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Zum Buch

In diesem Buch dokumentiert Hans-Günter Richardi erstmalig den Transport von prominenten Sippen- und Sonderhäftlingen aus deutschen Konzentrationslagern nach Südtirol. Die 139 Gefangenen aus siebzehn Ländern Europas waren als Geiseln der SS in die Alpen verschleppt worden, wo sie dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Obergruppenführer und General der Polizei Dr. Ernst Kaltenbrunner, für Verhandlungen mit den Westalliierten zur Verfügung stehen sollten. Unter den Internierten befanden sich der ehemalige österreichische Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg mit Frau und Tochter, der frühere französische Ministerpräsident Léon Blum mit Frau, der ehemalige ungarische Ministerpräsident Miklós von Kállay, der Oberbefehlshaber des griechischen Heeres, General Alexandros Papagos, mit seinem gesamten Generalstab, der französische Bischof von Clermont-Ferrand, Gabriel Piguet, der ehemalige Generalstabschef des deutschen Heeres, Generaloberst Franz Halder, mit Frau, der frühere Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister Dr. Hjalmar Schacht sowie Familienangehörige des Obersten Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 das Attentat auf Adolf Hitler verübt hatte. Die Gefangenen wurden im April 1945 aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Flossenbürg im KZ Dachau zusammengezogen und dann von einem Sonderkommando der SS und des SD über Innsbruck nach Niederdorf im Hochpustertal gebracht, wo sie am 30. April 1945 von Soldaten der deutschen Wehrmacht unter dem Kommando des Hauptmanns Wichard von Alvensleben aus der Gewalt der SS befreit wurden. Die Wehrmacht übernahm den Schutz der Häftlinge und brachte sie ins Hotel „Pragser Wildsee“, das den Gefangenen eine sichere Bleibe bot, bis dort am 4. Mai 1945 amerikanische Soldaten eintrafen. Diese übernahmen die Befreiten und brachten sie in zwei Transporten am 8. und am 10. Mai 1945 nach Süditalien. Auf Capri endete schließlich die Odyssee der Prominenten durch halb Europa.

Nach jahrelangen Recherchen im In- und Ausland stellt Hans-Günter Richardi das dramatische Geschehen in seinem Gesamtzusammenhang dar und gibt eine Antwort auf die Fragen: Was waren die Hintergründe, die zum Transport der sogenannten Ehrenhäftlinge in die „Festung Alpen“ führten. – Um welche Personen handelte es sich bei den Verschleppten? – Aus welchen Konzentrationslagern kamen sie? – Welche Pläne verfolgte die SS mit ihnen? – Und wie glückte es, die Gefangenen in Niederdorf aus den Händen der SS zu befreien?

Der Autor

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Hans-Günter Richardi
(geb. 1939) beschäftigt sich in seinen Büchern mit der Geschichte des Nationalsozialismus. In „Schule der Gewalt“ beschreibt er die Anfänge des Konzentrationslagers Dachau, in „Hitler und seine Hintermänner“ setzt er sich mit der Frühgeschichte der NSDAP auseinander, und in „Bomber über München“ befaßt er sich mit dem Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg am Beispiel der „Hauptstadt der Bewegung“.

Richardi konzipierte und verfaßte auch den ersten „Dachauer Zeitgeschichtsführer“, der eingehend über die Geschichte der Stadt und des Konzentrationslagers im Dritten Reich unterrichtet. Für seine Forschungsarbeit wurde der Autor mehrfach ausgezeichnet. Er ist unter anderem Träger der Verdienstmedaille des „Internationalen Dachau-Komitees“ und der Bürgermedaille der Stadt Dachau sowie Ehren- und Präsidiumsmitglied der „Lagergemeinschaft Dachau“.

Pressestimmen

Liest sich spannend und informativ.

Die Welt, Sven Felix Kellerhoff

Der Band beschränkt sich keineswegs auf lokalgeschichtliche Perspektiven.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Winfried Heineman

Ein wichtiger Beitrag über die Endphase des Zweiten Weltkrieges im Alpenraum.

Zeitschrift der Hochschule für Politik München, Heinz Brill

Ein umfangreiches Werk mit einer Fülle von Originalzeugnissen und bisher ungekanntem Material.

Evangelischer Pressedienst, Heinz Brockert

Die Fülle der Details und Fotos lässt ein plastisches Bild von diesen Tagen zwischen Hoffen und Bangen entstehen.

Fränkischer Sonntag

Impressum

© Hans-Günter Richardi und Autoren, 3. Auflage 2015
Edition Raetia, Bozen
Lektorat: Irmela Sommer
Graphische Gesamtgestaltung und Layout: art&work Vierheller, Seeshaupt

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Richardi, Hans-Günter:
SS-Geiseln in der Alpenfestung / Hans-Günter Richardi –
Bozen: Edition Raetia, 2015
ISBN Print: 978-88-7283-229-5
ISBN E-Book: 978-88-7283-530-2

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elekrtonischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für die Titelmontage wurde ein Ausschnitt der Aufnahme verwendet, auf der die befreiten Geiseln vor dem Hotel „Pragser Wildsee“ zu sehen sind; das Bild befindet sich auf der Rückseite des Buches (Foto: Privatbesitz). Der Ausschnitt zeigt Martin Niemöller mit der Tochter des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Kurt von Schuschnigg und dessen Ehefrau Vera von Schuschnigg.
Im Hintergrund der Montage ist der Pragser Wildsee mit dem Seekofel zu sehen (Foto: Hermann Oberhofer, Prags).

Inhalt

Geleitwort von Otto Philipp Graf Stauffenberg

Vorwort von Caroline M. Heiss

Die ersten Geiseln in der Gewalt der SS

Vom NS-Regime geächtet:
Die Sippenhäftlinge des 20. Juli 1944

Die SS als stärkste Macht im NS-Staat

Anfang einer Odyssee:
Der Leidensweg der Sippenhäftlinge nach Buchenwald

Die Zusammenlegung der Sonderhäftlinge
in Buchenwald und Flossenbürg

Das KL Dachau als Zwischenstation der Geiseln
auf dem Weg in die Alpen

Tirol – das geheime Endziel
der Prominententransporte wird bekannt

Die SS mobilisiert ihre letzten Kräfte:
Die Alpenfestung nimmt Gestalt an

Der Abtransport der Geiseln
aus dem KL Dachau nach Tirol

Eine überraschende Wende:
Die Befreiung der Häftlinge in Niederdorf

Die Rückkehr ins Leben: Tage der Erleichterung
und des Friedens im Hotel „Pragser Wildsee“

Die Ankunft der Amerikaner
und der Abschied von Südtirol

Das Rätsel um den Inhalt der verbrannten Dokumente

Der lange Weg der Befreiten in ihre Heimat

Caroline M. Heiss: Zeichen der Menschlichkeit in Niederdorf

Hans Heiss: Gastgeberin und Grande Dame –
Emma Heiss-Hellenstainer (1888-1959)

Anhang

Verzeichnis der Gefangenen im Geiseltransport nach Südtirol

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Geleitwort
Von Otto Philipp Graf Stauffenberg

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Als Geisel in der Gewalt der SS: Otto Philipp Graf Stauffenberg.

Wohl selten lagen Furcht und Hoffnung bei den Geiseln der SS so nahe beieinander wie in diesen letzten Apriltagen 1945 in Südtirol. Furcht, daß die SS im letzten Moment noch ein gewaltsames Ende herbeiführen könnte, Hoffnung auf ein Ende des Krieges und damit auf die baldige Befreiung. Ebenso wie in diesen Tagen Menschenverachtung und menschliches Mitgefühl zugleich erfahrbar waren. Dort das kalte und schroffe Verhalten der SS-Schergen, hier die selbstlose Hilfsbereitschaft der Niederdorfer Bevölkerung.

All das wurde uns wenigen Überlebenden bei der Feier der 60jährigen Wiederkehr unserer Befreiung wieder neu bewußt und an allen Orten die Erinnerung wieder wachgerufen.

„Rückkehr ins Leben“ hieß die Ausstellung, die an diesem Tag in Niederdorf eröffnet wurde. Und es war eine Rückkehr ins Leben, denn zu keiner Zeit war das Leben der SS-Geiseln so bedroht wie hier in Niederdorf.

Nicht die Alliierten brachten die Befreiung, sondern der Mut eines Mithäftlings, Oberst von Bonin, und das entschlossene Eingreifen des Hauptmanns von Alvensleben. Ihnen verdanken wir unser Leben, vor allem aber der Gnade Gottes, der in diesen Tagen seine Hand über uns gehalten hat.

Wer dabei war, wie unser Mithäftling Pfarrer Kunkel bei der Andacht und Einweihung der Gedenktafel an der Kapelle am Pragser Wildsee einen Zettel aus der Tasche zog, den er 60 Jahre lang aufgehoben hatte und auf dem seine damalige Predigt stand, die er uns jetzt wieder vortrug, wird verstehen, wie uns das bewegt hat.

Es ist das Verdienst von Bürgermeister Dr. Johann Passler und seiner Gemeinde Niederdorf, von Frau Dr. Caroline M. Heiss als Initiatorin, vor allem aber von Hans-Günter Richardi, daß dieses Buch entstanden ist. Daß das damalige Geschehen nicht in Vergessenheit geriet und nur einzelnen und zum Teil widersprüchlichen Berichten überlassen blieb. Hans-Günter Richardi hat in beeindruckender und umfassender Weise die damaligen Tatsachen recherchiert, Einzelschicksale ermittelt und die Zusammenhänge hergestellt und alles Geschehen detailliert erfaßt.

So konnte dieses Buch herausgegeben werden, und es erstaunt nicht, daß die erste Auflage in wenigen Monaten vergriffen war. Es ist ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legt, wenn man es einmal angefangen hat.

Ich wünsche daher dem Autor auch mit der zweiten Auflage den verdienten Erfolg.

Möge dieses Buch auch Mahnung sein, daß sich derartiges nie mehr wiederholen darf.

Schloß Greifenstein, im März 2006

Vorwort
Von Caroline M. Heiss

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Dr. Caroline M. Heiss, die Enkelin der Hotelbesitzerin Emma Heiss-Hellenstainer.

Da der Pragser Wildsee die letzte Station im Geiseldrama der Sippen- und Sonderhäftlinge war, bin ich schon seit Kindesalter mit diesem Teil der Geschichte des Zweiten Weltkrieges konfrontiert worden. Ex-Häftlinge und deren Nachkommen sowie Interessierte kamen zurück zum Ort des Geschehens. Erinnerungen wurden oft auch nach langer Zeit wieder aufgefrischt, die Geschichte konnte nicht losgelassen werden. Nicht zuletzt hatte hierzu wohl auch der Pragser Wildsee in seiner Einzigartigkeit beigetragen, den die Betroffenen nicht vergessen konnten.

Fey von Hassell erinnert sich in diesem Sinne in ihrem Buch „Niemals sich beugen“: „In diesen ersten Tagen der Freiheit schien uns Prags wie das Paradies auf Erden.“ Und so schön, fand sie, wie ein Traum. „Ich konnte den Blick nicht von meinem Fenster lösen, von den schneebedeckten Bergen, die sich steil über dem stillen, geheimnisvoll-traurigen See erhoben.“

So kam ich in der Vergangenheit immer wieder mit Leuten in Kontakt, die sich über dieses historische Ereignis informieren wollten oder die sogar selbst mittel- oder unmittelbar betroffen waren. All dies regte mein Interesse an.

Natürlich sind mein Cousin Dr. Hans Heiss, der ebenfalls einen Beitrag zu diesem Buch leistete, und meine Person unmittelbar mit dem Thema verwurzelt, da sich unsere Großmutter Emma Heiss-Hellenstainer, Besitzerin des Hotels „Pragser Wildsee“, in diesen Tagen persönlich um das Wohl der Häftlinge gekümmert hat. In diesen ereignisreichen Tagen blieben bei vielen Gefangenen die Gastfreundschaft und die Herzlichkeit, aber auch die der Niederdorfer Bevölkerung unvergessen. Nicht zuletzt auch ihr zu Ehren freut es mich, daß dieses Projekt mit Hilfe von vielen interessierten Menschen zustande gekommen ist.

Publizierte Biographien von Ex-Häftlingen, Tatsachenberichte, zum Beispiel der meiner Großmutter Emma Heiss-Hellenstainer oder der des ehemaligen Bürgermeisters von Wien, Dr. Richard Schmitz, darüber hinaus auch einige Augenzeugenberichte ließen mich erkennen, daß trotz dieser Dokumente Gesamtzusammenhänge fehlten, unterschiedliche Darstellungen dokumentiert wurden und sich verschiedene Fragen stellten. So wunderte ich mich immer wieder über die zum Teil oberflächlichen und sogar falschen Aussagen und Darstellungen. Auch waren für mich insbesondere die Hintergründe des Transportes von besonderem Interesse, warum dieser ausgerechnet hier in Prags gelandet ist. Nicht zuletzt wollte ich auch mehr über die eigentlichen Hauptpersonen, die Häftlinge, in Erfahrung bringen. Waren es doch größtenteils namhafte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Militär und Adel aus den unterschiedlichsten Ländern Europas. Alle hatten einen außergewöhnlichen und wohl auch schmerzvollen Weg hinter sich: Wo kamen sie her? Was ist aus ihnen geworden?

Die Idee, dieses historische Ereignis in einem Buch und in einer Ausstellung festzuhalten, wuchs in den vergangenen Jahren. Nicht zuletzt dank der zeitweisen Unterstützung durch Wolfgang Welkerling aus Dresden wurde mir bewußt, daß die Zeit drängte; der sechzigste Jahrestag näherte sich, Recherchen werden im Laufe der Zeit schwieriger werden, Zeitzeugen sterben aus, das Interesse könnte erlöschen, hatte sich hierzu bislang doch niemand fundiert geäußert oder damit beschäftigt.

Durch einen Zufall, den das Leben so spielt, lernte ich im Sommer 2003 Hans-Günter Richardi kennen. Ein gemeinsamer Bekannter bat ihn, mich am Pragser Wildsee doch einmal zu besuchen, wußte dieser doch von meinem Interesse an diesem historischen Ereignis. Da Richardi zu dieser Zeit gerade für den Hessischen Rundfunk eine Dokumentation über die Alpenfestung drehte und sich in Ratschings aufhielt, stattete er mir im Sommer 2003 am Pragser Wildsee einen Besuch ab. Ich erzählte ihm von meinen Plänen, und sofort stand für Richardi fest, daß sich dieses Vorhaben nahtlos in seine fünfzehnjährige Forschung über die sogenannte Alpenfestung einfügte.

Ich bin dankbar dafür, daß sich mit Richardi ein sachkundiger, engagierter und äußerst kompetenter Autor der Aufarbeitung dieses historischen Ereignisses angenommen hat. Ich habe Richardi in dieser Zeit nicht nur privat als einen äußerst wertvollen und in seiner bescheidenen, aber bestimmten Art wohl seltenen Menschen kennengelernt, sondern darüber hinaus auch als einen, der dieses Projekt aus tiefster Überzeugung stets mit Leib und Seele vorangetrieben hat.

Das vorliegende Buch ist somit nicht nur für meine Familie und für unser Hotel von besonderer historischer Bedeutung, sondern vor allem auch von herausragendem internationalem Interesse.

Prags, im April 2005

Die ersten Geiseln in der Gewalt der SS

Schon am Anfang des Zweiten Weltkriegs, den Adolf Hitler am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen entfesselt, steht ein Verbrechen der SS. Auf Befehl des Führers hat die Schutzstaffel ihm mit den Scheinüberfällen auf den Rundfunksender Gleiwitz, auf das Zollhaus Hochlinden im Kreise Ratibor und auf ein Forsthaus bei Pitschen im Kreis Kreuzberg in Oberschlesien einen Vorwand zu liefern, der den Einmarsch in Polen „rechtfertige“.

Um den Übergriff auf das Zollhaus Hochlinden glaubhaft zu machen, tragen die Beteiligten polnische Uniformen, die eigens für sie über Vizeadmiral Wilhelm Canaris, den Leiter des Amts Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (OKW),1 bei der Armee beschafft worden sind.2 Die beiden anderen Überfälle werden in ziviler Kleidung verübt. Generaloberst Franz Halder, der Chef des Generalstabes des Heeres, der später in Hitlers Ungnade fällt und der nach dem 20. Juli 1944 das Schicksal von Sonderhäftlingen in mehreren Konzentrationslagern teilen muß, vermerkt die Übergabe der Uniformen an den Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD) am 17. August 1939 mit wenigen Worten in seinem Tagebuch: „Canaris: Himmler-Heydrich (…), 150 polnische Uniformen mit Zubehör (…). Oberschlesien.“3

Die SS schreckt auch vor mehreren Opfern nicht zurück, die der Überfall auf das Zollhaus Hochlinden in ihrem Plan kosten wird. Als Todeskandidaten dienen ihr Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen, die sie menschenverachtend als „Konserven“ bezeichnet. Die Gefangenen sollen in schwarzen Limousinen in die Nähe von Hochlinden gebracht, dort kurz vor Beginn der Aktion betäubt, dann erschossen und schließlich als Leichen am Tatort zurückgelassen werden.4 Für den Übergriff auf das Forsthaus in der Nähe von Pitschen sind keine Opfer vorgesehen.5

Tod im Rundfunkgebäude

Die Organisation des Überfalls auf den Sender Gleiwitz wird dem SS-Sturmbannführer Alfred Helmut Naujocks übertragen, der für den SD im Auslandsnachrichtendienst tätig ist. SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, weist ihn höchstpersönlich ein. „Ungefähr am 10. August 1939“, berichtet Naujocks nach dem Krieg in einer eidesstattlichen Erklärung vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg,6 „befahl mir Heydrich (…), einen Anschlag auf die Radiostation bei Gleiwitz in der Nähe der polnischen Grenze vorzutäuschen und es so erscheinen zu lassen, als wären Polen die Angreifer gewesen. Heydrich sagte: ’Ein tatsächlicher Beweis für polnische Übergriffe ist für die Auslandspresse und für die deutsche Propaganda nötig.‘ Mir wurde befohlen, mit fünf oder sechs anderen SD-Männern nach Gleiwitz zu fahren, bis ich das Schlüsselwort von Heydrich erhielt, daß der Anschlag zu unternehmen sei. Mein Befehl lautete, mich der Radiostation zu bemächtigen und sie so lange zu halten, wie nötig ist, um einem polnisch-sprechenden Deutschen die Möglichkeit zu geben, eine polnische Ansprache über das Radio zu halten. Dieser polnisch-sprechende Deutsche wurde mir zur Verfügung gestellt.

Heydrich sagte, daß es in der Rede heißen solle, daß die Zeit für eine Auseinandersetzung zwischen Polen und Deutschen gekommen sei und daß die Polen sich zusammentun und jeden Deutschen, der ihnen Widerstand leistet, niederschlagen sollten.“

Das Kommandounternehmen läuft, wie geplant, am Abend des 31. August ab. Als die Eindringlinge den Sender wieder räumen, lassen sie einen Toten zurück. Der Ermordete ist der 41jährige Vertreter für Landmaschinen Franz Honiok, der im bewußtlosen Zustand ins Rundfunkgebäude getragen und dort mit einem Schuß in den Kopf getötet worden ist.7 Seine Mörder haben ihn gezielt ausgewählt. Es war ihnen bekannt, daß er mit Polen sympathisierte, und deshalb wurde er am 30. August in seinem Heimatort Hohenlieben festgenommen und am Vormittag des nächsten Tages ins Gleiwitzer Polizeigefängnis gebracht, wo ihm ein SS-Führer am Abend eine Injektion verabreichte, die ihm das Bewußtsein nahm.8 Im Auto wurde er dann zum Gleiwitzer Sender gefahren, wo er als erster Toter des Zweiten Weltkriegs sein Leben verlor.

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Ein Befehlsempfänger ohne Skrupel: SS-Sturmbannführer Alfred Helmut Naujocks.

Dem Scheinüberfall auf das Zollhaus Hochlinden, das nach dem Kommandounternehmen in Gleiwitz das Ziel ist, fallen insgesamt sechs „Konserven“ zum Opfer. Die Häftlinge aus dem KL Sachsenhausen waren bereits tot, als sie in einem Lastkraftwagen zum Zollhaus gebracht wurden.9

Damit ist der mörderische Plan des Führers ausgeführt, und Hitler kann am 1. September 1939 mit einer Lüge, die Millionen von Menschen ins Grauen des Zweiten Weltkriegs stürzt, an die Öffentlichkeit treten. Vor den Mitgliedern des Deutschen Reichstages erklärt er in Berlin: „Polen hat nun heute nacht zum erstenmal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“10

Der Venlo-Zwischenfall

Zwei Monate danach ist SS-Sturmbannführer Naujocks bereits zu einem neuen kriminellen Unternehmen des SD unterwegs. Sein Ziel ist am 9. November 1939 der niederländische Grenzübergang bei Venlo, wo er mit einem Spezialkommando, bestehend aus zwölf Mann,11 zwei Offiziere des britischen „Secret Intelligence Service“ (SIS), Oberstleutnant Richard H. Stevens und Hauptmann Sigismund Payne Best, überrumpeln und nach Deutschland entführen soll. Wieder folgt er einem ausdrücklichen Befehl Hitlers.

Doch die beiden Briten ahnen nicht, was ihnen droht. Sie vertrauen dem SS-Sturmbannführer Walter Schellenberg, dem Leiter der Gruppe IV E (Spionageabwehr Inland) im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin, der zum erstenmal am 21. Oktober 1939 auf Vermittlung des deutschen Geheimagenten F. 479 mit ihnen und mit dem Leutnant Dirk Klop, einem niederländischen Generalstabsoffizier, in Arnheim zusammengekommen ist.12 Allerdings reist Schellenberg unter falschem Namen. Gegenüber seinen Gesprächspartnern gibt er sich als Hauptmann Schemmel aus der Transportabteilung des OKW aus, der in der Lage sei, Großbritannien geheimes Material aus deutschen höheren Offizierskreisen zuzuspielen, die angeblich den Sturz Hitlers vorbereiteten. Best und Stevens glauben dem Hauptmann und lassen sich auf das Unternehmen ein. An eine Entführung der beiden ist jedoch zunächst nicht gedacht. Schellenberg will allein mit seinem Nachrichtenspiel das Feld des britischen geheimen Nachrichtendienstes in den Niederlanden sondieren.

Dann aber tritt ein unvorhergesehenes Ereignis ein. Am Abend des 8. November 1939 detoniert im „Bürgerbräukeller“ in München eine Bombe, die der Schreiner Geog Elser dort in einer Säule deponiert hat, um Hitler zu töten. Doch das Attentat schlägt fehl, weil der Führer die Versammlung der Alten Kämpfer seiner Partei vorzeitig verlassen hat.13

Hitler ist überzeugt, daß der Anschlag auf ihn vom Secret Intelligence Service eingefädelt worden sei, und verlangt, Best und Stevens unverzüglich über die niederländische Grenze nach Deutschland zu bringen. Noch in der Nacht zum 9. November ruft der Reichsführer-SS Heinrich Himmler seinen Untergebenen Schellenberg in Düsseldorf an und unterrichtet ihn über diesen Befehl.

Jetzt kommt Naujocks wieder ins Spiel. Schon vor dem Anschlag auf Hitler war dieser mit einem Sonderkommando nach Düsseldorf in Marsch gesetzt worden, um Schellenberg unauffällig bei seinen geheimdienstlichen Aktivitäten im Grenzland zu decken. Nun fällt dem SS-Sturmbannführer auch die Aufgabe zu, den neuen Befehl Hitlers auszuführen.14

Am 9. November passiert Schellenberg wieder in der Zeit zwischen 13 und 14 Uhr die Grenze bei Venlo, um sich, wie verabredet, erneut mit Best und Stevens im „Café Backus“, unweit des deutschen Zollhauses, zu treffen. Die beiden kommen in einem Auto, das Bests Chauffeur Jan Lemmens fährt. Leutnant Klop begleitet sie.

Kaum haben die vier in ihrem „Buick“ das Ziel erreicht,15 da schlägt das SS-Kommando, das sich im Zollhaus versteckt gehalten hat, schon zu: „Der Buick“, berichtet Schellenberg,16 „schwenkte stark bremsend von der Landstraße ab, dem Parkplatz hinter dem Café zu. Ich war noch etwa zehn Schritte von dem Wagen entfernt, als ich das Auspuffgeknatter unseres Kommandoautos hörte. Und schon fielen Schüsse. Dann laute, brüllende Stimmen, offensichtlich von der konsterniert hin und her hastenden holländischen Grenzpolizei.

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Einer der ersten Sonderhäftlinge der SS: Captain Sigismund Payne Best.

Im gleichen Moment sprang Leutnant Copper (Klops Deckname, Anm. d. Verf.) aus dem Buick, zog einen schweren Dienstcolt aus der Tasche und legte auf mich an. Ich war unbewaffnet und sprang zur Seite. Im gleichen Augenblick raste der Kommandowagen um die Hausecke. Copper kehrte sich dem gefährlicheren Ziel zu und schoß hintereinander einige Male in die Windschutzscheibe. In einem Bruchteil von Sekunden sah ich das Aufsplittern der Scheibe und glaubte schon, daß einer der Schüsse den Fahrer oder den neben ihm sitzenden Kommandoführer (also Naujocks, Anm. d. Verf.) getroffen habe.

Doch schon sprang der Kommandoführer mit einem Riesensatz aus dem Auto, und nun begann ein regelrechtes Pistolenduell zwischen ihm und Copper. Plötzlich ließ Leutnant Copper die Pistole sinken und stützte seinen Körper auf die Knie. Ich stand noch immer in seiner Nähe. Da fuhr mich die rauhe Stimme des Kommandoführers an: ’Nun hauen Sie doch endlich ab!‘ Ich sauste um die Hausecke in Richtung meines Wagens und sah noch im letzten Augenblick, daß Best und Stevens wie ein Bündel Heu aus ihrem Wagen gehoben wurden.“

Klop erliegt seinen Schußverletzungen in einem Düsseldorfer Krankenhaus. Best, Stevens und Lemmens, die alle drei unverletzt geblieben sind, werden zunächst nach Berlin gebracht und von dort dann ins Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt. Während die britischen Offiziere weiter in Haft bleiben, kann der Fahrer im Oktober 1940 nach Holland zurückkehren.17 Vor Best und Stevens aber liegt noch ein weiter Weg durch die Konzentrationslager der SS, der erst in Niederdorf im Hochpusteral in Südtirol endet, wo sie am 30. April 1945 mit anderen Sonder- und Sippenhäftlingen befreit werden.

Selbst Schellenberg, der die Männer ins Unglück gestürzt hat, ist nicht ohne Mitleid, als er später in seinen Aufzeichnungen über Best und Stevens im KL Sachsenhausen berichtet: „Nachdem Stevens (…) einen Selbstmordversuch gemacht hatte, wurden beide Gefangenen nachts an lange Ketten gefesselt, damit die Posten bei jedem Geräusch aufmerksam würden, um einen zweiten Selbstmordversuch verhindern zu können. Vierzehn Tage später bei einem zufälligen Besuch im Lager sah ich die Ketten. Ich veranlaßte sofort, diese zu entfernen. Captain Best scheint übrigens davon überzeugt zu sein, ich hätte Briefe an seine Frau zurükkgehalten. Er konnte nicht wissen, daß dies auf Befehl Hitlers in der Abteilung des Gestapochefs Müller geschah.

Die Vernehmungsergebnisse mußten jeden Tag Hitler vorgelegt werden, der dann seine Anweisungen für die Fortsetzung der Verhöre sowie für die Behandlung des Falles in der Presse gab. Dabei verfolgte er deutlich das Ziel, das Attentat im Bürgerbräukeller als ein Werk des Secret Service hinzustellen, bei dem Best und Stevens ihre Hände im Spiel gehabt hätten.“18

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Georg Elser beschreibt hier der Polizei seine Vorgehensweise beim Anschlag auf Hitler.

Produktion von Falschgeld

Schellenberg verfolgt ihr Schicksal weiter und versucht sogar, sie auf dem Wege eines Austauschverfahrens von Agenten freizubekommen. Aber er hat damit keinen Erfolg. „Alle meine Versuche“, berichtet er,19 „scheiterten (…) immer wieder daran, daß Himmler die Freilassung dieser Männer ausdrücklich ablehnte und mir im Jahre 1944 sogar verbot, überhaupt noch einmal darüber zu sprechen. Hitler habe sich, so erklärte er, immer noch nicht mit dem ’Versagen‘ der Geheimen Staatspolizei abgefunden (gemeint war der Mißerfolg bei der Ermittlung der von ihm vermuteten Hintermänner Elsers, des Attentäters im Münchener Bürgerbräukeller). Hitler halte Best und Stevens nach wie vor für Mitwisser. Himmler schloß: ’Rühren Sie nicht mehr an diese Geschichte, sonst steigt der Prozeß gegen die beiden Engländer doch noch.‘“

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Der Reichsführer-SS Heinrich Himmler bei der Befragung eines Dachauer Häftlings am Arbeitsplatz.

Nach dem Scheinüberfall auf den Gleiwitzer Sender und nach dem Venlo-Zwischenfall wird SS-Sturmbannführer Naujocks noch in einem dritten kriminellen Unternehmen der SS aktiv. Er unterbreitet Heydrich den Plan, die britische Währung mit falschen Pfundnoten ins Wanken zu bringen. „Diese“, berichtet Adolf Burger, der als Zeitzeuge direkten Einblick in das Geschehen gewonnen hat,20 „sollten entweder über England abgeworfen oder auf dem Umweg über neutrale Staaten eingeschleust werden.“ Der Vorschlag findet Hitlers Billigung, und so machen sich Naujocks und seine Vertrauensleute unverzüglich an die Arbeit, die Idee in die Tat umzusetzen. Nach langen Vorbereitungen, die bewiesen haben, daß es möglich ist, Falschgeld von höchster Qualität zu produzieren, wird das KL Sachsenhausen zum Standort für ein Geldfälscherkommando bestimmt, das ausschließlich aus jüdischen Häftlingen besteht, die das Geld herzustellen haben.

Die Gefangenen werden nach ihren Berufen ausgewählt, wie einem Schreiben des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, Amtsgruppe D - Konzentrationslager, vom 20. Juli 1942 an die Kommandanten der KL Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen zu entnehmen ist:

„Es sind mir umgehend die im dortigen Lager befindlichen jüdischen Häftlinge zu melden, die aus dem graphischen Gewerbe stammen, Papierfachleute oder sonstige geschickte Handarbeiter (z. B. Frisöre) sind“, schreibt SS-Obersturmführer Sommer im Auftrag des Chefs des Amtes D II (Arbeitseinsatz der Häftlinge), SS-Sturmbannführer Maurer.21 „Diese jüdischen Häftlinge können fremder Nationalität sein, müssen jedoch deutsche Sprachkenntnisse besitzen.“

Die „Blüten“ aus dem KL Sachsenhausen, die bald über die Verteilungszentrale des Unternehmens im Schloß Labers in Obermais, einem Ortsteil von Meran in Südtirol, weltweit ins Ausland gelangen, führen die SS natürlich auch, wie erhofft, im Tauschverfahren an dringend benötigte Devisen heran. Dieser Mangel an ausländischer Währung ist es auch, der Himmler auf den Gedanken bringt, noch einen Schritt weiterzugehen und Hitler den Vorschlag zu machen, jüdische Häftlinge als Geiseln zur Beschaffung von Devisen und zum Austausch von Zivilgefangenen zu verwenden. Die Gefangenen sollen in einem eigenen Lager für Geiseln zusammengezogen werden.

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Falschgeld als Waffe: Die SS schreckt auch vor der Produktion von gefälschten Pfundnoten nicht zurück, um die britische Währung ins Wanken zu bringen.

Hitler stimmt am 10. Dezember 1942 auch diesem Plan zu,22 und so kann Himmler noch im selben Monat in seiner Feld-Kommandostelle dem Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), SS-Gruppenführer Heinrich Müller, mitteilen: „Ich ordne an, daß von den jetzt in Frankreich noch vorhandenen Juden, ebenso von den ungarischen und rumänischen Juden alle diejenigen, die einflußreiche Verwandte in Amerika haben, in einem Sonderlager zusammenzufassen sind. Dort sollen sie zwar arbeiten, jedoch unter Bedingungen, daß sie gesund sind und am Leben bleiben. Diese Art von Juden sind für uns wertvolle Geiseln. Ich stelle mir hierunter eine Zahl von rund 10 000 vor.“ Die Anordnung, bezeichnenderweise auf neutralem Briefpapier geschrieben, ist als „Geheime Reichssache“ ausgewiesen worden und in nur vier Ausfertigungen in Umlauf gekommen.23

Das Lager, das die jüdischen Geiseln aufnehmen soll, ist das KL Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Es wird eigens zu diesem Zweck am 10. Mai 1943 eröffnet.24 Bergen-Belsen bleibt aber nicht das einzige Sonderlager der SS für Geiseln. Denn Himmler hat für seine Pläne auch prominente Häftlinge im Visier, die er als Faustpfand aus dem besetzten Ausland in seinen Machtbereich holen und dort an entlegenem Ort in weiteren SS-Sonderlagern konzentrieren will. Die Pläne, die er mit den zumeist hochrangigen Persönlichkeiten hat, gehen bald weit über die Devisenbeschaffung hinaus.

Bei der Internierung von Prominenten arbeitet Hitler dem Reichsführer-SS in die Hände. Mit dem fortschreitenden Krieg schreckt er immer weniger davor zurück, bedeutende Persönlichkeiten aus ihren Heimatländern ins Deutsche Reich verschleppen zu lassen. Himmler folgt den Führerbefehlen, und so füllen sich die Sonderlager der SS zusehends mit Internierten, die oft einen hervorragenden weltweiten Ruf als Politiker, Staatsmänner oder Militärs haben.

Einer der ersten, den dieses Schicksal trifft, ist Maxime Weygand. Der französische General führte als letzter Oberbefehlshaber die alliierten Streitkräfte in Frankreich, nachdem sein Vorgänger, General Maurice-Gustave Gamelin, am 19. Mai 1940 abgesetzt worden war. Weygand, vorher Oberbefehlshaber der „Orient-Armee“ in Syrien, konnte jedoch mit der „Weygand-Linie“, wie die letzte französische Verteidigungsstellung hinter Somme und Aisne genannt wurde, nicht mehr die Niederlage Frankreichs abwenden.

Hitler verfolgt den General auch nach dem deutsch-französischen Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 weiter mit besonderem Argwohn. Als Weygand das Amt des Generalgouverneurs in Algier übernimmt, befürchtet Hitler, daß dieser den Aufbau einer „Widerstandsarmee“ gegen Deutschland und gegen die französische Regierung betreibe und dies der Grund dafür sein könne, weshalb der Generalgouverneur seit Ende Juli 1941 Geheimverhandlungen mit dem US-Gesandten Robert Murphy in Algier führe.25 Deshalb besteht er auf die Ablösung des Generalgouverneurs durch die Vichy-Regierung, was schließlich am 20. November 1941 auch geschieht.26 Hitlers Mißtrauen gegenüber Weygand steigert sich noch, als amerikanische und britische Truppen am 7./8. November 1942 unter dem Oberbefehl von General Dwight D. Eisenhower in Nordafrika landen. Daraufhin läßt Hitler am 11. November 1942 die Wehrmacht in die bisher unbesetzte Südzone Frankreichs einmarschieren.

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Geheime Reichssache in vier Ausfertigungen: Himmler ordnet die Konzentration von „wertvollen Geiseln“ an.

Um einer möglichen Flucht des Generals aus dem nun völlig besetzten Frankreich zuvorzukommen, ordnet Hitler dessen Entführung an. Weygand, der den Decknamen „Lottermann“ erhält, wird mit dem Status eines Kriegsgefangenen nach Radolfzell am Bodensee in Baden gebracht, wo er am 13. November eintrifft. Der Ort ist deshalb gewählt worden, weil sich dort eine SS-Unterführerschule befindet, die es ermöglicht, den prominenten Gefangenen vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Sein Deckname dient zusätzlich der strikten Geheimhaltung des Unternehmens.

Unmittelbar nach der Ankunft in Radolfzell erhebt Weygand energischen Protest gegen seine Verschleppung aus Frankreich. Um 15.15 Uhr bringt der Kommandeur der Schule, SS-Obersturmbannführer Thomas Müller, zu Papier, was ihm der empörte General berichtet.

„Im Beisein von SS-Hauptsturmführer Kostenbader“, schreibt Müller in einer Mitteilung, die an den Reichsführer-SS gerichtet ist,27 „gab mir General Weygand sofort nach seinem Eintreffen in Radolfzell folgende Erklärung ab:

Ich bin beim Verlassen von Vichy durch deutsche Soldaten unter Androhung von Waffengewalt angehalten worden und in einem Wagen mitgenommen. Meine Verhaftung erfolgte wie die eines Verbrechers.

Der Hauptmann, der stets eine tadellose Haltung zeigte, sagte mir, daß er mich im Namen des Führers verhafte. Ich bin daraufhin in seinen Wagen eingestiegen.

Ich verliess das Haus des Marschalls Pétain, in welchem ich 4 Tage zu Gast gewesen war(,) und begab mich mit seinem Einverständnis und begleitet von drei französischen Polizeibeamten zur Präfektur Geret (Departement Creuse).

In meiner Begleitung befanden sich mein Sohn, der Eskadronchef Weygand, der einer meiner Ord(onnanz-)Off(i)z(iere) ist und (der) von seiner Frau begleitet war. Wir wurden alle drei nach Moulin gebracht. Bevor man mich von meinem Sohn trennte, haben uns die deutschen Offiziere gesagt, daß ich nicht Gefangener, sondern Gegenstand einer Vorsichtsmaßnahme sei.

In Dijon, als ich allein war, hat man mir erklärt, ich sei auf Befehl des Führers kriegsgefangen und würde nach Deutschland gebracht werden.

Ich habe die Ehre, den Herrn Platzkommandanten um zwei Dinge zu bitten:

1)Einen feierlichen Protest gegen die Tatsache, daß ein Offizier der aktiven französischen Armee, die sich im Zustand des Waffenstillstandes befindet, obwohl er kein Kommando ausübt und sich in Ausführung eines Befehls seines Chefs, des Marschalls Pétain, befand, unterwegs festgenommen worden ist. Ich frage, welches der Grund meiner Festnahme ist.

2)Ich bitte, daß mein Chef, der Marschall Pétain, unverzüglich von dieser Tatsache in Kenntnis gesetzt wird, damit er nicht, weil ich verschwunden bin, glauben kann, ich sei Deserteur oder Dissident (auf die Seite seiner politischen Gegner übergetreten).“

Als Himmler am Montag, dem 16. November 1942, um 16 Uhr bei Hitler auf dem Obersalzberg zum Vortrag erscheint, kommt auch der Fall Weygand zur Sprache. Mit der Einwilligung des „Führers“ wird das Schloß Itter in der Nähe von Wörgl in Tirol zum „Aufenthaltsort für Lottermann“ bestimmt, wie der Reichsführer-SS in seinem Dienstkalender festhält.28

Von Anfang an ist Himmler daran interessiert, Weygand in seine Hand zu bekommen. Das erklärt sein großes Engagement für „Lottermann“, das in seinem Fernschreiben an den mittlerweile zum SS-Standartenführer beförderten Schellenberg vom 5. Dezember 1942 zum Ausdruck kommt: „Lottermann ist für sein Leiden ein ausgezeichneter Arzt zur Verfügung zu stellen sowie alle Medikamente. Das Auswärtige Amt ist von Ihnen in dringlichster Form aufzufordern, den Brief von Lottermann innerhalb von 1 Stunde zu zensieren, damit er weitergeleitet werden kann. Ich denke gar nicht daran, wegen der Saumseligkeit des Auswärtigen Amtes in einen Ruf zu kommen, einen alten General als Kriegsgefangenen schlecht zu behandeln. Insgesamt ist überhaupt nicht ersichtlich, warum die persönlichen Briefe des General(s) Weigand (sic!) vom Auswärtigen Amt zensiert werden müssen. W. ist Kriegsgefangener. Ich beauftrage das Reichssicherheitshauptamt mit der Zensur der Briefe des Kriegsgefangenen W.“29

Belastende Notizen im Dienstkalender

Aber mit der Entführung Weygands gibt sich Hitler noch nicht zufrieden. Am 10. Dezember 1942 ordnet er gegenüber dem Reichsführer-SS die Fortsetzung der Verhaftungsaktion in Frankreich an. Es ist derselbe Tag, an dem Himmler, wie berichtet, bei Hitler die Errichtung eines Sonderlagers für jüdische Geiseln zur Sprache bringt. Unter der Rubrik „Angelegenheiten des SD u(nd) Polizei“ schreibt er in seinen Dienstkalender: „Verhaftung weiterer führender Franzosen. Gamelin, Blum, Daladier u.s.w.“30

In einer Aktennotiz vermerkt Himmler am 10. Dezember auch, daß für Weygand ein neuer Internierungsort bestimmt worden ist. „Der Führer“, schreibt der Chef der SS,31 „hat sich damit einverstanden erklärt, daß Weygand nicht nach Schloß Itter, sondern an den Millstätter See (in Kärnten, Anm. d. Verf.) kommt.“ Dann wendet sich Himmler den anderen prominenten Franzosen zu, die ebenfalls verhaftet werden sollen, und macht aktenkundig, wohin sie zu bringen sind: „Der Führer ist der Ansicht, daß die weiteren führenden Franzosen Gamelin, Blum, Daladier und die in dem Fernschreiben vom 5.12.1942 genannten nach Deutschland zu verbringen sind. Er will jedoch diese Dinge mit (Pierre) Laval bei seiner nächsten Unterredung besprechen.“

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„Führende Franzosen“ als Hitlers Gefangene: Blum, Daladier, Gamelin und Weygand.

Alle drei genannten Franzosen sind hochrangige Persönlichkeiten, die bisher in der Geschichte ihres Landes eine herausragende Rolle gespielt haben: Léon Blum amtierte in den Jahren 1936/37 und 1938 als Ministerpräsident. Nach dessen Rücktritt wurde Édouard Daladier am 8. April 1938 – zum drittenmal in seiner politischen Laufbahn – Regierungschef. Er blieb dies bis zum 20. März 1940. Maurice-Gustave Gamelin wurde im Jahre 1931 Chef des Generalstabes, stieg 1935 zum Generalinspekteur des Heeres auf und erhielt im September 1939 den Oberbefehl über die alliierten Streitkräfte in Frankreich, die er allerdings mit wenig Glück führte. Das hatte schließlich auch seine Absetzung im Mai 1940 zur Folge.

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Geheimer Internierungsort für prominente Sonderhäftlinge aus Frankreich: Schloß Itter bei Wörgl in Tirol.

Am 14. Februar 1943 befindet sich der frühere Ministerpräsident Daladier aber noch immer in Frankreich, was der Gesandte Baron Gustav Adolf Steengracht von Moyland im Führerhauptquartier ausdrücklich in einem Anruf an die zuständige Dienststelle in Berlin beanstandet.32 Erst am 4. April wird Daladier zusammen mit Blum und Gamelin im Zuge der Aktion „Mottenkiste“ nach Buchenwald gebracht, wo alle drei im SS-Falkenhof interniert werden.33 Am 2. Mai gehen Daladier und Gamelin aber schon wieder auf Transport. Ein Auto befördert sie zum Schloß Itter,34 in dem am 7. Februar 1943 ein „SS-Sonderkommando“ als Nebenlager des Konzentrationslagers Dachau eröffnet worden ist.35 Himmler beabsichtigt, in diesem Schloß, in dem bis zum 6. Februar französische Kriegsgefangene untergebracht waren, ausschließlich hochrangige Politiker und Militärs aus Frankreich und Italien als Geiseln festzusetzen.36

Bereits am 12. Mai 1943 trifft dort auch Paul Reynaud ein,37 nachdem er vorher die Bekanntschaft mit dem Zellenbau des KL Sachsenhausen machen und auf dem Transport nach Tirol auch noch einen Tag in Buchenwald verbringen mußte.38 Reynaud war der letzte französische Ministerpräsident vor der Kapitulation seines Landes. Nach dem Rücktritt von Daladier war er am 21. März 1940 in dieses Amt gewählt worden. Er hatte es bis zu seinem Rücktritt am 16. Juni 1940 inne. Am Tag darauf wurde Marschall Philippe Pétain neuer Regierungschef Frankreichs.

Da Blum Jude ist, wird er nicht ins Schloß Itter überstellt. Er bleibt im SS-Falkenhof in Buchenwald zurück. Nach zweijähriger Leidenszeit, die seine dritte Frau mit ihm teilt – er heiratet seine Großcousine Jeanne Reichenbach geb. Levylier, genannt „Janot“, im September 1943 in Buchenwald, um sie damit vor der Deportation in ein Vernichtungslager zu bewahren –,39 wird er am 30. April 1945 in Niederdorf aus der Gewalt der SS befreit.

Mit dem Ehepaar Blum gewinnt auch der niederländische Verteidigungsminister Dr. Johannes J. C. van Dijk in Südtirol seine Freiheit zurück. Wie Blum, Daladier, Gamelin, Reynaud und Weygand zählte er ebenfalls zu den ersten prominenten Internierten der SS, die aus ihrer Heimat nach Deutschland verschleppt wurden. Am 1. April 1943 wurde er von der deutschen Sicherheitspolizei in Haft genommen und zunächst ins berüchtigte „Oranjehotel“ nach Scheveningen gebracht. Danach kam er ins Lager für Geiseln nach Haaren, bevor er im Jahre 1943 ins KL Dachau überstellt wurde.40

Hitler beabsichtigt die Verschleppung des Papstes

In seinem Haß gegen alles, was seinem Machtanspruch im Wege steht, findet Hitler keine Grenzen mehr. Sogar vor dem Plan, Papst Pius XII. aus dem Vatikan zu entführen, schreckt er im September 1943 nicht zurück, wie der SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff nach dem Krieg bezeugt. Ihn hatte der „Führer” für dieses Unternehmen ausersehen. „Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Abfalls Italiens von dem Militärbündnis mit Deutschland“, berichtet Wolff in einer Niederschrift über die Anweisungen Hitlers zur Besetzung des Vatikan und zur Verschleppung des Heiligen Vaters,41 „wurde ich (…) auf Befehl Hitlers als ’Höchster SS- und Polizeiführer in Italien‘ eingesetzt. Ich hatte bei meinem Überschreiten der Brennergrenze am 9.9.1943 zwar allgemeine Anweisungen über die Organisation meiner Dienststellen in Italien sowie über meine schnellstmögliche persönliche Berichterstattung bei Hitler über die turbulenten inneritalienischen Verhältnisse, jedoch keinen Befehl über ein etwaiges Vorgehen gegen den Vatikan.

Als ich mich 2 (bis) 3 Tage später nach einem Nachtflug von Italien nach Ostpreußen zunächst bei Himmler in seiner Feldkommandostelle zum Vortrag meldete, eröffnete mir dieser, daß Hitler mich dringend erwarte wegen persönlicher Erteilung eines äußerst wichtigen Geheimauftrages, nämlich der Besetzung des Vatikans und der Verbringung des Papstes Pius XII. nach Deutschland oder Liechtenstein. ’Der Führer‘ habe wegen des sogenannten Badoglio-Verrates bereits mehrere Tobsuchtsanfälle in Anbetracht der unabsehbaren militärischen und politischen Folgen gehabt und dabei finstere Drohungen gegenüber dem italienischen Königshaus und dem Vatikan ausgestoßen. Ich möge daher bei meinem Vortrag entsprechend vorsichtig sein und Hitlers kostbare Nerven möglichst schonen. Aus Himmlers internen Anweisungen an mich, ganz besonders dafür zu sorgen, daß bei der Besetzung des Vatikans vor allem aus den Archiven und Kellergewölben die nach der gewaltsamen Christianisierung dorthin angeblich verbrachten altgermanischen Runenschriften und Kulturgüter für ihn als ’Hüter, Bewahrer und Erneuerer des alten Glaubens‘ sichergestellt und nicht etwa zerstört würden, ersah ich mit Schrecken sein mit Hitler gleichlaufendes Interesse.“

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Höchster SS- und Polizeiführer in Italien: SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff.

Nach einer 45 Minuten dauernden Autofahrt zum Führerhauptquartier „Wolfschanze“ steht Wolff dann Hitler gegenüber, der ihm befiehlt, was Himmler bereits angekündigt hat. „Ich wünsche“, sagte er,42 „daß Sie mit Ihren Truppen im Rahmen der deutschen Gegenmaßnahmen gegen diesen unerhörten ’Badoglio-Verrat‘ baldmöglichst den Vatikan und die Vatikanstadt besetzen, die einmaligen Archive und Kunstschätze des Vatikans sicherstellen und den Papst nebst der Kurie ’zu seinem Schutz‘ nach Norden verbringen, damit er nicht in alliierte Hände fallen oder unter deren politischen Druck und Einfluß geraten kann. Je nach der politischen und militärischen Entwicklung werde ich den Papst möglichst in Deutschland oder im neutralen Liechtenstein unterbringen lassen.“

Aber Wolff widersetzt sich geschickt dem Befehl, indem er darauf hinweist, daß seine SS- und Polizei-Verbände zum größten Teil erst im Anrollen seien. Hitler sieht das ein. „Aus politischen Gründen“, erwidert er, will er die Wehrmacht mit einem „so heiklen Auftrag“ nicht belasten. „Ich verlasse mich da lieber auf meine SS-Verbände.“

Wolff arbeitet darauf hin, Zeit zu gewinnen. Denn Hitler hält auch noch nach Wochen an seiner Absicht fest. „In der Folge gelang es mir“, berichtet Wolff, „bei meinen ca. 6-8 Vorträgen bei Hitler für die Durchführung seiner Vatikan-Pläne weitere Fristverlängerungen zu erreichen.“

Überzeugende Argumente

Schließlich kann er Hitler doch nicht länger hinhalten, und so entschließt er sich in einer Besprechung, die Anfang Dezember 1943 zwischen ihm und Hitler in der „Wolfschanze“ stattfindet, die Flucht nach vorne anzutreten. „Mein Führer“, erklärt er, „ich melde Ihnen den Abschluß meiner Vorbereitungen für die Ausführung Ihres Geheim-Auftrages gegen den Vatikan. Darf ich vor Erteilung Ihres endgültigen Befehls noch kurz einige Bemerkungen zur gegenwärtigen Lage in Italien vortragen?“

Hitler gestattet ihm das, und Wolff macht ihn unumwunden darauf aufmerksam, daß die Masse der Italiener seit dem Ausbleiben weiterer deutscher Blitzsiege „ausgesprochen kriegsmüde“ sei, „besonders seitdem der Krieg von Afrika in das italienische Mutterland hineingetragen worden ist“. Die einzige in Italien unbestritten erhalten gebliebene Autorität sei gegenwärtig diejenige der festgefügten katholischen Kirche, die auf dem Umweg über die strenggläubigen italienischen Frauen einen nicht zu unterschätzenden Einfluß selbst auf deren nicht kirchlich eingestellten Männer, Brüder und Söhne ausübe. Deshalb rät Wolff dem „Führer“, sich die Kirche in Italien nicht zum Feind zu machen. Ihm, Wolff, sei es nur dank der „unauffälligen Unterstützung durch den Klerus“ gelungen, seine Aufgabe zu erfüllen und die Masse der Bevölkerung ruhig zu halten. Die geringen SS- und Polizeiverbände, über die er verfüge, reichten nur knapp dazu aus, „den für die schwer ringende Südfront notwendigen Nachschub auf der langen Anrollstrecke durch zwei Drittel von Italien vor den ständig zunehmenden Sabotageakten durch die zahlreichen Partisanen zu sichern“.

Diesen Argumenten muß sich Hitler beugen, und Wolff kehrt mit der Gewißheit nach Italien zurück, daß es ihm geglückt ist, den Diktator von seinem Plan abgebracht zu haben.

Anderthalb Jahre später wird der Höchste SS- und Polizeiführer in Italien bei der Befreiung der Sippen- und der Sonderhäftlinge in Niederdorf wiederum eine entscheidende Rolle spielen.

Vom NS-Regime geächtet: Die Sippenhäftlinge des 20. Juli 1944

Der 14. April 1943 endet im KL Sachsenhausen mit einer Tragödie. Im „Sonderlager A“, das Teil des Konzentrationslagers ist, nimmt sich der Sohn Stalins, Oberleutnant Jakob Dschugaschwili, der am 16. Juli 1941 als Chef einer Haubitzenbatterie bei Witebsk in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten ist,1 das Leben. Wie ist es zu dieser Verzweiflungstat gekommen?