thema dieser Epoche. Jeder in der westlichen Hemisphäre redete über seine Gefühle: im Radio, im Fernsehen, im Internet, in Kneipen sowieso und sogar – für Isa besonders unverständlich – am Arbeitsplatz. Pausenlos wurde man unfreiwillig Zeuge dieses Gebrabbels über Befindlichkeiten.

Gefühle waren entweder schön oder nicht schön. Mehr gab es darüber nicht zu sagen. Als Ergebnis wandelbarer biochemischer Prozesse im Gehirn war weder das gute noch das schlechte Gefühl von Dauer. Warum also so viel Aufhebens darum machen?

Na ja, besann sie sich, sie war beim Psychiater. Da war es wohl angebracht, über Gefühle zu reden. Wieder wurde ihr bewusst, wie bescheuert es war, dass sie überhaupt hier saß.

«Nun?» Der Psychiater lehnte sich in seinem knautschigen Ledersessel zurück. «Was haben Sie zum Beispiel empfunden, als der Student brannte?»

Was für eine blöde Frage. Völlig überflüssig! Kann er sich ja wohl denken, wie ihr da zumute gewesen war. Sie ist doch schließlich kein Alien!

Der Psychiater wartete.

Isa stöhnte und gab ihm, worauf er wartete – Gefühle. «Ich bekam einen Schreck.» Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Psychiater betrachtete sie schweigend.

«Einen schrecklichen Schreck», ergänzte sie. War sicher gut, noch etwas nachzulegen. «Und um das noch einmal klarzustellen: Nicht der Student brannte, sondern lediglich sein Kittel.»

Der Arzt notierte sich etwas.

Isa beschloss ungeduldig, das Gespräch endlich in die von ihr gewünschte Richtung zu lenken: «Ich brauche nur ein Beruhigungsmittel. Irgendetwas Pflanzliches, nichts allzu Starkes.»

Der Arzt schwieg weiter. Sie kam sich vor wie eine Laborratte unter Beobachtung. Mit dem Unterschied, dass sie im Gegensatz zur Ratte ein Bewusstsein hatte. Und dieses Bewusstsein machte jetzt, dass sie sich scheußlich fühlte. Sie wollte nicht beobachtet und analysiert werden.

«Ich bin wohl etwas überlastet», fuhr sie fort. «Meine Karriere war vielleicht etwas zu rasant.»

Schweigen.

«Es ist vollkommen harmlos. Andere verlieren in solchen Momenten ihre Schlüssel, vergessen Namen oder lassen Sachen fallen …»

«Bei Ihnen brennt’s.» Endlich sagte der Psychiater auch mal wieder etwas. Isa war geradezu erleichtert.

«Ja genau, es brennt!» Schnell fügte sie hinzu: «Aber nicht oft, und nur wenn der Stress ungewöhnlich groß ist.»

Das war eine gewaltige Lüge. In den neun Monaten, seit sie wieder in Hamburg lebte, war ihr genau 37-mal etwas in Flammen aufgegangen. Das ist im Durchschnitt 4,1-mal pro Monat, ergo 1,025-mal die Woche, wie sie flugs im Kopf überschlug. Eine signifikante Potenzierung. Normalerweise passierte ihr das im ganzen Jahr höchstens zwei-, dreimal. Zugegeben, das Wort «normal» war in diesem Zusammenhang nicht ganz passend – wirklich normal war das nicht. Isa war das durchaus bewusst, aber sie lebte damit wie andere Leute mit einer Migräne.

Die Häufung in letzter Zeit war allerdings irritierend. Vielleicht lag es an Hamburg, der Stadt ihrer verkorksten Kindheit. Doch sie würde sich hüten, dieses Thema hier anzusprechen. Das hätte der Herr Psychiater wohl gerne. Aber nicht mit ihr! Schließlich war sie nicht nach Hamburg zurückgekommen als das kleine, unbeholfene «Issyschätzchen», wie ihre Mutter sie schon immer qualvollerweise gerne gerufen hatte (auch und besonders vor Schulkameraden). Sondern als Frau Professor Doktor Werner, erfolgreiche Wissenschaftlerin, anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Myrmekologie und jüngste Professorin im ganzen Land.

Isa setzte sich auf, wieder selbstbewusst. «Also, was verschreiben Sie mir? Johanniskraut? Damit hatte ich schon einmal gute Erfolge.»

Der Psychiater schwieg.

Isa unterdrückte ihre Ungeduld. «Ich könnte auch autogenes Training erlernen», schlug sie vor, überzeugt, damit ihren guten Willen zu zeigen, ihr kleines nervöses Leiden aktiv anzugehen und nicht nur Pillen zu schlucken.

Endlich löste sich der Psychiater aus seiner entspannten Sitzhaltung, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und legte in einer gewichtigen Geste die Fingerspitzen aneinander: «Eine Psychotherapie kommt für Sie nicht in Frage, nehme ich an.»

Isa spürte, wie ein heftiges Kichern in ihr aufstieg. Doch sie riss sich zusammen und erwiderte knapp und unmissverständlich: «Nein.»

«Gut. Dann kann ich Ihnen nur einen Rat geben: Wenn Sie diese lästigen kleinen Brände loswerden wollen, dann …»

Er machte eine Kunstpause.

«Dann?»

«Entflammen Sie Ihr Herz.»

Isa starrte den Mann an. Vergeblich suchte sie in der Tiefe seines Blicks nach einem Hinweis darauf, wie dieser Verrückte zu seinem guten Ruf als Arzt gekommen war. Sie beschloss, Psychiater von Platz drei auf Platz eins ihrer Hitliste der zehn unsinnigsten Berufe zu setzen. Noch vor Nagelstylistinnen und Staubsaugervertretern.

KAPITEL 3

Ihre Arbeitsmappe schützend über dem Kopf, rannte Isa über den Unicampus und fluchte. Ein warmer Sommerregen, den die Meteorologen nicht vorhergesagt hatten, ging auf sie nieder, und sie hatte ärgerlicherweise keinen Schirm dabei. Mehr noch ärgerte sie sich über die wertvolle Zeit, die sie beim Psychiater verplempert hatte. Jetzt wollte sie schleunigst zu ihren Ameisen.

Isa pries den Tag, an dem sie diese wundervolle Spezies als Forschungsobjekt für sich entdeckt hatte. Seither war ihr Leben erfüllt. Ameisen waren wundervolle Geschöpfe. Der Mensch konnte vieles von den kleinen Tierchen lernen. Sie waren Meister der Effektivität und der Arbeitsteilung, und kein menschliches Sozialsystem funktionierte so fehlerlos wie ihre Nestgemeinschaften. Isa war davon überzeugt, dass die Ameisen den Bauplan für eine perfekte Welt besaßen. Um das zu beweisen, forschte sie.

Im Augenblick kreisten ihre Gedanken allerdings immer noch um das Gespräch mit dem Psychiater, und das fuchste sie. Was, verdammt noch mal, hatte der gemeint mit: «Entflammen Sie Ihr Herz?» Isa fand es absurd, dass sie überhaupt darüber nachdachte. Doch sie tat es. Meinte er etwa, sie sollte sich verlieben? Das war völlig inakzeptabel! Als Biologin wusste sie: Liebe ist eine biochemisch produzierte Illusion. Ein gottverdammter, körpereigener Drogentrip. Als Mensch und als Frau genügten ihr zwei gescheiterte Beziehungen, um diese Erkenntnis empirisch zu bestätigen. Ergo, Herr Psychiater: Liebe ist keine Lösung. Sie hatte das Institut erreicht und stieß schwungvoll die Tür auf. Endlich hatte sie den Regen hinter sich. Den Psychiater würde sie ebenfalls einfach hinter sich lassen, beschloss sie und war einen klitzekleinen Moment lang zufrieden mit sich und der Welt.

Da flog am Ende des Flurs eine Tür auf, und die Meyer stürmte auf sie zu. «Isa-Süße!!!», schallte es aufgeregt über den Gang. Isa, der Koseworte jeglicher Art und Ausgestaltung ausgesprochen unangenehm waren, bemühte sich, die gerade zurückgewonnene innere Balance nicht wieder zu verlieren. Nein, sie würde nicht rot anlaufen vor Scham, weil die ausnahmslos männlichen Kollegen hinter ihren Bürotüren nun genüsslich über sie schmunzelten, über sie, das Professoren-Küken, das von der Sekretärin begluckt wurde. Isa atmete also einmal tief durch, entspannte sich und winkte der Meyer zu.

Die Meyer hieß eigentlich Ingeborg Meyer-Papapopoulos. Sie war mit einem Griechen verheiratet, und seit dreißig Jahren stritten und versöhnten sie sich im Minutentakt. Aber Meyer nannte es das «Große Glück», und jederzeit würde sie Isas Thesen über die Liebe lautstark dementieren. Frau Meyer-Papapopoulos oder Ingeborg sagte im Institut jedoch keiner zu ihr. Alle riefen sie Meyer und wie Isa wusste, mochte sie das. Selbst ihr Mann nannte sie Meyer. Wobei sein griechischer Akzent, so hatte die Sekretärin geschwärmt, ein poetisches «Maja» erklingen ließe.

Meyer stand vor ihr und wedelte aufgeregt mit einem Brief.

«Mach ihn auf, Süße. Sofortissimo. Noch zehn Minuten länger, und ich hätte nicht mehr fürs Briefgeheimnis garantieren können.»

Isa blickte auf den Absender und wurde blass um die Nase. Sie atmete tief durch und riss das Kuvert auf. Ihre Augen überflogen den kurzen Text.

«Und?» Meyer schien in ihrem engen Sommerkleidchen, das ihren üppigen Busen zusammenpresste und auch sonst alle reichlich vorhandenen Rundungen überdeutlich zeigte, vor Neugierde tatsächlich fast zu platzen.

«Und?», fragte sie noch einmal.

«Endrunde», sagte Isa trocken und ohne mit der Wimper zu zucken.

Die Meyer stieß einen Freudenschrei aus, der, wie es Isa durch den Kopf fuhr, sicher noch am anderen Ende des Unigeländes bei den Philosophen zu hören war und sie garantiert für einen Augenblick aus ihren Grübeleien riss.

«Endrunde!», wiederholte die Meyer laut und nahm sie in ihre kräftigen Arme.

«Uff», machte Isa.

«Uff? Du kommst in die Endausscheidung des wichtigsten Forschungswettbewerbs, an dem unser Institut je teilnehmen durfte, und dir fällt nichts weiter ein als ‹Uff›?»

«Uff heißt: Ich krieg keine Luft», presste Isa hervor.

Meyer löste ihren Griff und baute sich vor Isa auf: «Jetzt will ich aber ein Hurra hören.»

Es war einer dieser nicht seltenen Momente, in denen sich Isa fragte, warum sie die Meyer so gut leiden konnte. Ihr ständiger Gefühlsüberschwang ging ihr wirklich auf die Nerven. Außerdem plapperte sie zu viel, und mit ihren zweiundfünfzig Jahren zog sie sich an wie ein frühreifer Teenager. Für Isa, die einen nüchternen Look bevorzugte, waren Meyers discotaugliche Outfits ästhetische Folter. Dennoch war nichts an der Meyer aufgesetzt, nichts gekünstelt. Jeder noch so laute Ton und jede expressive Emotion war echt, und bei allem versprühte sie diese unglaubliche Wärme, ebenfalls so echt wie das gute alte Kaminfeuer. Zwar war Isa ein Freund der Zentralheizung (war einfach praktischer). Doch wer wollte behaupten, dass die Zentralheizung einem das Herz erwärmte? Die Meyer tat es. Isa war regelmäßig gerührt davon. Man musste diese Frau einfach liebhaben. Also gab sie sich einen Schubs: «Hurra.» Zugegeben, es klang wenig enthusiastisch. Aber ihr Augenzwinkern versöhnte die Meyer.

 

Im Institutsbüro ließ die Meyer sofort den Sektkorken knallen. Isa, die ihren Laborkittel überwarf und es eilig hatte, zu ihren Ameisenvölkern zu kommen, verzog das Gesicht.

«Meyer, definitiv: Vor siebzehn Uhr trinke ich keinen Alkohol.» Mehr als einmal hatte sie das ihrer Sekretärin schon beizubringen versucht.

«Heute aber schon.» Meyer hielt ihr das gefüllte Sektglas hin.

«Ich hab den Wettbewerb doch noch gar nicht gewonnen», protestierte Isa.

«Wirst du aber.»

«Also Meyer, wirklich.» Isa rollte die Augen. «Kannst du etwa hellsehen?»

«Nein. Aber ich weiß, was in dir steckt.» Sie sagte das in einem so satten, ironiefreien Ton, dass Isa wieder diese verblüffende Rührung überkam. Manchmal war die Meyer wie eine furchtbar liebe Mutter.

Isa nahm endlich das Sektglas und prostete ihr zu, trank aber nur einen winzigen Schluck.

«Weißt du schon, wen du in der letzten Runde ausstechen musst?»

«Breitenbach.»

«O mein Gott! Der?!!!» Meyer rief das nicht, sie johlte es in den höchsten Tönen, die Augen weit aufgerissen. «Das ist doch dieser Sexgott – George Clooney ist ein Erdmännchen gegen den!»

Isa starrte ihre Sekretärin an. Manchmal war sie eher wie eine durchgeknallte große Schwester.

«Woher weißt du, wie er aussieht?»

«Er war in meiner Lieblingstalkshow.»

«Er tritt in Talkshows auf?» Isa war verblüfft.

«Aber ja. Er hat doch dieses Buch veröffentlicht, das auf allen Bestsellerlisten steht.»

«Die Affen sind wir – ich weiß. Lauter nette Anekdoten über die Lebensgewohnheiten von Primaten. Also wenn er nicht mehr draufhat, dann hab ich den Wettbewerb tatsächlich schon gewonnen.» Während sie das sagte, kramte Isa in ihren Unterlagen.

«Meyer, hast du die Graphiken?»

«Hier.» Die Meyer reichte ihr eine Illustrierte.

«Das sind nicht die Graphiken», konstatierte Isa geduldig.

«Nein», antwortete die Meyer ebenso geduldig. «Aber darin findest du Breitenbach mit einem Interview und …» Meyer machte eine kleine Pause, wie um eine besonders gelungene Überraschung zu präsentieren. «… einem Foto!»

Isa stöhnte. «Meyer, gib mir die Graphiken.» Sie klang jetzt nicht mehr geduldig.

«Wirf doch wenigstens mal einen kurzen Blick drauf», flehte die Meyer, «seine Konkurrenz sollte man schließlich kennen.» Sie grinste.

«Richtig.» Isa grinste zurück. «Und deswegen legst du jetzt die Illustrierte weg und besorgst mir alles, was dieser Typ je publiziert hat.»

KAPITEL 4

Die langen Beine auf den Schreibtisch gelagert und den Rest seines Athletenkörpers in den Bürosessel gefläzt, probierte Ben, seinen Studenten demnächst besser bekannt als Professor Doktor Bernhard Breitenbach, seinen neuen Arbeitsplatz aus. Seine Finger flogen über die Tastatur des Notebooks auf seinem Schoß. Er suchte etwas im Internet und stieß, als er es fand, einen erstaunten Pfiff aus. Er rechnete damit, dass der Pfiff Michel aus dem Nachbarbüro locken würde. Und so war es. Die Tür flog auf, und ein wissender Blick traf ihn: «Du hast ein Foto von ihr gefunden!»

Michel trat neben ihn und betrachtete das Bild.

«Erfreulich hübsch, die Ameisenkönigin», stellte Ben fest.

«Vergiss es. Die ist total spröde.»

Ben schwang auf seinem Drehstuhl herum. Doktor Michael Huber, kurz Michel, war sein bester Kumpel, seit sie vor sechzehn Jahren die Erstsemesterfete der Biologen kotzenderweise auf dem Klo verbracht hatten. Ben schätzte sein Urteil.

«Ich kann dir nur sagen, was mir ein Kollege erzählt hat», fuhr Michel fort. «Die Frau ist eine knallharte Wissenschaftlerin. Auf die charmante Tour brauchst du der nicht kommen.»

«Ausgezeichnet. Frau Professor Werner fängt an, mich zu interessieren.»

«Die legst du nicht flach, wetten?!» Michel grinste spitzbübisch. Der oberfränkische Waldbauernbub steckte immer noch in ihm.

Ben grinste breit zurück. «Schaun mer mal, dann sehn mer scho.» Schön war es, wieder in seiner Münchner Heimat zu sein und bayerische Sprüche zu kloppen.

«Da wir gerade beim Thema Frauen sind: Was hast du mit unserer Sekretärin angestellt?» Michel verschränkte die Arme vor der Brust, abwartend und höchst wissbegierig.

«Wieso?»

«Sie lächelt.»

«Ja, und?»

«Sie lächelt nie.»

«Ich hab sie gefragt, in welches Fitness-Studio sie geht.»

«Die geht in ein Fitness-Studio?»

«Nein, aber sie glaubt jetzt, ihre Figur schaue danach aus.»

«Man sollte die Frauen vor dir warnen.» Aus Michel sprach unverhohlen der Neid. Ben zwinkerte ihm zu und schnappte gutgelaunt seine Mappe mit den Unterlagen vom Schreibtisch. Er musste los.

«Trotzdem», rief Michel ihm nach, «für den Wettbewerb machst du besser deine Hausaufgaben, wenn du gewinnen willst.»

Doch Ben war schon aus der Tür und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag: seine Antrittsvorlesung. Kaum zu glauben, die gute, alte Ludwig-Maximilians-Universität hatte ihn wieder! Okay, das Gebäude war brandneu und nannte sich jetzt Biocenter, aber es war dennoch Teil der traditionsreichen, ehrwürdigen LMU. Die Entscheidung, nach Berkeley zu gehen und sich dort sechs Jahre lang den Arsch zwischen Forschung und Lehre aufzureißen, hatte sich gelohnt. In Amerika hatte seine Karriere den richtigen Schub bekommen, und nun buhlten die Universitäten um ihn. Ob er in München blieb, war noch nicht ausgemacht. Er hatte sich nur für das kommende Wintersemester verpflichtet. Gewann er den Future Award, würden garantiert noch weitere Angebote locken. Ben pfiff seine Gedanken zurück. Sie galoppierten schon wieder in die Zukunft.

Gespannt öffnete er die Tür zum Großen Hörsaal. Der Raum hätte tatsächlich locker für das Kinopublikum eines gerade gestarteten Blockbusters ausgereicht – und er war brechend voll. Selbst auf den Treppen und zu Füßen des Podiums saßen die Studenten und warteten auf eine Kostprobe ihres neuen Professors. Er nahm einen tiefen Atemzug. Showtime!

Ben war gerne Entertainer. Vorlesungen zu halten, machte ihm keine Mühe. Im Gegenteil. Es gab ihm einen Kick. Und das sprang über auf sein Publikum. In Bayern war das nicht anders als in Kalifornien, wie sich wenige Minuten, nachdem er das Podium betreten hatte, zeigte: wache Augen, offene Ohren, aufmerksame Gesichter in allen Reihen. Und jede Menge schmachtende Blicke von den zahlreichen weiblichen Zuhörern. Ben war sich seiner Ausstrahlung bewusst, und er pflegte sein Image als smarter Abenteurer. Er sah immer ein bisschen so aus, als ob er geradewegs von einer Forschungsreise käme – Dschungelstaub auf den Trekkingschuhen und Dreitagebart waren ein schöner Kontrast zu seiner sprachlichen Eloquenz. Das kam an.

Seinen Vortrag über «Emotionalität und Familienleben von Menschenaffen» hielt er frei, und euphorisiert von seinem Publikum würzte er die theoretischen Ausführungen mit Anekdoten aus der Feldforschung. Wie immer bei solchen Gelegenheiten bereitete es ihm großes Vergnügen, die Schimpansen und Orang-Utans, die er auf seinen Reisen studierte, vor dem Auditorium lebendig werden zu lassen. Nicht nur mittels Filmmaterial. Er war inzwischen – und darauf war er wirklich stolz – ein Meister darin, die Schreie und Gebärden der Affen zu imitieren. Auf diese Weise hatte er sich im Regenwald das Vertrauen der Tiere verdient. Hier verdiente er sich Lacher und die Motivation seiner Studenten.

 

Der Applaus am Ende seines Vortrags war ohrenbetäubend. So war er es gewohnt. Aber heute liebte er das Getrommel der Füße und Hände ganz besonders. Sein Comeback war gelungen. Als Student hatte er in ähnlichen Hörsälen gesessen, sich durch langweilige Vorträge gequält und immer gewusst, dass man es besser machen kann. Lebendiger, packender. Die jungen Leute sollten Spaß haben an dem, was sie lernten. Für Ben war Spaß eine Grundvoraussetzung im Leben. Ohne Spaß lohnte sich das Atemholen gar nicht.

Ben blickte vergnügt zu den Studenten, die ihn jetzt umringten und mit Fragen löcherten.

«Ein guter Tipp: Warten Sie nicht, bis die Semesterferien vorbei sind, um sich in die Seminarlisten einzutragen. Ich bin immer schnell ausgebucht.» Der Pulk um ihn wurde größer. Ben registrierte zufrieden, dass auffallend viele hübsche Frauen darunter waren, und er wusste, er würde sie in seinen Seminaren wiedertreffen. Gegen sein Image als Weiberheld konnte er nichts machen. Also genoss er es lieber. An die Eine, die einzig Richtige glaubte er sowieso nicht. Bereitwillig gab er einer Blondgelockten und ihrer langbeinigen Freundin Literaturtipps, flirtete ein wenig mit einer bayerischen Ausgabe von Angelina Jolie und taxierte die Kurven einer interessanten Brillenschlange, als plötzlich in seinem Rücken das Mikrophon auf dem Podium krächzte. Eine Frau im Laborkittel verschaffte sich Aufmerksamkeit und verwies auf seine wöchentliche Sprechstunde: «Montags von zehn bis zwölf wird Professor Breitenbach gerne all Ihre Fragen beantworten. Die Vorlesung ist jetzt beendet.» Die Frau stieg vom Podium, kam auf ihn zu und nahm beherzt seine Hand. Erst jetzt merkte er, dass er sie kannte.

«Sabine?»

«Die Überraschung ist gelungen, was?»

«Deine Haare …»

«Sind jetzt lang und rot. Gefällt’s dir?»

«Was machst du hier?»

«Arbeiten.»

Die Überraschung war wirklich gelungen. Sabine hatte offenbar nicht nur die Haarfarbe gewechselt, sondern auch ihren Beruf. Und sie setzte noch eins drauf: Sie zog ihn weg von dem Pulk, öffnete eine Tür, und keine Sekunde später stellte Ben verblüfft fest, dass er sich in einer Besenkammer befand und Sabine ihm die Hose öffnete. Solche Überraschungen waren ganz nach Bens Geschmack. Sex ist jeden Atemzug wert!

KAPITEL 5

«Sex wird epochal überbewertet», sagte Isa und sah die Meyer nach Luft schnappen wie ein aus dem Glas gesprungener Goldfisch. Doch sie ließ sie nicht zu Wort kommen und führte ihren Gedanken mit Nachdruck aus. «Historisch gesehen ist die sexuelle Befreiung nur eine von vielen Übergangsstufen in dem langen Prozess, der seit der Aufklärung das Individuum zur Freiheit führen soll. Hat dieser Prozess erst einmal den menschlichen Geist erreicht, wird keiner mehr an Sex interessiert sein.»

«Schön, meinetwegen.» Mit einem satten Rumms knallte die Meyer einen Stapel Bücher, den sie zwischen ihren Armen balancierte, auf Isas Schreibtisch – die Veröffentlichungen von Breitenbach. «Bis es so weit ist, vergehen aber noch geschätzte zwanzigtausend Jahre Menschheitsgeschichte, und deshalb frag ich noch mal: Wann hast du das letzte Mal gepoppt?»

«Die Frage beantworte ich nicht.» Die Meyer war unmöglich, aber das wusste sie ja nun allmählich.

«Du denkst, das geht mich nichts an. Tut es aber doch.» Mit verschränkten Armen pflanzte sich die Sekretärin vor ihr auf. «Ich arbeite mit dir, und deine Laune ist mies. So was liegt meistens am Sex. Zumindest in unserer Epoche und besonders», sprudelte sie weiter, «wenn man gerade den Future Award so gut wie gewonnen hat.»

Isa verstand den Zusammenhang nicht. Doch die Erklärung kam prompt.

«Du bist beruflich erfolgreich, Todesfälle in deiner Familie gibt es gottlob auch keine. Also kann es ja nur am Liebesleben liegen.» Neugierig schaute die Meyer sie an. Sie erwartete allen Ernstes eine Antwort. Was war heute nur los, dass sich bei allen alles nur um Sex und Liebe drehte? Sie hatte wirklich keine Lust, an die beiden einzigen gescheiterten Experimente in ihrem Leben erinnert zu werden: Connor und Vincent.

Die Beziehung zu Vincent war erst einige Monate her und ein unverzeihliches Versehen. Sie hatte ihn während ihres Forschungssemesters in Harvard kennengelernt und sich sofort in den brillanten Intellekt dieses querdenkenden Biologen verliebt. Schnell wurden sie ein Paar und waren für eine kurze Zeit sehr glücklich. Bis sie merkte, dass sie sich bloß in den Wissenschaftler und nicht in den Mann verliebt hatte. Jede seiner Veröffentlichungen ließ ihr Herz tanzen, mit ihm zu diskutieren, war pure Leidenschaft, seine Vorlesungen schenkten Isa tiefe Glücksmomente. Doch die Küsse, die sie tauschten, schmeckten immer schaler. Als sich Isa über ihre Selbsttäuschung klarwurde, war sie erschüttert und beschämt. Wie konnte sie sich nur so irren? Und wie konnte sie einen Menschen so verletzen? Sie war auch nicht besser als Connor.

Connor. Gott, war der süß gewesen! Fast während ihres gesamten Studiums in England waren sie ein Paar. Connor hatte schottische Kosenamen für sie und jede Menge Pizza. Er brachte sie aus dem Schnellrestaurant mit, in dem er sein Geld fürs Studium verdiente. Connor war ein lausiger Student. Ohne Isas Hilfe hätte er den Abschluss nicht geschafft. Sie schrieb ihm Referate und die Hälfte seiner Diplomarbeit. Er sagte «Thank you, darling» – und verlobte sich mit der Tochter des Pizzabäckers. Isa erfuhr, dass Connor schon seit zwei Jahren mit diesem Mädchen zusammen war. Zwei Jahre, in denen Isa keine Minute an seinen Liebesschwüren gezweifelt hatte.

Danke für diesen netten Flashback, liebe Meyer, jetzt habe ich wirklich schlechte Laune, dachte Isa, sagte aber nichts.

Meyer wartete ihre Antwort sowieso nicht ab. «Ich wette, es ist sechs bis neun Monate her, dass du …»

«Woher …?»

In diesem Moment betrat der Institutsleiter das Büro, Professor Heise – graumelierter Traum aller Schwiegermütter. Seit die Meyer ihn einmal so bezeichnet hatte, echoten diese Worte jedes Mal durch Isas Gedanken, wenn sie ihrem Chef begegnete. Das war ein wenig lästig, aber die Formulierung war, so albern klischeehaft sie auch sein mochte, vollkommen zutreffend. Andreas Heise war ein attraktiver Mittvierziger, der, obwohl er nicht sehr groß und eher schmal gebaut war, souverän und männlich wirkte. Er hatte eine angenehm tiefe Stimme und ausgezeichnete Manieren. Auch war er auffallend gut gekleidet – legere Eleganz nannte die Meyer diesen Stil und wusste auch, dass ihn Heise seiner Exfrau verdankte.

Isa machte sich nicht viel aus solchen Äußerlichkeiten. Aber sie musste zugeben, die Mischung aus leuchtend blauen Augen und grauen Schläfen war ansprechend. Was Isa aber wirklich für Heise einnahm: Er war ein kluger und tiefgründiger Denker. Seine Forschung verfolgte sie seit Jahren mit größtem Interesse, und als er sie zu sich ans Institut berief, war das für Isa der entscheidende Karrieresprung.

«Andreas, du glaubst nicht, was passiert ist!», rief die Meyer und verscheuchte damit das Echo vom graumelierten Schwiegermuttertraum in Isas Kopf.

«Klingt nach etwas Erfreulichem», antwortete Heise.

«Erfreulich ist gar kein Ausdruck», übertrieb die Meyer und blickte, schon wieder völlig versöhnt, zu Isa. «Jetzt sag’s ihm schon.»

«Ich fahre nach Norwegen.» Isa musste lächeln. Jetzt war sie doch stolz.

«Der Future Award?!»

Sie nickte, und Heise schüttelte ihr die Hand, wobei er herzlich mit beiden Händen zugriff.

«Das ist großartig, Isa. Sie glauben gar nicht, wie sehr mich das freut.»

«Noch haben wir nicht gewonnen.»

«Trotzdem: Es ist großartig.» Sein Ton war warm. So warm wie Meyers Blick, der sie und Heise mit einem eigenartigen Wohlwollen bedachte.

«Ich geh dann mal kopieren», sagte die Meyer, lächelte Isa verschwörerisch zu und verschwand mit einer einzigen (!) Seite aus dem Büro.

Vollkommen perplex blickte Isa ihr nach. Was sollte das denn? Offensichtlich nahm die Meyer ihr Credo «Sex = gute Laune» sehr ernst. Aber Himmel, Heise war ihr Chef! Dachte die Meyer etwa wirklich …

«Waren Sie schon bei Doktor Rose?», fragte Heise, kaum dass die Bürotür zugefallen war.

Sie fuhr zusammen. «Was? Wer? Wo war ich?»

«Der Therapeut, den ich Ihnen empfohlen habe», half Heise nach.

Warum, zum Teufel, konnten sie nicht über ihre neueste Versuchsreihe plaudern? «O ja, alles bestens», log sie, «er hat mir zu autogenem Training geraten.»

Heise nickte. «Guter Mann, nicht wahr?»

Isa nickte ebenfalls, so heftig, wie sie konnte. «Unbedingt.»

«Prima, dann wird alles gut.»

«Ja. Alles wird gut.» Sie blickte ihren Chef mit großen Augen an und hoffte, ungeheuer ehrlich zu wirken.

Heise blickte merkwürdig versonnen zurück, dann strahlte er. «Gehen Sie heute Abend mit mir essen, Isa?» Offensichtlich hatte er ihren Augenaufschlag falsch interpretiert.

Isa spürte, wie ihre Hände zu kribbeln anfingen, und aus einem ihr physikalisch nicht erklärbaren Grund hallte Heises Frage in ihren Ohren wider. Sie versuchte, das Kribbeln loszuwerden und fingerte hilflos auf ihrem Schreibtisch herum. Sie fand Halt an ihrer Computermaus und traktierte sie nervös mit Daumen und Zeigefinger. Das war ein Fehler. Denn es passierte schon wieder: der zweite Spontanbrand in dieser Woche, ihr persönlicher Rekord. Isa zuckte zusammen, als sie spürte, wie die Computermaus unter ihren Fingern kleine Funken schlug. Musste das jetzt sein? Sie hatte lediglich am Kabel herumgespielt! Erschrocken blickte sie zu Heise, der aber noch nichts bemerkt hatte.

«Italienisch?», fragte er.

Isa lächelte ihn an – unter Stress fiel ihr nie eine passende Antwort ein. Indessen rollten ihre Hände hektisch ein paar Papiere zusammen und schlugen damit auf die kokelnde Stelle ein.

«Eine Fliege», erklärte sie schnell.

«Die Viecher sind Ihnen wohl sehr unsympathisch?»

«Krankheitsüberträger», erwiderte sie und schlug nochmals zu.

Heise lachte. «Die ist jetzt schon zehnmal tot. Ich glaube, Sie können aufhören.»

Sie hätte gerne nachgeschaut, ob das Kabel noch schmorte. Aber da Heise jetzt neugierig auf den Schreibtisch schaute, entschied sie, Maus samt Kabel schnell mit den Papieren in ihrer Hand zu bedecken.

«Und?», fragte Heise. «Mögen Sie italienisches Essen?»

«Ja», antwortete sie im Reflex. Gleichzeitig überlegte sie fieberhaft, wie sie die Einladung noch abwenden konnte.

«Nach Feierabend?», fragte Heise. In dem Moment sah Isa, wie die Papiere auf der Maus zu glimmen anfingen.

«Perfekt», sagte sie schnell und lächelte Heise an, weil sie mit Erleichterung sah, dass er schon an der Tür war. «Ich freue mich», schob sie so munter wie möglich hinterher, nur damit er endlich ging.

«Ich mich auch.» Endlich war er draußen.

Sie griff sofort nach der Sprudelflasche. Da ging die Tür wieder auf und Heises Kopf schob sich herein: «Irr ich mich, oder riecht es hier angebrannt?»

«Sie irren sich.»

Heise lächelte, und Isa lächelte. Zumindest hoffte sie inständig, dass es wie ein Lächeln aussah, was sie da panisch mit ihrem Gesicht fabrizierte. Es dauerte die Ewigkeit einer Sekunde, bis ihr Chef endlich aus der Tür verschwand. Isa leerte die Wasserflasche in einem Schwung auf ihrem Schreibtisch aus.

 

Was für ein Tag! Isa stand im Labor vor einem der großen Formicarien, riesigen Glaskästen, in denen die Ameisenvölker, die sie studierte, ihre Bauten hatten. Sie musste sich dringend entspannen. Solenopsis invicta, ihre Lieblingsspezies, die rote Feuerameise. Eine Landplage im Süden der USA. Nicht umsonst wurde sie «die Unbesiegbare» genannt. Ihr Gift war gefährlicher als das aller anderen Ameisenarten. Isa hatte Arme und Beine von Menschen gesehen, die einem Ameisenstaat der Solenopsis invicta zu nahe gekommen waren: mit Pusteln übersätes, rotes, verätztes Fleisch. Allerdings musste man schon Allergiker sein, um solch dramatische Hautreaktionen zu zeigen.

Isa lächelte, als sie ihre kleinen roten Freunde beobachtete. Das scheinbar chaotische, in Wahrheit jedoch höchst geordnete Treiben dieser Insekten zu verfolgen, beruhigte sie immer. Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Täuschte sie sich, oder hatte ihr Chef mit ihr geflirtet? Das wäre eine Katastrophe. Liebe ist immer eine Katastrophe. Und Liebe am Arbeitsplatz ist die Katastrophe aller Katastrophen. Sie musste diese Verabredung rückgängig machen!

Andererseits: Vielleicht war die Einladung als Zeichen der Anerkennung gedacht, und Heise wollte sich damit nur für ihre guten Leistungen bedanken. Dann wäre es völlig falsch abzusagen. Was für ein Dilemma! Wären den Menschen ihre Absichten auf die Stirn geschrieben, dann wäre alles ganz einfach, dachte Isa und folgte mit ihrem Blick dem emsigen Gewusel.

«Ihr habt es gut, meine Hübschen», seufzte sie. «Jede von euch hat ihre Spezialaufgabe. Für Missverständnisse ist da kein Platz.» Sie ging näher an die Glasscheibe des Formicariums, um eine der Arbeiterinnen genauer beobachten zu können. Das Insekt schleppte ein im Verhältnis zu seiner Körpergröße riesiges Stück vom Kadaver eines erbeuteten Käfers zum Bau. Ameisen konnten ein Vielfaches ihres eigenen Körpergewichtes tragen. Bei Solenopsis invicta war es das 39-Fache. Das hatte sie in einem ihrer frühen Versuche nachgewiesen.

«Du machst deinen Job als Futterbeschaffer, und niemals käme es dir in den Sinn, dass man noch etwas anderes von dir erwarten könnte – Sex mit der Königin zum Beispiel.» Sie zwinkerte der Ameise zu, als hätte sie ihr zugehört und einen klugen Kommentar abgegeben. Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr. Sie war spät dran, die Studenten standen sicher schon vor der Labortür.

Als sie auf den Flur hinaustrat, wartete tatsächlich bereits eine kleine Gruppe auf sie. Plaudernd standen sie herum, lässig in bunten T-Shirts und abgewetzten Jeans. Sie waren aufgedreht und vergnügt. Der leichte Regen vom Vormittag war einer strahlenden Sonne gewichen, der Wetterdienst versprach, dass der Sommer nun endlich auch in Hamburg ankommen würde, und das Beste: Morgen begannen die Semesterferien. «Eine megageile Kombi», wie einer der Studenten resümierte. Isa beneidete sie um ihre Leichtigkeit. Mit einem freundlichen, aber distanzierten Lächeln begrüßte sie die Truppe und ließ sie ins Labor.

Nervosität war etwas, das sie sich im Unterricht nicht gestattete. Heute aber flatterten ihre Nerven, denn die Studenten hatten die gleiche Übung zu absolvieren, bei der am Vortag Sedricks Laborkittel in Flammen aufgegangen war. Isa erwischte sich dabei, wie sie die leicht entzündliche Ameisensäure, die sie üblicherweise benutzte, wegschloss und einen weniger gefährlichen Stoff an die Studenten verteilte. Noch während sie das tat, ärgerte sie sich über sich selbst. Denn so würden die Ergebnisse weniger eindeutig ausfallen. Sie ermahnte ihre Nerven, endlich Ruhe zu geben.

Tatsächlich verlief die Stunde gut. Die Ameisen taten im Experiment, was von ihnen erwartet wurde, und die Studenten waren leidlich aufmerksam. Und als Isa ihre Schlussworte sprach, war, wie sie erleichtert feststellte, immer noch niemand zu Schaden gekommen. Unter dem üblichen Gelärm packten die Studenten ihre Sachen zusammen. Isa lächelte in sich hinein. Na also! Sie sollte die Sache mit den gelegentlichen Bränden wirklich nicht überbewerten.

«Na, wollen wir?»

Isa hob überrascht den Kopf, alle Gedanken flogen augenblicklich beiseite. Andreas Heise war in der Tür aufgetaucht und lächelte sie erwartungsvoll an.

«Was, jetzt schon?» Verdammt, das klang ziemlich barsch. Doch sie hatte erwartet, noch jede Menge Zeit zu haben, um sich eine Ausrede zu überlegen. Es war erst achtzehn Uhr, und Heise machte sonst nie vor acht Feierabend. «Ich wollte eigentlich hier noch aufräumen», schob sie entschuldigend nach und hob an, weitere Dinge aufzuzählen, die jetzt unbedingt erledigt werden mussten.