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EDITORIAL

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Rabea Rentschler ist Redakteurin bei G&G.
rentschler@spektrum.de

AUF ZACK!

Letztens hätte ich eine dieser Wachmacher-Wunderpillen für mehr Konzentration gut gebrauchen können. Mit ihrer Hilfe wäre ich trotz Schniefnase und Schlafmangel wohl schneller mit der Bearbeitung eines Artikels fertig geworden – und zwar ohne Flüchtigkeitsfehler! Doch obwohl man allenthalben davon liest, sind Pharmakologen noch weit von der Herstellung solcher »Brainbooster« entfernt.

Vermutlich kennt jeder Situationen, in denen ein Fitmacher für die mentale Leistungsfähigkeit genau das Richtige wäre. Die G&G-Redaktion verfolgt die Entwicklungen auf diesem Gebiet seit Jahren. Wir baten Experten, über den aktuellen Stand der Forschung zu berichten: Was wissen wir über Wirkungen von Substanzen wie Donepezil, Methylphenidat oder Modafinil, wenn sie nicht zur Bekämpfung von Krankheiten wie Demenz oder ADHS eingenommen werden, sondern das Gehirn auf Trab bringen sollen? Darüber geben Mathias Berger und Claus Normann vom Universitätsklinikum Freiburg in ihrem Beitrag ab Auskunft.

Wir fragten uns allerdings auch, welche Folgen es für jeden Einzelnen und die Gesellschaft hätte, wenn Hirndopingmittel in jeder Drogerie frei erhältlich wären. Deshalb luden wir sieben Fachleute aus Medizin, Philosophie und den Rechtswissenschaften ein, die Chancen und Risiken des Neuro-Enhancements abzuwägen.

Wie beruhigend, dass man seinen Geist auch auf natürliche Weise stärken kann. Die in diesem Heft zusammengestellten Artikel erklären, wo sich hier ansetzen lässt: angefangen bei klassischen Mnemotechniken bis hin zu effektivem Anti-Aging mittels bewusster Ernährung und Bewegung.

Wie wichtig die Konzentrationsfähigkeit im Alltag ist, lesen Sie gleich im ersten Artikel dieses Dossiers. Wussten Sie, dass so banale Ablenkungen wie das Justieren eines Navigationsgeräts oder der Griff zur Sonnenbrille das Unfallrisiko beim Autofahren verdreifachen? Besonders gefährdet sind Pendler, denn sie kennen ihre tägliche Strecke auswendig und schalten hinterm Steuer gerne mal ab. Ich gehöre auch dazu, und bevor ich den Beitrag von Annette Schäfer las, hätte ich nicht geglaubt, dass kaum eine Tätigkeit mental so anspruchsvoll ist wie Autofahren. Deshalb: Wechseln Sie ab und zu die Route zur Arbeit, dann gelingt die Balance zwischen Aufmerksamkeit und Routine im Straßenverkehr leichter.

Eine konzentrierte Lektüre wünscht Ihre

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Dieses Dossier bündelt die wichtigsten G&G-Artikel zu den Themen Konzentration, Gedächtnis, mentale Fitness und Hirndoping aus den letzten Jahren.

INHALT

Geistesblitze

Starke Synapsen gegen ADHS
Methylphenidat verbessert den Informationsfluss zwischen Amygdala und Großhirnrinde

Bund fürs Leben

Beim Riechen zählt der erste Eindruck

Molekulare Gedächtnisstütze

Forscher beugen altersbedingten Lerndefiziten bei Mäusen vor

Kein Schwund im Kopf

Bei gesunden Menschen nehmen die grauen Zellen im Alter nicht zwangsläufig ab.

Hilfreiche Strichelei

Kritzeln verbessert das Aufnahmevermögen von gelangweilten Zuhörern

KONZENTRATION

Die Psyche fährt mit

Technische Hilfsmittel wie Navigationsgeräte erhöhen zwar den Fahrkomfort, bergen aber auch Risiken. Denn Monotonie und Ablenkung sind die größten Gefahrenquellen im Straßenverkehr

Gedanken auf Abwegen

Erwachsene mit ADHS sind impulsiv, rastlos und leicht zu verärgern. Zwei bis vier Prozent der Volljährigen leiden an der vermeintlichen Kinderkrankheit. Was sind die Ursachen, welche Behandlung hilft?

Im Leerlauf-Modus

Einfach mal abschalten – für unser Gehirn eine unmögliche Aufgabe. Denn selbst wenn wir vermeintlich nichts tun, herrscht im Oberstübchen Hochbetrieb. Forscher fragen: Was treibt das Gehirn, wenn wir tagträumen?

Achtung, aufgepasst!

Unaufmerksame Schüler verleiden Lehrern den Spaß am Unterricht und haben oft selbst nicht viel zu lachen. Dabei erleichtern einfache Tricks das Konzentrieren – auch im Erwachsenenalter!

GEDÄCHTNIS

Mut zur Lücke

Oft gescholten und trotzdem unentbehrlich: das Vergessen. Ohne diese Fähigkeiten wäre unser Gedächtnis kaum zu gebrauchen

Lerne lieber unbewusst

Implizit zu lernen heißt, nebenher und ohne Grübelei Wissen zu erwerben. Im Alltag tun wir es ständig, doch die Erforschung des Phänomens ist knifflig

Fußballer auf der Reservebank

Von der PIN bis zum Prüfungsstoff – mit der richtigen Mnemotechnik lässt sich Wissen effizient speichern

Bilder hinter Tempelsäulen

Bilder merken wir uns leichter als Fakten. Das machten sich bereits die alten Griechen zu Nutze

Synapsen im Dornröschenschlaf

Wie kommt es, dass man Dinge schneller lernt, wenn man sich nach langer Pause erneut mit ihnen beschäftigt? Neurobiologen erklären, weshalb einmal geknüpfte Nervenverbindungen leicht reaktivierbar sind

MENTALE FITNESS

Geistig vorsorgen, 7 goldene Regeln

Topfit im Kopf – auch ohne Pillen: sieben einfache Ernährungstipps für mehr geistige Frische im Alter. Laut Forschern kann der richtige Lebensstil sogar helfen, der Alzheimerdemenz vorzubeugen

Bewegung für den Geist

Zahlreiche Studien belegen: Sport in Maßen stärkt nicht nur Herz und Muskeln, sondern auch Gehirn und Psyche. Hirnforscher, Psychologen und Sportmediziner erkunden, unter welchen Bedingungen Körper und Geist ideal zusammenspielen

HIRNDOPING

Kosmetik für die grauen Zellen

Nicht nur manche Sportler, sondern auch Soldaten, Studierende und selbst Professoren steigern ihre geistige Leistungsfähigkeit mit Medikamenten. Das Problem: Niemand weiß, welche Nebenwirkungen die Präparate langfristig haben

Genetisches Gehirntuning

Wissenschaftlern gelang die Züchtung von Mäusen, die besonders schnell lernen. An den schlauen Nagern wollen sie erforschen, wie sich auch das menschliche Gehirn auf Trab bringen lässt

Das optimierte Gehirn

Würden Sie Pillen schlucken, um geistig belastbarer und fitter zu sein? Pharmafirmen wittern hier einen lukrativen Zukunftsmarkt. Doch ist dieses Neuro-Enhancement ethisch vertretbar?Sieben Experten geben Auskunft, worauf wir uns einstellen müssen und was das für jeden Einzelnen sowie die Gesellschaft als Ganzes bedeutet

Editorial

Impressum

 

 

 

 

Ein Sonderheft von

 

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Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft

 

 

Herausgeber:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl. Phys. Carsten Koenneker M.A.
Verantwortliche Redakteurin: Rabea Rentschler
Slevogtstr. 3-5, 69126 Heidelberg
www.spektrum.de

GEISTESBLITZE

LERNEN

Starke Synapsen gegen ADHS

Methylphenidat verbessert den Informationsfluss zwischen Amygdala und Großhirnrinde.

 

Weltweit schlucken Millionen von Kindern Methylphenidat. Das Medikament, besser bekannt unter dem Handelsnamen »Ritalin«, soll die Lern- und Konzentrationsfähigkeit von hyperaktiven Zöglingen verbessern. Doch was genau passiert dabei im Gehirn?

Nun entdeckte ein Team um die Neurowissenschaftlerin Kay Tye von der University of California in San Francisco bei Tierversuchen, dass die Substanz auf zwei verschiedene Dopaminrezeptoren an den Nervenzellen wirkt. Dies fördert offenbar den Informationsfluss zwischen bestimmten Hirnarealen.

Die Wissenschaftler implantierten männlichen Ratten eine dünne Kanüle knapp oberhalb des seitlichen Teils der Amygdala, die für emotionale Reaktionen, aber auch für Lernen und Gedächtnis wichtig ist. Dann trainierten sie die Nager darauf, bei einem Tonsignal die Nasenspitze in eine Vorrichtung zu stecken, die Zuckerwasser spendete.

Einem Teil der Versuchstiere verabreichten die Forscher über die Kanüle gleichzeitig Methylphenidat, den anderen eine unwirksame Salzlösung. Resultat: Die Tiere unter Ritalineinfluss lernten deutlich schneller und schlürften insgesamt mehr Zuckerlösung als die übrigen Nager.

Dann untersuchten die Forscher die Gehirne der Tiere und maßen die Signalübertragung zwischen Amygdala und Großhirnrinde. Schon eine einmalige Lernsitzung nach Gabe von Methylphenidat hatte dazu geführt, dass diese Verbindungen leichter erregbar waren.

Zudem verabreichten Tye und ihre Kollegen manchen Ratten während des Lernens weitere Medikamente, die bestimmte Rezeptoren in der Amygdala blockierten. So entdeckten sie, dass Ritalin die Aktivität von zwei verschiedenen Dopaminrezeptoren verstärkt.

Der Rezeptortyp D1 scheint demnach dafür verantwortlich zu sein, dass die Tiere spezielle Reize rasch mit Belohnungen verknüpfen. Vermehrte Aktivität des Pendants D2 hingegen unterdrückt anderes Verhalten, das von der eigentlichen Lernaufgabe ablenken könnte – so etwa, dass die Tiere ziellos im Käfig herumlaufen.

Die Forscher hoffen, auf Grundlage ihrer Erkenntnisse verbesserte ADHS-Medikamente mit weniger Nebenwirkungen entwickeln zu können.

Nature Neuroscience 10.1038/nn.2506, 2010

Autoren dieser Rubrik: Steve Ayan, Joachim Marschall,
Jörn Niessing, Jasmin Andresh, Liesa Westner

GEDÄCHTNIS

Bund fürs Leben

Beim Riechen zählt der erste Eindruck.

Düfte rufen manchmal lange verschüttete Erinnerungen aus Kindertagen wach. Doch auch im Erwachsenenalter hinterlassen Gerüche, die wir mit einem bestimmten Objekt verbinden, dauerhafte Spuren im Gehirn. Das fanden Forscher um die Neurobiologin Yaara Yeshurun vom Weizmann Institute in Rehovot (Israel) heraus.

Die Wissenschaftler zeigten Probanden zunächst 60 Fotos von verschiedenen Gegenständen und setzten die Testpersonen bei jedem Bild einem anderen Duftstoff aus. Im anschließenden Test sollten die Probanden jedem Objekt den richtigen Geruch aus je drei vorgegebenen zuordnen. Danach folgte eine zweite Lernphase: Die Versuchspersonen sahen die Objekte erneut, diesmal allerdings gepaart mit anderen Düften.

Eine Woche später prüften die Forscher das Gedächtnis der Teilnehmer abermals und registrierten dabei die Hirnaktivität per funktioneller Kernspintomografie (fMRT). Die Probanden sollten sich entweder an die ursprünglich gelernte Bild-Duft-Kombination erinnern oder aber an den Geruch aus der zweiten Lernphase. Siehe da: Hatten die Teilnehmer die erste Geruchsprägung richtig behalten, waren zwei Hirnregionen besonders aktiv – der Hippocampus, die Gedächtniszentrale im Gehirn, sowie die Amygdala, die bei der Gefühlsbewertung eine wichtige Rolle spielt. Rekapitulierten die Probanden dagegen die später gelernten Verknüpfungen, regten sich der Hippocampus und die Amygdala nicht vermehrt.

Die erstmalige Kombination von einem Geruch mit einem Objekt genieße demnach einen Sonderstatus im Gedächtnis, so die Forscher. »Dieser Mechanismus ist vermutlich auch am Werk, wenn Düfte Kindheitserinnerungen wachrufen«, so Yeshurun.

Das Phänomen scheint zudem einzigartig für das Speichern von Gerüchen zu sein. Bei der wiederholten Paarung von Bildern mit Geräuschen konnten die Forscher kein Vorrecht des ersten Eindrucks feststellen.

Current Biology 10.1016/j.cub.2009.09.066, 2009

 

 

NEUROCHEMIE

Molekulare Gedächtnisstütze

Forscher beugen altersbedingten Lerndefiziten bei Mäusen vor.

Geistige Fitness bis ins hohe Alter – wer träumt davon nicht? Ein Forscherteam um André Fischer am European Neuroscience Institute in Göttingen konnte nun den Gedächtnisabbau bei Mäusen stoppen, indem es einer typischen altersbedingten Veränderung an den Chromosomen von Nervenzellen vorbeugte. So blieb die Lernfähigkeit der Mäusesenioren großteils erhalten.

Wie beim Menschen schneiden auch Nager in höherem Alter in Lerntests deutlich schlechter ab als jüngere Artgenossen. Im Hippocampus – einer fürs Lernen besonders wichtigen Hirnregion – entdeckten Fischer und sein Team einen möglichen Grund: Azetylgruppen, die sich normalerweise an spezielle Moleküle zur Verpackung des DNA-Strangs, so genannte Histone, anlagern, waren bei älteren Mäusen weit gehend verschwunden.

Dies führte offenbar dazu, dass bestimmte Abschnitte des Erbguts nicht mehr »entpackt« werden konnten und somit abgeschaltet blieben. Die Folge: Dem Gehirn fehlte die molekulare Maschinerie, um neu gelernte Informationen zu speichern.

Diesen Prozess konnten die Forscher durch einen chemischen Kniff umkehren. Sie injizierten HDAC-Hemmer (Histon-Deazetylase-Hemmer) in die betroffene Hirnregion und blockierten den Abbau der Azetylgruppen an den Histonen. Die für das Lernen benötigten Gene konnten nach dieser Behandlung wieder abgelesen werden – die Merkfähigkeit der Mäuse blieb erhalten.

Der neue Ansatz könnte auch beim Menschen einen Grundstein zur Therapie von Gedächtnisschwächen im Alter legen. HDAC-Hemmer wurden bereits zur Behandlung verschiedener Krebsformen getestet, und erste klinische Studien sind auf dem Weg. Ob diese Substanzen nicht nur normale Abbauprozesse, sondern womöglich sogar Altersdemenz und Alzheimer aufhalten können, bleibt zu erforschen.

Science 328, S. 753–756, 2010

 

 

ALTERN

Kein Schwund im Kopf

Bei gesunden Menschen nehmen die grauen Zellen im Alter nicht zwangsläufig ab.

Laut bisherigem Lehrbuchwissen nimmt die Hirnmasse bei alten Menschen grundsätzlich ab. Vor allem die Zellkörper der grauen Substanz verkümmern nach und nach. Neurowissenschaftler um Saartje Burgmans von der Universität Maastricht bestreiten dies: Das Volumen der grauen Masse schrumpfe bei geistig gesunden Menschen selbst in fortgeschrittenem Alter nicht unbedingt.

Die Forscher untersuchten 44 kerngesunde Probanden, die im Schnitt 70 Jahre alt waren. In einer eingehenden neuropsychologischen Untersuchung mussten die Versuchspersonen ihre mentalen Leistungen unter Beweis stellen, darunter ihr räumliches Orientierungsvermögen, Gedächtnis und Sprachverständnis.

Drei Jahre später wiederholten die Forscher die Tests: Zwei Drittel der Probanden zeigten immer noch keine Anzeichen von nachlassender Geisteskraft. Der Rest schnitt nun dagegen etwas schlechter ab als zuvor.

Dieser Unterschied trat auch im Kernspintomografen zu Tage: Bei den einen Probanden war die graue Substanz konstant geblieben, während sie bei den anderen in vielen Bereichen des Gehirns abgenommen hatte – so zum Beispiel im Hippocampus und im Frontalhirn.

»Vermutlich wurden in vergangenen Studien auch solche Teilnehmer berücksichtigt, die bereits unter krankhaften Veränderungen des Gehirns litten«, erklärt die Forscherin. Einer älteren Untersuchung zufolge leidet etwa jeder fünfte »gesunde« Proband in der Alternsforschung bereits an unerkannten Frühformen von Demenz. Dies habe wohl zu der Ansicht verleitet, das Hirnvolumen schrumpfe zwangsläufig, so Burgmans.

Neuropsychology 23, S. 541–550, 2009

 

 

KONZENTRATION

Hilfreiche Strichelei

Kritzeln verbessert das Aufnahmevermögen von gelangweilten Zuhörern.

Es passiert in drögen Vorlesungen, Büro-Meetings oder bei schier endlosen Besprechungen: Unwillkürlich greift die Hand zum erstbesten Stift und malt Linien, Muster und kleine Figuren in die Ecken eines Blatts Papier. Wie ein Experiment der Psychologin Jackie Andrade von der University of Plymouth zeigte, kann das eine durchaus sinnvolle Strategie sein – denn Kritzeln bewahrt davor, einfach abzuschalten.

Die Forscherin spielte 40 Versuchspersonen einen fingierten Telefonanruf vor. Um das Ganze möglichst langweilig zu machen, war das Licht im Raum gedämpft, die Umgebung leise. Zweieinhalb Minuten lang lauschten die Probanden einer monotonen Stimme, die viele Informationen herunterratterte – darunter die Namen von acht Personen, die zu einer bald stattfindenden Party kommen wollten.

Die Aufgabe der Probanden bestand darin, sich zu merken, welche Gäste zugesagt hatten. Sonst hatten sie auf gar nichts weiter zu achten. Manche Teilnehmer sollten außerdem noch die leeren Kästchen auf dem bereitgelegten Papier ausmalen – um »Langeweile abzubauen«, wie es hieß.

Wie sich zeigte, notierten die Kritzler nach dem Gespräch mehr richtige Namen und setzten seltener Personen auf die Liste, die im Telefonat zwar erwähnt worden waren, aber ihr Erscheinen bei der Party nicht zugesagt hatten. Auch in einem nachfolgenden, unangekündigten Merktest behielten jene Probanden, die ihre Finger in Bewegung hielten, mehr Daten im Gedächtnis.

Die Stiftgymnastik helfe wohl dabei, trotz Langeweile hellwach und aufmerksam bei der Sache zu bleiben, vermutet Andrade. So könne das Gekrakel verhindern, dass man in monotonen Situationen in Tagträumereien abdriftet.

Applied Cognitive Psychology 10.1002/acp.1561, 2009

KONZENTRATION | STRASSENVERKEHR

Die Psyche fährt mit

 

Kaum eine Tätigkeit ist mental so anspruchsvoll wie Autofahren. Glauben Sie nicht? Verkehrspsychologen haben überzeugende Argumente: Laut ihrer aktuellen Forschung liegt die Krux in der heiklen Balance zwischen Konzentration und Routine.

VON ANNETTE SCHÄFER

AUF EINEN BLICK

Herausforderung Autofahren

1 Technische Neuerungen erhöhen den Fahrkomfort, aber auch das Risiko für Unfälle: Sie suggerieren ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, steigern die Langeweile oder lenken ab.

2 Beim Autofahren verarbeitet das Gehirn unzählige Informationen. Die dafür erforderliche Hirnaktivität sinkt schon durch einfache Ablenkung wie beim Beantworten von Wissensfragen um rund 40 Prozent.

3 Auch ein impulsives Temperament von Autofahrern kann laut Psychologen zu mehr Unfällen und Verkehrsdelikten führen.

»Ich pack’s einfach nicht.« Julian ist frustriert. Noch eine Woche bis zur Fahrprüfung, und schon wieder übersah er ein Stoppschild, rutschte aus Versehen in den falschen Gang, und nur das Eingreifen des Fahrlehrers bewahrte ihn vor einer Kollision.

Manch einer erinnert sich noch gut daran, wie gestresst und überfordert er sich als Fahranfänger fühlte. In der Tat müssen wir beim Autofahren eine große Menge von sensorischen und kognitiven Aufgaben gleichzeitig meistern. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Tom Vanderbilt bringt es in seinem Buch »Traffic« auf den Punkt: »Wer nicht gerade als Hirnchirurg arbeitet, für den stellt Autofahren wahrscheinlich die komplexeste Beschäftigung im Alltag dar.«

Verkehrspsychologische Analysen brachten zu Tage, dass das Steuern eines Pkw rund 1500 Einzeltätigkeiten umfasst. Pro Meter Fahrdistanz gilt es im Schnitt zwei Informationen zu verarbeiten. Das klingt wenig, doch bei einer Geschwindigkeit von nur 50 Stundenkilometern ergibt das rund 1700 Informationseinheiten pro Minute. Verständlich also, wenn die meisten Fahrschüler nach einer Übungsstunde in Schweiß gebadet sind. Doch mit jeder weiteren Lehreinheit lässt die Aufregung nach. In ein paar Monaten wird sich Julian fragen, warum er das Manövrieren eines Pkw jemals als so schwierig empfand – es wird zur Selbstverständlichkeit.

Für viele Menschen ist Autofahren das geworden, was Psychologen eine »überlernte« Aktivität (overlearned activity) nennen: Regelmäßig geübt und verinnerlicht, kann man sie ausführen, ohne groß darüber nachzudenken. Ein routinierter Fahrer merkt kaum noch, dass er beim Schalten auf die Kupplung tritt oder beim Abbiegen den Blinker betätigt. Die Automatisierung hat ihr Gutes: Man braucht sich mental weniger anzustrengen. Müsste dagegen jedes Fahrmanöver in seine Einzelteile zerlegt und jede Bewegung und potenzielle Gefahr auf der Straße bewusst analysiert werden, wären quasi nur »Fahrschüler« auf den Straßen unterwegs – an einen steten Verkehrsfluss wäre nicht zu denken.

Doch die Entlastung der Hirnkapazitäten birgt auch eine große Gefahr: Wir werden anfällig für Langeweile. Die vermeintliche Leichtigkeit, mit der der Durchschnittsfahrer durch vertraute Straßen kutschiert, verleitet ihn dazu, die Gedanken schweifen zu lassen. Oder er konzentriert sich auf eine Sendung im Radio, stellt die Außenspiegel ein, diskutiert mit seinem Beifahrer, gähnt ausgiebig, schaut sich die Landschaft an, telefoniert, liest eine SMS – bis wie aus dem Nichts ein Wagen von rechts auftaucht …

Schätzungen zufolge beschäftigen sich Autofahrer zu 30 Prozent der Zeit am Steuer mit Dingen, die nichts mit dem Lenken des Wagens zu tun haben. Doch schon ein einziger Moment der Unaufmerksamkeit kann fatale Folgen haben: Wer die Straße für mehr als zwei Sekunden aus den Augen verliert, verdoppelt bereits sein Unfallrisiko.

Eine der umfangreichsten Untersuchungen zur Unaufmerksamkeit von Autofahrern startete im Jahr 2006 das Virginia Tech Transportation Institute in Blacksburg im Auftrag der National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA), der amerikanischen Autobahnsicherheitsbehörde. Das Forschungsinstitut stattete 100 in der Gegend von Washington (D. C.) registrierte Autos mit Kameras und anderen Überwachungsinstrumenten aus und beobachtete das Verhalten der Fahrer unter Realbedingungen. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren wurden so mehr als 3,2 Millionen gefahrene Kilometer, 43.000 Fahrstunden, 69 Unfälle und 761 Beinah-Zusammenstöße aufgezeichnet. Als »Unfall« galt dabei jeder irgendwie negative Vorfall, wie beispielsweise das Streifen eines Pfeilers. Das wichtigste Ergebnis: Bei 78 Prozent der Unfälle und 65 Prozent der Beinah-Kollisionen waren die Fahrer in der einen oder anderen Form unaufmerksam.

Dreifach erhöhtes Unfallrisiko

Eine mäßig anspruchsvolle Nebentätigkeit – eine CD einlegen, einen Bissen vom Frühstücksbrötchen nehmen oder telefonieren – verdoppelte das Risiko eines Vorfalls oder Beinah-Vorfalls. Wer eine komplexere Tätigkeit ausführte, beispielsweise eine Nummer auf dem Handy wählte, Make-up auflegte oder nach einer heruntergefallenen Sonnenbrille griff, erhöhte damit die eigene Unfallgefahr um das Dreifache.

Unkonzentriertheit hinter dem Steuer ist kein neues Phänomen. Paradoxerweise scheint gerade die technische Weiterentwicklung der Fahrzeuge das Problem zu verschärfen. Hilfen wie Automatikschaltung oder Tempomat sind bequem – fördern aber auch die Langeweile beim Fahren. Zugleich führen neue Ablenkungsquellen wie Handys und Navigationssysteme selbst verantwortungsvolle Fahrer in Versuchung. Wer hat nicht schon einmal über einen telefonierenden Verkehrsteilnehmer geschimpft und konnte ein paar Minuten später sein klingelndes Handy selbst nicht ignorieren?

Ebenso ergeht es GPS-Nutzern. Der Drang, an solchen Geräten herumzuspielen, kann unwiderstehlich sein, auch wenn man gerade keine Wegbeschreibung braucht. Für die Konzentration des Autofahrers sind diese technischen Spielzeuge Gift, denn sie bedeuten potenziell Ablenkung auf jedem Kanal: Man muss Knöpfe drücken, das Display lesen, den Ansagen lauschen und die darin enthaltenen Informationen verarbeiten. Immerhin kann man den Navigationssystemen zugutehalten, dass es noch schlimmer wäre, während der Fahrt eine Straßenkarte zu lesen.

Telefonieren am Steuer dagegen ist ohne Einschränkung eine schlechte Idee. In den letzten Jahren haben dutzende Studien mittels unterschiedlicher Methoden wie Simulationen, realer Feldbeobachtungen, der Auswertung von Handy-Verbindungsdaten sowie Interviews mit Fahrern gezeigt, dass die Nutzung eines Handys das Unfallrisiko drastisch erhöht.

Telefonate am Steuer sind sogar gefährlicher, als angetrunken zu fahren, wie der Psychologe David Strayer von der University of Utah 2005 in einem Experiment demonstrierte. Drei Tage lang untersuchte er das Verhalten von 40 Teilnehmern im Fahrsimulator unter vier unterschiedlichen Bedingungen: nüchtern und ohne Telefon, unter Wodka-Einfluss sowie mit einem normalen Handy oder über eine Freisprechanlage telefonierend. Verglichen mit Probanden, die 0,8 Promille Alkohol im Blut hatten, war die Reaktionszeit plaudernder Fahrer auf einen bremsenden Wagen vor ihnen im Schnitt um neun Prozent verlangsamt. In der Folge fuhren Telefonierer häufiger auf den Vordermann auf. Zudem brauchten sie nach einer Bremsaktion 19 Prozent länger, um ihr altes Tempo wieder aufzunehmen – ein Beispiel dafür, wie leicht sich in der Realität der Verkehrsfluss verlangsamen und stauen kann.

Überraschenderweise machte es in Strayers Test keinen Unterschied, ob die Fahrer mit oder ohne Freisprechanlage telefonierten. Gleiches bestätigen auch andere Untersuchungen, denn Freisprechanlagen stellen oft nicht wirklich »freies Sprechen« sicher: Nummer suchen, wählen und auflegen – all das erfordert es, die Hände vom Lenkrad zu nehmen. Allerdings besteht die Ablenkung beim Telefonieren nicht so sehr in der physischen Nutzung des Handys. Vielmehr strengt es geistig an, sich auf die Aussagen und Gefühle des Gesprächspartners zu konzentrieren und auf kleinste Nuancen in dessen Stimme zu achten. Sowohl das Zuhören als auch das Sprechen nimmt so Hirnkapazitäten in Anspruch, die nicht mehr für die Verarbeitung verkehrsrelevanter Informationen zur Verfügung stehen.

Wie stark diese Beeinträchtigung ist, zeigt eine fMRI-Studie des Neurowissenschaftlers Marcel Just von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh von 2008: Bei Probanden, die während des Lenkens im Fahrsimulator Fragen zu ihrem Allgemeinwissen beantworten sollten, ging die Hirnaktivität im Grenzbereich zwischen Scheitel- und Hinterhauptslappen im Vergleich zu ungestörtem Fahren um durchschnittlich 40 Prozent zurück. Diese Hirnregion verarbeitet räumliche Informationen wie die Einschätzung von Distanzen und die eigene Verortung im Raum.

Kein Vorteil durch Erfahrung

Auch langjährige Erfahrung am Steuer erleichtert das Multitasking nicht unbedingt. In einer Simulationsstudie, die Steven Kass von der University of West Florida 2007 veröffentlichte, schnitten telefonierende Routiniers im Vergleich zu Fahranfängern zwar etwas besser im Hinblick auf Spurhalten, Beachten von Stoppschildern und Auffahrunfällen ab. Sie landeten aber ebenso häufig im Straßengraben und fuhren genauso viele Fußgänger um wie die unerfahrenen Teilnehmer.

Der Konflikt zwischen Automation und Konzentration ist jedoch nicht das einzige Problem beim Autofahren. Der Straßenverkehr stellt auch für die zwischenmenschliche Interaktion eine Herausforderung dar, weil das Kommunizieren mit anderen nur eingeschränkt möglich ist. Augenkontakt beispielsweise – ein wichtiges »Schmiermittel« menschlicher Kooperation – funktioniert im Straßenverkehr nur sehr eingeschränkt. Von anderen Verkehrsteilnehmern sieht man meist nur den Hinterkopf oder das Profil. Dunkelheit, Regen, spiegelnde Scheiben und Sonnenbrillen können den Blickkontakt zusätzlich erschweren.

Sprache ist sogar völlig nutzlos. Kutschenfahrer früherer Zeiten konnten sich noch per Zuruf verständigen, doch die Chauffeure moderner Metallkarossen sind auf eine rudimentäre Zeichensprache beschränkt: Blinker, Hupe oder ein mehr oder weniger eindeutiges Handzeichen. Doch was will einem der entgegenkommende Wagen durch sein Lichtsignal sagen? Warnt er freundlich vor einer Geschwindigkeitskontrolle; will er einen Bekannten grüßen, oder soll man das eigene Licht einschalten? Studien zeigen, dass Autofahrer, insbesondere wenn sie unerfahren sind, derartige Signale oft missverstehen.

Außerdem macht uns die Isolation im Auto zu schaffen. So flüchten wir uns in Selbstgespräche, wenn ein Verkehrsteilnehmer etwas tut, das uns nicht gefällt – wir lamentieren und schimpfen, auch wenn uns der andere gar nicht hört. Im Jahr 2000 beobachtete Andrew McGarva von der Dickinson State University in North Dakota, wie 51 Versuchspersonen auf die Provokation durch einen anderen Fahrer reagierten. Dazu ließ der Sozialpsychologe seine Probanden an einem Stoppschild einige Sekunden auf vermeintliche Instruktionen warten. Der eingeweihte Pkw-Fahrer hielt dahinter und fing an zu hupen. Nur ein Viertel der Teilnehmer konnte an sich halten; der Rest ließ Kommentare fallen wie »Der tickt doch nicht richtig!« oder »Was für ein Idiot!«.

Road rage durch Anonymität

Eine bissige Bemerkung tut niemandem weh. Doch viele lassen es nicht dabei bewenden und machen ihren aufgestauten Emotionen Luft: Da wird besonders gemütlich gefahren, um den Hintermann zu ärgern, man drängelt einen zu langsamen Vordermann oder überholt hupend und gestikulierend über die rechte Spur. Road rage nennen Fachleute solches Verhalten.

Lange haben Verkehrspsychologen darüber gerätselt, warum die Angriffslust auf den Straßen so verbreitet ist. Zunehmend wird klar: Die Abgeschlossenheit im Fahrzeug trägt entscheidend dazu bei, dass sich friedliche Zeitgenossen in Verkehrsrowdys verwandeln. Denn Anonymität und fehlender menschlicher Kontakt führen zu Aggressivität.

So stellten Wissenschaftler fest, dass Fahrer weniger streitsüchtig auftreten, wenn ihnen das schützende Autodach fehlt. Die Verkehrsforscherin Patricia Ellison von der amerikanischen Autobahnsicherheitsbehörde ließ dazu 289 Fahrer eine siebenminütige Simulationsfahrt unter realistischen Fahrbedingungen inklusive roter Ampeln, unachtsamer Fußgänger und Verkehrsstaus bewältigen. Je nachdem, ob die Teilnehmer in einem Kabrio mit offenem oder geschlossenem Verdeck unterwegs waren, unterschied sich ihr Verhalten deutlich. Jene in einem offenen Pkw fuhren langsamer, missachteten rote Ampeln seltener, bauten weniger Unfälle und überfuhren weniger Fußgänger als diejenigen Teilnehmer, die sich unter dem Verdeck ihres virtuellen Gefährts sicher fühlten. Bemerkenswerterweise spielte die Persönlichkeit des Fahrers dabei keine Rolle: Probanden, die vorab mittels Fragebogen als besonders ausgeglichen identifiziert worden waren, lenkten ein geschlossenes Kabrio ebenso aggressiv wie leicht erregbare Zeitgenossen.