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Titelseite

 

 

 

 

 

Für Little Bit und Max
Zwei großartige Hunde und gute Jungs

I. TEIL

Hunde, die bellen, beißen schon mal

1

PETER PAN. Das steht dick und fett auf der Seite des Busses, der aus dem Norden runterfährt. Ich fände LOSER passender. Jeder einzelne Passagier ist eine wandelnde Ansammlung unguter Adjektive: arm, alt, krank, aufgedunsen und so weiter. Einen halte ich für einen Mörder, einen anderen für einen angehenden Selbstmörder. Ein Glück, dass die beiden nicht nebeneinander sitzen. Von den Leuten hier wohnt keiner auf der Sonnenseite des Lebens, keiner kann sich ein Auto oder ein Zugticket leisten, und deshalb passe ich hier super rein. Ich bin sechzehn Jahre alt und werde mitten in der Nacht durch den halben Bundesstaat gekarrt, ohne dass mich irgendwer nach meiner Meinung gefragt hätte.

Ich starre auf die Frontscheinwerfer, Rücklichter und Straßenlaternen, die am Fenster vorbeiziehen, selbst hinter einem doppelten Stoppschild verbarrikadiert: Ohrstöpsel mit voll aufgedrehtem Oldschool-Punk in den Ohren und ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Wenn nötig, kann ich mich lesend stellen. Aber es ist nicht nötig. Der Alte neben mir hat noch keinen Ton gesagt. Ich habe so ein Gefühl, dass er sich eingepinkelt hat.

Endlich biegen wir in den Busbahnhof von Brantley ein. Hier muss ich raus. Als ich mich an meinem Sitznachbarn vorbeischiebe, gebe ich mir große Mühe, dem Typen nicht zu nahe zu kommen. »’tschuldigung …« Das dürfte das Erste sein, was ich zu ihm gesagt habe. Danach stehe ich im Mittelgang rum und warte, während sich die Leute im Schneckentempo zur Tür schieben. Die meisten fahren später weiter, in eine richtige Stadt. Die wollen sich bloß was zu essen besorgen oder eine rauchen oder auf ein vernünftiges Klo gehen oder einfach nur Luft schnappen. Aber das Warten macht mir nichts aus. Ich bin fast zu Hause. Ich zähle seit Monaten die Tage, und jetzt? Jetzt bin ich vor allem nervös.

Draußen auf dem Parkplatz komme ich allmählich zu mir, vielleicht weil die Luft wärmer ist als im Bus. Die Gepäckfächer an der Seite stehen offen, und nach ein bisschen Wühlen finde ich meine Tasche. Um sicherzugehen, dass es auch die richtige ist, zerre ich sie auf mich zu, bis ich das dick hingemalte JD sehe. Ich heiße Jimmer Dobbs, aber wenn man mich lässt, nenne ich mich nur JD.

Obwohl die Tasche ein ziemliches Monstrum ist, kriege ich sie relativ problemlos aus dem Bus. Dann blicke ich mich auf dem Parkplatz um. Irgendwo hier müsste der Honda meiner Mom stehen. Tut er aber nicht. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Vielleicht hat sie angerufen oder eine SMS geschickt? Nein. Also gehe ich ins Bahnhofsgebäude.

Nachdem ich mir einen der orangefarbenen Plastikstühle gesichert und noch mal mein Handy gecheckt habe, schaue ich mich im Wartesaal um. Eigentlich ist der Busbahnhof viel zu groß für eine Stadt, die so ausgeblutet ist wie Brantley. Fast alle Leute hier sind entweder aus dem Bus, mit dem ich gekommen bin, oder sie arbeiten halt im Busbahnhof.

Ich habe ein bisschen Hunger, doch vor den Fressautomaten stehen die Menschen schon Schlange. Dabei spähen sie immer wieder über die Schulter, damit der Bus auch ja nicht ohne sie abfährt und sie in Brantley aussetzt. Noch ein Blick aufs Handy. Ich habe echt keine Willkommensparade oder Überraschungsparty erwartet, aber dass Mom gar nicht auftaucht, finde ich schon seltsam. Schließlich habe ich sie beim ersten Schild zur Abfahrt nach Brantley angerufen und von Stanton hierher braucht man keine zwanzig Minuten.

Die Leute steigen mit ihren Snickers und Twix und Barbecue-Chips in den Bus, und der Bus macht, was man als Bus so macht. Er fährt. Vielleicht sollte ich noch mal anrufen, nur zur Sicherheit. Außerdem würde ich gerne zu den Fressautomaten gehen, aber ich bin mir nicht so sicher, ob ich meine Tasche hier rumstehen lassen sollte. Und die Tasche mitzunehmen, wäre auch wieder peinlich.

Ich nehme sie trotzdem mit. Hey, ich bin in einem Busbahnhof gestrandet, das ist an sich schon peinlich wie sonst was. Und wenn mir der Kram in der Tasche nicht wichtig wäre, hätte ich ihn nicht bis an den äußersten Rand des Bundesstaats und zurück geschleppt. Ich schlinge mir den Gurt über die Schulter und laufe zu den Automaten. Doch auf halbem Weg wuschhhhhht eine der Türen, und ich blicke mich um. Es ist Mom. Ich ändere den Kurs und gehe ihr entgegen.

»Hey, Zuckerschnäuzchen«, sagt sie. Ja, so nennt sie mich manchmal. Leider.

»Hi, Mom«, antworte ich und lächle, während ich mich frage, wann ich eigentlich das letzte Mal gelächelt habe.

Wir umarmen uns nicht besonders oft, aber jetzt schon. Wahrscheinlich sieht man uns an, wie wenig Übung wir haben.

»Willkommen zu Hause«, meint sie.

»Ja. Juhuuuu.« Ich lasse den Zeigefinger durch das abgerissene Bahnhofsgebäude kreisen.

Auf der Fahrt nach Hause wird nicht viel geredet. Ich war den ganzen Sommer weg und deshalb gibt es irgendwie zu viel zu erzählen. Okay, Mom hat mich ein paarmal besucht, aber trotzdem. Keiner von uns weiß, wo wir anfangen sollen.

»Zu Hause wartet eine Überraschung auf dich«, sagt Mom irgendwann.

Sie erklärt mir nicht, warum sie so spät dran war, und ich frage nicht nach. Aber das mit der Überraschung klingt gut. Vielleicht ist es ein Kuchen. Das wäre nicht schlecht, als Ersatz für meinen Ausflug zu den Fressautomaten.

Ein paar Minuten später zischt das Schild an uns vorbei: WILLKOMMEN IN STANTON! Mehr steht da nicht. Nicht dass die Stadt irgendwelche erwähnenswerten Besonderheiten hätte.

Dahinter ist alles wie früher: der Pizzaladen, die kleine Brücke, das sogenannte Stadtzentrum, der Stadtpark. Dann fällt die Straße leicht ab und man sieht schon unser Haus auf der linken Seite stehen wie einen weißen Karton.

Als Mom in die Einfahrt lenkt, mache ich mich im exakt richtigen Moment auf das Schlagloch gefasst. So was vergisst man nicht. Der Wagen kommt zum Stillstand, Mom stellt den Motor ab und wirft den Schlüssel in die Handtasche. Aber der Motor surrt noch. Das ist neu. Mom lauscht dem Surren. Ich sehe ihr an, dass sie sich bereits ausrechnet, was das nun wieder kosten wird.

Ich remple mit meiner Tasche durch die Tür an der Seite und biege rechts ins Wohnzimmer ein, um dort meinen Kram abzuladen. Im Wohnzimmer kenne ich mich aus, deswegen schalte ich das Licht nicht ein – und natürlich knalle ich mit dem Schienbein gegen irgendein Hindernis und kippe um wie ein Baum.

Noch im Fallen sage ich mir, dass es der Couchtisch sein muss. Und am Boden folgere ich daraus, dass Mom den Couchtisch in meiner Abwesenheit verschoben haben muss. Ich reibe mir das Schienbein und fluche – bis ein Lärm losbricht, der meine Flüche gnadenlos übertönt. Der Lärm ergibt noch weniger Sinn als der verschobene Couchtisch. Weil ich immer noch nichts sehe, denke ich zuerst, dass ich vielleicht bloß halluziniere oder dass es der Fernseher ist. Aber der Fernseher ist aus und der Lärm hört nicht mehr auf. Es klingt nach einem Hund. Nach einem Hund, der wie blöd bellt. Der mich anbellt. Und das ergibt noch weniger Sinn, denn wir haben keinen Hund. Hatten wir noch nie.

Meine Augen huschen durch das dunkle Wohnzimmer. Wo ist das Vieh? Es hört sich ziemlich nah an, und ich habe keine Lust, mir das Bein rammeln zu lassen. Auf Bisswunden und Tollwut kann ich auch verzichten. Zur Sicherheit halte ich mir die Hand vors Gesicht und spähe sozusagen durch die Finger. Doch als sich meine Augen gerade an die Dunkelheit gewöhnen, geht das Licht an.

Mom steht in der Tür. »Keine Angst«, sagt sie. »Er ist neu hier.«

Es dauert ein bisschen, bis ich kapiere, dass sie mit dem Hund redet.

2

Ich wache früh auf, weil ich den ganzen Sommer früh aufstehen musste – und ab morgen in einer Woche, wenn die Schule losgeht, muss ich wieder früh aufstehen. Aber jetzt drehe ich mich noch mal auf die andere Seite und stecke das Bein zum Abkühlen aus der Decke. Durch das Fliegengitter vor dem Fenster weht ein angenehmer Wind. Langsam nicke ich wieder ein. Doch kurz bevor ich ganz weg bin, höre ich es.

Ein schnelles Trappeln auf der Treppe. Erst denke ich, es wäre Mom – bis die Hundekrallen draußen über die Dielen klackern. Ich drehe mich zur Tür, während das Klackern näher kommt. Der Hund läuft den kurzen Flur hinunter.

Meine Tür steht einen Spaltbreit offen, und diesen Spalt behalte ich im Auge. Direkt davor verstummt das Klackern. Der Spalt ist sehr schmal, da passt der Hund nicht durch. Aber falls mein gestriger erster Eindruck nicht getäuscht hat, könnte er die Tür problemlos aufdrücken. Das Vieh ist ein Monstertruck auf vier Beinen. Nach ein paar Sekunden schiebt sich seine Schnauze durch den Spalt – aber nur so weit, wie es geht, ohne die Tür oder den Türrahmen zu berühren. Der Hund schnüffelt zweimal und zieht sich wieder zurück. Alles wird still.

Mann, sage ich mir, was denkt der Köter jetzt nur von mir? An einem normalen Tag stinkt es in meinem Zimmer so übel, dass jedes Lebewesen mit intaktem Geruchssinn sofort die Flucht ergreifen würde. Aber heute Morgen duftet es hier nach frischer Luft und sauberer Wäsche.

Ich lausche. Eigentlich müssten seine Füße (oder Pfoten?) gleich wieder den Flur hinuntertapsen. Aber ich höre nichts. War das Ganze etwa nur ein Traum? Doch dann: Zack! Der Hund rammt seinen kompletten Kopf durch die Tür, die dabei einen halben Meter weit aufschwingt. Jetzt kann er mich bequem anschauen. Er checkt mich aus.

Ach du Scheiße.

Sein Kopf sieht aus wie ein schwarz-brauner Betonblock. Oben ist er komplett schwarz, bis auf zwei kleine braune Punkte über den Augen (also je einer über jedem Auge), die ihn aussehen lassen, als hätte er böse Hintergedanken. Die Schnauze ist vollständig braun, nur über die Oberseite verläuft ein schwarzer Streifen, bis runter zu den schwarzen Nasenlöchern und den schwarzen Lefzen. Und seine Kiefer wirken verdammt kräftig. Warum hat Mom nicht gleich ein Krokodil adoptiert?

Gestern Abend war der Köter unglaublich schüchtern drauf – er hat sich die ganze Zeit hinter Mom versteckt. Im Dunkeln hatte er noch auf dicke Hose gemacht: Kläff! Kläff! Kläff! Doch kaum war das Licht an, ist er in den Flur gerannt wie ein panischer Zweijähriger, hat sich hinter Moms Beinen verkrochen und mich nur noch mit geducktem Kopf beäugt. Ein Riesenmaul und nichts dahinter.

Ich habe nicht vergessen, was Mom mir gestern erklärt hat: Das ist ein ganz normaler Hund, der bloß ein bisschen Angst vor Menschen hat. Die Tierschutzorganisation hatte ihn seinem alten Besitzer weggenommen und ins Heim gesteckt. Aber als ich ihn so vom Bett aus ansehe, werde ich überhaupt nicht schlau aus seinem Blick. Wir glotzen uns gegenseitig an, und während er mich mustert, zerknittert und verschiebt sich die komplette Haut um seinen Augen. Der hat sogar im Gesicht haufenweise Muskeln.

Er fährt sich mit seiner dicken rosa Zunge über die Oberlippe. Als es die schlabbrige schwarze Haut für einen Sekundenbruchteil anhebt, blitzt ein extrem langer Zahn auf. Das dürfte ein Fangzahn sein. Im nächsten Moment zieht der Köter den Kopf wieder zurück und weg ist er. Ich höre, wie er den Flur hinuntertapst. An der Treppe hält er kurz inne, bevor er die Stufen hinunterrauscht wie eine Lawine.

Langsam atme ich aus. Was für ein schräger Auftritt – und was für ein scheißlanger Zahn! Das Ausschlafen kann ich vergessen. Ich schüttle die Decke ab und richte mich auf, öffne die oberste Schublade meiner Kommode und starre auf die ordentlich aufgereihten Socken und Unterhosen. Wie in einem Katalog. Wie in einem Katalog, den ich sofort in den Müll werfen würde.

Ich stelle mir ein Outfit zusammen und ziehe mich an. Die Jeans sind ziemlich eng, wie immer nach dem Waschen, und mein schwarzes Shirt wirkt verdächtig neu. Hat Mom mein altes etwa heimlich ausgetauscht? Klamottentechnisch ist es also ein echter Neuanfang für mich, und der Hund erlebt momentan wohl auch einen Neuanfang. Aber ansonsten geht heute mein normales, standardmäßiges Leben weiter, und das läuft schon länger. Nur nicht besonders gut.

3

Manchmal gehe ich mit meinem Frühstück ins Wohnzimmer, aber ich glaube, heute sollte ich bei Mom in der Küche bleiben. Ist ja schon länger her, dass wir zusammen gegessen haben. Und sie scheint genauso zu denken, weil sie uns was kocht, was sie morgens nur sehr selten macht. Okay, kochen ist übertrieben. Sie macht uns Toast. Sie toastet uns was, aber das kommt auch nur selten vor.

Sie wartet, bis die Toasts hochploppen, pflückt sie sofort raus und zieht dabei ein ulkiges Heiß-heiß-heiß-Gesicht. Als sie mir meine Toasts auf einem kleinen Teller serviert, stelle ich fest, dass sie genau richtig sind: mittelstark gebräunt und mit ordentlich Butter drauf, und vor allem kein Vollkorn! Während sie noch zwei Scheiben in den klapprigen Toaster steckt, gehe ich mir meine Frühstücksflocken holen.

Auf dem Weg frage ich mich, ob da wohl noch dieselbe Frühstücksflockenschachtel rumsteht wie bei meiner Abreise. Aber nein, es ist eine neue. Ich zerre an der Plastiktüte im Inneren, und als sie endlich aufreißt, verteilt sich eine große Ladung CrunchBerries auf der Küchentheke. Und in der Zwischenzeit werden meine Toasts kalt, während Moms noch nicht fertig sind. Unser Timing ist daneben. Wir denken beide zu viel nach.

Irgendwann sitzen wir dann doch an unserem kleinen Küchentisch, jeder mit seinem Frühstück. Mom mit ihrem Kaffee, ich mit meiner Coke. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Also«, sage ich.

»Bon appétit!«, erwidert sie, vielleicht um sich über ihr luxuriöses Toast-Willkommensmenü lustig zu machen.

»Schmeckt doch gut«, meine ich. Aber mein Timing ist schon wieder daneben, denn ich habe noch gar nicht in meinen Toast gebissen.

Danach sagen wir eine Zeit lang nichts mehr. Ich frage mich, ob Mom hört, wie ich meine Frühstücksflocken kaue, oder ob das Mahlen nur in meinem Kopf so laut ist.

»Ich hab dir neue CrunchBerries gekauft«, meint sie.

»Ja, hab ich gesehen. Aber ich glaube, das Zeug wird nie schlecht. Das hält Jahrtausende.«

Schon wieder das Falsche gesagt. Jetzt wird sie denken, ich hätte mich nicht drüber gefreut. Und ich weiß ja, wie teuer der Kram ist.

»Aber lassen wir’s lieber nicht drauf ankommen!«, füge ich schnell hinzu.

Mom betrachtet mich kurz über ihren Kaffeebecher hinweg, dann wird wieder gegessen. Aber sie knabbert nur lustlos an ihrem Toast. Ich glaube, da ist nicht mal Butter drauf. Muss sie auf ihren Cholesterinspiegel achten oder so was in der Art? Hat sie sich durchchecken lassen und ist dabei was Schlechtes rausgekommen? Sie hat neuerdings ein paar graue Haare. In der Sonne, die durchs Fenster fällt, sieht man sie ganz deutlich.

Als ich noch überlege, was ich sagen könnte, höre ich wieder das Geräusch von heute früh. Der Hund kommt aus dem Esszimmer rein, und als er auf das Küchenlinoleum tritt, klickt und klackert es ein paar Tapser lang. Wahrscheinlich fährt er manchmal die Krallen aus, um nicht auszurutschen. Ich schätze, er muss sich erst noch an die unterschiedlichen Bodenbeläge gewöhnen.

Für mich hat er bloß einen kurzen Blick übrig, dann ist er an mir vorbei. Hier in der strahlend hellen Küche macht er mir überhaupt keine Angst mehr, und er ist alles andere als aggressiv. Hätte er einen echten Schwanz statt einem Ministummel, würde er ihn ständig zwischen die Beine klemmen. Aber bei Moms Platz reckt er den Kopf und richtet sich zu seiner vollen Größe auf.

Als Mom aufsteht, folgt er ihr zum Fenster – zu einem Konservenglas voller Hundekuchen in Rot und Grün und Braun. Beim Reinkommen habe ich gar nicht gepeilt, dass es Hundekuchen sind. Ich dachte, es wäre bloß Deko, aber bei genauerer Betrachtung handelt es sich um lauter kleine Zeichentrickknochen.

Mom öffnet den Deckel. Der Hund macht einen Hopser auf die Hinterbeine, wie ein Tänzchen. Sein Unterkiefer klappt auf, und man sieht richtig, wie sich der Sabber an seinen Lippen sammelt. Mom sucht ein grünes Leckerchen aus und blickt mich an. »Willst du’s ihm zuwerfen?«

Ich beobachte, wie ein fetter Speichelklumpen von seinem Maul auf den Boden tropft. »Nee, lass mal.«

»Sicher?«, fragt sie.

Wieder führt der Hund seinen kleinen Hopser auf. Aus seiner Kehle dringt ein merkwürdiges Geräusch, während er gierig auf den Hundekuchen starrt. Mann, jetzt gib ihm das Ding halt! Mom ist offenbar ganz meiner Meinung: Sie lässt den Hundekuchen fallen. Der Hund springt hoch – das ist kein Hopser mehr, sondern ein echter Sprung – und schnappt ihn aus der Luft.

Diese Flugeinlage erinnert mich an eine Sendung, die ich bei der Haiwoche im Fernsehen gesehen habe. Sie hieß Fliegende Haie und handelte von riesigen weißen Haien, die sich aus dem Wasser katapultieren, um Seehunde zu erlegen. Bei der Landung ist der Hund schon am Kauen. Und wie er kaut! Das genaue Gegenteil von Moms Toastgeknabbere. Mampf, mampf, mampf, weg ist der Hundekuchen. Danach wischt er noch mit der Zunge den Boden ab, um die Brocken und Brösel aufzuschlabbern, die ihm bei seinem Stunt ausgebüchst sind.

»Der haut aber rein«, sage ich.

Mom nickt. »Früher hat er nie Leckerlis bekommen.«

Ich brauche ein paar Sekunden, um zu kapieren, was das bedeutet, aber dann tut es mir in der Seele weh. Was muss der Köter für ein Scheißleben gehabt haben. Ein Hund, der nie Hundekuchen gekriegt hat. Und wahrscheinlich auch nie gestreichelt worden ist und so. Doch da sieht mich das Vieh wieder mit geducktem Schädel an, irgendwie abfällig, nach dem Motto: Kümmer dich um deinen eigenen Kram. Als wüsste er genau, was ich denke, und als hätte er keinen Bock auf Mitleid.

Dann schaut er wieder zu meiner Mom, um zu überprüfen, ob vielleicht noch ein Hundekuchen drin ist. Doch sie hat den Deckel schon wieder zugeklappt, und so trottet er einfach aus dem Zimmer. Als er auf den Esszimmerteppich wechselt, verstummen seine Tapser. Nach ein paar Sekunden hören wir, wie drüben irgendwas umfällt. Mom setzt sich wieder.

Jetzt haben wir wenigstens ein Gesprächsthema.

»Wie heißt er eigentlich?«, frage ich. »Der braune Hai?«

»Nein.« Sie lacht. »Er ist halt ein Leckermäulchen. Genau wie du!«

Wo sie recht hat, hat sie recht. Ich blicke auf meine zuckrigen Frühstücksflocken. Durch die CrunchBerries hat die Milch ein mädchenhaftes Violettpink angenommen.

Da erinnert Mom sich an meine Frage. »Er heißt Jon-Jon.«

»Jon-Jon? Wie der Sohn des Pfeifers in dem Kinderlied?«

»Nein, das war Tom Tom.«

Stimmt, das war Tom Tom. »Hmm. Jon-Jon. Passt irgendwie nicht zu ihm.«

»Wenn du magst, können wir ihn auch anders nennen«, meint sie. »Glaube nicht, dass er besonders an seinem alten Namen hängt.«

Wahrscheinlich genauso wenig wie an seinem alten Zuhause, denke ich mir.

»Wie du willst«, sage ich. »Ist doch dein Hund.«

»Ich dachte, er könnte uns beiden gehören«, antwortet Mom. »Mit gemeinsamem Sorgerecht sozusagen. Er hätte sicher nichts dagegen. Dem ist alles recht, solange er im warmen Haus wohnen darf. Sein alter Besitzer hat ihn immer draußen an einen Baum gekettet.«

Ich sehe sie an. »Im Ernst?« Damit meine ich zur Hälfte die Sache mit dem Baum und zur Hälfte das gemeinsame Sorgerecht. Aber natürlich ist es ihr Ernst. Beides.

Ich war noch nie Hunde-Mitbesitzer. Als ich noch sehr klein war, habe ich mal einen Frosch mit nach Hause gebracht, aber ich hatte keine Ahnung, wie man sich um so ein Tier kümmert, und nach drei Tagen war er hin.

»Was ist es denn für ein Hund?«, frage ich. »Ich meine, was ist er für ein …«

»Ein Rottweiler.«

Die Frühstücksflocken habe ich vernichtet, aber ich schlürfe noch die pinkviolette Milch. »Und was soll das heißen?«, sage ich, als ich die Schale sinken lasse. »Ist das Deutsch für seltsamer Gesichtsbarackenköter?«

»Er ist nicht seltsam.« Mom tut beleidigt. »Und er ist ein sehr hübscher Junge.«

»Jon-Jon, der Rottweiler«, sage ich – und plötzlich habe ich eine Erleuchtung. Ich stelle die leere Schale ab und rufe: »Johnny Rotten!«

Johnny Rotten war der Leadsänger der Sex Pistols, der ersten wirklich großen Punkband. Wären die Sex Pistols nicht gewesen, würde sich heute kein Mensch mehr Sicherheitsnadeln durch die Nase und die Ohren bohren und was weiß ich wodurch sonst noch. Wenn man die Leute zu solchen Aktionen anstacheln kann, hat man’s als Band geschafft. Aber ich höre bloß ihre Musik und ziehe mir ab und zu schwarze Stiefel an. Und den Namen finde ich einfach perfekt für den Köter. Ich bin richtig stolz, dass ich draufgekommen bin.

Mom ist weniger begeistert. »Weiß nicht. Das klingt so fies.«

»Eben deswegen«, erwidere ich. »Ich meine, hast du seine Beißer gesehen? Die sind echt mal fies.«

Sie verzieht das Gesicht. »Aber Johnny Rotten konnte doch nicht mal singen. Also nicht besonders gut.«

Es gibt kaum etwas Nervigeres als eine Mom, die mit ihrem Sohn über Musik reden will. Außerdem finde ich die Sex Pistols nun mal verdammt gut. I am an Antichrist/I am an anarchist! Zwei Wörter, die quasi genau gleich sind, aber etwas völlig anderes bedeuten. Auf so was stehe ich. Bei den Tests in der Schule kommt immer raus, dass ich mehr so der sprachliche Typ bin.

»Dann passt’s ja noch besser«, sage ich. »Oder denkst du, der Hund kann singen?«

Mom versucht, ihren strengen Blick aufrechtzuerhalten, aber ihre Mundwinkel zucken nach oben. Sie lächelt.

Doch als ich aufstehe und zur Tür gehe, ist es aus mit der guten Stimmung.

4

»Ich treffe mich mit Rudy«, meine ich, und es klingt schon nach einer Entschuldigung.

»Mmmhhh«, macht Mom, ohne mich richtig anzusehen.

Ich habe das Gefühl, dass noch irgendwer irgendwas sagen sollte, aber wir schweigen beide. Klar, Mom will nicht, dass ich mit meinen alten Freunden rumhänge. Dass das alles von vorne losgeht. Aber was soll ich denn sonst machen? Soll ich mich im Keller einsperren? Also stoße ich die Tür auf und lasse mich von der warmen, flimmernden Luft ohrfeigen. Auf der Wiese vor dem Haus hole ich mein Handy raus und überfliege noch mal Rudys letzte SMS. Er ist schon in der Stadt, wahrscheinlich hinter dem CVS-Drogerie-Supermarkt. Mit einer Hand tippe ich: Bin unterwegs \m/

Ich muss zu Fuß in die Stadt. Es hat viele Nachteile, den ganzen Sommer weg zu sein, und einer der größten ist, dass ich keine Fahrpraxis sammeln konnte. Sonst hätte sich mein Probeführerschein längst aus seinem Probe-Kokon befreit und in einen vollwertigen Führerschein verwandelt, aber so muss ich laufen, und das ist erniedrigend. Ich muss auf dem Fahrradweg laufen. Ein grüner Minivan zischt mit gut achtzig Sachen an mir vorbei und wirbelt dabei eine große Staub- und Dreckwolke auf, und irgendein Bröckchen, vielleicht ein Kieselstein, verfehlt meinen Kopf nur knapp. Als ich den nächsten Wagen kommen höre, gehe ich ein paar Schritte über die Wiese der Franciscos, bis er vorbei ist.

Der CVS ist das Zentrum des »Stadtzentrums«, wahrscheinlich weil es die letzte landesweite Kette ist, seit der Subway dichtgemacht hat. Als ich am CVS ankomme, blicke ich mich um. Einerseits schaue ich mich nach Rudy um, andererseits will ich wissen, ob sich hier irgendwas getan hat. Ein paar Sekunden später weiß ich, dass Rudy nicht in Sichtweite ist und dass sich selbstverständlich nichts getan hat. In der Stadt ist alles beim Alten.

Alt und angegraut, das ist die Spezialität der Stadt. Passenderweise fliegt genau in diesem Moment die Tür des CVS auf und Mr Jesperson tritt heraus, mit dem Stanton Standard unter dem einen Arm und einer CVS-Tüte unter dem anderen. Die Tüte ist drauf und dran zu platzen. Da sind wohl die ganzen Pillen drin, die man braucht, um den Körper im hohen Alter am Laufen zu halten.

»Jimmer!«, ruft Mr Jesperson, als wir auf dem Fußweg aufeinander zugehen.

»Hi, Mr J.«, sage ich. Ich nenne ihn schon immer Mr J., weil ich Jesperson nicht aussprechen konnte, als ich ihn kennengelernt habe. Ist lange her.

»Wo hast du denn gesteckt?«, fragt er. »Man sieht dich ja gar nicht mehr!«

Meine Augen verengen sich. Am Ende will er mich verarschen? Vielleicht weiß er ganz genau, wo ich war, und jetzt will er mich zwingen, es auszusprechen … aber dann komme ich wieder runter. Mr J. will mir nichts Böses. Mr J. hat mir noch nie Stress gemacht, noch nie in seinem verdammt langen Leben. Aber er sieht mich immer noch abwartend an.

»Tja, Mr J. …«, sage ich. »Es gibt so einiges, was Sie nicht über mich wissen …«

Das genügt ihm offenbar als Antwort – oder er kapiert, dass er nichts weiter aus mir herauskriegen wird. Er blickt auf seine überquellende Tüte und fängt an, darin herumzuwühlen. Und ich denke mir: Bitte nicht. Bitte mach, dass mir diese eine Peinlichkeit erspart bleibt. Aber natürlich durchsucht Mr J. seine Tüte nach Süßigkeiten. Er will mir was Süßes schenken, als wäre ich noch fünf und zu blöd, seinen Namen auszusprechen. Und er wird es durchziehen, hier auf dem Fußweg in der innersten Innenstadt. Ich schaue mich um. Ist hier gerade jemand unterwegs? Aber klar doch. Langsam ist richtig was los. Aus der Kirche am Ende der Straße strömen haufenweise rausgeputzte Familien.

Und Mr J. müht sich schon ewig ab. Schließlich findet er das Bonbontütchen, aber nun muss er es auch noch öffnen. Ich beobachte seine Hände. Seine Adern und Leberflecken kräuseln und verzerren sich, als er das Tütchen in Position bringt und versucht, es aufzureißen. Die Leute gehen rechts und links an uns vorbei und nicken Jesperson zu. Sie kennen ihn schon lange, sie mögen ihn. Bestimmt fragen sie sich, warum er sich mit einem wie mir abgibt.

»Schon gut«, sage ich. »Danke.«

»Nein, nein!«, ruft er. »Die magst du doch so gern.«

Es sind Karamellbonbons. Typische Alte-Leute-Süßigkeiten, so ähnlich wie Geleefrüchte. Aber früher war ich wirklich ein großer Fan davon. Mit fünf Jahren.

»Kann ich Ihnen …«, sage ich, doch dann weiß ich nicht weiter. Aus irgendeinem Grund will ich auf keinen Fall ›helfen‹ sagen. »Soll ich …«

Endlich platzt die Tüte auf – und der Kerl überreicht mir ein einziges Bonbon! So ein Riesenaufwand, und dann drückt er mir ein Bonbon in die Hand. Okay, ich bin nicht mehr ganz so süchtig danach wie früher, aber nach dem Getue hätte er ruhig zwei Bonbons springen lassen können.

»Danke«, sage ich. Im Grunde bedanke ich mich mehr für seine Mühe als für das Bonbon, denn der Ringkampf mit der Tüte hat Jesperson sichtlich mitgenommen. Ich stelle mir vor, wie er später allein zu Hause sitzt, die dritten Zähne vor sich auf dem Tisch, und die Dinger kettenlutscht, bis die Tüte Geschichte ist.

Mein ursprünglicher Plan war, durch den CVS zu gehen, aber jetzt will ich lieber keine weiteren Begegnungen mit den netten Bürgern dieser Stadt riskieren. Ich drehe mich um und laufe um den Laden herum, und schon sehe ich ihn – Rudy Binsen, meinen besten Freund seit Anbeginn der Zeit. Er sitzt ganz außen auf der alten, ramponierten Bank hinter dem CVS, möglichst weit weg vom Mülleimer, in einem Shirt mit der Aufschrift: HIRN AUS, SCHWANZ RAUS.

»Was hast du da im Mund?«, fragt er, als er mich entdeckt.

»Ein Karamellbonbon«, antworte ich.

Das waren die ersten Worte, die wir in diesem Sommer gewechselt haben. Großartig. Ich hocke mich zu ihm. Ich kuschle mich nicht an ihn ran, aber ich halte auch nicht allzu viel Abstand, denn über dem Mülleimer neben der Bank summen vier oder fünf Bienen.

»Mann, Mann, Mann«, meint Rudy. »Ist lange her.«

»Du sagst es.« Ich mustere ihn. »Cooles Shirt. Ist ein guter Ratschlag.«

Rudy ist ein großer Fan von solchen Shirts. Das hier kannte ich noch nicht.

»Ja«, antwortet er. »Hab mich schick gemacht, wo doch Sonntag ist. Und wie war’s im Norden

Bei »im Norden« tupft er sogar Anführungszeichen in die Luft. Ich tue so, als hätte ich es nicht mitbekommen.

»Ganz okay. Langweilig.«

»Ja, klar. Du warst ja bei deiner Tante. Stimmt doch, oder?«

Diesmal spart er sich die getupften Anführungszeichen, aber man hört sie auch so.

»Stimmt«, sage ich möglichst gelassen.

»Scheiße, Mann, wen willst du hier verarschen? Kein Mensch verbringt den Sommer auf dem Land, wenn man eh am Arsch der Welt wohnt.«

Ich blicke in den Himmel. Was soll das? Ich bin gerade mal dreißig Sekunden hier und es geht schon wieder los. »Ja, aber das war der Arsch vom Arsch der Welt. Ohne Internet und so. Meine Tante hat nicht mal ein Handy.«

»Sicher. Wäre ja auch komisch, wenn’s im Knast Internet und Handys gäbe.« Rudy lacht über seinen gelungenen Scherz.

»Mom dachte, das tut mir gut. Wenn ich mal wegkomme von den ganzen schlechten Einflüssen hier.«

Rudy setzt ein bedröppeltes Gesicht auf. Als wäre er zutiefst verletzt. »Warst du schon bei Janie?«, fragt er nach einer Weile.

Na toll. Das einzige Thema, das mir noch unangenehmer ist als das letzte.

»Mm-mmh.« Ich schüttle den Kopf, und mehr will ich eigentlich nicht dazu sagen. Aber dann frage ich doch nach. »Hat sie … du weißt schon. Hat sie einen …«

»Ob sie einen anderen hat?«

»Ach, keine Ahnung. Einen anderen … ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch so ausdrücken würde. Bloß … also, macht sie mit irgendwem rum oder nicht?«

Rudys Blick huscht zu mir, und weil ich ihn sehr gut kenne, ist mir klar, dass er darüber nachdenkt, einen Witz zu reißen, irgendwas über meine gewählte »Ausdrucksweise«. Doch dann überlegt er es sich anders, denn er kennt mich genauso gut. »Glaube nicht.« Er zuckt mit den Schultern. »Im Netz hab ich auch nichts gesehen.«

»Okay«, sage ich, »okay.« Dann frage ich mich, ob ich daraus schließen muss, dass er regelmäßig ihr Profil checkt. Doch wahrscheinlich meint er bloß seine Pinnwand. Wir haben viele »gemeinsame Freunde«, was aber nicht bedeutet, dass wir die Leute auch wirklich leiden können. »Dachte nur, du hättest vielleicht was gehört.«

»Nee«, sagt Rudy. »Aber warum rufst du sie nicht einfach an?«

Gute Frage. Bisher hatte ich keine Lust dazu, denn unser letztes Gespräch ist nicht so toll gelaufen. Okay, das ist untertrieben – wie wenn man mit dem Auto in einen Zug rast und hinterher sagt, man wäre bloß falsch abgebogen. »Hast recht«, sage ich. »Ach so, überhaupt …« Ich wedle mit der Hand in der Gegend herum, um zu verdeutlichen, dass ich nun vom großen Ganzen rede. »Ich habe meinen Status noch nicht verändert und so. Wäre besser, wenn du den anderen noch nicht sagst, dass ich wieder hier bin. Ich muss erst mal richtig ankommen. Du weißt schon.«

»Ups«, antwortet Rudy.

»Wie? Du hast es ihnen schon gesagt? Wem genau?«

»Mars.« Er hält sein Handy hoch. »Vor fünf Minuten.«

»Verstehe.« Mars = Dominic DiMartino. »Das heißt, Aaron weiß auch Bescheid.«

»Da würde ich mal von ausgehen. Aber was soll’s? Die Jungs sind doch gut drauf. Meistens jedenfalls.«

»Ja, ja, klar.«

»Die Jungs und ich, wir haben öfter was zusammen gemacht. Du warst ja nicht da.«

»Ja, klar. Warum auch nicht.«

»Mann, was zickst du jetzt so rum? Wir wollten morgen alle rüber nach Brantley. Du bist doch dabei?«

»Weiß nicht. So eine große Stadt … das ist mir noch ein bisschen zu viel, glaube ich.«

»Komm schon.«

»Ja, ja … bin dabei. Wann geht’s los?«

»Keine Ahnung. Ich schreib dir ’ne SMS.«

»Okay. Cool.«

Danach bringt Rudy mich noch auf den neuesten Stand, was die Geschehnisse in Stanton angeht (Kurzfassung: Es ist nichts passiert), und später lungern wir ein bisschen in der Innenstadt herum. In dem bisschen Innenstadt, das es zum Rumlungern gibt.

Schließlich meine ich, ich müsse langsam los.

»Alles klar«, sagt Rudy.

»War schön, dich zu sehen, Mann.«

»Ja. Auf jeden Fall.«

Es war wirklich schön. Endlich mal wieder mit einem Freund reden. Und er hätte mich doch auch viel heftiger in die Mangel nehmen können, oder? Ich bin noch mal glimpflich davongekommen und jetzt ist alles mehr oder weniger wie früher. Trotzdem bin ich unruhig und angespannt, als ich mich auf den Heimweg mache. Morgen geht’s nach Brantley, mit den anderen … als wäre ich nie weg gewesen.

Und genau das ist das Problem.

5

Ich gehe hinten rum nach Hause, über den Fahrradweg durch den Wald. Da ist es schön ruhig und man fühlt sich nicht ganz so unterklassenmäßig wie als Fußgänger am Straßenrand. Etwa auf halber Strecke steht ein Baum, der sich wie ein abgeknickter Ellenbogen über den Weg lehnt. Als kleines Kind musste ich springen, um den Knick zu erwischen, heute muss ich nur noch die Hand ausstrecken. Aber ich klatsche den Baum immer noch im Vorbeigehen ab, wie in alten Zeiten.

Wenn ich den Fahrradweg nehme, komme ich an unserem Garten raus. Schon von Weitem fällt mir auf, dass der Zaun geflickt wurde. Hinter dem neuen Draht sieht man noch die alten Löcher. Ich frage mich, wieso Mom dafür Geld ausgegeben hat. Und warum hat sie die Wiese so lange nicht mehr gemäht? Dann kapiere ich’s: Weil man nicht sehen soll, was sich im Gras verbirgt. Was der Hund dort hinmacht.

In der Mitte steht das Gras zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter hoch, nach außen hin wird es weniger, und an den Zaunpfählen gibt es ein paar kahle Stellen. Normalerweise springe ich einfach über den Zaun und gehe zur Hintertür rein, denn der Zaun reicht mir kaum bis zur Hüfte. Aber jetzt marschiere ich weiter. Die Wiese ist vermint und die Ecken hat der Köter durchgepflügt und mit seiner Pisse getränkt.

Etwas geistesabwesend laufe ich um das Haus herum zur Vordertür. Ein paar Sprüche von Rudy spuken mir durch den Kopf, und dann der Ausflug nach Brantley morgen – doch als ich die Klinke herunterdrücke, kickt es mich zurück in die Realität. Ich erinnere mich an das ohrenbetäubende Gebell gestern Abend. Aber egal, ich gehe trotzdem rein. Mann, ich wohne schon länger hier! Und der Köter … begrüßt mich bloß mit einem kurzen, doppelten Kläffen. Kaum hat er gesehen, wer es ist, dreht er sich wieder um und schleicht davon.

»Alles klar, Hund?«, frage ich aus Quatsch.

Da schleicht er nur etwas schneller. Nicht dass ich etwas anderes erwartet hätte. Als er um die Ecke biegt, fällt mir auf, dass ich ganz vergessen habe, Rudy von ihm zu erzählen. Keine Ahnung warum, vielleicht weil ich insgesamt so nervös war. Dabei ist der Hund noch die größte Neuigkeit, von der ich erzählen könnte, und sein neuer Name hätte Rudy sicher gefallen. Rudy war der größte Fan meines letzten Haustiers, des toten Frosches Mr Hops, der an einem tragischen Donnerstag ins Gras gebissen hat. Möge er in Frieden verrotten.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer höre ich Mom die Treppe runterlaufen. Wahrscheinlich hat sie bloß die Wäsche geholt – oder sie hat in meinen Sachen gewühlt, man kann es nicht wissen. Doch später, als ich mich auf der Couch entspanne und ein Football-Vorbereitungsspiel schaue, macht sie es wieder gut. Sie bringt mir Mini-Pizzabrötchen.

»Gibt’s was zu feiern?«, frage ich, als sie mir den Teller reicht.

Dafür kriege ich einen Klaps auf den Hinterkopf. »Vorsicht, ist heiß.«

»Okay«, sage ich und lehne mich demonstrativ nach links und rechts, damit sie kapiert, dass sie mir im Bild steht. Die Texans spielen gegen die Rams, da ist es mir ziemlich egal, wer gewinnt. Aber es ist kein schlechtes Match und das Wohnzimmer ist nun mal mein Reich. Zumindest meiner Meinung nach. Doch Mom bewegt sich nicht vom Fleck und ich denke: Shit. Sie hat in meinem Kram gewühlt und irgendwas gefunden. Bis mir wieder einfällt, dass es in meinem Kram überhaupt nichts zu finden gibt. Und dann begreife ich endlich, worauf sie wartet.

»Danke, Mom.«

»Gern geschehen, Zuckerschnäuzchen«, sagt sie, dreht sich um und geht.

Würde mich irgendein anderer Mensch »Zuckerschnäuzchen« nennen, ich würde ihn umbringen. Das ist mein voller Ernst. Ich würde ihn mit einem stumpfen Suppenlöffel töten. Aber jetzt nehme ich mir erst mal ein Pizzabrötchen.

»Heiß!«, ruft Mom von der Tür aus, ohne sich nach mir umgedreht zu haben.

Wie macht sie das nur? Instinktiv lasse ich das Brötchen wieder auf den Teller fallen. Es hat sich nicht sonderlich warm angefühlt, aber ich weiß, dass die Füllung die eigentliche Gefahr darstellt. Sicherheitshalber gucke ich noch ein paar Minuten Football, bevor ich mir das erste Brötchen in den Mund stopfe. Jetzt ist die Temperatur perfekt: immer noch warm, aber nicht sengend heiß. Als ich kauend aufschaue, blicke ich ins Gesicht des Köters.

Wieder sehe ich nur seinen Schädel. Er steht im Flur und steckt den Kopf ins Zimmer. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er endlich mal seinen Mann (oder Hund) stehen und reinkommen soll, aber das Viech ist besser gebaut als die meisten Typen in der Verteidigung der Rams, und deshalb lasse ich es lieber sein. Nicht dass er es persönlich nimmt und mich mit einem Footballtackle von der Couch rammt.

Das heißt, im Moment guckt er mich nicht mal an.

Ich folge seinem Blick – der Köter starrt auf den Teller. Hätte ich mir eigentlich denken können, nach der Zirkusnummer mit dem Hundekuchen heute Morgen. »Du kannst das Maul echt nicht voll kriegen, was?«, frage ich.

Diesmal schleicht er sich nicht. Er legt bloß den Kopf schief, das linke Ohr zum Boden, und beobachtet mich. Durch die kleinen braunen Flecken über seinen Augen sieht er aus, als würde er extrem philosophischen Gedanken nachhängen, statt nach Mikrowellen-Fastfood zu gieren.

»Willst du ein Pizzabrötchen? Kriegst du so was überhaupt?«

Natürlich bekomme ich keine Antwort. Aber als ich »Pizzabrötchen« sage, neigt er den Kopf zur anderen Seite, das rechte Ohr zum Boden, als hätte er das Wort verstanden. Das könnte doch sein, oder? Ich habe mal gehört, dass Hunde keine Schokolade vertragen, aber was die große weite Welt des Junkfood angeht, bin ich mir nicht so sicher.

Der Köter wagt sich zwei weitere Schritte vor, bis er mit den Schultern im Zimmer steht. Ich hebe die Hand. Daraufhin weicht er wieder einen Schritt zurück – und erstarrt, als er begreift, dass ich nach dem Teller fasse. Der Fernseher plärrt los, schätzungsweise weil die Texans einen Touchdown geschafft haben, aber ich breche den Blickkontakt nicht ab. Nicht dass der Hund gleich wieder verschwindet.