Mirjam Pressler

Malka Mai

Roman

Ein Gulliver von Beltz & Gelberg

www.gulliver-welten.de

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Gulliver 594

© 2001, 2004 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einband: Henriette Sauvant

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-78594-7

 

Für Malka Mai wurde Mirjam Pressler mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet.

September

Der Tag, an dem alles begann, unterschied sich in nichts von den Tagen vorher, außer dass er vielleicht noch ein bisschen heißer war. Malka merkte es sofort, als sie die Augen aufschlug. Die Sonne schien grell durch den Blumenvorhang und warf bunte, verzerrte Flecken auf ihre weiße Zudecke. Als sie den Finger auf eine blaue Blüte schob, färbte sich ihr Fingernagel bläulich und grüne Streifen wellten sich über ihren Handrücken. Sie tippte mit dem Finger in die bunten Flecken und beobachtete, wie die leuchtenden Farben auf ihrer bräunlichen Haut matter und stumpfer wurden.

Vertraute Geräusche drangen in ihr Zimmer. Vor ihrem Fenster, nur ein paar Meter vom Haus entfernt, plätscherte der Bach. Jetzt, nach einem langen, trockenen Sommer, war er so flach, dass man die Steine im Bachbett genau sehen konnte, die Fische, die durch das Wasser schossen und im Ufergras verschwanden. Malka saß oft am Bach, warf abgerissene Blüten oder Blätter ins Wasser und beobachtete, wie sie strudelnd davontrieben, bis sie hinter dem Wacholderbusch verschwanden. Manchmal, an besonders heißen Tagen, badete Malka sogar im Bach, obwohl sein Wasser, das hoch aus den Bergen kam, auch im Sommer kalt war. Sie wagte sich allerdings nur hinein, wenn jemand dabei war, entweder Minna, ihre große Schwester, oder ihre Mutter. Es brauchte ihr niemand mehr zu verbieten, allein ins Wasser zu gehen, sie würde jenen Tag zu Beginn des letzten Winters nie vergessen, den Tag, an dem sie fast ertrunken wäre.

Draußen auf der Straße holperte ein Pferdefuhrwerk vorbei. Die mit Eisenringen beschlagenen Holzräder rumpelten über die Steine. Malka lauschte. Am Hufgetrappel hörte sie, dass nur ein einzelnes Pferd vor den Wagen gespannt war, es war also nicht Jankel, der fahrende Händler, der oft Dinge anbot, die man, seit der Krieg angefangen hatte, nicht mehr so leicht bekam. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen, bestimmt schon mehrere Wochen nicht, das hatte Minna neulich auch gesagt. Wir haben nur noch ein Stück Veilchenseife, hatte sie gesagt, es wird Zeit, dass Jankel wiederkommt.

Unten in der Küche klapperte jemand mit Geschirr, dann fiel ein Eimer scheppernd auf die Steinfliesen. Das war ihre Mutter oder Minna. Zofia, das letzte Hausmädchen, war schon vor Monaten weggegangen, zurück zu ihren Eltern nach Wyszków, weil die gnädige Frau Doktor ihr keinen Lohn mehr bezahlen konnte und weil ein christliches Mädchen sowieso nicht bei Juden im Haushalt arbeiten durfte, auch wenn kein Mann im Haus war. Alle hatten ihr Weggehen bedauert, vor allem Minna, die sich mit ihr angefreundet hatte. Zofia war freundlicher und fröhlicher gewesen als viele ihrer Vorgängerinnen, und auch gescheiter, hatte Minna gesagt. Beide Mädchen hatten beim Abschied geweint und Minna war danach schweigsam und mürrisch geworden.

Zofia war nett gewesen, aber Malka trauerte immer noch Olga nach, der Krankenschwester, die lange im Ambulatorium ihrer Mutter gearbeitet hatte. Damals, an jenem Tag, als die Deutschen gekommen waren, hatte Olga überstürzt das Haus verlassen und war mit den abziehenden Russen verschwunden. Malka tippte mit dem Zeigefinger auf einen blauen Fleck. Olga hatte blaue Augen gehabt, richtig blaue, nicht so verwaschen blaugraue wie Minna und wie ihre Mutter. Leise summte Malka ein Lied vor sich hin, das sie von Olga gelernt hatte. »Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft des Menschen Recht.« Wie immer versuchte sie Olgas Stimme nachzuahmen, an deren sanften, tiefen Klang sie sich noch genau erinnerte, aber es gelang ihr nicht, bei ihr hörte sich die Melodie dünn und falsch an, so dass sie bald wieder aufhörte zu singen.

Nach einer Weile wurde Malka das Spiel langweilig. Die Sonne stand jetzt höher, die Flecken, die sie auf die Decke warf, verblassten. Malka sprang aus dem Bett und schlüpfte in das Kleid, das Henja, die Näherin, ihr zu Beginn des Sommers aus einer abgetrennten Bahn des Vorhangs genäht hatte, weil man schon lange keine neuen Stoffe mehr bekommen konnte. Das Kleid war sehr schön und es wäre noch schöner gewesen, wenn dieser blöde gelbe Stern nicht gewesen wäre. Malka bemühte sich immer, ihn zu übersehen, nachdem sie erst gejammert und geweint und gebettelt hatte, man möge ihn ihr wieder abtrennen. Aber sowohl ihre Mutter als auch Minna hatten gesagt, das sei ausgeschlossen, solange die Deutschen hier wären, müsse sie den Stern tragen.

Malka hockte sich auf den Boden und zog ihre Sandalen an. Die waren auch von den Deutschen, Holzsandalen mit langen, roten Schnüren, die kreuzweise bis halb über die Unterschenkel gewickelt und dann mit einer Schleife zugebunden wurden. Sie waren noch sehr neu, diese Sandalen, vor kurzem erst hatte Frau Schneider sie ihr geschenkt, zusammen mit einem Glas Aprikosenmarmelade, als sie von einer Reise nach Deutschland zurückgekommen war. Noch nie hatte Malka so schöne Schuhe besessen. Sie lachte vor Vergnügen. Frau Schneider schenkte ihr oft etwas, wenn sie zu der Villa unten an der Straße ging, um mit Veronika zu spielen. Die Deutschen hatten den Stern gebracht, als die Russen weggezogen waren, aber ansonsten war alles nicht so schlimm geworden, wie es die Leute damals gesagt hatten.

Malka lief die Treppe hinunter in die Küche. Sie aß das Butterbrot mit Aprikosenmarmelade, das Minna ihr hingestellt hatte, trank, schon halb im Stehen, ihre Milch und rannte aus der Küche. »Vergiss nicht, dass du heute Nachmittag zu Fräulein Lemberger musst«, rief Minna ihr nach.

»Vergesse ich nicht«, antwortete Malka, hüpfte mit beiden Füßen gleichzeitig über die Schwelle und lief die Straße hinunter zu dem großen Haus, in dem Veronika wohnte.

Als die Küchentür laut ins Schloss fiel, schreckte Hanna Mai, Malkas Mutter, aus ihren Gedanken hoch. Sie saß unten im Ambulatorium an ihrem Tisch. Seit man ihr die Lizenz als Kreisärztin entzogen hatte, bekam sie kein Gehalt mehr. Aber da weit und breit kein Arzt lebte, wurde sie weiterhin gerufen, wenn es nötig war. Doch das kam immer seltener vor und sie hatte oft mehr Zeit, als ihr lieb war. Automatisch schaute sie auf ihre Armbanduhr. Zehn nach neun. Um elf würde sie zum Judenviertel gehen, auf der anderen Seite des Städtchens, und nach der Frau des Schusters sehen, die vor drei Tagen einen Sohn geboren hatte. Bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als hier zu sitzen und zu warten. Sie seufzte. Sie fühlte sich als Opfer der Umstände, die sie zur Untätigkeit zwangen, ein Opfer der Zeit, und diese Rolle passte ihr nicht. Sie vermisste die langen Reisen durch ihren Bezirk, die Arbeit, die Herausforderungen. Manchmal fühlte sie sich fast eingesperrt hier in diesem Haus, in diesem gottverlassenen Nest nahe der ungarischen Grenze, und ihre Gefängniswärter waren die Deutschen.

Sie hörte Minna in der Küche herumarbeiten, ungeduldig und nachlässig, und seufzte wieder. Kein Wunder, dass Minna so mürrisch war, eine Sechzehnjährige ohne Gesellschaft, ohne wirkliche Freunde, ohne die Möglichkeit, einen richtigen Beruf zu erlernen. Minna war in einem schwierigen Alter, und seit Zofia weggegangen war, war alles nur noch schlimmer geworden.

Hanna ballte ein paar Mal die Hände zu Fäusten, dann streckte sie die Finger aus und betrachtete aufmerksam ihre sorgfältig geschnittenen Nägel, bevor sie die Schreibtischschublade aufzog und den Brief herausnahm. Seit Wochen tat sie das einmal, zweimal, dreimal am Tag, las immer wieder die Worte, die ihr Vater geschrieben hatte, starrte immer wieder die beiden Fotos an. Auf dem einen Bild sah ihr Vater aus, wie sie ihn kannte, ein frommer Jude mit Pejes1) und Bart, mit hochgeschlossenem Kaftan2) und einem runden, schwarzen Hut auf dem Kopf. Ein ernster und würdiger älterer Herr. Aber von dem anderen Bild blickte ihr ein fremder Mann entgegen, mit einem alten, mageren, nackten Gesicht, ohne Pejes und ohne Bart. Das fliehende Kinn, das vorher unter seinem Bart versteckt gewesen war, ließ ihn unscheinbar aussehen, verschreckt, hilflos.

1) Pejes: Schläfenlocken.

2) Kaftan: langes, enges, vorne geknöpftes Obergewand frommer Juden.

Liebe Hanju, hatte er geschrieben, ich danke dir für die Umzugsgenehmigung, die ich vor einigen Tagen erhalten habe, aber ich werde nicht zu dir kommen, ich bleibe hier, bei deiner Schwester und ihrer Familie, so wie deine Mutter, ihr Angedenken gereiche uns zum Segen, es gewollt hätte. Man lässt einen Menschen in Not nicht im Stich.

Hanna überlegte, ob diese Worte nur eine Variante des alten Vorwurfs waren, weil sie weggegangen war, um zu studieren, um ihr eigenes Leben zu führen, ohne Rücksicht auf ihre Eltern und die Familie. Vielleicht. Er hatte es ihr nie verziehen.

Hanna hatte die Arme aufgestützt und starrte immer noch die beiden Fotos an, als an die Tür geklopft wurde. Schnell und mit rotem Kopf, als wäre sie bei etwas Unrechtem ertappt worden, schob sie den Brief und die Fotos in die Schublade, fuhr sich durch die Haare und nahm einen Stift in die Hand, als hätte sie gearbeitet, bevor sie »Herein« rief.

Es war Frau Silber, eine schwere, dunkle Frau mit trägen Bewegungen und einem ewig verschwommenen Blick, hinter dem sich aber, wie Hanna wusste, ein wacher Geist verbarg. Sechs Kinder hatte sie geboren, bei der Geburt des letzten, die unerwartet schwer verlaufen war, hatte Hanna ihr geholfen. Erst nach einem sehr hohen Dammschnitt war der kleine Mosche, ein Neunpfünder, auf die Welt gekommen, ein halbes Jahr nachdem ihr Mann nach Amerika ausgewandert war. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie brachte ihre Kinder mit Näharbeiten durch.

Frau Silber bewegte sich schneller als sonst, sie ließ sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen und platzte ohne Umschweife mit dem heraus, was sie sagen wollte: »Sie haben ihre Sachen bei den Schneidern abgeholt. Und bei Netti, der Wäscherin, waren sie auch.«

»Wer?«, fragte Hanna Mai erstaunt.

»Die Deutschen, der Grenzschutz. Sie waren bei Mendel Abraham und bei David Schneor und haben alles abholen lassen, auch die Anzüge, die noch nicht fertig waren. Das kann nur eines bedeuten, Frau Doktor, es kommt eine Aktion.«

Die beiden Frauen starrten sich an. Hanna Mai wusste nicht, wie sie ihr Erschrecken verbergen sollte, denn natürlich hatte sie schon von Aktionen gehört, es war das Wort, das ihr seit ein paar Wochen das Herz schwer machte. Einer ihrer Patienten, ein deutscher Offizier, hatte von einer Aktion in Krakau berichtet und gesagt, alle Juden würden an einen unbekannten Ort umgesiedelt. Sie hatte sofort an ihren Vater geschrieben, bisher aber noch keine Antwort bekommen. Die Worte »Aktion« und »Umsiedlung« waren, auch wenn sie nicht wusste, was sie wirklich bedeuteten, der Grund dafür, dass sie immer wieder die Fotos anschaute und den Brief las. Sie fühlte sich seltsam schwach und willenlos, wenn sie an ihren Vater dachte, an ihre Schwester und deren Familie.

Was sie selbst und ihre Töchter anging, hatte sie eigentlich keine große Angst, oder besser gesagt, die Angst war nur ein verschwommenes Gefühl, das sich leicht mit dem Gedanken zurückdrängen ließ, dass sie ja arbeitete und dass sie auch für die Deutschen eine gewisse Rolle spielte, weil es außer ihr im Umkreis von fünfzig Kilometern keinen Arzt gab. Und ihr Beruf war nicht der einzige Grund dafür, dass die Deutschen sie brauchten, schließlich gehörte sie auch zu den wenigen gebildeten Menschen in einer Umgebung, in der die meisten Bewohner Bauern waren, Analphabeten.

Zu ihr waren die deutschen Offiziere immer höflich gewesen, sie unterhielten sich gerne mit ihr über Bücher und über Theater und hatten sie auch oft genug privat besucht. Nicht nur Heinz Peschl. Hanna fühlte sich, gesellschaftlich gesehen, den Deutschen näher als den polnischen und ukrainischen Bauern, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass die Besuche der deutschen Offiziere in ihrem Haus in den letzten Monaten seltener geworden waren. Auch Heinz Peschl war seit Wochen nicht mehr hier gewesen.

Trotzdem hatte sie keine Angst, nicht wirklich. Sie wurde gebraucht, ihr Beruf schützte sie, im Gegensatz zu Juden wie Frau Silber, die sich natürlich in einer völlig anderen Situation befand. Hanna betrachtete die Frau, die mit gesenktem Kopf vor ihr saß, die Hände in den Schoß gelegt, und sagte das Einzige, was ihr einfiel. »Viele Juden sind nach Ungarn geflohen, die Grenze ist so nahe.«

Frau Silber schaute sie an. Auf einmal war ihr Blick nicht mehr verschwommen, sondern wach und direkt. Auch ihre Stimme war sehr klar, als sie sagte: »Soll ich, Rachel Silber, mit meinen Kindern betteln gehen? Lejser und Jankel sind fast erwachsen, sie können selbst entscheiden, was sie tun wollen, aber ich werde mit den Mädchen und Mojschele dahin gehen, wohin man mich schickt.« Dann schwieg sie.

Wie immer, wenn sie unruhig war, fing Hanna an aufzuräumen, irgendetwas zu tun, sie schob einen Block von einer Seite auf die andere, stand auf und stellte ein Buch ins Regal, rückte eine Fachzeitschrift, die auf dem Tisch lag, so zurecht, dass der Rand mit der Kante abschloss, legte den Füller und einen Bleistift in die hölzerne Schale, rollte die Manschette des Blutdruckmessgeräts zusammen, schob das Stethoskop daneben, drehte den Schlüssel zu ihrer Schreibtischschublade zu, dann wieder auf, und während der ganzen Zeit saß Frau Silber reglos auf dem Stuhl, den Blick zu Boden gerichtet. Die Sonne schien durch das geöffnete Fenster und alles sah so normal aus, so gewöhnlich wie an einem x-beliebigen schönen Spätsommertag. Ich sollte mich an den Bach setzen, dachte Hanna, meine Füße ins Wasser halten und zuschauen, wie die Libellen über das Wasser surren. Plötzlich schien es nichts Wichtigeres zu geben als die Libellen.

Frau Silber räusperte sich und bewegte die Hände. Hanna schaute sie an. Sie wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Draußen auf dem Weg waren Schritte zu hören, die Haustür ging auf, dann die Küchentür. Es dauerte nicht lange und Minna kam ins Ambulatorium, gefolgt von Zofias Mutter, Frau Wolynska aus Wyszków. Die Bäuerin küsste Hannas Hand und rief: »Frau Doktor, die Deutschen haben was vor. Sie verlangen, dass Wyszków zwanzig Fuhrwerke nach Lawoczne bringt, heute Nachmittag um fünf Uhr. Mein Mann schickt mich, ich soll Ihnen Bescheid sagen, Sie sind immer gut zu unserer Zofia gewesen, hat er gesagt, und wenn Zofia nicht so viel bei Ihnen gelernt hätte, hätte der Assessor in Stryj sie nicht genommen, hat er gesagt, und Sie sollen sich heute lieber nicht auf der Straße zeigen, am besten würden Sie zu einem Christen ins Haus gehen, Sie und Minna und die Kleine, und alles in Ruhe abwarten, hat er gesagt …«

Hanna nahm ihre Hände aus denen der Bäuerin und bedankte sich dafür, dass sie den weiten Weg auf sich genommen hatte, um sie zu warnen, dann bat sie Minna, der Frau noch Tee und einen Imbiss zu servieren, bevor sie sich auf den Rückweg machte. Auch zum Abschied küsste Frau Wolynska ihr die Hand. Hanna bat sie, Zofia zu grüßen, dann war sie wieder allein mit Frau Silber.

Frau Silber stand auf. »Wissen Sie schon, was Sie machen?«, fragte sie.

Hanna zuckte mit den Schultern. »Ich werde wohl wirklich mit meinen Kindern zu meinen christlichen Nachbarn gehen und Sie bitten, mich für heute Nachmittag aufzunehmen. Und Sie?«

Frau Silber lächelte traurig. »Ich gehe dahin, wohin alle Juden gehen.« Plötzlich umarmte sie Hanna, etwas, was sie noch nie getan hatte, und sagte auf Jiddisch3): »Gejt in gesinderhejt.« Hanna gab die Umarmung zurück und ging in die Küche, um ihren Töchtern zu sagen, dass sie sich bereithalten sollten.

3) Jiddisch: Sprache, die von den Juden in Osteuropa gesprochen wurde. Jiddisch besteht zu einem großen Teil aus mittelhochdeutschen Dialekten, gemischt mit vielen hebräischen Wörtern.

Malka ging durch die Hintertür ins Haus, wie sie es immer tat, direkt zu Veronikas Zimmer. Veronika saß auf dem Teppich und hatte ihre Spielsachen um sich herum aufgebaut: Puppen, eine Spielküche, einen Puppenwagen und ein Puppenbett, einen aufgeklappten Koffer mit Kleidern und eine Schachtel mit einem rosafarbenen Kamm und einer Bürste. Bevor Veronika mit ihrer Mutter nach Lawoczne gekommen war, hatte Malka noch nie so viele Spielsachen gesehen, noch nicht einmal in Krakau. Sie hatte nicht gewusst, dass es solche Spielsachen gab, bis dahin hatte sie nur Bälle, Springseile und Kreisel gekannt. Die polnischen und ukrainischen Kinder, mit denen sie früher gespielt hatte, besaßen keine Spielsachen, sie hatten auch nicht viel Zeit zum Spielen, und statt Puppen hatten die meisten Mädchen kleinere Geschwister, um die sie sich kümmern mussten. Im Sommer und im Herbst wurden sie in die Wälder geschickt, um Beeren und Pilze zu sammeln, nur im Winter hatten sie weniger zu tun. Der Winter war die Zeit der Schneemänner, der Schlitten, der Schneeballschlachten.

Veronika trug ihren roten Trägerrock und die weiße Bluse mit dem Spitzenkragen, die Malka so gut gefiel. Vielleicht würde sie sich irgendwann trauen, Frau Schneider um eine solche Bluse zu bitten, wenn sie wieder einmal nach Deutschland fuhr. Veronikas Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten und über den Ohren zu festen Schnecken gesteckt. Sie hielt den Kopf gesenkt und kämmte die langen, blonden Haare ihrer Lieblingspuppe Marion. Immer, wenn Malka Veronikas rosigen Mittelscheitel zwischen den straffen, hellbraunen Haaren sah, musste sie an einen nackten Po denken, aber das sagte sie ihr natürlich nicht. Sie wollte Veronika nicht verärgern, dann durfte sie vielleicht nicht mehr mit ihr spielen.

Sie setzte sich zu dem Mädchen auf den Boden und griff nach Liesel, der kleinen Stoffpuppe mit den Ringelsocken und den gelben Wollhaaren. Liesel hatte ein süßes aufgemaltes Gesicht mit blauen Augen. »Du bist jetzt die Mutter und ich wäre der Vater«, sagte Veronika.

Malka nickte. Sie konnte schon viele deutsche Wörter verstehen, zum Spielen reichten sie jedenfalls. Veronika sprach weder Polnisch noch Ukrainisch, nur Deutsch. Das war eine seltsame Sprache, ein bisschen wie die, die ihre Verwandten in Krakau sprachen. Malka zog Liesel den Strampelanzug aus, so dass die Puppe nur noch die Socken, die grüne gestrickte Unterhose und ein weißes Unterhemd anhatte, und wühlte im Puppenkoffer nach einem passenden Kleidungsstück.

In diesem Moment trat Frau Schneider ins Zimmer. »Malka«, sagte sie, kam mit ein paar raschen Schritten näher und zog das Kind hoch. »Malka, du musst nach Hause gehen, du kannst nicht hier bleiben zum Spielen.«

Malka starrte die Frau an. Das sommersprossige Gesicht sah auf einmal gar nicht mehr so freundlich aus, die rötlichen Augenbrauen stießen über der Nase fast zusammen.

»Malka«, sagte Frau Schneider und ihre Stimme wurde etwas weicher. »Heute geht es nicht. Lauf heim zu deiner Mama.«

Ihre Oberlippe war leicht hochgezogen, so dass man die schief stehenden Zähne sehen konnte. Veronika hob den Kopf und warf ihrer Mutter einen erstaunten Blick zu, aber sie protestierte nicht, sie spielte einfach weiter. Frau Schneider schob Malka auf den Flur und zur Hintertür. Die Sonne schien grell in Malkas Gesicht, als die Tür aufging. Dann stand sie hinter dem Haus. »Beeil dich«, sagte Frau Schneider noch. »Los, lauf.«

Aber Malka beeilte sich nicht. Sie ging langsam, mit gesenktem Kopf, die Straße hinauf. Sie war gekränkt und wütend und trat nach einem Stein. Erst als er laut gegen das Tor der Kronowskis krachte, spürte Malka den Schmerz an ihrem Zeh. Tränen traten ihr in die Augen. Warum hatte Veronika nicht gesagt: Ich will aber, dass Malka dableibt? Bestimmt lag es an dem dummen Stern, dass Frau Schneider sie weggeschickt hatte. Seit sie den Stern tragen musste, spielten die polnischen und ukrainischen Kinder nicht mehr mit ihr. Sie deuteten mit den Fingern auf sie und schrien ihr »Jüdin, Jüdin« nach. Sie konnte nur noch mit Veronika spielen oder mit Chaja, der Tochter des Schochet4). Die trug selbst einen Stern. Malka bückte sich, um ihren schmerzenden Zeh zu reiben. In diesem Moment merkte sie, dass sie immer noch Liesels Arm umklammert hielt. Sie schaute sich schnell um, bevor sie die Puppe in ihre Rocktasche schob.

4) Schochet: Metzger, der zum Verzehr bestimmte Tiere den religiösen Vorschriften entsprechend schächtet.

Als Hanna Mai aus dem Haus trat, um Malka zu suchen, die verschwunden war, ohne Minna gesagt zu haben, wohin sie ging, hörte sie, dass jemand in scharfem Galopp den Hang heruntergeritten kam. Sie schaute hinüber. Die Frau auf dem Pferd hob den Arm und winkte, Hanna blieb stehen. Erst als das Pferd nahe genug war, erkannte sie die Reiterin. Es war Frau Sawkowicza, die Frau eines Bauern aus Kalne. Das Pferd schnaubte und hatte Schaum vor dem Mund, als Frau Sawkowicza es dicht vor ihr zügelte und aus dem Sattel rutschte. »Frau Doktor«, keuchte sie atemlos, »Sie müssen unbedingt zu meinem Mann kommen, er hat sich am Bein verletzt, beim Holzhacken, es ist eine große Wunde. Bitte, Frau Doktor. Ich lasse Ihnen das Pferd und gehe zu Fuß. Bitte, kommen Sie schnell, es ist dringend.«

Hanna wusste sofort, was zu tun war, sie brauchte nicht lange nachzudenken. Es war eine ihrer Stärken, schnelle Entscheidungen zu treffen, und insgeheim verachtete sie alle Menschen, die eher zögerlich und langsam waren, wie ihre Schwester zum Beispiel. Und ihr Vater. »Bitte, Frau Doktor«, sagte die Bäuerin. Hanna lächelte ihr aufmunternd zu, ein professionelles Lächeln, das sie mühelos zustande brachte, egal an was sie eigentlich dachte. Natürlich war es ihre Pflicht, nach dem Verletzten zu schauen, und nicht nur Pflicht, sie liebte ihren Beruf und genoss es, gebraucht zu werden. Doch heute hatte sie das Gefühl, als sei ihr Frau Sawkowicza vom Himmel geschickt worden. Kalne war die Lösung, Kalne war viel besser, als sich heute Nachmittag bei christlichen Nachbarn zu verstecken. Sie würde mit Minna und Malka nach Kalne gehen und dort bleiben, bis die Luft in Lawoczne wieder rein war, notfalls auch bis zum nächsten oder übernächsten Tag. Das Dorf war nur knapp drei Kilometer entfernt, ein Weg, den auch Malka leicht zu Fuß gehen konnte.

»Einen Moment«, sagte Hanna, lief ins Haus zurück und befahl Minna, Malka zu suchen und mit ihr nach Kalne zu gehen. »Und nehmt eure Jacken mit, es kann sein, dass wir erst am späten Abend oder nachts zurückkommen.«

Dann ging sie ins Ambulatorium und machte, bevor sie nach ihrer Arzttasche griff, die Schreibtischschublade auf. Sie wollte den Brief ihres Vaters mit den beiden Fotos nicht hier lassen, denn sie hatte plötzlich die Vorstellung, die Deutschen könnten ihr Haus durchsuchen und den Brief finden, das wollte sie nicht. In der Schublade lagen auch ihre Papiere. Einer plötzlichen Eingebung folgend, steckte sie die Geburtsurkunden ihrer Kinder und ihre Approbation5) in die Innentasche ihrer Jacke, zu ihrem Pass, den sie immer bei sich trug.

5) Approbation: Um den Beruf als Arzt ausüben zu können, braucht man eine staatliche Zulassung, die so genannte Approbation.

Als sie aus der Haustür trat, bog Malka um die Ecke. Sie sah bedrückt aus, aber Hanna konnte im Moment nur an ihren wunderbaren Plan denken. »Bitte nehmen Sie meine Kinder mit nach Kalne«, bat sie Frau Sawkowicza und sprang aufs Pferd. Sie sah noch, wie Minna ihrer widerstrebenden Schwester die Jacke aufdrängte, hörte Malkas wütendes »Nein, bei der Hitze, spinnst du?« und sah, wie Minna die Hand hob. Ob sie Malka wirklich eine Ohrfeige gab, sah sie aber nicht mehr, da war sie schon losgeritten.

Der Kranke lag im Schlafzimmer im ersten Stock. Er hatte die Decke nur halb über den Körper gezogen, so dass das verletzte Bein frei lag, es war mithilfe einiger untergeschobener Tücher hochgelagert und mit einem weißen, sauber aussehenden Lappen umwickelt. Der große, rote Fleck und die blutigen Tücher, die neben dem Bett auf dem Boden lagen, zeigten, dass die Wunde nicht aufgehört hatte zu bluten. Hanna Mai nahm das Desinfektionsmittel aus dem Koffer, reinigte sich in der bereitstehenden Wasserschüssel die Hände und rieb sie dann gründlich mit dem Desinfektionsmittel ein, bevor sie den an den Wundrändern festgeklebten Lappen löste.

Das Beil hatte den Oberschenkel etwa zehn Zentimeter oberhalb des Knies getroffen, die Wunde klaffte weit auseinander und fing außen schon an zu verkrusten, aber in der Mitte blutete sie noch immer. Hanna reinigte die Wunde und das Umfeld vorsichtig mit Jod. Der Bauer stöhnte, hielt aber das Bein ruhig. »Das muss genäht werden«, sagte Hanna. »Halten Sie das aus?« Das Gesicht des Mannes war grau, trotz der Sonnenbräune, aber er nickte und sie nähte die Wunde mit neun Stichen. Er schrie nicht, nur der Schweiß lief ihm von der Stirn und die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf. Als sie den Verband angelegt hatte, griff er nach ihrer Hand und küsste sie dankbar.

Erst jetzt, nachdem die Anspannung vorbei war, hörte Hanna die Stimmen, die durch das offene Fenster drangen, scharfe Befehle, laut, auf Deutsch, Schritte von vielen Füßen, ein Aufschrei, das Weinen eines Kindes. Hanna lief zum Fenster. Weiter unten auf der Straße, auf dem Platz vor der Kirche, drängten sich Menschen neben einem Fuhrwerk zusammen. Es waren Juden, mindestens fünf, sechs Familien, Männer, Frauen und Kinder, beladen mit großen und kleinen Bündeln. Die Ersten stiegen bereits auf das Fuhrwerk, das eigentlich viel zu klein war für so viele Menschen. Ein paar deutsche Soldaten bewachten sie und trieben sie zur Eile an.

Zwei Offiziere standen daneben, einen von ihnen kannte Hanna. Es war Pucher, ein Offizier des Grenzschutzes, er litt an einer Furunkulose und sie hatte ihm im Winter mehrmals Geschwüre im Nacken aufgeschnitten. Bei ihm war sie sicher, dass er ihr wohlgesonnen war. Schnell lief sie die Treppe hinunter.

Malka war müde und durstig, als sie endlich in Kalne ankamen. Und sie war wütend, weil Minna sie gezwungen hatte, bei dieser Hitze den langen Weg zu gehen. Unterwegs hatte sie so lange gemault, bis Minna ihr gereizt eine runtergehauen hatte. Danach hatte sie kein Wort mehr gesagt und war gekränkt hinter Minna und der Bäuerin hergetrottet. Nur als sie durch den Wald gegangen waren, hatte sie am Wegrand ein paar Glockenblumen für ihre Mutter gepflückt.

Das Dorf war seltsam still, auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Die Bäuerin blieb stehen, schaute sich um und lief dann schneller weiter. Malka musste fast rennen, um mit ihr und Minna Schritt zu halten. Als sie auf den Kirchplatz einbogen, sahen sie das Fuhrwerk und die Juden, die schweigend hinaufkletterten. Nur die Stimmen der Deutschen waren zu hören, ab und zu mal ein Aufschrei, wenn einer der Soldaten mit dem Gewehrkolben zuschlug.

Frau Sawkowicza packte Malkas Hand und zerrte sie an den beiden Pferden und dem Wagen vorbei. Dahinter, an einer Hauswand, entdeckte Malka ihre Mutter, die sich mit einem deutschen Offizier unterhielt. Sie riss sich los, rannte hinüber und stellte sich hinter die Mutter. Niemand achtete auf sie.

»Alle werden weggebracht«, sagte der Deutsche leise zu ihrer Mutter. »Alle Juden des Bezirks werden umgesiedelt.«

»Auch diejenigen, die für die Deutschen arbeiten?«, fragte die Mutter.

Er nickte.

»Ich auch?« Malka hörte, dass die Stimme ihrer Mutter anders klang, seltsam hoch und gepresst.

Der Deutsche nickte. »Jude ist Jude, da werden keine Unterschiede gemacht.« Dann sagte er so laut, dass seine Kameraden es hören mussten. »Kümmern Sie sich jetzt um Ihren Patienten, Frau Doktor, wir holen Sie später.« Und leise fügte er hinzu: »Laufen Sie weg, Frau Doktor, sofort. Sie müssen über die Grenze.«

Die Mutter nickte, drehte sich um und stolperte fast über Malka, die hinter ihr stand und ihr die Glockenblumen hinhielt. Wegen der Hitze ließen sie schon die Köpfe hängen. Die Mutter riss Malka die Blumen aus der Hand und packte sie am Arm. »Komm«, zischte sie und zog Malka hinter sich her die Straße hinauf. Die Blumen ließ sie einfach fallen.

Malka wagte nicht zu protestieren, der Griff ihrer Mutter war ungewohnt hart, ihre Hand war heiß und nass. Sie zerrte sie hinter sich her ins Haus, die Treppe hinauf zum Zimmer des Kranken, dort stellte sie sich ans Fenster. Malka blieb an der Tür stehen und starrte den Mann an, der im Unterhemd im Bett lag, die Decke bis zur Brust hochgezogen. Seine Arme auf dem blau karierten Bezug waren bis zur Mitte des Oberarms braun verbrannt, genau wie sein Gesicht und sein Hals. Die Haut an Schultern und Brust jedoch war weißlich wie Hefeteig und über dem Ausschnitt des olivfarbenen Unterhemds ringelten sich braune und graue Haare. Das sieht eklig aus, dachte Malka, der deutsche Offizier ist viel schöner, in seiner Uniform, die bis zum Hals geschlossen ist.

Ihre Mutter stand neben dem Fenster und hielt den dunklen Vorhang nur so knapp zur Seite, dass sie hinausschauen konnte, ohne von unten gesehen zu werden. Durch den Spalt fiel ein Sonnenstrahl auf ihr Gesicht und teilte es in der Mitte. Malka wollte zu ihrer Mutter hinlaufen und sich an sie schmiegen, doch eine heftige Handbewegung scheuchte sie vom Fenster weg.

Malka schaute sich um. Über den Ehebetten hing ein Kreuz, schwarz mit goldenem Rand, auf einem der beiden Nachttische lag ein kleines, in dunkles Leder gebundenes Buch. Auf der Kommode mit dem Spiegel standen eine Wasserschüssel und eine Kanne aus weißem Porzellan, daneben lag ein Kamm. Den Platz zwischen dem Fenster und der Wand mit der Tür nahm ein großer Kleiderschrank aus hellem, gelblich gemasertem Holz ein. Der Bauer war bestimmt ziemlich reich, Malka kannte den Unterschied, sie hatte früher, als sie noch Dienstmädchen hatten, oft genug mit ihnen die Häuser ihrer Eltern besucht, Hütten, die manchmal nur aus einem einzigen Raum bestanden. So ein Schlafzimmer hatte sie bei ihnen nie gesehen, noch nicht einmal bei den Wolynskis, Zofias Eltern, die ein richtiges Haus aus Ziegelsteinen besaßen.

Von draußen war lautes Holpern zu hören, die Hufe von Pferden, die auf das Straßenpflaster schlugen, das Knallen einer Peitsche. Die Mutter ließ den Vorhang sinken, der Lichtstreifen glitt von ihrem Gesicht über ihren Hals hinunter zu dem blauen Kleid und verschwand. »Sie sind weg«, sagte sie zu dem Mann im Bett. »Wir müssen fliehen, nach Ungarn. Wie kommen wir über die ungarische Grenze?«

Der Bauer schaute die Mutter lange an. Malka blickte von einem zum anderen, sie spürte die Spannung, die im Raum hing, hatte auch die Verzweiflung in der Stimme ihrer Mutter gehört und wusste, dass sie jetzt besser den Mund hielt.

»Bei mir arbeitet ein junger Ukrainer«, sagte der Bauer schließlich. »Er wird Sie zur Grenze bringen.«

Malka tastete mit der Hand über ihre Rocktasche. Liesel war noch da.

Sie liefen hinter Iwan her, dem jungen Ukrainer. Minna weinte leise. Hanna warf ihr von der Seite einen Blick zu, offenbar wurde auch ihrer großen Tochter langsam klar, was ihnen bevorstand. Hanna fiel nichts Tröstliches ein, was sie ihr sagen könnte, außerdem war sie selbst vor Angst so gereizt, dass sie Minna anfuhr, sie solle sich gefälligst zusammenreißen. Doch da sah sie Malkas erschrockenes Gesicht und dachte: Verdammt, ich bin es, die sich zusammenreißen muss, ich bin die Letzte, die hier durchdrehen darf.

Hanna blickte starr auf Iwans Rücken. Die Joppe war ihm an den Ärmeln zu kurz und über dem Rücken zu eng, an der Schulternaht war sie schon eingerissen, ein Stück von seinem hellbraunen Hemd war zu sehen. Die kurze Hose hingegen war zu weit und hing ihm bis zu den Kniekehlen. Er war barfuß, trotzdem lief er rasch, setzte in einem so gleichmäßigen Rhythmus einen Fuß vor den anderen, dass Hanna sich nicht gewundert hätte, dicke Hornhautpolster auf seinen Fußsohlen zu sehen, ähnlich wie Tiere sie haben. Sie versuchte seinen Rhythmus aufzunehmen, doch sie knickte in ihren leichten Sommerschuhen mit den halbhohen Absätzen dauernd zur Seite. Außerdem wurde Malka, die neben ihr ging, immer langsamer, so dass auch Hanna ihre Schritte verlangsamte. Die Kleine schaffte es kaum mehr, die Füße von dem staubigen Boden zu heben, und stolperte mehr, als sie ging. Auch sie hat falsche Schuhe an, dachte Hanna, sie und ich. Nur Minnas Schuhe sind einigermaßen vernünftig. Wie sollen wir das nur schaffen? Aber es nützte nichts, sie mussten weiter.

Hanna strich sich die Haare aus dem Gesicht. Es war so heiß, dass sie das Gefühl hatte zu schmelzen, Schweiß tropfte ihr von der Stirn in die Augen und brannte, Schweißbäche liefen über ihren Rücken und aus ihren Achselhöhlen. Was für eine überstürzte und planlose Flucht, dachte sie. Aber Puchers Gesicht hatte sie, mehr noch als seine Worte, vom Ernst ihrer Lage überzeugt, sie waren in Gefahr, vielleicht in Lebensgefahr, wenn an den Gerüchten, die sie immer wieder gehört und nicht geglaubt hatte, doch etwas dran war.

Sie machte sich Vorwürfe, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte, dass sie nicht früher geflohen war, dass sie sich so lange in Sicherheit gewiegt hatte, als wären alle anderen in Gefahr, nur sie nicht. Doch als sie sich vorstellte, jetzt noch einen Rucksack und Bündel den Berg hinaufschleppen zu müssen, war sie fast erleichtert, ohne Gepäck geflohen zu sein. Aber auch diese Erleichterung nahm sie sich übel, denn wie würde sie ihre Kinder durchbringen? Schließlich besaß sie nichts außer dem bisschen Geld, das ihr der Bauer für ihre Hilfeleistung und für die Arzttasche samt Inhalt bezahlt hatte. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken, sagte sie sich. Das musste sie auf später verschieben. Jetzt war es nur wichtig, nach Ungarn zu kommen, alles andere hatte Zeit.

Endlich erreichten sie den Wald und im Schatten blühte Malka wieder auf, zumal der Pfad nun auch weniger steil war. Die Kleine schaute sich neugierig um. An einem niedrigen Brombeerstrauch blieb sie stehen, pflückte ein paar reife Beeren und steckte sie in den Mund. Minna machte es ihr nach. Nun blieb auch Iwan stehen. Missmutig schaute er zu, wie Malka und Minna Brombeeren pflückten und sie, fast fröhlich, in den Mund stopften. Sogar Hanna aß ein paar Beeren und lachte, weil Malka der blaue Saft aus dem Mund über das Kinn lief.

Auf einmal stieß Iwan ein zischendes Geräusch aus und legte den Finger auf den Mund. Die drei hielten erschrocken mitten in der Bewegung inne, wie bei dem Kinderspiel Ochs-am-Berg standen sie da, Minna mit aufgerissenem Mund, Malka mit ausgestreckter Hand.

Iwan bewegte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, seine Augen flitzten, seine Nase zuckte wie bei einem Hund. »War nur irgendein Tier«, sagte er dann und ging weiter.

Malkas Fröhlichkeit war wie weggewischt. Sie zog an Hannas Arm und sagte: »Ich will nach Hause. Warum gehen wir nicht nach Hause?«

Hanna wusste nicht, wie sie ihr erklären sollte, dass sie kein Zuhause mehr hatten, deshalb sagte sie: »Wir machen einen Ausflug nach Ungarn. Das ist weit, du musst jetzt groß und tapfer sein.«

Zum Glück gab sich Malka mit dieser Auskunft zufrieden.

Malkas Füße taten weh. Sie hätte sich am liebsten auf den Boden gesetzt und geweint, aber ihre Mutter zog sie unerbittlich weiter, wenn sie zurückzufallen drohte. Minna, die ein paar Schritte vor ihnen ging, blieb stehen und wartete auf sie. »Warum sind wir nicht durch den Tunnel gegangen?«, fragte sie. »Gleich hinter dem Tunnel fängt Ungarn an.« Ihre Stimme klang gereizt und vorwurfsvoll.

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Erstens haben wir es noch nicht gewusst, als wir noch in Lawoczne waren, außerdem wird die ganze Gegend vom Grenzschutz bewacht, besonders der Tunnel.«

»Das ist alles deine Schuld«, sagte Minna wütend. »Wenn wir damals mit Papa gefahren wären, wäre das alles nicht passiert.«

»Halt den Mund«, fuhr die Mutter sie an.

»Du weißt ja immer alles besser«, sagte Minna. »Ich kann mich noch genau erinnern, dass Papa damals gesagt hat …«

»Es reicht, Minna«, unterbrach sie die Mutter. »Hör auf, sonst setzt es was.«

Minna hörte die Drohung, sie biss die Lippen zusammen und senkte den Kopf.

Schweigend gingen sie weiter. Die Sonne fiel schon schräg durch die Bäume. Malka hatte Hunger, außer dem Butterbrot bei Frau Sawkowicza hatte sie noch nichts gegessen. Sie dachte an Veronika, die jetzt vielleicht Milch trank und ein Stück Kuchen aß. Frau Schneider backte oft Kuchen, gelben Kuchen mit braunen Schokoladestückchen und Rosinen darin. Teekuchen nannte ihn Fräulein Lemberger. Kultivierte Leute essen ein Stück Kuchen zum Tee. »Wir haben Fräulein Lemberger nicht Bescheid gesagt, dass ich heute nicht zur Schule komme«, sagte sie laut. »Sie wird auf mich gewartet haben.«

Ihre Mutter gab keine Antwort, sie schüttelte nur den Kopf, aber Minna sagte: »Darüber mach dir mal keine Sorgen, Fräulein Lemberger hat bestimmt nicht auf dich gewartet, vermutlich ist sie schon weggebracht worden.«

»Wohin?«, fragte Malka.

Weder ihre Mutter noch Minna antworteten ihr.

Iwan hatte den Weg verlassen und führte sie quer durch einen Wald. Die Bäume standen so dicht, dass die Sonne nicht durch das Blätterdach drang. Aus dem Unterholz krochen Schatten und die Bäume drohten mit knorrigen Armen. Ihre Schritte klangen laut und dröhnend, obwohl sie doch über weichen Waldboden gingen, und in der Ferne war leises Donnern zu hören.

Malka klammerte sich fester an die Hand ihrer Mutter. Sie war noch nicht oft um diese Tageszeit im Wald gewesen, vielleicht noch nie, und es gefiel ihr überhaupt nicht. Sie war müde, die Beine taten ihr weh, ihre Fußsohlen brannten und die Schnüre ihrer Holzsandalen schnitten in ihre Haut. »Mama, trag mich«, bettelte sie.

Die Mutter hob sie hoch. Malka legte die Arme um ihren Hals und drückte das Gesicht an ihre Schulter, um nichts mehr zu sehen. Doch nach einer Weile blieb ihre Mutter stehen, setzte sie ab und sagte: »Ich kann nicht, Malka, du bist zu schwer, du musst laufen.« Sie hatten den Wald jetzt hinter sich gelassen, vor ihnen erstreckten sich Wiesen in sanften Wellen zum Tal hinunter. Hier war es auch heller als vorhin im Wald und die Baumwipfel unter ihnen hatten schon gelbliche und rötliche Herbstflecken.

Die Mutter deutete auf eine Hütte, die weit entfernt auf einem flachen Hang stand und gerade noch zu erkennen war. »Dort gehen wir hin«, sagte sie. »Da wohnt eine Frau, die ich kenne, ihre Mutter war eine Patientin von mir. Bestimmt hilft sie uns weiter.«

Sie hatte leise gesprochen, aber Iwan, der ein paar Meter vor ihnen herlief, hatte sie trotzdem gehört. Er blieb stehen. »Bis hierher, das reicht«, sagte er mürrisch und schob die Hände in die Hosentaschen. »Ich muss jetzt nach Hause, ich habe noch einen weiten Weg vor mir.« Er zog eine Hand wieder aus der Tasche und deutete auf die Berge jenseits des breiten Tals. »Dahinter irgendwo ist die Grenze. Wenn ihr hier übernachtet, könnt ihr es morgen vielleicht schaffen.« Er drehte sich um und war bald im Schatten zwischen den Bäumen verschwunden.

Hanna fuhr hoch. Neben ihr ihm Gras lagen Minna und Malka. Sie hatten sich nur ein bisschen ausruhen wollen, aber sie musste eingedöst sein, denn als sie die Augen aufmachte, lagen nur noch die Berggipfel auf der anderen Talseite im Licht der untergehenden Sonne. Es war merklich kühler geworden. Die Dämmerung hatte das Tal schon erreicht. Es sah aus, als würde sie aus den Wäldern die Hänge hinunterfließen, das Tal füllen und immer weiter ansteigen. Sie mussten sich beeilen, wenn sie die Hütte erreichen wollten, bevor es ganz dunkel wurde.

Minna stand sofort auf und klopfte sich Erde und Grashalme aus dem Rock, aber Malka wollte die Augen nicht aufmachen. Minna schaute von ihrer Mutter zu Malka, ließ den Blick zu dem Haus wandern, das in der Dämmerung mehr zu ahnen als zu sehen war, dann bückte sie sich und hob ihre kleine Schwester hoch. »Ich trag dich ein bisschen«, sagte sie. Malka schlief an Minnas Schulter weiter. Sie merkte auch nicht, dass ihre Mutter sie nach einer Weile übernahm, dann wieder Minna. Der Abstieg dauerte auf diese Art sehr lange und es war schon dunkel, als sie durch das Hoftor traten.

Hanna zögerte. Sie kannte Frau Kowalska nicht besonders gut, sie wusste nur, dass die Frau früh verwitwet war, hatte aber vergessen, wodurch sie ihren Mann verloren hatte. Es war schon zwei Jahre her, dass sie ihre Mutter behandelt hatte, eine zähe, starrköpfige Alte, die nicht loslassen konnte. Sie hatte sich dem Tod widersetzt und erst aufgegeben, als sie bis aufs Gerippe abgemagert war. Damals hatte Hanna die Bäuerin als fürsorgliche Tochter und freundliche Frau erlebt, aber damals hatte das Verhältnis unter umgekehrten Vorzeichen gestanden, da war es die Bäuerin gewesen, die sie gebraucht und etwas von ihr gewollt hatte.

Hanna streckte die Hand aus und klopfte an die Tür, gleich darauf waren Schritte zu hören, ein Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür ging auf. Frau Kowalska stutzte, doch dann erkannte sie Hanna. »Frau Doktor«, sagte sie mit einem fragenden Ton in der Stimme, »Frau Doktor?«

Hanna brachte kein Wort heraus, sie hob hilflos die Hände, räusperte sich, erst dann beherrschte sie ihre Stimme wieder. »Wir brauchen Hilfe«, sagte sie. »Die Deutschen …«

Frau Kowalska nickte und führte sie in die Küche, die von einer Petroleumlampe mehr schlecht als recht erhellt wurde. Minna hielt noch immer die schlafende Malka auf dem Arm, ein blonder Zopf baumelte über den Ärmel ihrer blauen Jacke. Hanna sah, wie die Augen der Bäuerin sanft wurden, sie sah, wie zärtlich sie Minna das Kind aus dem Arm nahm und es auf die Ofenbank legte. Meine schöne Tochter hat es wieder mal geschafft, dachte Hanna und setzte sich neben Minna an den Tisch. Malka schien den Blick der fremden Frau zu spüren, ihre Lider zitterten, dann machte sie die Augen auf.

»Was für ein hübsches Mädchen«, sagte Frau Kowalska und streckte die Arme aus. Vom Stall her hörte man das Muhen einer Kuh.