Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Nachwort

 

WESTERN LEGENDEN

 

 

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Bereits in dieser Reihe erschienen:

 

001 Werner J. Egli, DELGADO DER APACHE

002 Alfred Wallon, KEINE CHANCE FÜR CHATO

003 Mark L. Wood, DIE GEFANGENE DER APACHEN

Mark L. Wood

 

DIE GEFANGENE DER APACHEN

 

Historischer Western

 

 

 

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© 2014 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Printed in Germany

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-403-9

Wenn die Welt einmal aufhört zu bestehen, wird es keinen Regen und kein Wasser mehr geben. So werden wir es wissen. Auf der ganzen Erde wird es nur noch zwei oder drei Quellen geben, und um diese Quellen werden sich die Menschen streiten. Sie werden kämpfen und sich gegenseitig töten. Das wird das Ende der Menschheit sein.

Danach wird die Welt neu gemacht. Diejenigen, die Weiße waren, werden Indianer sein, und diejenigen, die Indianer waren, werden Weiße sein.

 

Legende der Chiricahua-Apachen

 

 

Kapitel 1

 

Mary-Jane kannte die Hitze. Sie kam aus El Paso und hatte in der texanischen Wüstenstadt so viele heiße und staubige Tage erlebt, dass ihr auch die Sonne von Arizona kaum etwas ausmachte. Und sie hatte von den Apachen gehört. Ihre Mutter hatte oft mit den Indianern gedroht, wenn sie unartig gewesen war. Wenn du nicht brav bist, holen dich die Apachen. Auch Mrs Hodge, die Frau des Pfarrers, die sich seit dem Tod ihrer Eltern um sie kümmerte, erwähnte die Apachen, wenn Mary-Jane ungezogen war. Die Apachen wären noch schlimmer als der Teufel und die bösen Geister, die Mary-Jane aus ihrem Märchenbuch kannte.

Ihre Eltern waren vor einem dreiviertel Jahr gestorben, und sie war bei der Frau des Pfarrers aufgewachsen. Mrs Hodge kümmerte sich liebevoll um sie. Du sollst es immer gut bei mir haben, sagte sie zu ihr. Sie las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, ohne dabei schwach oder allzu nachsichtig zu sein. Wie eine richtige Mutter eben. Doch dann erkrankte auch Mrs Hodge an hohem Fieber, nicht so schlimm wie damals ihre Eltern, aber schlimm genug, um in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden. „Ich werde ein paar Wochen dortbleiben müssen“, sagte sie mit schwacher Stimme zu Mary-Jane, „aber ich habe meiner Schwester in Tucson geschrieben. Sie wird sich um dich kümmern. Tante Ethel ist Lehrerin, und du kannst zu ihr in die Schule gehen. Hast du Lust, mit der Kutsche zu fahren?“

Mary-Jane freute sich.

Schon am nächsten Morgen brachte der Pfarrer sie zur Station. Er setzte sie in die Kutsche, nachdem er sich vorher umgehört und erfahren hatte, dass die Apachen im Augenblick friedlich waren und sich wohl wieder einmal nach Mexiko abgesetzt hatten. Der Kutscher, sein Begleitfahrer und sogar einige Soldaten, die als Eskorte eines Waffentransports in die Stadt gekommen waren, erklärten übereinstimmend, dass zurzeit nicht mit einem Angriff der Apachen zu rechnen war.

„Sie meinen also, ich kann die Kleine getrost nach Tucson schicken?“

„Natürlich“, antwortete einer der Soldaten, „die Indianer machen uns schon seit ein paar Wochen keinen Kummer mehr.“

Und der Kutscher fügte hinzu: „In meiner Kutsche ist die Kleine so sicher wie in Abrahams Schoß, Hochwürden. Wenn wirklich einer dieser roten Teufel seine Nase über die Felsen streckt, habe ich ja noch Sam.“ Er deutete auf seinen bewaffneten Begleitfahrer.

Mary-Jane hatte alles mit angehört und fürchtete sich deshalb auch nicht so sehr wie die blonde Frau, die ihr in der Kutsche gegenübersaß und auf ihren Mann einredete.

„Martin?“, fragte die Frau.

„Ja, Liebling?“

„Bist du sicher, dass die Apachen uns nicht angreifen?“

Ihr Mann, ein unscheinbarer Bursche von ungefähr dreißig Jahren, der Mary-Jane ein bisschen an den Sohn ihrer Lehrerin erinnerte, beruhigte sie mit einem geduldigen Lächeln. „Ganz sicher“, antwortete er, „du hast doch gehört, was die Soldaten in El Paso zum Vater des kleinen Mädchens gesagt haben. Die Apachen geben Ruhe. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Habe ich recht, Mister Todd?“

Mr Todd war Handlungsreisender, ein ziemlich schweigsamer Mann, der ständig in Gedanken versunken war und kein großes Interesse an den anderen Reisenden zu haben schien. Auch jetzt beschränkte er sich auf ein missmutiges Brummen.

„Da hörst du’s“, meinte der Mann der ängstlichen Frau. „Mister Todd sagt auch, dass wir keine Angst vor den Apachen zu haben brauchen und er muss es wissen, er fährt alle paar Wochen zwischen El Paso und Tucson hin und her.“

Das stimmte freilich nicht, denn Mr Todd war erst seit vier Wochen bei seiner jetzigen Firma beschäftigt und kannte Tucson nur vom Titelbild des Wandkalenders, den ihm sein neuer Chef zur Einstellung geschenkt hatte. Er fuhr zum ersten Mal durch die Wüste, und sein nachdenkliches Schweigen sollte nur die Angst verdecken, die ihn genauso plagte wie die hübsche Frau seines Nachbarn, aber das sagte er niemandem.

„Und wenn die Soldaten sich irren?“, bohrte die junge Frau weiter. Sie sah sehr hübsch und zerbrechlich aus.

„Elaine, beruhige dich!“, redete Martin auf seine Frau ein. Er hatte wohl Angst, dass sie die Nerven verlor und zu weinen begann.

„Aber die Apachen …“, begann Elaine erneut. Ihre Augen funkelten nervös. „Hast du nicht in der Zeitung gelesen, was sie mit ihren Gefangenen machen? Sie martern und foltern …“

„Elaine, das sind doch alles aufgebauschte Sensationsberichte! Der Reporter hat wahrscheinlich noch nie in seinem Leben einen Apachen gesehen. Diese Schreiberlinge phantasieren irgendetwas zusammen, um die Auflage ihres Blattes zu steigern, und dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Erinnerst du dich noch an den Bericht …“

„Aber der Mann hat doch selbst gegen die Apachen gekämpft!“, fiel Elaine ihrem Mann ins Wort. „Nicht der Reporter, aber der alte Scout aus den Bergen, der ihm alles über die Apachen erzählt hat. Der Reporter hat ihn getroffen und sich die ganze Geschichte erzählen lassen.“

„Und du glaubst, der alte Mann sagt die Wahrheit?“ Martin schüttelte den Kopf. „Elaine! Es gibt Hunderte von diesen alten Gaunern, die für teures Geld ihre Geschichte verkaufen und dafür das Blaue vom Himmel herunterlügen.“

„Meinst du wirklich?“

„Natürlich, Elaine!“, sagte Martin. Er legte einen Arm um seine Frau und drückte sie fest an sich. „Du brauchst keine Angst zu haben! Unsere Armee hat die Apachen vertrieben und dafür gesorgt, dass sie keine Weißen mehr angreifen können.“

„Hoffentlich“, seufzte sie.

Mary-Jane blickte schnell weg, als Elaine ihrem Mann einen Kuss auf die Wange drückte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, woher die Frau und ihr Mann kamen, aber sie hätte wetten mögen, dass sie aus dem Osten stammten. Zumindest die Frau. Diese Leute aus dem Osten, sagte der Schmied in El Paso immer, die haben doch keine Ahnung, wie’s bei uns zugeht. Die sitzen in ihren Steinhäusern und reden klug daher, dass wir die Indianer gut behandeln sollen und so, aber Ahnung haben die nicht. Die können ‘ne Rothaut nicht von ‘nem Chinesen unterscheiden! Mary-Jane musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie an die Worte des vierschrötigen Mannes dachte. Oder sie sitzen diesen Lügengeschichten auf, die bei ihnen im Umlauf sind, und machen sich fast in die Hosen vor Angst, wenn sie mal zu uns kommen!

Auch Mary-Jane hatte Angst. Der Pfarrer hatte ihr oft genug gesagt, dass man sich seiner Angst nicht zu schämen brauchte. Aber deswegen musste man sich noch lange nicht so anstellen, wie diese junge Frau, diese Elaine. Wenn die Soldaten sagten, dass die Apachen zurzeit friedlich waren, dann stimmte das auch. Die Männer in den blauen Röcken lebten schließlich hier draußen und hatten täglich mit den Indianern zu tun. In der Schule hatte sie gehört, dass es zahlreiche Forts gab, von denen aus die Soldaten das Land erkundeten. Sie schickten Späher aus und beobachteten die Indianer. Wenn es zu Unruhen kam, alarmierten sie sofort die ganze Gegend, und dann durfte auch die Kutsche nicht mehr fahren.

Ein beruhigender Gedanke, der aber nicht alle Angst vertreiben konnte. Es waren noch ein paar Stunden bis Tucson. Während der letzten Tage war jedoch nicht das Geringste passiert, warum sollte ausgerechnet ein paar Meilen vor dem Ziel etwas geschehen? Die Apachen lebten in der Wüste und in den Bergen und wagten sich bestimmt nicht so nahe an die Stadt heran.

Sie entspannte sich und blickte nach draußen. Es ging auf Mittag zu, und die Sonne schleuderte ihre Hitze auf das trockene und ausgedörrte Land. Zerklüftete Felsen und Kakteen flogen am Fenster der Kutsche vorbei. Das Land sah hier nicht viel anders aus als in El Paso, wo es um diese Jahreszeit ebenfalls sehr trocken und heiß war, nur dass es hier mehr Kakteen gab. Zum Teil blühten sie sogar, aber Mary-Jane war zu müde, um sich an den kräftigen Farben zu erfreuen. Sie war noch nie so lange unterwegs gewesen und wünschte sich nur, dass die Fahrt endlich zu Ende war.

Sie griff nach ihrer Wasserflasche, die sie an einem Riemen über der Schulter hängen hatte, schraubte den Verschluss ab und nahm einen kräftigen Schluck. Bald mussten sie die Station erreicht haben, von der sie am Morgen gesprochen hatten; dort würde es etwas zu essen und vielleicht sogar frische Limonade geben. Sie mochte Limonade für ihr Leben gern und hatte sich noch nie so danach gesehnt wie jetzt. Ihr Mund wurde ganz trocken, wenn sie an ein Glas kalte Zitronenlimonade dachte. Auch das brackige Wasser aus ihrer Feldflasche konnte diese Trockenheit nicht vertreiben.

Sie schraubte die Flasche zu und lehnte ihren Kopf zurück. Beim Rumpeln und Rattern der Kutsche war es beinahe unmöglich zu schlafen, aber sie wollte es trotzdem versuchen. Die lange Fahrt hatte sie müde gemacht. Sie schloss die Augen und zählte Schafe, nur holperte die Kutsche jetzt über felsigen Boden und machte einen solchen Lärm, dass an Schlaf gar nicht zu denken war. Sie öffnete die Augen und sah, dass auch die anderen Fahrgäste wach waren. Elaine, die ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes gelegt und geschlummert hatte, saß jetzt kerzengerade da und sah so entsetzt aus, als wäre sie dem Teufel persönlich begegnet. Ihre Augen waren groß, und ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. In ihrer Kehle steckte ein langer Pfeil.

Mary-Jane war viel zu erschrocken, um zu schreien oder zu weinen oder irgendetwas zu tun. Sie starrte nur auf den Pfeil und das Blut, das aus dem Hals der jungen Frau sickerte und sich über ihr schönes weißes Kleid ergoss. Auch Martin schrie nicht. Er starrte in stummem Entsetzen auf seine Frau, die nur noch ein schwaches Röcheln zustande brachte und dann in seinen Armen zusammensank.

Als er nach dem kleinen Revolver griff, der an seinem Gürtel hing, bohrte sich ein Pfeil in seine Wange, dann noch einer und noch einer, bis er stöhnend gegen seine tote Frau sank.

 

***

 

Ein Schuss krachte, die Kutsche geriet ins Schlingern. Der Kutscher griff sich an die Brust und fiel mit einem heiseren Schrei vom Kutschbock. Sein rechter Arm wurde von einem Rad zermalmt, aber da war er schon tot und merkte nichts mehr davon.

Der Begleitfahrer hielt seine Schrotflinte in beiden Händen und suchte verzweifelt nach einem Ziel. Aber er sah nur Felsen und Kakteen. Die tödlichen Pfeile waren aus dem Nichts heran geschwirrt, und auch der Pfeil, der seinem Leben ein Ende setzte, kam von einem unsichtbaren Feind und ließ ihm keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Ohne einen Schuss abgefeuert zu haben, fiel der Mann in den Staub.

Mary-Jane merkte nichts davon. Sie starrte immer noch auf den roten Fleck, der sich auf dem Kleid der toten Frau ausbreitete. Überall war Blut! Wo kam auf einmal das viele Blut her?

Ihre Lippen formten einen Schrei, aber es wurde nur ein ungläubiges Stöhnen daraus. Noch immer wollte und konnte sie nicht verstehen, was eben geschehen war.

Sie merkte nicht einmal, dass die Kutsche immer schneller wurde, dass die Pferde durchgingen und das Gefährt jeden Augenblick an einem Felsen zerschellen oder umkippen konnte.

Dann begann der Handlungsreisende zu schreien. Wie ein Ertrinkender, der keine Aussicht auf Rettung hat. „Indianer!“, schrie er. Immer wieder. Bis in der wallenden Staubwolke, welche die Kutsche einhüllte, ein Reiter auftauchte, die Tür aufriss und den schreienden Mann nach draußen zerrte. Das Schreien ging in lautes Schluchzen über und verstummte dann ganz.

Erst jetzt löste sich Mary-Jane aus ihrer Erstarrung. Sie erkannte plötzlich das ganze Ausmaß der schrecklichen Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren.

Die Apachen hatten die Kutsche angegriffen! Sie hatten alle Passagiere und wahrscheinlich auch den Kutscher und den Begleitfahrer getötet, und nur sie war noch am Leben. Noch ein paar Sekunden, dann würden die Apachen auch sie töten. Sie würden sie erschießen, erstechen oder erschlagen und im Staub liegen lassen.

Sie klammerte sich an den Sitz fest.

Elaine hatte recht gehabt. Die Apachen waren doch auf dem Kriegspfad und hatten der Kutsche aufgelauert. Sie waren so leise und plötzlich gekommen, dass Elaine gestorben war, ohne dass die anderen etwas gemerkt hatten.

Mary-Jane war alt genug, um zu begreifen, dass es keine Rettung mehr für sie gab. Sie würde sterben und konnte von Glück sagen, wenn sie einen so schnellen Tod starb wie Elaine.

Sie begann zu schluchzen. Zuerst leise, dann immer lauter, bis heisere und beinahe hysterische Schreie über ihre Lippen kamen. Sie klammerte sich jetzt mit beiden Händen an den Sitz, aber die Kutsche schlingerte wie ein Schiff in Seenot, und sie wurde auf die andere Seite geworfen. Ihre Hände krallten sich in das blutverschmierte Kleid der toten Frau, dann wurde sie wieder zurückgeworfen und prallte mit dem Kopf gegen die Kutschenwand. Sie fiel wieder nach vorn und blieb zwischen den Sitzen auf dem Boden liegen. Wimmernd schlug sie die Hände vor die Augen. So sah sie die Reiter nicht, die plötzlich die Kutsche umringten und den Pferden ins Geschirr griffen. Sie merkte nicht einmal, dass die Kutsche langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Staub wallte auf, und feine Sandkörner spritzten in das Innere der Kutsche. Aus dem Staub schälten sich dunkle Gestalten mit nackten Oberkörpern. Ihr siegestrunkenes Johlen riss Mary-Jane in die Wirklichkeit zurück.

Gleich würde sie sterben. In wenigen Sekunden. Sie konnte auf einmal wieder klar denken und wusste, was nun geschehen würde. Die Indianer würden sie hinaus zerren und erschlagen.

Die Kutschentür wurde aufgerissen. Eine dunkelhäutige Hand griff nach ihr. „Nein!“, schrie sie. „Nein! Nicht!“ Dann schloss sie die Augen. Sie glaubte den Luftzug zu spüren, als der Apache ausholte, um ihr mit einem wuchtigen Hieb den Kopf zu zerschmettern. Mom, dachte sie noch, vielleicht treffe ich Mom im Himmel.

„Kut-le!“

Der Apache, der schon die Kriegskeule erhoben hatte, hielt verblüfft inne. Apachen redeten sich nur mit ihrem Namen an, wenn irgendjemand in Gefahr war oder etwas Außergewöhnliches geschah. Sonst gebrauchten sie Kosenamen oder den Verwandtschaftsgrad, in dem der Angeredete zu ihnen stand.

„Was willst du, Onkel?“, fragte Kut-le verwirrt. Er hielt das weiße Mädchen am Kragen fest und hatte die Keule immer noch zum Schlag erhoben.

„Lass sie los!“, sagte Gil-lee. Wie alle Apachen war er nicht besonders groß, fiel aber durch seine muskulöse Gestalt auf. Er hatte vierzig Mal den Schnee auf den Bergen gesehen, und die Narben auf seinem Gesicht und auf seinem Körper erzählten von den vielen Kämpfen, die er schon erlebt hatte. Die Männer und Frauen seines Clans behaupteten, dass er ein mutiger und erfahrener Krieger war. Dass er ein di-yin war, und das war auch der Grund dafür, dass ihm vierzehn Krieger auf diesen Raubzug gefolgt waren.

„Sie ist ein Mädchen“, wunderte sich Kut-le. „Seit wann verschont mein Onkel ein weißes Mädchen? Was willst du mit ihr?“

„Ich will sie adoptieren.“

„Eine pindah?“

„Meine Frau hat sich immer eine Tochter gewünscht“, sagte Gil-lee. Er trieb seinen Schecken neben Kut-le. Mit einer Hand zog er Mary-Jane zu sich auf den Pferderücken.

„Aber sie ist weiß!“

„Sie ist noch jung genug, um eine von uns zu werden. Die Sonne wird ihre Haut bräunen, und meine Frau und ich werden sie so erziehen, dass man sie nicht mehr von einem Mädchen unseres Volkes unterscheiden kann.“

„Ich verstehe dich nicht, Onkel“, sagte Kut-le. „Aber du hast die Macht der Wildgänse und musst wissen, was du tust.“

„Das weiß ich“, sagte Gil-lee. Er wendete sein Pferd zum Zeichen, dass die Unterhaltung für ihn beendet war. Mit den Schenkeln lenkte er den Schecken auf einen nahen Hügel, von dem aus er die ganze Sache überblicken konnte. Die Straße nach Tucson lag wie ausgestorben da. Beruhigt wandte Gil-lee sich wieder seinen Stammesbrüdern zu.

Die Krieger hatten sich johlend auf die Leichen der Passagiere gestürzt und rissen ihnen die Kleider vom Leib. Ein junger Apache stülpte sich den Hut der blonden Frau auf den Kopf. Zwei andere untersuchten die Gewehre des Kutschers und des Begleitfahrers, die sie im Staub gefunden hatten. Einige Krieger turnten auf der Kutsche herum und durchwühlten das Gepäck. Die Zugtiere hatten sie längst ausgespannt und getötet, denn zum Reiten waren sie zu schwer; jetzt machten sie sich daran, die besten Fleischstücke aus ihren noch dampfenden Körpern zu schneiden.

Mary-Jane blieb der schreckliche Anblick erspart. Sie lag mit dem Bauch über dem Pferderücken und sah nur die hochschäftigen Mokassins ihres Retters und den felsigen Boden. Sie hatte angespannt gelauscht, als sich die beiden Apachen unterhalten hatten, aber natürlich kein Wort verstanden. Am Klang ihrer Stimmen hatte sie jedoch erkannt, um was es gegangen war. Der Krieger, der sie aus der Kutsche gerissen hatte, war für ihren Tod gewesen. Der Apache auf dem Pferd hatte sehr streng und bestimmt zu ihm geredet und ihm befohlen, sie in Ruhe zu lassen. Warum er wollte, dass sie am Leben blieb, wusste sie nicht.

Gil-lee trieb seinen Schecken zu den Kriegern zurück. „Ihr seid langsam wie alte Weiber! Warum braucht ihr so lange, um zwei Pferden und drei Weißaugen das Fell über die Ohren zu ziehen?“

Ein dicker Krieger, der gerade einige Fleischstücke aus den Pferden geschnitten und in eine Rinderhaut gewickelt hatte, sah grinsend auf. „Weil unser nantan sich zu fein ist, seinen Brüdern zu helfen“, gab er zurück. „Er kümmert sich lieber um ein blasshäutiges Mädchen …“

Jetzt lachten auch die anderen Apachen, aber Gil-lee brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Beeilt euch!“, rief er. „Diese Straße wird von vielen Weißaugen benutzt, und wir wollen erst die Beute zu den anderen bringen, bevor wir uns wieder auf einen Kampf einlassen.“

„Die Weißaugen sind schwach“, sagte ein Krieger.

„Nicht die Männer in den blauen Röcken“, erwiderte Gil-lee, „sie sind mit Feuerrohren bewaffnet und reiten immer in großen Horden über das Land.“

„Hast du etwa Angst?“, fragte Kut-le und grinste. „Der Wind kommt von Süden.“

Das reichte, um die Krieger zur Eile anzutreiben. Süden war die schlechteste aller Himmelsrichtungen, und Gil-lee kannte die Mächte des Krieges so gut, dass er wusste, wann es Zeit war, ein Schlachtfeld zu verlassen.

Die Krieger rollten die Beute in Rinderhäute oder verstauten sie in Körben, die sie an den Sätteln befestigten. Wer keinen Sattel benutzte, stopfte die erbeuteten Dinge in Beutel und Taschen, die an Lederriemen über den Pferden hingen.

Enju“, rief Gil-lee zufrieden, als alle Männer auf ihren Pferden saßen. Er warf noch einen Blick auf die Weißaugen, die nackt oder in ihrer Unterwäsche auf dem Boden lagen, und zeigte dann nach Osten. „Lasst uns reiten.“

Kapitel 2

 

Gil-lee und seine Krieger gehörten zu den tsoka-ne-nde, einem Unterstamm der Chiricahua-Apachen, deren indianischer Name für Weiße nicht zu übersetzen war. Sie selbst nannten sich fin-ne-ah, was so viel heißt wie das Volk, und keiner von ihnen hätte jemals das Wort Apachen in den Mund genommen, denn das bedeutete Feind und wurde nur von den Zunis benutzt.

Die tsoka-ne-nde hatten ihre rancherias in den Chiricahua-, Dragoon-, und Dos-Cabezas-Mountains im südöstlichen Arizona errichtet, das damals noch zum New-Mexico-Territorium gehörte. Sie waren ein kriegerisches Volk, das ohne Kampf nicht leben konnte und die friedlichen Ackerbauern des Südwestens von der Landkarte gefegt hatte; aber sie hatten auch eingesehen, dass es für ihre Kinder nur eine Zukunft gab, wenn sie lernten, mit ihren Nachbarn auszukommen. Da kein Stamm außer den Apachen in den unzugänglichen Wüstengebirgen leben wollte, gab es schon bald keine Schwierigkeiten mehr.

Anders verhielt es sich mit den pindah-lickoyee, den weißäugigen Fremden, wie die Apachen die Weißen nannten. Sie hatten Gold und Silber und Kupfer in den Bergen der Apachen gefunden und scherten sich einen Dreck um die Abmachungen, welche die Regierung mit den Apachen ausgehandelt hatte. Michael Steck, ein persönlicher Vertrauter des Präsidenten, hatte den Indianern einen dauerhaften Frieden zugesichert, wenn sie aufhörten, die Kutschen und Frachttransporte zu überfallen, und die Chiricahuas hatten sich bisher an diesen mündlichen Vertrag gehalten. Erst als ihre Späher die bärtigen Fremden mit ihren Schaufeln und Spitzhacken in den Bergen ausgemacht hatten, waren sie wieder auf den Kriegspfad gegangen. Cochise, der Anführer der tsoka-ne-nde, den sogar die nde-nda-i und die tci-he-nde als nantan anerkannten, hatte seinen Kriegern befohlen, gegen die Weißaugen in den Krieg zu ziehen.

Noch wusste die Armee nichts von diesen Überfällen, und Mary-Jane war die erste Weiße, die davon hätte erzählen können. Alle anderen Opfer waren getötet worden, die Passagiere der Kutsche, die beiden Fahrer eines Frachtwagens, die an einer Furt über den San Pedro River vom Kutschbock geschossen worden waren, und der einsame Goldsucher, der nichts ahnend in eine Falle junger Krieger gelaufen war. Und es würden an diesem Tag noch viele Reisende und Goldsucher von den Chiricahuas überfallen werden.

Mary-Jane dachte nicht an die anderen, sie dachte nur an sich selbst. Sie lag immer noch mit dem Bauch über dem Rücken des Pferdes und versuchte krampfhaft, nicht zu sehr durchgeschüttelt zu werden. Sie musste am ganzen Körper blaue Flecken haben, und beim Sturz in der Kutsche hatte sie sich die linke Hand verstaucht. Zum Glück ließ Gil-lee seinen Schecken im Schritt gehen. Bei einer schnelleren Gangart hätte sie wahrscheinlich vor Schmerz aufgeschrien.

Als das Gelände bergiger wurde und die Pferde sich einen Weg über steile Pfade suchen mussten, erlöste Gil-lee seine Gefangene aus ihrer unbequemen Lage. Er packte sie am Kragen und setzte sie mit einem Ruck vor sich in den Sattel. Mary-Jane stöhnte laut auf und krallte sich in der Mähne des Pferdes fest.

Ganz allmählich entspannte sie sich. Das Blut wich aus ihrem Kopf, und sie konnte wieder klar sehen. Sie hatte immer noch ihre weiße Sonnenhaube auf, sodass sie einigermaßen gegen die sengende Hitze geschützt war. Die Sonne hatte inzwischen ihren höchsten Stand erreicht und verwandelte das Land in einen riesigen Glutofen. Besonders in den Schluchten und Hohlwegen staute sich die Hitze. Nicht zufällig verglichen die Weißen dieses Land mit der Hölle, und es gab sogar Leute, die jede Wette eingingen, dass es schlimmer als die Hölle war; besonders solche, die als Soldaten oder Goldsucher durch die Wüste geritten waren und am eigenen Leib erfahren hatten, wie unbarmherzig dieses Land sein konnte.

Die Apachen lebten hier, und nicht einmal sie wussten, was sie ausgerechnet in diesen Teil des amerikanischen Südwestens verschlagen hatte. Warum waren sie auf ihrer Wanderung nach Süden, die vor vielen Tausend Jahren stattgefunden haben musste, nicht in die Täler des Verde River gezogen? Warum hatten sie ihre wickiups nicht auf den dicht bewaldeten Plateaus des Mogollon errichtet? Auch die Alten vermochten es nicht zu sagen, und die Jungen dachten nicht weiter darüber nach. Sie hatten einen Pakt mit der Wüste geschlossen und das Beste getan, was man in ihrer Lage tun konnte; sie hatten die unbarmherzige Natur zu ihrem Verbündeten gemacht. Wer die Apachen schlagen wollte, musste auch die Natur besiegen.

Mary-Jane stand immer noch unter dem Schock der furchtbaren Ereignisse in der Senke. Immer wieder tauchte das Bild der sterbenden Frau vor ihr auf, wie sie kerzengerade in der Kutsche gesessen hatte, die Augen weit aufgerissen, den tödlichen Pfeil in der Kehle. Ausgerechnet die blonde Frau, die während der ganzen Fahrt gejammert und Angst vor den Apachen gehabt hatte, ausgerechnet sie war als Erste gestorben. Mary-Jane hatte ihr Blut an den Händen, und immer, wenn sie auf ihre Hände sah, glaubte sie, noch einmal gegen den leblosen Körper der toten Frau zu fallen und ihre noch warme Brust zu spüren.

Und dann ihr Mann. Vier, fünf Pfeile waren in seinen Kopf eingedrungen, einer in die Wange und ein anderer direkt ins linke Auge, und sein Kopf war ganz blutig gewesen, als er ohne einen Schrei gegen seine tote Frau gesunken war. Sie würde dieses Bild niemals vergessen, und sie würde auch den beinahe tierischen Schrei des Handlungsreisenden nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen können. Mary-Jane hatte nicht viel von den Passagieren in der Kutsche gewusst, aber sie hatte mehrere Tage mit ihnen verbracht, und sie waren wie gute Bekannte gewesen.

Gil-lee zügelte seinen Schecken und deutete in eine tiefe Schlucht hinab, die mit Kakteen, Dornensträuchern und zahlreichen Cottonwood-Bäumen bedeckt war. Aus den verfilzten Sträuchern wuchsen graue und rotbraune Felsen in den seltsamsten Formen empor. Ein Habicht zog seine einsamen Kreise über dieser Felslandschaft, stieß plötzlich hinab und kam mit einem kleinen Tier zwischen den Fängen wieder nach oben.

„Ein gutes Zeichen“, sagte Gil-lee, „auch unsere Brüder haben reiche Beute gemacht und viele Weißaugen getötet.“

Die anderen Apachen glaubten ihm. Gil-lee war kein Hellseher, aber er war ein di-yin, ein Schamane, der die Zeichen der Natur zu deuten wusste. Alle Dinge in der Natur hatten eine besondere Macht, und wenn ein Tier oder der Himmel ein Zeichen gaben, dann sprach auch Yusn zu den Apachen; ihre oberste Gottheit und der Vater allen Lebens. Nicht alle Apachen verstanden seine Stimme, und nur wenige Krieger konnten so viel mit den Zeichen der geheimnisvollen Kräfte anfangen wie Gil-lee oder die anderen Schamanen.

Der stämmige Anführer lenkte seinen Schecken auf den schmalen Pfad, der in vielen Windungen in den Canyon hinabführte. Mary-Jane hielt unwillkürlich den Atem an, als das Pferd den geröllübersäten Weg betrat, und ihre unverletzte Hand verkrampfte sich noch fester in die Mähne. Der Pfad fiel nach einer Seite hin steil ab, ein einziger Fehltritt konnte das Ende bedeuten. Mary-Jane vergaß den Überfall und ihre Schmerzen und ihre Angst vor den Apachen, und ihre Gedanken konzentrierten sich nur noch darauf, nicht vom Pferd zu fallen.

Den Apachen machte der gefährliche Abstieg nichts aus, und auch die Pferde waren anscheinend an den steilen Pfad gewöhnt. Ihre Reiter brauchten sie nicht einmal mit den Zügeln zu führen. Ein gelegentlicher Schenkeldruck oder ein Schnalzen genügten, um ihnen die Richtung anzugeben. Gil-lee und seine Stammesbrüder fanden sogar Zeit, sich zu unterhalten und Witze zu erzählen. Mary-Jane glaubte jedenfalls, dass es Witze waren, denn die Krieger lachten und kicherten immer wieder.

Bisher hatte sie geglaubt, dass Indianer überhaupt nicht lachten. In den Erzählungen der Erwachsenen waren die Apachen immer missmutige und schweigsame Männer gewesen, die nur darauf aus waren, die verhassten Weißaugen zu töten. Sie lachten nicht und sie weinten nicht; ihr ganzes Denken war auf Morden und Brandschatzen gerichtet.

Gil-lee und seine Krieger waren anders. Sie hatten gemordet und waren wie wilde Tiere über die Toten hergefallen, aber jetzt benahmen sie sich wie ganz normale Menschen. Obwohl Mary-Jane kein Wort von ihrer Unterhaltung verstand, hörte sie am Klang ihrer Stimmen, dass sie nicht über Mord und Totschlag sprachen. Sie waren fröhlich und ausgelassen, und wenn ihre Sprache nicht so fremd gewesen wäre, hätte man meinen können, dass sich Weiße unterhielten.

Der Weg führte jetzt über einen riesigen Felsentisch, und Gil-lee nutzte die Gelegenheit, anzuhalten und aus seiner Wasserflasche zu trinken. Auch Mary-Jane verspürte plötzlich Durst. Sie hatte immer noch ihre Feldflasche über der Schulter hängen und wollte sie gerade an die Lippen führen, als Gil-lee einen erfreuten Schrei ausstieß und ihr die Flasche aus der Hand riss. Er hielt die Feldflasche hoch, verglich sie mit seinem eigenen Wasserbehälter aus Rehdarm und begann dann grinsend, sein Wasser in die Feldflasche des Mädchens zu füllen. Er lachte dabei wie ein Kind, das ein neues Spielzeug gefunden hat. Als er fertig war, schleuderte er den leeren Darm in die Schlucht und trank aus der Flasche.

Mary-Jane sah ihm mit großen Augen dabei zu. In einer Mischung aus Furcht und Erstaunen wanderte ihr Blick über den narbenbedeckten Oberkörper des Indianers und sein kantiges Gesicht, das auch während des Trinkens zu einem breiten Grinsen verzogen war. Wasser lief aus seinen Mundwinkeln und rann über das energische Kinn. Erst jetzt erkannte Mary-Jane, dass quer über den Hals des Indianers eine Narbe verlief, als hätte mal jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden.

Als Gil-lee fertig war, reichte er die Flasche dem Mädchen. Mary-Jane hatte nicht erwartet, etwas von dem Wasser abzubekommen, und blickte ihn erstaunt an. Dann aber griff sie schnell nach der Flasche. Sie nahm ein paar tiefe Schlucke und gab sie dem Apachen zurück. Kichernd verstaute Gil-lee die Flasche in seiner Vorratstasche. Er legte eine Hand um das Mädchen, nahm mit der anderen die Zügel auf und trieb den Schecken wieder an.

Mary-Jane wehrte sich nicht gegen die Berührung, obwohl sie ihr alles andere als angenehm war. Die Hand des Apachen war rau und schmutzig, und sie musste unwillkürlich daran denken, wie viele Weiße diese Hand schon getötet hatte. Sie erschauerte. Der Apache spürte es und sagte irgendetwas in seiner Sprache, das sehr beruhigend klang, aber Mary-Jane reagierte nicht.

Vor wenigen Minuten hatte sie festgestellt, dass dieser Apache auch lachen konnte, dass er sich freuen konnte wie ein Weißer, aber sie konnte doch nicht vergessen, dass er zu einem Stamm gehörte, der den Weißen mit abgrundtiefem Hass begegnete. Dass er ein Wilder war, ein schmutziger, halb nackter Wilder, der durch die Wüste ritt und harmlose Reisende massakrierte.

Wieder erschauerte sie und fühlte Ekel in sich aufsteigen, als sie den Körpergeruch des Apachen einatmete. Er roch nach ranzigem Fett, das er sich in die Haare und auf die Haut geschmiert haben musste. Mary-Jane wusste nicht, dass es bei den Apachen Sitte war, sich die Hände nach dem Essen am Körper und an den Haaren abzureiben. Sie waren auf einen fettigen Körper genauso stolz, wie eine weiße Frau auf ihr Parfüm. Außerdem erfüllte der für einen Weißen ungewohnte Geruch noch einen anderen Zweck. Wenn ein Krieger auf der Jagd war und sich einem Wild näherte, wurde er von diesem nicht so schnell bemerkt wie ein weißer Mann.

Gil-lee verstärkte seinen Griff und lenkte den Schecken um einen scharfkantigen Felsen herum. Der Boden war hier besonders locker, und das Pferd hatte große Mühe, auf dem schmalen Pfad zu bleiben. Als es ins Rutschen kam, feuerte Gil-lee es mit einem heiseren Schrei an und trieb ihm die Absätze seiner Mokassins in die Seite. Das Pferd tat einen Satz nach vorn und fand wieder festen Grund.

Heia“, rief er erleichtert. Er ritt noch fünfzig Meter weiter und wartete dann, bis seine Stammesbrüder die gefährliche Stelle passiert hatten. Keiner hatte größere Schwierigkeiten. Sie waren schon viele Male über diesen Pfad geritten und wussten, wie sie sich zu verhalten hatten.

Das letzte Stück des Weges war einfacher zu bewältigen. Der Pfad wurde zusehends flacher und breiter und verlor sich schließlich ganz zwischen einigen Felstürmen. Mary-Jane sah ehrfürchtig nach oben. Von hier unten erkannte man erst, wie hoch die Felsen waren.

Bei näherem Hinsehen stellte sie fest, dass es nicht nur Felsen und Kakteen und abgestorbene Dornenbüsche in dieser Schlucht gab. Ein schmaler Fluss schlängelte sich zwischen den Felsen hindurch und verbreitete so viel Feuchtigkeit, dass sogar einige Cottonwoods ihre Wurzeln in den Uferboden geschlagen hatten. Neben einem dieser Bäume stieg Gil-lee ab und füllte die Wasserflasche nach. Auch die anderen Krieger ergänzten ihre Vorräte.

Als die Pferde getrunken hatten, ging es weiter. Mary-Jane hätte zu gern gewusst, wie weit es noch bis zum Lager war. Waren sie nur ein paar Stunden oder ein paar Tage vom Dorf der Apachen entfernt? Sie hatte keine Ahnung, dass Gil-lee sie adoptieren wollte und keine unmittelbare Gefahr mehr für sie bestand. Auch wenn sie sich gegen die Vorstellung wehrte, rechnete sie doch noch damit, dass die Apachen sie nur verschont hatten, um im Lager ihren Spaß mit ihr treiben zu können. Sie wusste nicht genau, was die Indianer mit ihren Gefangenen machten, aber sie hatte sogar den Pfarrer sagen hören, dass eine Frau sich lieber gleich töten sollte, wenn sie den Apachen in die Hände fiel, weil die Indianer furchtbare Dinge mit ihr anstellten. Dagegen sei der Tod eine Erlösung.

Ob sie mit Kindern genauso umgingen? Pfarrer Hodge hatte mal aus der Zeitung vorgelesen, dass die Apachen viele Kinder raubten, um sie in den Stamm aufzunehmen und wie Indianer großzuziehen. Aber in dem Artikel war nur von Jungen die Rede gewesen, nirgends von Mädchen. Mary-Jane lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie daran dachte, dass die Apachen sie quälen könnten.

Sie begann zu weinen. Erst jetzt, zwei oder drei Stunden nach dem Überfall, quollen die Tränen aus ihren Augen. Sie weinte immer heftiger, rang nach Luft und verkrampfte sich im Arm des Apachen, der sie fest umklammert hielt. Die Tränen rannen ihr über Wangen und Hals und vermischten sich mit dem Staub, der sich auf ihre Haut gelegt hatte.

Gil-lee sah das Mädchen verständnislos an. Er wusste nicht, warum es plötzlich weinte, es gab doch gar keinen Grund. Sie hatte frisches Wasser bekommen, und von Feinden oder wilden Tieren war weit und breit nichts zu sehen. Warum weinte das Mädchen mit der blassen Haut und den gelben Haaren?

„Das hast du jetzt davon“, stichelte Kut-le.

Gil-lee drehte sich im Sattel um und warf dem jungen Krieger einen bösen Blick zu. „Mein Neffe hat keine Ahnung von kleinen Mädchen“, sagte er. „Er kümmert sich nur um Hunde!“