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Alfred Bekker

Gabe und Fluch: Zwei Romantic Thriller

Cassiopeiapress





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Gabe und Fluch: Zwei Romantic Thriller

von Alfred Bekker

 

© by Alfred Bekker

www.AlfredBekker.de

www.Postmaster@AlfredBekker.de

All rights reserved

Ein CassiopeiaPress Ebook

Ausgabejahr dieser Edition: 2014

 

Zwei Romantic Thriller von Alfred Bekker - zweimal Liebe, die dem Grauen begegnet. Phantastisch, übersinnlich, romantisch.

 

PALAZZO DER GEISTER:

Eine junge Frau auf der Spur eines großen Geheimnisses - im Palazzo der Geister begegnet sie dem Grauen.

 

KREUZFAHRT INS JENSEITS:

Ein Schiff taucht aus dem Nichts auf - und bringt den Tod. Und die Kreuzfahrt einer jungen Frau führt in die unheimliche Sargasso-See des Bermuda-Dreiecks - und ins Jenseits, wo sie um ihre Liebe kämpfen muss.

PALAZZO DER GEISTER

von Alfred Bekker

 

© by Alfred Bekker

www.AlfredBekker.de

www.Postmaster@AlfredBekker.de

All rights reserved

Ein CassiopeiaPress Ebook

Ausgabejahr dieser Edition: 2014

 

1

Es war finstere Nacht. Der Mond tauchte den Strand in ein fahles Licht. Draußen, vor der Küste, stand eine graue Nebelbank, die immer näherzukommen schien.

Das lange, blauschwarze Haar der jungen Frau wehte im Wind, der vom Meer aufkam. Ihr Blick ging besorgt hinauf zu jener über das Wasser ragenden Felsenkanzel, auf der sich die Ruine einer uralten Festung düster gegen den Nachthimmel ab-hob. Seltsame Geräusche drangen von dort an ihr Ohr.

Stimmen.

Schreie...

Oder nur ein grausames Spiel, das der Wind mit ihren Nerven trieb?

*

Die junge Frau zitterte.

Sie wirbelte herum, und aus ihren Augen leuchtete die Angst. Der Wind zerrte an dem dünnen Sommerkleid, das sie trug. Sie fröstelte.

Und dann zuckte sie unwillkürlich zusammen, als sie die Gestalt eines Mannes sah, der wie aus dem Nichts heraus aufgetaucht zu sein schien. Wie ein düsterer Schatten hob er sich gegen das Mondlicht ab.

Die junge Frau wich ein paar Schritte zurück. Furcht kroch ihr wie eine kalte, glitschige Hand den Rücken hinauf.

Sie schluckte.

Die Gestalt kam mit wankenden Schritten näher. Sanfte Wellen spülten an den flachen Strand, und der Mann stand mit den Füßen im Wasser. Aber das schien ihn nicht zu kümmern.

Schritt um Schritt näherte er sich.

Im Mondlicht war sein Gesicht nun zu sehen. Ein dünner Oberlippenbart gab ihm etwas Aristokratisches. Das Profil war kühn, und die Adlernase gab ihm einen leicht hochnäsigen Ausdruck.

Sein dünner Sommermantel war naß und schwer. Seine Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals, und das Jackett schien ziemlich gelitten zu haben. Beinahe so, als ob er eine Weile damit im Salzwasser geschwommen wäre.

Wie angewurzelt blieb die junge Frau stehen. Sie schluckte, unfähig auch nur einzigen Muskel ihres Körpers zu bewegen.

Ihr Atem ging schneller. Ebenso ihr Puls, der ihr nun bis zum Hals schlug.

Er ist es! dachte sie. Und ich habe ihn gerufen... Mein Gott...

Er wankte näher.

Sein Gesicht verzog sich auf eine Weise, die ihr einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Ein zynisches Lächeln spielte jetzt um die dünnen, aufgesprungen Lippen, die wie ein dünner Strich wirkten.

Das Gesicht war bleich.

Totenbleich.

An der Schläfe war ein Schatten. Wie ein schwarzer Punkt.

Die junge Frau schluckte.

Wie gebannt starte sie auf diesen Schatten. Sie wußte genau, was dort zu finden war. Grauen erfaßte sie allein bei dem Gedanken daran. Ihre Hand hob sich wie automatisch. Sie biß sich auf die Lippen.

"Verschwinde!" rief sie, aber ihre Stimme verlor sich in der Nacht. Sie fühlte sich entsetzlich. Namenlos Angst hielt ihr Herz in einem eisernen Würgegriff. Eine Furcht, die aus ihrem tiefsten Inneren an die Oberfläche ihrs Bewußtseins zu kommen schien.

Und dann stand er nur wenige Meter vor ihr.

Er drehte ein wenig den Kopf.

Aus dem dunklen Schatten wurde etwas Furchtbares. Eine Wunde, wie sie vielleicht ein direkt aufgesetzter Revolverschuß verursachte... Die junge Frau konnte den Blick nicht abwenden. Kein Mensch konnte mit einer solchen Wunde leben.

Ein schallendes Gelächter erklang und mischte sich mit den Geräuschen des Meeres. Die Augen des Mannes begannen zu leuchten. Die Pupillen verschwanden gänzlich. Nur noch das Weiße schien vorhanden zu sein. Ein unheimliches, gleißendes Licht flackerte darin auf.

Ein gespenstischer Anblick, der die junge Frau schlucken ließ.

Ein Bote aus dem Reich des Todes! ging es ihr schaudernd durch den Kopf.

Der Mann streckte die Hände in Richtung der jungen Frau aus, so als wollte er nach ihr greifen.

"Nein!" rief sie.

Ihre Stimme klang unsagbar schwach.

Sie konnte die tödliche Gefahr, in der sie sich befand beinahe körperlich spüren. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Warum nur? hämmerte es verzweifelt in ihr.

Weglaufen... Ein Gedanke, der immer wieder in ihrem Kopf auftauchte. Aber sie konnte nicht. Wie angewurzelt stand sie da und fühlte sich wie von einer unheimlichen Lähmung ergriffen. Ihre Kraft... Sie schien sich in Nichts aufgelöst zu haben.

"Bianca!"

Die Stimme, die jetzt ihren Namen durch die Nacht rief, schien aus der Ferne zu kommen.

"Bianca!"

Es klang besorgt...

Unter unsäglichen Anstrengungen drehte sie sich halb herum.

Dumpfe schnelle Schritte waren auf dem feuchten Sand des Strandes zu hören.

"Bianca!"

"Vater!"

"Mein Kind, was tust du hier..."

Der Mann hatte graumeliertes Haar und trug einen Anzug aus leichter, sehr edler Wolle. Seine feinen Slipper versanken im feuchten Sand, als er vor Bianca stehenblieb. Diese drehte sich wieder herum, zu der geisterhaften Gestalt mit der Wunde an der Schläfe, aber...

Die Gestalt war nicht mehr da.

"Er ist weg, Vater!" flüsterte sie und wiederholte es sogleich noch einmal, so als mußte sie sich selbst davon überzeugen, daß es auch wirklich so war. "Er ist weg..." Sie atmete tief durch und dann ließ sie sich in die Arme ihres Vaters fallen.

"Wer?" fragte er.

"Der Mann mit der Wunde am Kopf..."

"Graf Luciani?"

"Ja, Vater!"

Sein Gesicht wurde ernst und sorgenvoll, während er seine zitternde Tochter im Arm hielt und in die Ferne blickte.

Hinauf zur Ruine. Was sind das nur für Geräusche! ging es ihm schaudernd durch den Kopf. Ein dicker Kloß saß ihm im Hals und machte ihn unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Für einen Augenblick war es ihm dann, als ob er in der Ferne eine schattenhafte Gestalt sehen könnte.

Sie schien bis zu den Knien im seichten Meerwasser zu stehen. Der Mantel wehte im Wind. Und im Hintergrund war die graue Nebelwand...

"Er lacht!" flüsterte Bianca. "Hörst du es, wie er lacht?"

Sie sah ihren Vater an. Das Mondlicht spiegelte sich in ihren großen dunklen Augen, und Tränen glitzerten auf den Wangen.

"Gehen wir zurück zum Palazzo", sagte der Vater.

Aber sie schien es nicht zu hören. Stumm schüttelte sie den Kopf.

"Ich bringe nur Unglück...", wisperte sie.

"Bianca!"

"...und Tod!"

*

"Guten Morgen, Mr. Bennett", sagte ich, als ich das Büro unseres Chefredakteurs betrat. In einem der gediegenen Ledersessel, mit denen Bennetts Büro ausgestattet war, saß bereits James Cunningham - wie ich in der Redaktion der LONDON

HAUTE COUTURE angestellt. Er war allerdings Fotograf, während ich hier als Reporterin arbeitete. Gemeinsam hatten wir so manche Story gemacht.

Mike T. Bennett kam hinter seinem völlig überladenen Schreibtisch hervor. Er war breitschultrig und etwas untersetzt. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die Krawatte gelockert. Sein Kopf war hochrot und die Art und Weise, in der er mich musterte, verhieß nichts gutes.

Ich war zu spät dran.

Und wenn Bennett außer schlecht recherchierten Stories noch etwas haßte, dann waren es unpünktliche Mitarbeiter. Bennett war ein Mann, von dem man glauben konnte, daß er so gut wie überhaupt kein Privatleben besaß. Er lebte einzig und allein für seine Zeitung.

Dieses große Londoner Modemagazin wollte er dort halten, wo es seiner Ansicht nach hingehörte: ganz oben.

Dafür war er bereit, alles einzusetzen. Er war meistens der Erste im Büro und der Letzte, der ging. Und von seinen Mitarbeitern erwartete er ebenfalls, daß sie mit Haut und Haaren für ihren Job lebten.

"Jane!" sagte er und die Art und Weise, in der er meinen Namen aussprach war Tadel genug.

"Ich weiß, daß ich zu spät bin, Mr. Bennett, aber..."

"Schon gut, schon gut! Ich will gar nicht hören, was Sie mir sagen. Von wegen Verkehrschaos und der Baustelle auf der Oxfort Street..."

Ich sah ihn etwas perplex an.

Zwar habe ich mich eingehend mit übersinnlichen Phänomenen befaßt und bin in meinen Artikeln auch immer wieder auf Erscheinungen wie Telepathie und andere parapsychologische Fähigkeiten eingegangen, aber ich hätte diese Dinge niemals in Zusammenhang mit einem so nüchternen Mann wie Mike T.

Bennett gesehen.

"Sehen Sie mich nicht so erstaunt an, Jane!" sagte er dann etwas versöhnlicher. "Ich fahre auch jeden Morgen die Oxfort Street!" Er lächelte freundlich und deutete auf einen der Sessel. "Setzen Sie sich!"

Ich grüßte James knapp.

Der zwinkerte mir zu. Er saß ziemlich lässig da. Mit einer beiläufigen Handbewegung strich er sich das etwas zu lange blonde Haar zurück. Stoppeln eines drei Tage Bartes standen ihm im Gesicht. Seine Jeans war ziemlich oft geflickt und hatte beinahe Museumswert. Mit Interesse stellte ich fest, daß er ein neues Jackett anhatte. Daß er es noch nicht lange besaß, war daran zu erkennen, daß der Kragen noch nicht vom Riemen seiner Kameratasche ruiniert war. Es war jägergrün und vermutlich ein Teil vom Trödel.

Bennett lehnte sich derweil mit der Hüfte gegen den Schreibtisch. Der Berg von Akten und Manuskripten, der sich darauf aufgetürmt hatte, wankte bedenklich, als er das Gewicht verlagerte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und meinte dann: "Ich nehme an, daß Sie beide wissen, was Mode ist..." Sein Blick ging zu James und glitt von seinem strubbeligen Kopf bis zu den Füßen, die in Turnschuhen steckten.

Dann atmete Bennett tief durch.

"Nun, jedenfalls weiß ich, daß Sie hervorragende Bilder auf diesem Gebiet gemacht haben, James!" Damit spielte Bennett darauf an, daß James sich ab und zu ein paar Pfund nebenher verdiente.

James zuckte die Achseln.

"Man muß nur lange genug abwarten, dann kommt jeder Trend wieder", meinte er. Bennett fand das nicht so witzig. Er wandte sich an mich.

"Der Name Gian-Franco Tardelli ist Ihnen ein Begriff?"

Natürlich war er das.

"Dieser italienische Modeschöpfer!" stieß ich hervor.

Bennett nickte. "Ein Modezar par excellence. Seine Kollektionen haben in Mailand, Paris und New York seit Jahren die Fachwelt verzaubert. Er lebt seit einiger Zeit ziemlich zurückgezogen in der Nähe von Rom in einem alten Palazzo.

Leider hat er bislang stets abgelehnt, jemanden zu sich nach Hause zu lassen. An eine Home Story war nicht zu denken!

Nicht einmal die italienischen Kollegen haben das geschafft.

Aber der Maestro scheint zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß er vielleicht mal wieder etwas für sein Image tun könnte.

Jedenfalls ist er bereit, ein Team unseres Magazins zu empfangen."

Der Gedanke, mit diesem genialen Modeschöpfer zusammenzutreffen, erfüllte mich mit freudiger Erwartung.

Selbstverständlich war eine Reporterin der HAUTE COUTURE nicht die Klientel, die sich ein Original von Tardelli leisten konnte. Aber sein Stil war prägend, so daß sein Einfluß bis in die Boutiquen und Kaufhäuser Londons zu spüren war.

Außerdem war Tardelli zweifellos eine schillernde Persönlichkeit, um die sich allerhand Legenden rankten.

Dieser Mann hatte es immer verstanden, eine gewisse geheimnisvolle Aura um sich herum zu verbreiten. Vielleicht war auch das ein Teil seines Erfolgsgeheimnisses.

"Hatte es einen bestimmten Grund, daß Tardelli sich in den letzten Jahren so rar gemacht hat?" fragte ich interessiert.

Bennett zuckte die breiten Schultern.

"Vielleicht nur eine PR-Strategie. Andererseits..."

"Was?" hakte ich nach.

Bennett drehte sich herum und wühlte in einer Art und Weise auf seinem Schreibtisch herum, die die Aktentürme an den Rand der Katastrophe brachten. Aber nur bis an den Rand.

Mit traumwandlerischer Sicherheit fischte er aus dem vermeintlichen Chaos einen Zeitungsausschnitt heraus. "Hier", sagte er. "Es gab vor ein paar Jahren einen Vorfall, der sehr einschneidend für Tardelli gewesen zu sein scheint..."

"Was für ein Vorfall?" fragte ich.

"Die Ermordung seiner Frau durch einen mysteriösen Täter...

Die Sache hat damals ziemlich große Schlagzeilen gemacht!"

Ich erhob mich und nahm den Artikel an mich.

Bennett sagte indessen: "Ihr Flug nach Rom ist übrigens schon gebucht. Übermorgen vormittag, wenn's recht ist..." Der Chefredakteur der LONDON HAUTE COUTURE überließ eben nichts dem Zufall.

*

"Eine gemütliche Home Story in der Sonne Italiens!" grinste James, als wir den Raum unseres Chefs verlassen hatten. Wir bewegten uns quer durch das Großraumbüro, in dem sich die Redaktion der LONDON HAUTE COUTURE befand. Irgendwo in diesem hektischen Gewimmel befand sich auch mein Schreibtisch. James sah mich an.

"Findest du nicht, daß wir das große Los gezogen haben, Jane?"

"An eine gemütliche Homestory dachte ich auch, als wir nach Gilford Castle fuhren!" erwiderte ich. Wir waren dorthin gefahren, um eine Reportage über den Rockstar Pat Clayton zu machen und waren dabei Zeuge unerklärlicher Vorfälle geworden, in deren Mittelpunkt ruhelose und rachelüsterne Geister aus dem finsteren Mittelalter gestanden hatten.

Die Sache war lebensgefährlich gewesen - von Gemütlichkeit hatte überhaupt keine Rede sein können.

"Erstmal abwarten, James!" erwiderte ich daher etwas skeptisch.

Aber James ließ sich dadurch die gute Laune nicht trüben.

"Italien um diese Jahreszeit ist genau richtig! Nicht zu heiß und nicht zu kalt! Eine herrliche Alternative zum naßkalten und nebelverhangenen London..."

"Eine Reportage über Gian-Carlo Tardelli ist jedenfalls kein Urlaub!" gab ich zu bedenken. "Und bevor es losgeht, haben wir auch noch einiges zu tun..."

"Ja, ja..."

"Schließlich müssen wir schon einigermaßen vorbereitet sein, wenn wir diesem Licht am Modehimmel begegnen..."

James sah mich etwas erstaunt an.

Er lächelte nett. Und in seinen meerblauen Augen blitzte es leicht herausfordernd.

Er zwinkerte mir zu und meinte dann: "Was höre ich da? So etwas wie Ehrfurcht? Das ist nicht gerade die kritische Grundhaltung eines Journalisten..."

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein", sagte ich, "das wäre zuviel gesagt. Aber Tatsache ist, das Tardelli eben einer der Größten seiner Branche ist..."

"Sag mal..."

Sein Grinsen wurde jetzt schon frech.

Wenn er mich so ansah, führte er irgend etwas im Schilde.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und hob ein wenig das Kinn.

"Ja?"

"Ist dieser Tardelli zufällig der, der diese transparenten Stoffe benutzt, die praktisch durchsichtig sind?"

Ich lächelte.

"Nein, das ist er nicht! Tardelli hat zwar seinen eigenen Stil, vertrat aber eigentlich immer eine eher zeitlos-elegante Linie..."

"Schade."

"Wieso?"

"Sonst hätte ich jetzt gesagt: Du solltest auch einmal etwas anziehen, das aus seiner Schneiderei kommt!"

"Ha, ha!"

James war immer insgeheim ein bißchen verliebt in mich gewesen, aber ich hatte diese Gefühle nie erwidert. Seine unkonventionelle, witzige Art gefiel mir zwar und von der Tatsache abgesehen, daß seine Jeans ein Flickenteppich und sein Jackett geschmacklos war, sah er auch sehr attraktiv aus. Wir waren im selben Alter. Aber er entsprach einfach nicht dem Bild, das ich mir vom Mann meiner Träume machte.

Aber ich schätzte ihn als Kollegen.

Und als guten Freund.

Schließlich hatten wir schon so manches zusammen erlebt, darunter auch einiges an Gefahren.

"Tja, ich geh dann mal ins Archiv und sehe zu, was wir so an Bildmaterial noch da haben!" meinte er dann.

Eigentlich hätte ich verlegen sein sollen.

Aber jetzt war er es. Zumindest wenn man nach der Farbe seines Gesichts ging.

"Okay", sagte ich.

Er nickte und war schon ein paar Schritte gegangen, da rief ich ihm noch hinterher: "James..."

Er drehte sich herum.

"Ja?"

"Tu mir einen Gefallen: Zieh ein anderes Jackett an, wenn wir nach Italien fliegen. Dieses sieht furchtbar aus... Da war dein Altes ja noch besser!"

James zuckte die Achseln.

"Jägergrüner Cordsamt - der Stil der Siebziger! Und die sind doch inzwischen wieder mega-angesagt!"

Ich ging auf ihn zu und berührte ihn leicht am Unterarm.

"Tu es für mich, James! Bitte! Ein Mann mit dem feinen ästhetischen Empfinden eines Gian-Carlo Tardelli erleidet doch einen Herzanfall, wenn ihm so etwas ins Auge sticht!"

*

Einen Augenblick später saß ich an meinem Schreibtisch und war in Routinearbeiten vertieft, die ich etwas vor mir hergeschoben hatte. Schließlich schrieb ich noch einen kleinen 50 Zeilen-Artikel über die Neueröffnung eines VIP-Restaurants in der Londoner Innenstadt, als plötzlich ein Schatten zwischen mich und das grelle Neonlicht des Großraumbüros trat.

Ich blickte auf.

Eine große, dunkelhaarige Gestalt stand vor mir und blickte mich mit grüngrauen Augen an. Es war Tom Howard, ein Kollege, der seit kurzem bei uns arbeitete. Zuvor hatte er für eine große Nachrichtenagentur geschrieben und noch immer wußte niemand von uns so recht, weshalb jemand wie er zu einer Zeitung wie der unseren kam. Die meisten in diesem Großraumbüro hätten nämlich genau davon geträumt und würden es nie erreichen. Als Korrespondent in aller Welt herumreisen, immer im Brennpunkt des Geschehens...

Tom war etwa 35 - und das hieß, er war noch entschieden zu jung dafür, um sich zur Ruhe zu setzen. Die meisten setzen in dem Alter erst richtig an, um die oberen Sprossen der Karriereleiter zu erklimmen.

Immerhin hatte Tom meine Neugier geweckt.

Irgendwann, das hatte ich mir vorgenommen, würde ich herausbekommen, was dahintersteckte.

Ich war eben mit Leib und Seele Reporterin.

Tom lächelte mich sympathisch an.

"Hallo, Jane", sagte er. Er legte mir eine CD auf den Tisch. "Hier... Clint aus der Musikredaktion hat mir das für Sie mitgegeben."

Ich sah interessiert auf die CD und las einen Namen, der mir nur zu vertraut war.

Pat Clayton.

"Clint meinte, Sie könnten etwas damit anfangen, vielleicht sogar die Rezension darüber schreiben. Schließlich..."

"Ich verstehe...", murmelte ich.

Ich atmete tief durch. In den Tagen auf Gilford Castle, hatte ich mich in ihn verliebt... Doch dann hatten unsere Wege sich getrennt. Eine Tournee und ein neues Album... Welchen Platz hatte da die Liebe?

"Danke, Tom", sagte ich dann. "Wenn Sie Clint sehen, dann richten Sie ihm doch bitte aus, daß ich etwas darüber schreiben werde..."

Meine Stimme klang etwas heiser und beinahe tonlos. Mein Herz war schwer und ich seufzte leicht.

"Gut", murmelte Tom. Er hatte sich halb herumgedreht. Ich blickte auf und stellte fest, daß er mich noch immer aufmerksam beobachtete. "Ist irgend etwas nicht in Ordnung?"

fragte er dann.

Mein Lächeln war sicher nicht mehr als ein Versuch und muß ziemlich verkrampft gewirkt haben.

"Es ist nichts", behauptete ich.

Aber seine grüngrauen Augen sahen mich an, als könnten sie in diesem Moment direkt in meine Seele blicken. Er wußte, daß ich nicht die Wahrheit gesagt hatte. Aber er schwieg. Und dafür war ich ihm dankbar.

Du muß in die Zukunft schauen! sagte ich mir. Nicht in der Vergangenheit verharren...

Aber das war leichter gesagt als getan.

*

Als ich am Abend nach Hause zurückkehrte, wußte ich bereits einiges mehr über Gian-Carlo Tardelli. Unter anderem hatte ich auch Material aus dem Archiv gegraben, daß sich mit dem mysteriösen Tod seiner Frau beschäftigte. Einiges davon hatte ich mir als Lektüre mitgenommen.

Zu Hause, das war die Villa meiner Großtante Erica Harwood

- für mich Tante Erie.

Seitdem ihr Mann - ein ehedem berühmter Archäologe - auf einer Forschungsreise nach Südamerika verschollen war, be-

wohnte sie das riesige, im viktorianischen Stil gehaltene Gebäude allein mit mir.

Meine Eltern waren früh gestorben, und Tante Erie hatte mich an Kindes statt bei sich aufgenommen. Wie eine eigene Tochter hatte sie mich großgezogen.

Tante Erie war es auch gewesen, die mich nach und nach mit der Welt des Übersinnlichen vertraut gemacht und mich auf meine eigene leichte seherische Gabe hingewiesen hatte. Eine Gabe, die sich in Träumen, Visionen und Ahnungen zeigte, in denen ich hin und wieder schlaglichtartig den Abgrund von Raum und Zeit überwinden konnte. Lange Zeit hatte ich mich gegen die Tatsache, eine solche Fähigkeit zu besitzen, gesträubt. Ich wollte es nicht akzeptieren, bis ich nach und nach begriff, daß ich lernen mußte, damit umzugehen.

Und das war nicht leicht.

Noch immer betrachtete ich diese Gabe manchmal mehr als einen Fluch. Wissen ist nämlich durchaus nicht nur Macht, wie es irgendwo so schön heißt. Es kann einen auch zu seinem Gefangenen machen. Ein Verhängnis auf sich oder andere zukommen zu sehen, ohne etwas dagegen tun zu können, ist etwas Furchtbares.

Genauso furchtbar ist es, nur einen kleinen Ausschnitt der Zukunft zu sehen. Ein winziges Teil in einem Puzzle, mehr war es oft nicht.

Ich stellte meinen roten 190er Mercedes in der Einfahrt der Villa ab, klemmte das Archivmaterial unter den Arm und sog die kühle Abendluft ein. Nebel kroch durch die Straßen Londons. Es war naßkalt, und ich schlug mir den Kragen meiner Jacke hoch.

James hat recht! ging es mir unwillkürlich durch den Kopf.

Italien ist um diese Jahreszeit wirklich eine Alternative...

Wenig später betrat ich die Villa. Die obere Etage hatte ich für mich. Der Rest war ein für Außenstehende ein etwas eigenartig wirkendes Kuriositätenkabinett.

Tante Eries Interesse hat seit jeher dem Übersinnlichen und allen unerklärlichen Phänomenen gegolten. Und so hatte sie auf diesem Gebiet in jahrelanger Sammlertätigkeit eines der größten Privatarchive Englands zusammengetragen. Alte Schriften, obskure Bücher, die in magischen Zirkeln kursier-ten waren ebenso darunter wie zahllose Presseartikel. Dazu kamen noch zahlreiche okkulte Gegenstände. Pendel und Geistermasken unterbrachen die langen Reihen dicker, staubiger Folianten, von denen die Regale nur so überquollen.

Dazu kamen noch die vielen archäologischen Fundstücke, die ihr verschollener Mann Fred von seinen Forschungsreisen mitgebracht hatte. Artefakte vergangener Kulturen, Götterstatuen und rätselhafte Tonscherben, deren Schriftzeichen bislang niemand hatte entschlüsseln können.

Tante Erie wußte nur zu gut, daß das Gebiet des Okkultismus ausgesprochen anziehend auf alle möglichen Beutelschneider und Betrüger wirkte. Die Harmloseren davon wollten sich nur wichtig machen und einmal im Leben in den Medien erwähnt werden. Den anderen ging es um Macht oder das Geld ihrer naiven Anhänger.

Aber auf der anderen Seite war Tante Erie davon überzeugt, daß es einen Rest an unerklärlichen Phänomenen gab, bei dem es sich nicht um die Machenschaften von Scharlatanen oder Sinnestäuschungen handelte.

Es waren einfach Vorkommnisse, die mit den Mitteln der heutigen Wissenschaft noch nicht zu erklären waren. Um die herauszufiltern, darum ging es Tante Erie. Dieser Aufgabe hatte sie ihr Leben gewidmet.

Ich fand sie in der Bibliothek.

Sie saß in einem der großen Ohrensessel und war über der Lektüre eines dicken, in Leder eingeschlagenen Bandes eingeschlafen.

Ich lächelte, als ich sie so da liegen sah.

Eigentlich wollte ich mich wieder aus dem Raum schleichen, aber kaum hatte ich einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, knarrte eine der alten Parkettbohlen.

"Ah, Jane!" hörte ich Tante Eries Stimme. Ich drehte mich herum. Sie klappte das Buch zu und legte es auf einen kleinen runden Tisch. "Ich bin zwischendurch einfach eingeschlafen", meinte sie dann kopfschüttelnd, während sie sich erhob.

"Ich wollte dich nicht wecken!"

"Schon gut! Möchtest du eine Tasse Tee?"

"Da sage ich nicht nein..."

Tante Erie sah auf die Mappe unter meinem Arm. "Mr. Bennett scheint von dir zu erwarten, daß du auch noch nachts recherchierst!" Sie schüttelte den Kopf. "Ich wette, der Mann schläft in seinem Bürosessel..."

Ich lächelte. "Manchmal kommt mir das auch so vor. Aber was das hier angeht..." Ich deutete auf die Mappe. "Es hat mich einfach gefesselt..."

"Etwas, wobei ich dir helfen kann? Du weißt, ich tue das gerne..."

Immer wieder hatte Tante Erie mir bei Recherchen geholfen, die sich mit okkulten oder übersinnlichen Phänomenen befaßten. Ihre Sammlung war dabei oft weitaus ergiebiger als das riesenhafte Zeitungsarchiv der LONDON HAUTE COUTURE, das in den Kellern des Verlagsgebäudes untergebracht war.

Ich legte Jacke, Handtasche und die Mappe in einem der Sessel ab und dann gingen wir gemeinsam in die Küche, wo Tante Erie den Tee aufsetzte. In knappen Worten erzählte ich ihr von der bevorstehenden Italien-Reise.

"Du bist zu beneiden, Jane", sagte sie daraufhin.

"Weshalb? Wegen der Begegnung mit einem Mann wie Tardelli -

oder wegen der italienischen Sonne und der Aussicht, einige Tage in einem traumhaften Palazzo zu verbringen?"

Tante Erie hob die Augenbrauen.

"Wegen beidem!" erwiderte sie.

"Tardellis Frau Franca starb unter sehr mysteriösen Umständen", begann ich dann auf den Inhalt meiner Archivmappe einzugehen. "Seitdem hat sich der Mode-Zar in der Öffentlichkeit ziemlich rar gemacht. Zumindest, was sein Privatleben angeht. Auf seinen Schauen in Mailand oder Paris sieht man ihn kurz eine Kußhand dem Publikum zuwerfen und das war es dann. Kein Wort an die Presse, kein Interview und schon gar keine Berichte über seine Familie..." Ich strich mir mit einer schnellen Geste einige Haare aus dem Gesicht, die sich aus meiner Frisur herausgestohlen hatten.

Nachdenklich sah ich Tante Erie dabei zu, wie sie mit geübten, tausendfach erprobten Handgriffen den Tee auf ihre ganz spezielle Weise zubereitete. Jeden dieser Handgriffe kannte ich aus der Zeit, als ich noch ein junges Mädchen gewesen war.

"Was war mit seiner Frau?" fragte sie dann.

"Sie wurde ermordet. Von wem, konnte nie ermittelt werden."

"Traurig - aber leider kein Einzelfall!"

"Tante Erie, die Tardellis leben im Palazzo Luciani, dem ehemaligen Herrensitz der Grafen Luciani. Vicente, der letzte Sproß dieser Familie, verfiel dem Wahnsinn und wurde als Serienmörder überführt. Kurz bevor die Polizei ihn verhaften konnte, brachte er sich um. Der Palazzo war verwaist und Tardelli erwarb ihn preiswert. Jahre später kam Tardellis Frau auf eine Art und Weise um, die deutlich die Handschrift des wahnsinnigen Vicente Luciani trug, der seine Opfer zu erwürgen pflegte und ihnen anschließend eine Haarsträhne abschnitt..."

Ich nickte.

Und über die Jahre hinweg gab es immer wieder derartige Fälle. Ein italienischer Kriminalkommissar verglich schließlich die am Tatort zurückgelassenen Fingerabdrücke mit jenen, die man von dem toten Vicente Luciani genommen hatte.

"Das klingt wirklich mysteriös", gab Tante Erie zu. Sie wirkte plötzlich sehr in sich gekehrt und nachdenklich.

"Im Sande verlaufen", meinte ich. "Man versuchte das mit den Fingerabdrücken mit einer Verwechslung zu erklären.

Er durfte nicht mehr über den Fall reden."

Nebel waberte in dicken Schwaden über die Meeresoberfläche.

Ich stand auf einem Felsvorsprung, der ins Meer hineinragte.

Ein Gefühl der Kälte hatte mich erfaßt. Eine Art von Kälte, die aus dem Inneren kam und gegen die es kein Mittel gab. Unbehagen erfüllte mich.

Soldaten in Kleidung aus napoleonischer Zeit. Die Verteidiger trugen Dreispitze und rote Jacken mit langen Rockschößen, die bis zu den Kniekehlen reichten. Die Angreifer hingegen trugen hohe, dunkle Mützen und blaue Jacken. Darüber helle Schärpen, an denen die Säbel hingen.

Eine Gewehrsalve krachte los und ließ mich zusammenzucken.

Aber zumeist wurde jetzt mit Bajonett und Säbel gerungen.

Erbittert wurde gefochten und Augenblick für Augenblick sanken Tote in den Staub.

Er drehte sich zu mir herum, nachdem er seinen Gegner niedergerungen und erschlagen hatte. In der einen Hand hielt er seinen breiten Säbel.

Er streckte die Hand aus und rief mir etwas zu.

Aber ich erkannte die Sprache.

Aus irgendeinem Grund schauderte mir, und ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Mehr war allerdings nicht möglich. Ich drehte meinen Kopf leicht zur Seite. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich bereits die scharfe Kante am Rand der Felsenkanzel.

Der Mann kam auf mich zu. Seine Augen blitzten wild. Sein Gesicht wirkte roh und grobschlächtig. Eine Maske des Hasses.

Seine Haut! dachte ich. So bleich...

Nein!

Dann erwachte ich.

Es dauerte einige Augenblicke, ehe ich aus der Welt meines Alptraums wieder ins Hier und Jetzt tauchte. Ich blickte mich im Zimmer um. Tante Eries Villa, mein Bett, der vertraute Blick durch das Fenster... Es ist alles in Ordnung...

Dann schlug ich die Bettdecke zur Seite. Barfuß ging ich zum Fenster und blickte hinaus.

Der Nebel!

Es ist einer jener Träume, die mit deiner Gabe zu tun haben! sagte eine ziemlich entschiedene Stimme in mir. Mein Gefühl sagte mir, daß es so war, auch wenn ich liebend gern etwas anderes geglaubt hätte.

Ich strich mir das Haar zurück und setzte mich in einen Sessel. Die Knie zog ich an den Oberkörper.

Es war ein Traum, der von nichts Gutem künden konnte. Das war mir schon klar.

Ich schluckte.

*

Ich erzählte Tante Erie von meinem Traum.

"Du mußt diesen Traum ernstnehmen", sagte sie. "Jane, vielleicht..." Sie sprach nicht weiter. Ihr Blick musterte mich auf eine Weise, die mir nicht gefiel. Ich sah sie erstaunt an und zog die Augenbrauen in die Höhe.

Tante Erie faßte mich bei den Schultern. Sie senkte den Blick und wich dem meinigen aus. "Vielleicht ist es besser, du sagst die Reise ab, Jane! Ich weiß, daß du das jetzt vehement von dir weisen wirst, aber..."

"Der Zusammenhag ist doch eindeutig, Jane! Der Landsknecht sprach dich auf italienisch an! Und du wirst nicht im ernst behaupten wollen, daß dies ein Traum sein kann, der etwas Gutes verheißt..."

Tante Erie nahm mich in den Arm.

"Ich weiß", flüsterte ich.

*