Landkarten

Tyma Kraitt

Vorwort

»Kein Blut für Öl«, lautete das Motto der globalen Anti-Kriegsbewegung im März 2003 gegen die US-geführte Invasion des Irak. Und treffender hätte es nicht sein können. In wohl keinem anderen Land des Nahen und Mittleren Ostens hat der Reichtum an »Schwarzem Gold« einen derart hohen Blutzoll gefordert wie im Zweistromland. Der Irak-Krieg von 2003 und die daraufolgende Besatzung hinterließen ein entlang konfessioneller und ethnischer Linien zerrissenes Land. Das politische Establishment versank in Korruption, Plünderungen und internen Machtkämpfen. Dennoch wandte sich der Fokus internationaler Berichterstattung bald darauf vom kriegszerrütteten Irak ab; die Folgen der sogenannten »Arabellion« mit neuen Brennpunkten in Libyen und Syrien hielten die Weltöffentlichkeit in Atem. Viel zu wenig wurde über den »Irakischen Frühling« 2012, dem von der sunnitischen Bevölkerung initiierten zivilen Aufstand gegen die Regierung al-Maliki, berichtet, und noch viel weniger über dessen brutale Niederschlagung. Dabei handelte es sich um ein wesentliches Motiv für den neu entflammten Bürgerkrieg und den Aufstieg des »Islamischen Staates« (IS). Die Extremisten des IS stellen nicht nur aufgrund ihrer Brutalität eine neue Herausforderung dar – ihr Vormarsch ist zugleich auch ein Angriff auf die territoriale Integrität und die bestehenden Nationalgrenzen in der gesamten Region. Deswegen können sie eines Tages auch mächtigen Golfstaaten wie Saudi-Arabien, die selbst für die Unterstützung und den Export von dschihadistischem Extremismus mitverantwortlich sind, gefährlich werden. Angesichts der unklaren Machtverhältnisse vor Ort und der fragilen Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen im Irak sind Prognosen über den Ausgang der aktuellen Krise kaum denkbar. Sie machen aber eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt­linien und politischen Entwicklungen dringlicher denn je. An dieser Stelle möchte der Band »Irak – Ein Staat zerfällt« anknüpfen. Eine Annäherung an den Konfliktherd soll damit ermöglicht und Einblicke in die Hintergründe geboten werden.

Als Einstieg sei auf den Beitrag »Ein Land in Fragmenten: Ethnien, Kulturen, Religionen im Irak« von Liselotte Abid verwiesen, der überblicksartig die heterogene irakische Gesellschaft skizziert. Die Nahostexpertin Karin Kneissl wiederum beschreibt in ihrem historischen Grundlagentext »Von der Entstehung und Zerstörung des Irak im Namen des Erdöls« die enge Verflechtung von Öl und Macht im Nahen und Mittleren Osten. Die turbulente Geschichte des Irak im 20. Jahrhundert – vom Unabhängigkeitskampf bis zur Militärdiktatur Saddam Husseins – wird von mir im Beitrag »Zum Scheitern verurteilt. Irak zwischen Fremdherrschaft und Diktatur« behandelt.

Die durch den Golfkrieg von 1990/1991 ausgelösten Folgen für die einstige Regionalmacht bilden den Ausgangspunkt für den Text des früheren UN-Koordinators für humanitäre Hilfe im Irak, Hans-Christof von Sponeck: »Irak, die Sanktionspolitik des UN-Sicherheitsrats und die humanitäre Ausnahmeregelung«. Dabei handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Vereinten Nationen im Konflikt mit dem Irak und ihrem Unvermögen, die irakische Bevölkerung während der 1990er Jahre vor der humanitären Katastrophe zu bewahren. Das UN-Embargo hinterließ einen völlig geschwächten Staat, der nach dem Krieg von 2003 der Willkür der westlichen Besatzungsmächte ausgeliefert war. Ein Aspekt, der im Kapitel »Neoliberaler Kolonialismus: Irak unter US-Besatzung« von Joachim Guilliard näher beleuchtet wird. Mit gesellschaftspolitischen Folgen von Krieg und Besatzung befasst sich Myassa Kraitt im Beitrag »Frauen im Abseits: Wie Frauen­rechte zurückgedrängt werden«.

Wesentliche Abschnitte des Bandes widmen sich allerdings nicht nur innenpolitischen, sondern auch geopolitischen Entwicklungen, die aus dem Irak letztlich einen Austragungsort regionaler Rivalitäten machten. Ein entsprechender Einblick in den regionalen Kampf um das Wasser, verwoben mit der Geschichte des legendären irakischen Marschlandes, findet sich in »Wasser, Krieg und Ökozid im südlichen Mesopotamien« von Reza Nourbakhch-Sabet. Von besonderer Brisanz ist die Kurdistan-Frage, da sie auch eine Herausforderung für Nachbarstaaten wie die Türkei, Syrien oder den Iran darstellt, in denen große kurdische Minderheiten leben. Der Beitrag »Die Kurden im Irak. Vom Bürgerkrieg über die Autonomie zur Unabhängigkeit?« von Nikolaus Brauns bietet einen Überblick über die politische Landschaft in Irakisch-Kurdistan und veranschaulicht innere wie äußere Konfliktlinien, die bislang einer vollständigen Unabhängigkeit im Wege stehen. Die Türkei nimmt hierbei eine interessante Rolle zwischen Rivalität und Partnerschaft ein. Die sich wandelnde und oftmals widersprüchlich anmutende türkische Außenpolitik steht daher auch im Zentrum des Textes von Ali-Cem Deniz: »Die Achse Ankara-Erbil-Bagdad«. Er untersucht die politische und ökonomische Interessenlage der Türkei im Nachbarland.

Eine geopolitische Analyse zu den jüngsten Entwicklungen in der Region rundet das Buch ab. In »Blutige Grenzen: Wie Öl, Gas und Geostrategie die Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens verändern« zeigt Friedensforscher Werner Ruf jene Auseinandersetzungen auf, die dem Aufstieg des »Islamischen Staates« den Weg ebneten. Dazu gehören nicht nur der Kampf um die Pipelines, sondern auch die Herstellung marktwirtschaftlicher Verhältnisse unter einer neokonservativen Prämisse, wie sie die Bush-Administration nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im sogenannten »Greater Middle East«-Programm als Losung ausgegeben hat. Mit seinem Rekurs auf den »Islamischen Staat« und den Zerfall der territorialen Ordnung ist Werner Rufs Beitrag von besonderer Aktualität.

Abschließend möchten ich mich noch beim Verlag Promedia und dessen Programmleiter Hannes Hofbauer bedanken, der die Idee zu dieser Publikation von Anfang an unterstützt und trotz Zeitdrucks und der Unsicherheit, ob der Irak bei Redaktionsschluss überhaupt noch bestehen würde, an dem Projekt festgehalten hat.

Tyma Kraitt
Wien, im Februar 2015

Liselotte Abid

Ein Land in Fragmenten: Ethnien, Kulturen, Religionen im Irak

Al-Iraq. Schon die Etymologie des Landesnamens ist nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise geht er auf das sumerische Uruk (Stadt) zurück, das jedoch auch andere Interpretationen wie »gut bewässert« oder »fruchtbar« zulässt. Im Arabischen bezeichnet der Begriff ein »tiefliegendes Land« und beschreibt damit die Topografie großer Landesteile.1 Doch so weitgehend eben das Gelände ist, so »uneben« erscheinen in jüngster Geschichte die Beziehungen zwischen Völkern und Volksgruppen, die in diesem Land leben.

Die historische Bezeichnung Mesopotamien (arab. Bilad ma bayna-n-Nahrayn) nimmt auf die beiden großen Flüsse Bezug, die den Irak von Nord nach Süd – genauer in leicht nordwestlicher nach südöstlicher Richtung – durchziehen und beschreibt damit das »Zwischenstromland«, eine der ältesten Wiegen menschlicher Zivilisation und Kultur.

Diese Bedingungen sind es auch, die den Irak von frühester Geschichte an zum Siedlungsgebiet, Durchzugsland und begehrten Herrschaftsraum werden ließen, wobei Völker und Herrscher, Kulturen und Religionen immer wieder wechselten. Nach der stetigen, oft turbulenten oder kriegerischen historischen Entwicklung haben das 20. und das beginnende 21. Jahrhundert bis in die Gegenwart einen teils hektischen und oft gewaltsamen Verlauf genommen. Wesentlichster Ausgangspunkt dafür war um die 1920er Jahre die Entdeckung von Erdöl unter dem Wüstenboden, was zeitlich mit dem Übergang zur Mandatszeit zusammenfällt. Aus dieser Zeit stammen auch die über weite Strecken geradlinigen Grenzen des seit 1932 unabhängigen Nationalstaats.2 Einzig die fast 1.500 Kilometer lange Grenze zum Iran verläuft entlang der alten Grenzlinie zwischen dem Osmanischen Reich und Persien.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte ein staatlich getragener Säkularismus nicht nur das politische, sondern auch das kulturelle Leben und das Erziehungswesen. Unter den pro-westlichen Regierungen in den 1930er Jahren konnte jedoch eine gewisse Vielfalt an nationalistischen und linken/marxistischen Vereinigungen entstehen. Islamisch ausgerichtete Gruppierungen traten erst um die Mitte der 1940er Jahre auf die politische Bühne. 1951 wurde die Muslimbruderschaft offiziell gegründet. Obgleich mehrheitlich sunnitisch, war es ihr ein Anliegen, beide Glaubensrichtungen, Sunniten und Schiiten, zu repräsentieren. Die Muslimbruderschaft wandte sich an die höchste schiitische Autorität, Groß-Ayatollah Sayyid Muhsin al-Hakim, der eine Zusammenarbeit jedoch ablehnte, obwohl namhafte schiitische Geistliche ebenso wie die Muslimbrüder gegen wachsende kommunistische Trends Stellung bezogen. 1958 wurde die Da’wa-Partei (Ad-Da’wa al-islamiya, deutsch »Der islamische Ruf« bzw. »Ruf des Islam«) als politische Partei der Schiiten gegründet. Beide Parteien sind nach einer wechselvollen Geschichte und in unterschiedlichen Allianzen bis heute aktiv. Neben diesen und anderen Akteuren und Bündnissen sind die Parteien ethnisch-religiöser Minderheiten Ausdruck der Vielfalt der irakischen Gesellschaft.

Ethnien in ungefähren Zahlen

Alle Angaben über die irakische Bevölkerung beruhen derzeit auf Schätzungen – mit schwankenden Zahlenangaben in unterschiedlichen Quellen. Die letzte Volkszählung, die auch die kurdische Bevölkerung einschloss, wurde 1987 durchgeführt. Zehn Jahre später wurde erneut eine Volkszählung abgehalten, diesmal jedoch nur außerhalb der kurdischen Autonomiegebiete. Eine Volkszählung, die für 2007 geplant war, wurde auf unbegrenzte Zeit verschoben. Ein wesentlicher Grund dafür war die Uneinigkeit darüber, ob die Stadt Kirkuk der Autonomen Region Kurdistan zuzurechnen sei, wie von kurdischer Seite gefordert. Dagegen wehren sich jedoch die arabischen und turkmenischen Bewohner im Raum von Kirkuk. Weitere geplante Volkszählungen wurden ebenfalls verschoben oder ohne die kurdischen Autonomiegebiete durchgeführt.3 Ebenso wie andere virulente Fragen im heutigen Irak hat die Auseinandersetzung nicht nur einen ethnischen Hintergrund: in der Gegend von Kirkuk liegen reiche Ölvorkommen.

Die Bevölkerung des Irak wurde für 2014 auf knapp 32,6 Millionen geschätzt.4 Andere Schätzungen nennen bereits für 2013 33,5 Millionen.5 Über 66 Prozent davon leben in Städten6 – ein Grad der Urbanisierung, der sich weitgehend mit vergleichbaren Ländern in der Region deckt. Allein im Großraum Bagdad leben fast sieben Millionen Menschen. Weitere Ballungsräume sind die Gouvernorate um die Städte Basra an der Wasserstraße Schatt al-Arab (pers. Arvandrud) und Sulaymaniya im Nordosten nahe der iranischen Grenze, jeweils mit fast zwei Millionen, sowie mit ca. 1,5 Millionen Einwohnern Mosul (arab. Al-Mawsil, kurd. Mûsil), die Hauptstadt der Provinz Niniveh. Letztere Provinz hat annähernd drei Millionen Einwohner.

Vorsichtige Schätzungen beziffern die arabische Bevölkerungsmehrheit mit ca. 75–80 Prozent, die kurdische Bevölkerung auf 15–20 Prozent und andere ethnische Minderheiten wie Turkmenen, Assyrer bzw. Aramäer auf gemeinsam 5–10 Prozent.7 In den Sumpfgebieten am Schatt al-Arab leben zwischen 20.000 und 50.000 sogenannter »Marsch-Araber« – eigentlich keine ethnische, sondern eine sozio-kulturelle Minderheit.

Offizielle Sprachen sind Arabisch und Kurdisch. Außerdem haben Turkmenisch sowie Aramäisch (Neo-Assyrisch) in Gebieten mit entsprechender Bevölkerungsmehrheit einen offiziellen Status.8 Armenisch wird von der armenischen Minderheit gesprochen.

Ethnien, Stämme, Religionen und Kulturen sind im Irak eng miteinander verwoben, überschneiden sich aber auch in vielen Gebieten und Bereichen. Insgesamt gibt es rund 150 größere und kleinere Stämme im Irak, die etwa 75 Prozent der Bevölkerung umfassen und in Clans und familiäre Einheiten unterteilt sind.9 Innerhalb großer Stämme gibt es regional teils unterschiedliche religiös-konfessionelle Zugehörigkeiten. Die ca. dreißig größten Stämme sowie diverse Bündnisse und Stammesföderationen haben auch politische Vertretungen unterschiedlicher Ausrichtung und mit wechselndem Einfluss.

Im Folgenden kann nur versucht werden, dieses komplexe Muster in einem Überblick darzustellen – immer in dem Bewusstsein, dass die Bevölkerungsstruktur in dieser Konfliktregion durch Flucht und Kriegshandlungen laufend einschneidenden Veränderungen unterworfen war und ist. Dieser Prozess betrifft nicht nur die jüngsten dramatischen Entwicklungen sondern erlangte speziell seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine besondere Dynamik durch die sukzessiven Irak-Kriege: Irak – Iran 1980 bis 88 (1. Golfkrieg), Irak – Kuwait 1990/91 (2. Golfkrieg), 2003 US-Invasion (3. Golfkrieg; mit unterschiedlichen Bezeichnungen). Doch schon davor und parallel dazu haben auch wirtschaftliche Entwicklungen und politische Zwangsmaßnahmen (wie Umsiedelungen) Veränderungen der Bevölkerungsstruktur ergeben.

Religionen und Kulturen

Häufig wird eine grobe Einteilung des Irak in fünf Kulturräume vorgenommen, die auch geografisch definiert sind: die kurdische und turkmenische Kultur im Nordirak, die sunnitische Kultur in den westlichen und zentralen Provinzen, die schiitische Kultur um die heiligen Städte Nadschaf und Karbala sowie die südirakische Provinz Basra, die assyrisch-christliche Kultur mit Zentren in einigen Städten des Nordens und die Kultur des südlichen Marschlandes (Marsch-Araber bzw. Mandäer). Die sozio-kulturelle Struktur des Irak ist jedoch wesentlich komplexer und durch zahlreiche historisch-politische Brüche gekennzeichnet, die in der jüngsten Geschichte an Intensität zugenommen haben.

Im Zuge der islamischen Expansion Richtung Osten wurden die Ebenen Mesopotamiens bereits in den Jahren 638 bis 642 unter dem zweiten Kalifen Umar ibn al-Khattab eingenommen. Damals wurde der Islam zu einem prägenden Element. Muslime stellen nach offiziellen Angaben heute ca. 97 Prozent (nach anderen Quellen 99 Prozent) der Bevölkerung; etwa 60–65 Prozent sind Schiiten, 32–37 Prozent Sunniten.10 Jüdische und christliche Minderheiten werden mit jeweils unter einem Prozent angegeben. Neueren Daten zufolge könnte der Bevölkerungsanteil der Christen auf 0,8 Prozent gesunken sein.11 2003 (Beginn des 3. Golfkriegs) zählte die jüdische Minderheit weniger als zwei Dutzend Menschen.12 Der Anteil der Yeziden und lokaler religiöser Gruppen liegt je nach Schätzungen bei einigen Prozent oder – ähnlich wie der der Mandäer/Sabier – um ein Prozent.

Die beiden großen Glaubensrichtungen des Islam, die der Sunniten und der Zwölfer-Schiiten, erstrecken sich im Irak sowohl auf große Teile der arabischen wie auch der kurdischen Bevölkerung. Der Großteil der schiitischen Bevölkerungsmehrheit sind Araber; für den Anteil der Schiiten unter den Kurden gibt es (nach Bevölkerungsverschiebungen, siehe unten) kaum verlässliche Zahlen, er soll 2014 nur rund zwei Prozent betragen haben.13

Detailliertere Schätzungen für weitere Gruppen finden sich im »World Directory of Minorities and Indigenous Peoples«, wobei auf stark differierende Angaben verwiesen wird.14 Diese Quelle nennt außerdem 50.000 bis 200.000 Roma.

Arabische Schiiten

Für die schiitische Mehrheit ist der Irak ein Kernland ihrer Glaubensrichtung. Dies begann mit dem vierten Kalifen Ali ibn Abu-Talib (656 bis 661 n.Chr.), der seinen Regierungssitz nach Kufa verlegte, um angesichts innerer Auseinandersetzungen das östliche Hinterland abzusichern. Aus der Sicht seiner Anhänger, der Schia (Schiat-Ali, deutsch »Partei Alis«), hätte Ali (als Vetter und Schwiegersohn Muhammads) erster Nachfolger des Propheten werden sollen. Nachdem Ali schließlich zum vierten Kalifen gewählt worden war, regierte er bis zu seiner Ermordung von Kufa aus – ursprünglich ein arabisches Heerlager am Ufer des Euphrat. Schon davor hatte die unentschiedene Schlacht von Siffin (im heutigen Syrien, 657) gegen die Truppen des Umayyaden Mu’awiya eine folgenschwere Entwicklung eingeleitet: Das Umayyaden-Kalifat in Damaskus (661 bis 750) wurde zum neuen politischen Machtzentrum und trotz der Kritik frommer Muslime von sunnitischer Seite weitgehend anerkannt. Mittlerweile hatte Hasan, der ältere Sohn Alis und der Prophetentochter Fatima, mit Mu’awiya ein Abkommen geschlossen, in dem er für die Lebenszeit Mu’awiyas auf das Kalifat verzichtete; danach sollte es wieder auf die Nachkommen des Propheten übergehen. Jedoch übergab Mu’awiya das Kalifat seinem Sohn Yazid und begründete damit eine erbliche Monarchie. Husayn (Hussein), der jüngere Spross der Prophetenfamilie, erhob sich 680 gegen die Umayyaden, nachdem ihm die Einwohner von Kufa die Führung angeboten hatten, um ihnen gegen die Repressionen des Usurpators Yazid beizustehen. Eingeschüchtert von einem harschen Gouverneur ließen sie Husayn und seine kleine Gruppe von Getreuen jedoch im Stich, als ihn umayyadische Truppen abdrängten und zwangen, nach Karbala weiterzuziehen. Dort kam es am Muharram, dem zehnten Tag des arabischen Monats zur Tragödie, in der Husayn und seine 72 männlichen Mitstreiter von einer aus Damaskus verstärkten Übermacht brutal niedergemetzelt und enthauptet wurden. Frauen und Kinder, die Husayns Gruppe begleitet hatten, wurden in die Gefangenschaft nach Damaskus geführt. Husayns Schwester Zaynab war es gelungen, einen Sohn Husayns, der zum Zeitpunkt der Schlacht erkrankt war, zu retten: nach Ali, Hasan und Husayn wurde er der vierte Imam der Schiiten.

Das Ereignis von Karbala – nach dem zehnten Muharram »Aschura« genannt (von arab. caschara, d.h. zehn) – wurde zum Schlüsselereignis für die Schiiten, und zum »point of no return« für die Trennung der Muslime in Schiiten und Sunniten als Hauptströmungen. Die Städte Nadschaf mit dem Mausoleum Alis und Karbala mit den Schreinen Husayns und seines Halbbruders und Fahnenträgers Abul-Fazl Abbas gelten als die größten Heiligtümer der Schiiten. Jährlich finden dort umfangreiche Trauerzeremonien statt, bei denen sich gewaltige Pilgerströme zu den heiligen Stätten begeben. Arba’in wird vierzig Tage nach Aschura begangen. Aus diesem Anlass beteiligten sich in den letzten Jahren Millionen Schiiten und Schiitinnen aus allen Teilen der Welt an Fußmärschen von Nadschaf nach Karbala. Terroranschläge haben bei solchen Anlässen schon zahlreiche Opfer gefordert.

Alle diese Gedenkfeiern mit ihren besonderen Bräuchen und Riten waren unter Saddam Hussein strengstens verboten. Nach seinem Sturz brandeten sie wie eine gewaltige Welle hoch. Radikalen Sunniten, insbesondere den Salafisten, sind diese »Gräberkulte« ein Dorn im Auge, zumal Schiiten aus der Sicht extremistischer Sunniten als Ungläubige betrachtet werden. Der dichte schiitische Festkalender enthält auch die Geburtstage des Propheten, seiner Tochter Fatima und der zwölf Imame sowie Gedenktage anlässlich ihres Ablebens – Anlässe, die für Sunniten (teils mit Ausnahme von Muhammads Geburtstag) unbedeutend sind und von den Salafisten sogar als Bid’a (unzulässige Neuerung, Häresie) scharf verurteilt werden. Doch auch aus moderner, volkswirtschaftlicher Sicht werden die Auswirkungen der hohen Zahl an Feiertagen diskutiert – nicht nur schiitischer, da durch die religiöse Vielfalt des Landes insgesamt 150 öffentliche Feiertage anerkannt sind (mit regionalen Unterschieden).15 Andererseits sind die Pilgerströme zu den verschiedenen Heiligtümern ein nicht zu vernachlässigender Wirtschaftsfaktor.

Im schiitischen Islam bildete sich eine ausgeprägte Gelehrten-Hierarchie heraus, die Institution der sogenannten Marja’iya. Hohe schiitische Geistliche fungieren als Marja’ (Pl. Maraje’), als »Instanz der Nachahmung« für »Laien« bzw. Gläubige ohne theologische Ausbildung. Diese Emulation betrifft sowohl den rituellen wie auch den sozialen, »weltlichen« Bereich. Auch in (gesellschafts-)politischen Fragen orientieren sich Schiiten am Beispiel und den Fatwas (Weisungen, religiöse Gutachten) ihrer Maraje’.16 In der Geschichte des Irak (ebenso wie des Iran) verhielten sich schiitische Geistliche teils quietistisch gegenüber der politischen Macht und zogen sich auf den strikt religiösen Bereich zurück. Andere jedoch bezogen politisch Stellung, lehnten z.B. die Mitgliedschaft in der irakischen Baath-Partei ab und hatten mit Repressionen und Verfolgung zu rechnen.17 So wurden unter Saddam Hussein beispielsweise bedeutende schiitische Gelehrte wie Muhammad Baqir as-Sadr18 und seine Schwester Amina as-Sadr (die Autorin »Bint al-Huda«) hingerichtet.

Die theologischen Hochschulen (arab./pers. Hawza ilmiya) in den irakischen Städten Nadschaf und Karbala gehören zu den bedeutendsten Lehrstätten des schiitischen Islam. Schon seit der Gründung der Hawza von Nadschaf im 11. Jahrhundert durch den aus Chorassan (heute Nordost-Iran) stammenden Gelehrten Scheich at-Tusi gab es einen regen Austausch und eine wechselseitige Migration zwischen den Zentren der Gelehrsamkeit in den heutigen Staatsgebieten von Irak und Iran. Im 20. Jahrhundert kamen politische Beweggründe für diese Migration hinzu, gleichzeitig entstanden Familienbande. Etliche iranische Geistliche und spätere Politiker (z.B. die Larijani-Brüder und der ehemalige iranische Justizminister Schahrudi) wurden im Irak geboren und studierten teilweise dort. Zwischen 1970 und 1978 lebte auch Ruhollah Khomeini im irakischen Nadschaf im Exil. Umgekehrt gründete Groß-Ayatollah Maraschi-Nadschafi, der 1897 ebenfalls in Nadschaf geboren wurde und dort studierte, mit seiner privaten Handschriftensammlung später die berühmteste Bibliothek in der heiligen Stadt Qom im Iran. Maraschi-Nadschafi war für mehr als 67 Jahre führender Professor der Hawza ilmiya in Qom. Die meisten seiner Schriften sind in Arabisch verfasst.

Doch auch zwischen der Bevölkerung der irakisch-iranischen Grenzgebiete gab es Wanderungsbewegungen und Stammesverwandtschaften. Derartige Verbindungen – selbst wenn sie Generationen zurücklagen – boten Saddam Hussein während des Krieges gegen den Iran einen Anlass zur Ausweisung und Deportation hunderttausender irakischer Schiiten über die Grenze in den benachbarten Iran. Sie wurden der fehlenden Loyalität zur Baath-Partei beschuldigt, ihre irakische Staatsangehörigkeit in Zweifel gezogen oder ihnen aberkannt und ihre Besitztümer konfisziert.19 Viele dieser Vertriebenen leben nun als iranische Staatsbürger im Iran, manche emigrierten in westliche Länder.

Ein nicht aufgearbeitetes Kapitel der jüngeren Geschichte sind die Massengräber getöteter schiitischer Aufständischer aus den frühen 1990er Jahren. Die Aushebung begann erst um 2005, zahlreiche Opfer sind nicht identifiziert oder gelten als vermisst. Es sind Wunden, die in der heutigen irakischen Gesellschaft noch immer zu spüren sind.

Arabische Sunniten

Unter der sunnitischen Bevölkerung ist das traditionelle Stammeswesen nach wie vor von Bedeutung, obwohl die nationalistischen und sozialistischen Regierungen der Republik Irak in den 1950er Jahren versuchten, die Stammesstrukturen zu zerschlagen. Die Gebiete der einflussreichsten Stämme liegen im sogenannten »sunnitischen Dreieck« zwischen der Hauptstadt Bagdad und den Städten Ramadi im Westen sowie Tikrit im Norden. Der Anteil der beduinischen Araber ging durch Ansiedelungsmaßnahmen auf höchstens zwei Prozent zurück. Elemente der angestammten nomadischen Kultur sind aber nach wie vor in den Stämmen präsent.

Schon ab 2005 bildeten sunnitische Stämme eine Art Bürgerwehr gegen Al-Qaida, die As-Sahwa-Milizen. Die Auflösung der irakischen Armee im Gefolge der US-Invasion 2003 hatte hauptsächlich sunnitischen Militärs die Existenzgrundlage entzogen, was viele in die Hände extremistischer Gruppierungen trieb, die für die militärische Expertise auch zahlen konnten. Die Stämme sahen sich nicht selten in einer »Zwickmühle« zwischen Eigeninteressen, Stammesloyalität und finanziellen Verlockungen (auch von Seiten der Amerikaner). Um 2008 sollen rund 100.000 Mann auf der Gehaltsliste der US-Administration gestanden und monatlich umrechnet ca. je 230 Euro erhalten haben. Das Konzept der sunnitischen Bürgerwehren war erfolgreich, die Stammeskämpfer hielten Al-Qaida und andere extremistische Gruppen aus ihren Gebieten fern. In Anbetracht des Rückzugs der US-Truppen 2011 gab es die Idee, die sunnitische Sahwa in die regulären irakischen Streitkräfte zu integrieren. Dies scheiterte offenbar am Widerstand des schiitischen Premierministers Nuri al-Maliki, der auch die Zahlungen an die sunnitischen Stammeshäupter unterband: »Eine Folge war, dass sich manche Sahwa-Milizionäre wieder Al-Qaida im Irak zuwandten; und deren Nachfolgeorganisation, dem ›Islamischen Staat‹.«20 Seit dem Rücktritt Nuri al-Malikis und angesichts der Bedrohung durch den »Islamischen Staat« (IS), wird die »Wiedererweckung der Sahwa« erneut intensiv diskutiert.21

Die gleichberechtigte Partizipation der Sunniten wird für die Zukunft des Irak entscheidend sein. Neben den politischen Parteien sind mittlerweile Organisationen von Intellektuellen und gemäßigt-religiösen Kräften entstanden, die nicht exklusiv auf die konfessionelle Zugehörigkeit setzen. Neben solch modernen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sind es jedoch auch die traditionellen Institutionen der Stämme, denen in der politischen Landschaft eines innerlich und äußerlich befriedeten Irak eine gestaltende Rolle zukommen müsste.

Turkmenen (Turkomanen)

Zur sunnitischen Bevölkerung zählen mehrheitlich auch die Turkmenen, die mit etwa fünf Prozent die drittgrößte Ethnie des Irak nach Arabern und Kurden stellen. Es gab und gibt jedoch sehr unterschiedliche Schätzungen des turkmenischen Bevölkerungsanteils, die von unter zwei Prozent bis über 16 Prozent reichen.22 Gründe dafür sind, dass die turkmenische Bevölkerung aufgrund in- oder ausländischer Interessen nicht in allen Regionen separat wahrgenommen oder registriert wurde. Ferner sind auch Migrationsbewegungen zu nennen.

Gesprochen wird Turkmenisch, eine süd-azerbaidschanische Turksprache (südliches Azeri). Zweisprachigkeit mit Arabisch ist allerdings irakische Normalität. Hauptsiedlungsgebiet der Turkmenen, das sie Turkmeneli nennen, erstreckt sich im Nordosten von der syrischen und türkischen Grenze bis östlich von Bagdad. Als ihr wichtigstes Zentrum gilt die Stadt Kirkuk. Doch auch in Tal Afar, Mosul und Arbil stellen sie bedeutende Bevölkerungsanteile. Darüber hinaus leben Turkmenen auch verstreut in anderen Landesteilen. Sie sind wie andere Ethnien ebenso in politischen Parteien organisiert und betreiben eigene Medien in ihrer Sprache.

Die Arabisierungspolitik unter dem Baath-Regime hat eine Durchmischung der Bevölkerung mit sich gebracht, die latente ethnische Spannungen nicht überwinden konnte, sondern sie zum Teil verstärkt hat. Nach dem Sturz Saddam Husseins forderten Turkmenen-Vertreter die Kontrolle über Städte mit bedeutender turkmenischer Bevölkerung, die allerdings in der »Autonomen Region Kurdistan« liegen. Forderungen der Turkmenen betreffen vor allem die Stadt Kirkuk, deren Zugehörigkeit zu den Kurdengebieten strittig ist.

Die lokalen Spannungen treten vor allem zutage, sobald Volkszählungen angesetzt sind. Beispielsweise berichtete die Wiener Tageszeitung Der Standard über Versuche, die Bevölkerungsanteile vor einer 2010 geplanten Volkszählung zugunsten des kurdischen Teils und zum Nachteil der Turkmenen zu manipulieren, was wiederum von kurdischen Verantwortlichen bestritten wurde.23

Religiöse Diversität und lokale Allianzen der Kurden

Die kurdische Bevölkerung setzt sich zu etwa 80 Prozent aus Sunniten zusammen, die hauptsächlich der schafi’itischen Rechtsschule folgen. Eine Minderheit in der Umgebung von Tikrit gehört der hanafitischen Rechtsschule an.24 Im Raum von Kirkuk und Arbil leben schiitische Kurden, ebenso im Südosten der Autonomen Region Kurdistan, besonders in der Provinz Sulaymaniya.

Historisch gesehen wurden die Kurden-Gebiete im heutigen Irak Anfang des 16. Jahrhunderts dem Osmanischen Reich eingegliedert, nachdem sich ihre Stammeshäupter und Clan-Chefs 1514 dahingehend geeinigt hatten. Als es in jenem Jahr zum Krieg zwischen den Reichen der sunnitischen Osmanen und der schiitischen Safaviden kam, trug der Einsatz der Kurden zur Niederlage der Safaviden bei und brachte den Osmanen bedeutende Gebietsgewinne.25 Grob gesprochen standen sich damals ein sunnitisches und ein schiitisches Imperium im Kampf gegenüber – im Detail erscheinen unterschiedliche religiöse Zugehörigkeiten und Affiliationen lokaler kurdischer Clans jedoch wesentlich komplexer.

Die Position der Kurden im Osmanischen Reich begann sich mit dem Aufschwung des türkischen Nationalismus zu ändern; es kam zu einer Stärkung ethnischer auf Kosten religiöser Loyalitäten im schwächelnden und schließlich zerfallenden osmanischen Kalifat. Schon im Osmanischen Reich des späten 19. Jahrhunderts wurden Kurden unter Ausnutzung der sozialen und geografischen Lage kurdischer Stämme 1894 bis 1896 zu Pogromen und Massakern an christlichen Armeniern angestachelt.26 Die Deportationen der Armenier 1915 bis 1917 führten auch durch kurdisches Gebiet im heutigen Nordirak.27

In der Kultur der sunnitischen Kurden spielen mystische Strömungen (»Sufi-Orden«) seit Jahrhunderten eine bedeutende Rolle. Obgleich der Einfluss des Sufismus, der islamischen Mystik, im 20. Jahrhundert zurückging, erleben politisch-aktivistische Ausprägungen vor allem des sunnitischen Naqshbandi-Ordens (Naqshabandiya, Naqshibandi) in den jüngsten Auseinandersetzungen einen Aufschwung als eine Art »identitärer Klammer«. Seinen Ursprung hat der Naqshbandi-Orden im 14. Jahrhundert im heutigen Usbekistan. Die Naqshbandiya ist der einzige Sufi-Orden, der seine mystische Tradition vom ersten Kalifen Abu-Bakr (regierte 632 bis 634) herleitet. Alle anderen sunnitischen Sufi-Orden beziehen ihre mystische Spiritualität auf den vierten Kalifen Ali ibn Abu-Talib (regierte 656 bis 661), der gleichzeitig erster Imam der Schiiten ist und als solcher auch herausragende Bedeutung für die schiitische Mystik hat.

Der durchwegs sunnitische Naqshbandi-Orden hat eine traditionelle Anhängerschaft unter den Kurden, andererseits bestehen gewisse Naqshbandi-Loyalitäten unter Parteigängern des ehemaligen Staatspräsidenten Saddam Hussein. Durch die sunnitischen Aufstände und Proteste gegen die Marginalisierung der Sunniten wurden solche Verbindungen in jüngerer Zeit wiederbelebt. Schon seit Jahren operiert eine Rebellengruppe, die sogenannte »Naqshbandi Army«, in Tikrit, der Heimatstadt Saddam Husseins.28 Es gibt jedoch auch Berichte über eine Präsenz in Mosul, wo die »Naqshbandi Army«, geführt von ehemals hochrangigen Baathisten, eine teilweise »Gebietsverwaltung« vom IS übernommen haben soll.29

Ein weiterer einflussreicher Orden ist jener der Qadiri (Qadiriya oder Jilaniya), dessen Ursprung auf Abdul-Qadir al-Jaylani (Jilani; pers. Gilani) zurückgeht. Zu erwähnen ist noch der Suhrawardi-Orden, dessen Gründer Scheich Suhrawardi (12. Jahrhundert) aus kurdischem Gebiet im Nordirak stammte. Über die letztgenannten Orden gibt es jedoch keine Berichte politischer Affinitäten. Allerdings wurden Sufi-Orden, ihre Anhängerschaft und ihre Versammlungsstätten (Takiya, Tekiye) immer wieder von politischen Autoritäten je nach Bedarf umworben oder auch schikaniert.30

Die religiöse Diversität unter der muslimisch-kurdischen Bevölkerung zeigt sich auch in Gruppen wie den Haqqah (persisch: Haqq-shenasan, »Die, die Wahrheit/das Recht kennen«), den Mama Riza und den Hama Sur.

Ein iranischer Autor, Muhammad Ra’uf Tavakoli (Tokali), schreibt den Einfluss des Sufismus im Nordirak dem Nurbakhshi-Orden zu, der sich ab dem 15. Jahrhundert in Kaschmir, Indien und Iran verbreitete und dessen Zweige auch Anhängerschaft in anderen Ländern haben.

Fraglich erscheint, ob die Popularität mystischer Strömungen etwas mit der zoroastrischen Vergangenheit großer Teile der kurdischen Bevölkerung im heutigen Irak zu tun hat, wie von manchen Autoren vermutet.31 Tatsache ist, dass vor-islamische Riten von religiösen Gruppen wie den Ahl al-Haqq (auch Kaka’i, kurdisch Yarsan oder Yaresan, pers. Ahl-e Haqq) in ihr religiöses Leben integriert und teils bis heute praktiziert werden. Deren Wurzeln in älteren Religionen sind nach wie vor Gegenstand der Forschung.

Des Weiteren gibt es Gruppen wie die schiitischen (auch als heterodox bezeichneten) Schabak, die dem theologischen Mainstream der Schiiten als »Übertreiber« (arab. Ghulat) gelten. Kleinere Gruppen von Schabak sind auch im Iran vertreten.

Ähnliche Übergänge finden sich in Gestalt der Sarlu, die von manchen Autoren den Ahl al-Haqq zugerechnet werden, von anderen als zum Islam konvertierte Yeziden bezeichnet werden und sich teilweise yezidische Bräuche bewahrt haben.

Charakteristisch für alle diese Gruppen erscheint, dass Details ihrer Lehre (wenn überhaupt) nur in Bruchstücken schriftlich niedergelegt wurden, jedoch von einzelnen Gelehrten und Eingeweihten als Geheimnis gewahrt und mündlich tradiert werden.

Abgesehen von neuen, politisierten Segmenten mancher Sufi-Orden erlangten Stammesverbindungen wie jene der Barzani im irakischen Nationalstaat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts politische Bedeutung. Die Bezeichnung wird teils auch für eine Stammeskonföderation verwendet, die die Clans der Zibari und Shirwani einschließt.32 Dass sich solche Allianzen herausbildeten, geht teilweise auf lokale Auseinandersetzungen um Grund und Boden unter feudalen Besitzverhältnissen zurück. Bei Aufständen mit sozialem Hintergrund um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert standen nicht selten die »Scheichs« als religiöse Autorität und die »Aghas« (Grundherren) einander gegenüber, was auch zur Spaltung von Stämmen führte.33

Schiitische Kurden wie die »Fayli«34 und jene, die nahe der iranischen Grenze leben, sind Imamiten (Zwölfer-Schiiten). Bevölkerungszahlen im Irak sind aus bereits genannten Gründen schwierig zu eruieren. Fayli-Kurden lebten schon im Osmanischen Reich auf dem Gebiet des heutigen Irak. Shourush35 nennt eine Schätzung von einer Viertelmillion (gegen Ende des 20. Jahrhunderts), erwähnt jedoch Veränderungen wegen Deportationen von Fayli-Kurden nach 1972 aus dem Irak in den Iran. Mindestens 50.000 von ihnen wurden während der 1970er Jahre vertrieben und bis 1987 emigrierten weitere 50.000 in den Iran. Vor dem ersten Golfkrieg gegen Iran soll rund eine Million westlich von Bagdad gelebt haben. Unter dem Vorwand, sie wären eigentlich Iraner, wurde vielen während des Krieges die irakische Staatsbürgerschaft aberkannt, ihr Eigentum konfisziert, sie wurden deportiert oder zur Flucht in den Iran gezwungen.36

Ein einschneidendes Ereignis der jüngeren Vergangenheit, das die kurdische Bevölkerung – weitgehend unabhängig von der Religionszugehörigkeit – mit voller Wucht traf, waren die sogenannten Anfal-Operationen unter dem Diktator Saddam Hussein. Dieser war während seines Krieges gegen den Iran bestrebt, eine »Sicherheitszone« im Grenzbereich einzurichten; außerdem sollten aufständische Kurden vernichtet werden. Zwischen 1987 und 1989 wurden tausende Dörfer irakischer Kurden zerstört, das Schicksal von 182.000 Menschen ist teilweise ungeklärt – viele von ihnen wurden ermordet oder deportiert. Die moralische und emotionale Belastung der erst um 2005 exhumierten Massengräber ist bis heute nicht aufgearbeitet.37 Die grausamsten Ereignisse waren die Giftgasangriffe, die Saddam Hussein nicht nur gegen den Kriegsgegner Iran, sondern ab 1987 auch gegen die eigene kurdische Bevölkerung richtete. Im März 1988 wurden beim größten Giftgasangriff auf die grenznahe Stadt Halabdscha ca. 5.000 Menschen getötet.38

Christliche Gemeinden

Geschichte, Kultur und ethnische Herkunft orientalischer Christen sind äußerst vielfältig. Auf dem Staatsgebiet des heutigen Irak betrug der Anteil der christlichen Bevölkerung 1991 ungefähr sechs Prozent (etwa 1,5 Millionen); 2003 dürften es weniger als 700.000 gewesen sein,39 denn man schätzt, dass etwa die Hälfte der christlichen Bevölkerung bereits emigriert war.40 2010 lebten rund 700.000 irakische Christen im Ausland, etwa 150.000 waren zu Binnenflüchtlingen geworden. 2012 wurde die Zahl im Irak lebender Christen nur mehr auf 400.000 geschätzt.41

Neben den ethnisch-religiösen Minderheiten der Assyrer und Armenier bestehen die christlichen Gemeinden im Irak aus arabischen und kurdischen Christen. Die wichtigsten Konfessionen im Überblick sind:

Das Christentum hat auch unter der kurdischen Bevölkerung eine lange Geschichte, vor allem in an Syrien (und teils auch Jordanien) grenzende Gebiete. Der Apostel Thomas zog bereits um das Jahr 52 durch Kurdengebiete, spätere christliche Missionare folgten ihm. Es gibt Hinweise auf christliche Klöster der Nestorianer und Chaldäer, in denen auch zum Christentum konvertierte Zoroastrier gewirkt haben sollen. Im 6. Jahrhundert unterstanden Teile der kurdischen Siedlungsgebiete der byzantinischen Herrschaft, angrenzende Gebiete dem Perserreich. Ursprünglich waren die christlichen Gemeinden im Kurdengebiet Chaldäer, Assyrer und Armenier, die unter der muslimischen Bevölkerung lebten. Seit der Unabhängigkeit des Irak im Jahre 1932 sind jedoch viele Christen ins Ausland emigriert, Kriege und Bürgerkriege haben diesen Trend verstärkt.

Yeziden (Yazidi, Yezidi)

Die meisten der mehrere hunderttausend Menschen42 zählenden Yeziden im Irak leben in den nördlichen, von Kurden bewohnten Landesteilen. Ihr Glaube wird von Yeziden selbst als Monotheismus beschrieben, der Ursprung des Yezidentums auf etwa 2000 v. Chr. verlegt.43