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Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2011

© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Umschlaggestaltung: Tim Jockel, Berlin

E-Book-Erstellung: nimatypografik

ISBN 978-3-938424-92-6

www.voland-quist.de

Inhalt

Typischer Tagesbeginn eines werktätigen Menschen, der abends immer besonders spät zu Bett geht.

Tube fragt Tobias – Warum Tube?

Meine Probleme mit Plurälen

Chef

Am Arbeitsplatz mit einer nackten Frau

Arbeitsplätzchen auf Wirtschaftswachstuch

Tube fragt Tobias – Wahlen

Keiner zog ins All

Bullenschweine

Achtung, ich kam

Tube fragt Tobias – Führerschein

Division durch null

Tube fragt Tobias – Führerschein (II)

Der Kontrolleur und die ABM

Eine elektrische Schiebetür verändert nicht viel

Gedanken eines Frosches

Manchmal habe ich Angst, wenn’s regnet, weil ich mir denke, es könnte was bedeuten

Mistiger Tag

Tube fragt Tobias – Drogen

Wenn das Gehirn mal lose ist, was dann …

Essen mit Oma

Tube fragt Tobias – Noch mehr Drogen

Wenn ich Macht hätte … Geld

Die mit den Gehältern

Die sprachgesteuerte Schreibmaschine

Marmorkuchen, total in Braun

Nummer 5 lebt

Brief von der Wohnungsbaugesellschaft

Pankow ist nun cool

Spucke, Fleisch und Kacke

Tube fragt Tobias – Musik

Sind die zu doof dazu?

Untypischer Tagesbeginn an einem Montag

Ute – das emanzipierte Huhn eine Fabel

Von der merkwürdigen Marotte, allen möglichen Gegenständen neue Namen zu geben

Tube fragt Tobias – Armee

Der Name und das Schicksal

Wenn ich Macht hätte … Gott

Wie spät ist es?

Im Osten hätte es so was nicht gegeben

Du wirst nicht immer der Letzte sein

Zu Hause

Die Praktikantin

Bitte nicht hinsehen!

Vielen Dank für die Grüße

Mit den Öffentlichen

Schwarzfahren mit Musik

Lotto

Jugend forscht

Wie ich mir mal auf einer Bahnfahrt einen Witz ausdachte

Snooze-Orgie

Puller zeigen

Mein Leben mit Müll

Wie ich mal in die Rolle eines Studenten schlüpfte

Typischer Tagesbeginn eines werktätigen Menschen, der abends immer besonders spät zu Bett geht.

Früh ist es – total früh. Es ist noch ganz besonders doll früh, so richtig superfrüh. Moderner ausgedrückt: echt extrafrüh, mehr megafrüh, gar gigafrüh, urst ultrafrüh – wie soll ich sagen – hyperfrüh oder eben: Es ist absolut antispät – so etwa 9 Uhr vormittags –, noch vor dem Aufstehen.

Da lieg ich friedlich ins warme Bettchen gekuschelt und träume meinen Lieblingstraum: Ich stehe auf einer grünen, sonnigen Wiese in duftiger Sommerluft, ein weißer Schmetterling kommt herbeigeflogen, setzt sich in mein Haar und flüstert mir ins Ohr: »Komm, lass uns zusammen die Weltherrschaft erobern, nur wir zwei, du und ich.«

Seine Fühler kitzeln zärtlich meine Kopfhaut, der Wind seiner Flügelschläge streicht sanft durch mein Haar, bis ich den Schmetterling mit flacher Hand plattklatsche.

Der Traum wäre eigentlich noch weitergegangen, doch an dieser Stelle wird er durch das elektronische Damoklesschwert, das über so vielen Träumen schwebt, abgewürgt.

Der Radiowecker springt an und bringt Nachrichten: Bin Laden will Weltherrschaft, Putin auch, Mark Zuckerberg hat sie bereits, und zwischen den Zeilen gehört bedeutet es für mich: Du kriegst sie nie. Steh auf und geh arbeiten!

Oh nein, ist das noch superfrühzeitig, bin ich müde, ich brauche dringend Kaffee zum Wachwerden, arbeiten gehen muss ich jetzt, ich muss mich sputen. Schnell aufgestanden und losgegangen zum Bäcker, dahin, wo’s Kaffee gibt.

Ein Pott Kaffee kostet hier 99 Cent – steht draußen dran.

»Einen Kaffee bitte!«, sage ich zur Bäckersfrau. Sie gießt ihn ein, und während sie das Getränk zu mir herüberreicht, bemerkt sie: »Mensch, junger Mann. Sie haben ja ’n plattgeklatschten Schmetterling auf der Stirn.«

Scheiße, ich träum immer noch. Bin noch gar nicht aufgestanden. Jetzt aber wirklich wach werden! Eins, zwei, hau-ruck! … Und auf … Mann, bin ich müde, ich brauch Kaffee.

Schnell aufgestanden und losgegangen zum Bäcker, dahin, wo’s Kaffee gibt.

Ein Pott Kaffee kostet hier 99 Cent – steht draußen dran.

»Einen Kaffee bitte!«, sage ich zur Bäckersfrau. Sie gießt ihn ein, und während sie das Getränk zu mir herüberreicht, sagt sie: »Junger Mann, das macht dann 99 Cent.«

Ha ha, sie will Geld von mir, alles in Ordnung. Ich bin in der realen Welt, ich bin wirklich wach! Mein Blick trifft die Uhr. Es ist schon viel zu spät – eigentlich immer noch terafrüh –, aber auf der anderen Seite zu spät, um den Kaffee in Ruhe auszutrinken, ich werde ihn mitnehmen müssen.

»Gießen Sie den Kaffee bitte um, in einen Plastebecher«, bitte ich die Frau hinterm Brötchentresen.

»Dann kostet er aber 2,50«, warnt sie mich.

»Hä, wieso denn das? Da steht doch dran, dass er 99 Cent kosten soll.«

»Ja, ein Pott Kaffee kostet 99 Cent. Ein Pott, junger Mann. Ein Pott aus Porzellan. Da steht nichts von Plastikbechern dran.«

Na gut, ich verzichte aus finanziellen Gründen auf den Plastebecher und verlasse die Konditorei mit einem Porzellanpott in der Hand, gefüllt mit Kaffee, der Droge zum Wachwerden.

»Halt, bringen Sie den Porzellanpott zurück!«, ruft die Bäckersfrau mir hinterher.

»Mach ich nachher, wenn ich von der Arbeit wiederkomme.«

»Na dann is gut. Bis nachher.«

Ich nehme den ersten Schluck.

Igitt, schmeckt das widerlich, das Zeug. Schmeckt ja wie tote Oma, diese Plörre. Na ja, ist ja nur zum Wachwerden. Mir droht, speiübel zu werden. Ich muss mich überwinden, den Dreck weiterzutrinken. Ich muss ihn trinken, ich will ja wach werden. Also zwinge ich mich.

Einen Schluck für Mama – halt, nein, das kann ich ihr nicht antun, nein, nein. Nicht diesen Kaffee. Also noch mal: einen Schluck für Bin Laden, einen Schluck für Putin, und den Rest des Abwassers schütte ich mir für Mark Zuckerberg in den Kopf. Oder ist Bill Gates an allem schuld? Für den auch noch ein Schluck!

Inzwischen bin ich am S-Bahnhof angelangt. Muss ne Fahrkarte kaufen. Die Verkäuferin sagt zu mir: »Mensch junger Mann, Sie haben ja nen plattgeklatschten Schmetterling auf der Stirn.«

»Was, echt? So was Blödes, ich schlafe immer noch!«

»Nee, nee war nur n Scherz von mir«, beruhigt sie mich.

»Pfuh, und ich dacht schon.« Erleichtert kaufe ich eine Porzellanfahrkarte, weil die nur 99 Cent statt 2,30 Euro wie die Pappfahrkarte kostet, fahre damit zwei Stunden S-Bahn, bis ich zufällig in eine Fensterscheibe schaue, in der sich mein Gesicht spiegelt, und ich feststellen muss, dass ich doch nen plattgeklatschten Schmetterling auf der Stirn kleben habe.

Mist! Ich hätte es eigentlich schon bei der Porzellanfahrkarte merken müssen. Die Frau am Schalter hat mich belogen. Hab doch nen Schmetterling auf der Stirn. Ich träume also immer noch. Jetzt hab ich wohl echt mal wieder ultradoll verschlafen.

Tube fragt Tobias – Warum Tube?

Viele kennen mich als den Tube, denn so heiße ich, wenn ich auf der Bühne stehe und Geschichten vorlese oder Lieder singe. Doch kaum einer weiß, manch einer denkt es sich vielleicht, dass ich noch einen anderen Namen habe, einen Namen, den mir meine Eltern gegeben haben. Dieser andere Name ist mein privater Name. Und ja! Privat bin ich auch ein ganz netter Kerl. Da bin ich der Tobias. Und der Tube, den so viele kennen, wird nun den Tobias, den kaum einer kennt und der sonst sehr zurückgezogen lebt, interviewen.

Tube: Hallo Tobias. Gleich meine erste Frage: Wie kommst du eigentlich zu dem Namen Tube?

Tobias: Die Frage wird mir immer wieder gestellt, und die Antwort darauf ist eigentlich so blöde und langweilig, dass ich schon immer dachte, ich müsste mir mal eine gute Story dazu ausdenken, vielleicht, dass ich … jetzt fällt mir schon wieder nichts ein.

Tube: Erzähl doch die blöde Story.

Tobias: Tja, 1976 war das, im September, als das neue Schuljahr begann, da führte mich Frau Ulbricht, die Klassenlehrerin, in die Klasse 2a der 18. Polytechnischen Oberschule in Berlin Mahlsdorf und sagte: »Das ist Tobias, der ist jetzt neu in unserer Klasse.« Frau Ulbricht sächselte leicht, weshalb sich ihr »Tobias« wie »Tubias« anhörte – womit die Sache gelaufen war. Die Kinder lachten und spotteten los: »Tubias, das ist ja ein komischer Name. Hab ich noch nie gehört. Tu-bi-as«, und einer rief: »Tube!« Und dann riefen sie alle »Tube«. So bin ich zu »Tube« gekommen. Das ging auch nicht mehr weg.

Tube: Die Story ist ja wirklich langweilig.

Tobias: Sag ich doch.

Tube: Ok, gut. In der Schule haben deine Mitschüler dich Tube genannt. Warum nennst du dich jetzt noch Tube?

Tobias: Die kurze Antwort lautet: Ich hab mich dran gewöhnt.

Tube: Und die lange Antwort?

Tobias: Ich hatte tatsächlich einmal die Gelegenheit, diesen Namen loszuwerden. 1986, ich war raus aus der Schule, kam ich wegen der Lehre in eine Klasse mit anderen Lehrlingen. Die kannten mich nicht, keiner wusste, dass sie mich in der Schule Tube genannt hatten, die Lehrlinge nannten mich einfach Tobi. Ich hätte niemandem verraten müssen, dass sie mich in der Schule Tube genannt hatten. Allerdings gefiel mir »Tobi« noch weniger. »Robie, Tobi und das Fliwatüt«, bekam ich zu hören, aber was sollten sie auch Besseres aus meinem Vornamen machen? Und mein Nachname bot sich auch nicht gerade an, um irgendwas Schickes damit anzufangen.

Tube: Wie heißt du denn mit Nachnamen?

Tobias: Herre.

Tube: Ach du Scheiße!

Tobias: Ja, völlig bekloppt. Insbesondere, wenn du dich am Telefon vorstellen musst. Zum Beispiel bei Behörden. »Sie sind also der Herr …«, fragen die mich. »Herre«, sage ich, und die warten, weil die denken, ich hätte »Herr« gesagt und würde gleich meinen Nachnamen nennen. Hierauf entsteht meist eine peinliche Pause, bis sie noch mal fragen: »Ich hab nicht verstanden. Sie sind der Herr … ?« Ich buchstabier dann meistens: »H, E, Doppel-R und noch ein E«. »Ach Herr mit einem E hinten dran, hihi«, sagen die dann. »Herre …«

Aus Herre kann man echt nichts Schönes machen. Herri vielleicht, aber das klingt wie Harry. Das ist nicht cool. In meiner Schulklasse damals, Frank Schläwe, den hatten sie »Schläwie« genannt, das fand ich cool. In der Parallelklasse dagegen war einer, den alle »Kacke« nannten. Ich weiß gar nicht, warum. Ich weiß auch nicht, wie der wirklich hieß. Er hieß einfach Kacke. Verglichen mit ihm finde ich, dass ich mit meinem »Tube« noch ganz gut weggekommen bin. Hätte ich Kacke geheißen, dann hätte ich 1986 die Chance ergriffen und die Scheiße von mir gestreift und niemandem verraten, wie ich in der Schule genannt wurde. Dass sie von da an »Tobi« zu mir sagen würden, hätte ich in Kauf genommen.

Tube: Aber Tobi wolltest du nicht genannt werden.

Tobias: Nein. Ich sagte den Lehrlingen, sie sollen doch einfach Tube zu mir sagen. Ich wusste, dass es schwer sein würde, den Lehrlingen das klarzumachen, aber ich dachte, ich muss mir nur noch eine coole Story ausdenken, warum ich so genannt werde, dann schlucken die das schon.

Tube: Und?

Tobias: Sie haben mich immer Tobi genannt. In meiner Lehrzeit war ich der Tobi, das ging nicht weg, aber dann später, als ich endlich auf die Bühne stieg, habe ich mich so genannt, wie ich es wollte. Tube! Ich bin der Tube.

Tube: Nein. Ich bin Tube.

Tobias: Du bist nur der Tube, den ich geschaffen habe.

Tube: Trotzdem bin ich Tube und du Tobias.

Meine Probleme mit Plurälen

Der deutschen Sprache mangelt es stellenweise an brauchbaren Plurälen, was sich gelegentlich beim Einkaufen negativ bemerkbar macht.

»Drei Vanillemilchreise, bitte«, sage ich der Verkäuferin im Spätkauf.

»Wohin?«, fragt sie.

»Nicht: wohin«, berichtige ich. »Ich sagte: Drei Milchreise, bitte!«

»Sie scheinen ja überhaupt nicht zu wissen, wie man Pluräle bildet, mein Herr«, klärt die Verkäuferin mich auf. »Es heißt nicht drei Milchreise, sondern drei Milchreisen. Eine Milchreise, das ist der Singular, und im Plural heißt es: drei Milchreisen, oder sie sagen gleich: drei Butterfahrten. Die Verwendung des Begriffs Butterfahrt ist im deutschen Sprachgebrauch sowieso viel eher üblich als Milchreise.«

»Ach?! Butterfahrten haben Sie auch im Angebot?«

»Nein, natürlich nicht. Sie befinden sich in einem Spätkauf, mein Herr. Und in Spätkäufen werden für gewöhnlich keine Butterfahrten feilgeboten. Der Verkaufsprozess gestaltet sich allerdings so, dass der Kunde den Laden betritt und das Produkt, das er erwerben möchte, korrekt benennt, der Verkäufer oder die Verkäuferin daraufhin einen Preis anbietet, den der Kunde dann bezahlen kann, wenn er will, oder bezahlen will, aber nicht kann. Es ist aber auch denkbar, dass es zu gar keiner Preisnennung kommt und der Verkäufer oder die Verkäuferin klarstellt, dass das vom Kunden verlangte Produkt nicht vorrätig ist.«

»Wie jetzt?«, frage ich, dumm guckend.

»Nein«, erklärt die Spätverkäuferin noch einmal. »Wir haben keine Butterfahrten.«

»Ich wollte ja auch drei Milchreise!«, warf ich ein.

»Wenn ich das schon höre! Da krieg ich ja überall Gänsehäute am ganzen Körper, sogar an den Fußsohlen. Diese Pluralkonstruktion: drei Milchreise. Nein! Milchreisen gibt’s bei uns nicht, mein Herr! Vergessen Sie es! Butterreisen und Milchfahrten müssen Sie im Reisebüro oder anderswo erstehen, aber nicht hier.«

»Aber, wenn Sie mal hinter sich in den Kühlschrank gucken könnten …«

»Nein, mein Herr«, unterbrach sie mich sogleich. »Ich wüsste, wenn dort Kaffeeausflüge drin lägen. Ich würde solch Ware auch nicht in Kühlschränken verstauen. Aber, könnte es sein, dass Sie ein bisschen verrückt sind? Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie wären Verkäuferin im Spätkauf, und ich käme herein und würde sagen: Bitte drei Butterfahrt! Da würden Sie doch ganz schön dumm gucken und doch sicherlich sofort zum Telefon greifen, drei Ärzte anrufen und sagen, dass da jemand wohl ausgebrochen sein müsse. Oder?«

»Weiß nicht.«

»Na, probieren Sie es aus! Kommen Sie hinter den Tresen und warten Sie!«

Die Verkäuferin schiebt mich hinter den Ladentisch und verlässt das Geschäft. Ich gucke dumm. Dann kommt sie hereinspaziert und sagt: »Palimpalim! Bitte drei Butterfahrt!«

Ich greife zum Telefon und rufe einen Arzt an.

»Hallo Arzt? Ich bin im Spätkauf und die Spätverkäuferin will drei Butterfahrt, dabei wollte ich nur drei Milchreise. Ich glaube, sie ist nicht ganz dicht … Wie? Ja, mir geht’s gut. Nein, Sie wollen nicht kommen? Dann eben nicht.«

Ich leg wieder auf und rufe zwei weitere Ärzte an, beide Male mit gleichem Ergebnis.

»Gut! Die Ärzte sagen, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist«, sage ich zur Spätverkäuferin. »Also, drei Butterfahrt wollten Sie? Moment.«

Ich gehe zum verglasten Kühlschrank, hole drei Vanillemilchreise heraus und stelle sie hin. »Da! Bitteschön.«

»Das sind aber keine Butterfahrt.«

»Nein, das ist das, was ich haben wollte. Drei Plastebecher mit Vanillemilchreis. Drei Stück.«

»Plastik, mein Herr. Plastikbecher, heißt das.«

»Westler!«, sage ich.

»Nein, Plastik!«, sagt sie.

»Nein!«, sage ich, »das heißt Plast. Plast ist ein Rohstoff. Plast ist der Singular von Plaste, und da der Becher zusammen mit dem Inhalt ein Gemisch aus verschiedenen Plasten ist, spreche ich vom Plastebecher.«

»Nein! Der Rohstoff heißt Plastik«, betont die Verkäuferin noch einmal.

»Nein! Um es Ihnen zu verdeutlichen: Plast ist das Grundmaterial. Und plastig, das ist, wenn etwas wie aus Plast ist, wie zum Beispiel ein Weg, der sich anfühlt, als wäre er aus Stein, weshalb man steinig dazu sagt.«

»Sie wollen mir weismachen, dass es Plastichbecher heißt?«

»Nein! Plastebecher. In etwa das will ich Ihnen sagen, und dass ich drei Milchreise möchte. Vielleicht sollten wir die Plätze erst mal wieder tauschen.«

»Gute Idee, ich bin ja schließlich die Verkäuferin und Sie der Kunde«, sagt sie, und wir tauschen die Plätze.

Ich nehme die drei Milchreise, die ich aus dem Kühlschrank genommen habe, bezahle sie und gehe.

Seitdem kaufe ich keine Vanillemilchreise mehr in Spätkäufen, sondern kehre stattdessen bei einem der vielen Imben ein, die es in der Gegend ja zu Haufen gibt, und dort erstehe ich dann drei Döni.

Chef

Die Sekretärin ist schon seit zwei Wochen krank. Keiner weiß, was sie hat. Die einzige Nachricht, die von ihr vor zwei Wochen gekommen ist, ist der Schriebs vom Arzt, auf dem steht, dass sie für zwei Wochen arbeitsunfähig sei. Nun ist ein neuer Schriebs gekommen: Krankschreibung für die nächsten zwei Wochen. Keiner weiß, was sie hat. Sie geht nicht an ihr Handy, wenn man sie anruft. Manchmal ist ihr Handy eingeschaltet, manchmal ist ihr Handy ausgeschaltet. Alle Kollegen rätseln. Ich vermute, sie hat Chef. Die Symptome für diese Krankheit sind relativ eindeutig. Die erkrankte Person erscheint nicht auf Arbeit, es erscheint nur eine Krankschreibung der erkrankten Person, außerdem ist die erkrankte Person telefonisch nicht erreichbar. Infizieren kann man sich mit dieser Krankheit bei zu häufigem Aufenthalt in der Nähe des Chefs und den damit verbundenen Streitigkeiten und Diskussionen.

Das hatte ich auch mal. 1988, als ich im Rechenzentrum der Deutschen Post angestellt war. Der Chef wollte von mir, dass ich in der folgenden Woche Nachtschicht schiebe.

Manche sagen ja, wenn sie vom Chef sprechen, »mein Chef«. Ich verstehe nicht, warum sie immer »mein Chef« sagen. Ich sage niemals »mein Chef«. Warum sollte ich »mein Chef« sagen? Der Chef gehört mir doch gar nicht. Ich kann doch Dinge nur als »mein« bezeichnen, wenn sie mir gehören. Zum Beispiel ein Ding, das mir allein gehört, ist mein Arschloch. Wenn ich »mein Arschloch« sage, dann meine ich das Loch, um das ich drumrum bin. Das ist mein Arschloch, das mir gehört. Wenn ich von einem Arschloch spreche, das nicht mir gehört, sage ich nicht »mein Arschloch«, sondern »das Arschloch«. Ist doch klar. Und weil der Chef nicht mir gehört, sage ich nicht »mein Chef«, sondern »das Chef«.

Das Chef wollte von mir also, aufgrund eines von ihm neu ausgearbeiteten Schichtplanes, dass ich nächste Woche im Rechenzentrum die Nachtschicht schiebe, woraufhin ich sagte, dass sein neuer Plan mich überrasche und ich nicht könne. Ich hätte eine wichtige Verabredung. Der Chef meinte dazu, das sei ihm egal, ich müsse kommen, wenn er das sage, woraufhin ich ihm sagte: »Nein, ich werde nicht kommen« und tags darauf an Chef erkrankte.

Die Krankschreibung zu bekommen war gar nicht schwierig. Es gab da einen Arzt, der sich auf diese Krankheit spezialisiert hatte. Der Warteraum war voll, ich musste warten. »Der Nächste bitte!«, rief die Schwester den Nächsten herein. So ging es im Fünfminutentakt. »Der Nächste bitte!«, und einmal kam der Arzt persönlich in den Warteraum und sagte: »Heut schreibe ich aber nur noch bis Freitag krank.«

Woraufhin ein gleichzeitiges »Ooooh!« der Wartenden zu vernehmen war, und der Arzt sagte: »War nur ein Scherz. Der Nächste bitte.« »Aaaah!«, und der Nächste war ich.

»Was haben Sie denn?«, fragte mich der Arzt.

»Ähm … Bauchweh«, sagte ich und zeigte auf meinen Bauch.

»Aha. Was glauben Sie, wie lange es dauert, bis das weggeht?«

»Ähm …«, sagte ich. »Ähm, zwei Wochen?«

»Ok.« Er füllte die Krankschreibung aus und sagte: »Brauchen Sie sonst noch was?«

»Ähm …, was?«, fragte ich.

»Na, brauchen Sie vielleicht noch Medikamente?«

»Medikamente? Ähm, ach nö. Ich glaub, das geht auch so.«

Als bei dem Chef des Rechenzentrums meine Krankschreibung einging, machte er sich anscheinend solche Sorgen (vor allem, weil er mich telefonisch nicht erreichen konnte), dass er mir einen Hausbesuch abstattete, was keinesfalls zu meiner Genesung beitrug, weshalb ich noch einmal um zwei Wochen verlängern musste.

Das ist Chef. Eine schlimme, mitunter langwierige Krankheit. Und nun hat die liebe Sekretärin sie gekriegt. Und das ausgerechnet kurz nach ihrer Probezeit. Während der Probezeit hätte sie sofort gekündigt werden können. Da hatte sie bestimmt auch schon Chef und sich irgendwie durchgeschleppt. Alle Achtung. Herzlichen Glückwunsch. Arbeit, Geißel der Menschheit.

Am Arbeitsplatz mit einer nackten Frau

Ich sitze in meinem Büro am Computer und schaue mir im Internet Bilder einer nackten Frau an. Die Frau zeigt sich in allen möglichen Posen. Von hinten am Strand, von vorne im Swimmingpool, von der Seite auf einem Bett mit einem Seidentuch spielend, von schräg unten auf einen Baum kletternd, mit und ohne gespreizte Schenkel. Es ist wirklich alles dabei. Kein Detail wurde ausgelassen. Selbst ein Bild, wo man bis ins Popoloch gucken kann, befindet sich in der umfangreichen Sammlung.

Wer jetzt fragt, was das mit meiner Arbeit zu tun hat … Da sag ich mal: nichts. Gar nichts. Gar nichts hat das mit meiner Arbeit zu tun. Außer, dass da am Arbeitsplatz Internet ist. Und wo ein Internet ist, da sind nackte Frauen nicht fern. Der Bildschirm ist jetzt voll mit Fenstern mit nackten Frauen drin.

Da öffnet sich plötzlich die Tür zu meinem Büro und die nackte Frau kommt herein. Keine Illusion! Sie ist echt. Sie stellt sich vor meinen Schreibtisch. Sie hat Anziehsachen an. Wenn die jetzt neben mich treten sollte und sehen kann, dass ich Nacktbilder von ihr anschaue, denke ich, was wird sie dann denken? So schnell wie sie rein ist, kriege ich die vielen Fenster nicht weggeklickt. Die einzige Chance in einer solchen Situation ist es, schnell ein anderes Fenster zu öffnen, ein leeres Fenster, vielleicht eines mit der Startseite von Google. Und dieses Fenster dann maximieren, sodass es den gesamten Bildschirm ausfüllt und die anderen Fenster mit dem Unrat hinter sich verdeckt. In das so geöffnete Fenster mit der Googlesuche blicke ich angestrengt hinein und gebe mir einen Gesichtsausdruck, als würde ich gerade intensiv nachdenken und arbeiten. Jetzt musst du aber auch irgendwas bei der Suche eingeben, sage ich mir und gebe hastig ein: »Was tun, wenn die Frau, die du dir gerade nackt im Internet anschaust, in dein Büro tritt?«

»Du siehst zu viel Gravitation«, antwortet mir Google.

Da spricht die nackte Frau, die Anziehsachen anhat, zu mir und erinnert mich an meine Arbeit als Netzwerkadministrator. »Bei uns geht das Internet nicht mehr«, sagt sie.

»Hihi, und ich weiß wie du nackt aussiehst«, könnt ich jetzt sagen. Oder »Was? Das Internet geht nicht? Ich bin doch grade drin. Hier! Schau auf meinen Bildschirm und lies vor! Du siehst zu viel Gravitation. Die Seite habe ich mir soeben ergoogelt. Mit den Suchworten: ›Was tun wenn die Frau, die du dir gerade nackt im Internet anschaust, in dein Büro tritt‹.« Aber so könnt ich ihr auch gleich sagen, dass ich weiß, wie sie nackt aussieht. Und vor allem stehen ja auch die Suchworte noch auf dem Bildschirm. Verdammt, wenn sie das jetzt sieht. Ich muss schnell das Fenster schließen. Nein. Geht nicht. Dahinter sind die Nacktbilder. Ich muss schnell noch ein Fenster öffnen. Ganz groß machen. Eine Excell-Tabelle.

Jetzt kann sie von mir aus gucken. Macht sie aber gar nicht. Sie sagt nur, das Internet gehe nicht. Sie, die Studentin, die bei mir auf Arbeit studiert, die, von der sich rumgesprochen hat, womit sie sich ihr Studium finanziert.

Es hat doch wohl niemand geglaubt, dass ich mir einfach so zum Spaß nackte Frauen im Internet angucke? Und dann noch auf Arbeit?

Nee. Nein. Es ging lediglich um eine ganz sachliche Recherche. Wie verdienen sich die modernen Studentinnen ihr Geld?

Mehr wollt ich gar nicht wissen. Als wenn ich noch nie eine nackte Frau gesehen hätte.

Da kennt ihr mich aber schlecht. Schließlich hab ich zu Hause auch Internet.

Arbeitsplätzchen auf Wirtschaftswachstuch