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Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Risk Hazekamp.

ISBN 978-3-89656-512-9

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Mehringdamm 33, 10961 Berlin

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Mai

Von unten weht der Atem der Stadt herauf – eine frühsommerliche Mischung aus Abgasen, eiscremeverschmierten Mündern und Hundescheiße. Marte reibt den Rücken am Schornstein, um ihre Nerven zu beruhigen. Eine Wespe, die erstaunlicherweise den weiten Flug aufs Dach geschafft hat, tanzt in einer liegen gebliebenen Coladose. Ihre Flügel schlagen von innen gegen die dünne Metallhaut, wütend, verzweifelt. Marte seufzt, löst sich von dem Kamin und geht, das Tier zu retten. Sie glaubt an Reinkarnation und führt eine imaginäre Liste mit Punkten fürs Karma. Einen für jede gute Tat, einen für jede schlechte. Stechmücken erschlagen gibt Minus, Wespen retten Plus.

Sie redet dem Tier zu, lässt die Lippen vibrieren, um Wespenflügel zu imitieren und es herauszulocken. Es nützt nichts. Die Dose bebt zunehmend panisch. Marte schüttelt, die Öffnung halb schräg, und gebiert endlich ein nasses, verklebtes Insekt. Es putzt sich, fast wie eine Katze, Bein über Fühler, Bein über Flügel, Bein vor das Gesicht. Süß. Als Marte ein Kind war, waren es immer die Bienen, vor denen sie gewarnt wurde, Bienen auf Erdbeerkuchen und in der Limo. In Berlin gibt es bloß Wespen, zumindest ist Martes letzte Biene lange her.

Das Warten macht sie ganz schwummerig. Sie legt sich auf den Bauch, robbt zum Dachrand und schaut hinunter. Es ist verboten, auf dem Dach zu sein. Keine Balustrade. Den Dachbodenschlüssel hat sie sich erschlichen, indem sie der Hausverwaltung etwas von schabenden Geräuschen über ihrer Wohnung erzählte und der Befürchtung, dass sich Nager eingenistet haben könnten. Frau Obschenski von der Wohnungsbaugesellschaft war überaus entgegenkommend, selbstverständlich, denn wenn die Mieterin selbst die Lage checkte, ersparte ihr das die Reise vom Büro in Pankow zum Speicher in Neukölln. Es war ein alter Schlüssel mit einem großen Bart – der Mensch beim Schlüsseldienst um die Ecke hatte nur gegrunzt, war in seinem Hinterzimmer verschwunden und schließlich mit einem leicht rostigen Rohling zurückgekehrt. Die Wohnungsbaudame lächelte beglückt über die Nachricht, dass keinerlei Hinweise auf Mäuse­befall aufzuspüren waren, und Marte hatte eine Dachterrasse.

In der Regenrinne sammelt sich nichts. Es ist zu hoch für Blätter; in diesem Haus ist ein Stockwerk noch ein Stockwerk, die Räume lichte drei Komma sechs Meter hoch, zumindest von Etage eins bis drei, der vierte Stock ist wie immer niedriger. Und da lebt Marte, in deren Zweiraumwohnung gerade eine Party steigt, mitten am Tag. Bionade statt Alkohol und eine unglaublich aufgeheizte Stimmung, auch wenn es schon die dritte Party in drei Tagen ist. Ob Tekgül alles im Griff hat? War Clemens schon im Bad?

Die Wespe, verklebt, aber trocken, torkelt über den Rand der Rinne gen Boden. Marte wird schwindelig, sie schiebt sich auf dem Bauch zurück, das leicht abschüssige Dach hoch, und steht erst auf, als sie, selbst wenn sie umfallen würde, nur auf der körnigen Pappe aufschlagen würde. Es wäre ein schlechter Zeitpunkt für Verletzungen, besonders für Stürze aus dieser Höhe.

Sie tigert zur Picknickdecke zurück und sieht auf den Wecker, den sie mit hochgebracht hat. Die Sonne blendet die Digitalzeit weg. Im Schatten der Hand: sechzehn Uhr dreizehn. Gestern haben sie es abends gemacht, mit Blick auf den Alex unter rosa ­zerrissenen Wolkenstreifen. Großstadtromantik. Postkartenkitsch.

Wieso dauert das heute so endlos?

Die Jeans fällt nach drei von fünf Knöpfen widerstandslos von ihren Hüften, die pink lackierten Zehen treten elegant aus den Hosenbeinen und Marte kickt die Hose ronaldinhomäßig nach hinten gegen den Schornstein. Ihr Glücksslip fliegt hinterher. Mit nichts als einem grauen T-Shirt, das in verwaschenem Flockprint für Jugend trainiert für Olympia wirbt, setzt sie sich auf die Decke, spreizt die Beine und lässt sich Sonne trinken.

Nach der folternden Länge gefühlter fünf Folgen von Wir warten aufs Christkind hört sie endlich Schritte unter sich. Ihr Puls rast matt. Eine Hand taucht aus der verbotenen Luke, in den Fingern triumphierend das Marmeladenglas. Tekgüls Kopf folgt, die Spritze in bester Latin-Lover-Manier zwischen den Zähnen.

Endlich.

Keine fünfzehn Minuten später, Orgasmus inbegriffen, liegt Marte auf dem Rücken, die Beine gegen den Schornstein gestützt, und isst einen Apfel. Mit Stumpf und Stiel, der Wespen wegen und auch, weil sie Dinge einfach nicht gerne wegwirft. Tekgül liegt neben ihr und raucht eine Zigarette. Die drei Tage Daueranspannung haben beide erschöpft.

Das hat B-Movie-Qualitäten, denkt Marte und auch: Bittebittebitte mach, dass es geklappt hat.

Die Natur mag eine Affinität zu heterosexueller Kopulation haben, Marte nicht. Bisexuell hin oder her: Auf dieses schleimige weiße Zeug hat sie noch nie gestanden. Trotzdem hat sie es jetzt in sich und wartet darauf, dass ihre laut Test erwartungsfrohe Eizelle mit einem von Clemens’, laut Test agilen, Spermien verschmilzt.

„Sonderbare Welt, in der wir leben, was?“ Tekgül, neben ihr, liest Gedanken. „Ich hoffe, es ist den Aufwand wert. Immerhin kann sich dieses kleine Ding ganz sicher sein, dass es gewollt ist. Keine Ausreden für Straftaten oder Drogen später.“

„Pffft“, macht Marte, „die finden doch immer einen Grund. Statt Riester-Rente sollte es besser ‚Wir bezahlen Ihre Psychotherapie‘-Versicherungen geben. So was würd ich sofort abschließen.“

Sie kichern. Sie schweigen.

„Glaubst du, es hat geklappt?“, fragt Marte.

Ihre Freundin dreht sich auf die Seite und sieht die Vielleicht-Schwangere nachdenklich an.

„Was glaubst du denn?“

„Keine Ahnung. Aber mir reicht’s erst mal mit Befruchtungspartys. Ich will meine Wohnung wieder für mich haben.“

„Das nenn ich undankbar!“ Tekgül streicht Marte eine erschlaffte falbfarbene Strähne aus den Augen. „Deine Freunde bekochen dich, machen Musik für dich, massieren dir Füße und Rücken, der arme Clemens muss an drei aufeinanderfolgenden Tagen in ein Marmeladenglas ejakulieren …“

„Himbeer-Rhabarber“, sagt Marte, wie um die Leistung, die Clemens erbracht hat, zu erhöhen. Sie hasst Himbeer-Rhabarber und findet das Glas angesichts ihres Widerwillens gegenüber dem, was es stattdessen beinhaltet hat, überaus angemessen. Am ersten Partyabend hat sie mit Todesverachtung ein dick mit Himbeer-Rhabarber bestrichenes Brot nach dem anderen verschlungen und das Glas schließlich mit dem Löffel und adäquatem Ekel bis auf das letzte Rhabarber-Fädchen geleert. Sie wirft nicht gerne etwas weg, wie gesagt, nicht einmal faserige, süße Pampe mit ekligen Körnchen drin. Aber an ein Gefäß hatte sie, und war die Party noch so gut geplant gewesen, nicht gedacht. Der erste Abend, der erste Versuch ist folgerichtig von Übelkeit überschattet gewesen.

„Ja, Himbeer-Rhabarber“, lächelt Tekgül. „Und meinen Fähigkeiten als Befruchterin hätte ich auch gern mehr Wertschätzung entgegengebracht gesehen.“

„Oh, du warst himmlisch, Darling“, haucht Marte und drückt ihrer Freundin einen Kuss auf den Rücken der zartbraunen Hand. „Dafür, dass du gar nicht Mutter werden willst, machst du das wirklich ganz hervorragend. Dieser Orgasmus! Ich bin immer wieder beeindruckt, wie du mich in ein paar Minuten aus dem Handgelenk kommen lässt.“

Tekgül errötet, was erstaunlich ist, denn wenn jemand aus ihrem Freundeskreis über alles, wirklich alles spricht, ist das Tekgül. Schon lange vor Charlotte Roche hat sie über Hämorrhoiden und jedwede Pilzerkrankungen geplauscht, als spräche sie übers Wetter. Aber Komplimente hält sie per se nicht aus. Nicht einmal sexuelle.

Zur Ablenkung springt sie auf und reckt kämpferisch die Faust. „Alles fürs Baby!“, proklamiert sie und steht dabei genau in der Sonne, die sich langsam dem Horizont zuneigt, der in diesem Fall aus dem mit dreckigen Ziegeln bedeckten Dach des Nachbarhauses besteht. Vor dieser Kulisse die imposante Tekgül mit wehendem schwarzem Haar in Superheldinnen-Positur. Ein schönes Bild, das Marte leider nicht sehen kann, weil die halbe Stunde Beine-Hoch noch nicht ganz herum ist. So bleibt die wundervolle Pose ungesehen, unfotografiert, ungezeichnet und löst sich auf, als die Silhouette mit einer halben Drehung in den Schneidersitz sinkt. Tekgül verfällt dem Sonnenuntergang und Marte atmet aus, schweigend, konzentriert sich auf das Gefühl von Wärme in ihrem Bauch. Sie visualisiert sich mit dem Kind im Arm, genau hier, genau so. Ein Jahr später.

Es kostet den Wecker unüberhörbare Mühe, sein Vierton-Signal hervorzuquetschen. Das Piepen schafft es knapp bis zu Martes Ohr. Die stellt das sonnenmüde Gerät ab, rollt sich von der Decke, pflückt die Hose vom Kamin und steigt hinein. Ihr Blick wandert: Marmeladenglas, Tekgüls unbewegter Rücken, Marmeladenglas. Wohin damit? Eine ungehörte, ungestellte Frage. Sie trifft die Entscheidung alleine, wie alle wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben. Auf den Zehenspitzen balanciert sie das Glas auf den Rand des Schornsteins und errichtet ein Denkmal.

Sie sind spät dran, mal wieder. Sandy sagt, es liegt an Manu, dass sie immer zu spät kommen, aber, ganz ehrlich, es liegt an Sandy, die immer, immerimmerimmer, genau dann, wenn sie los müssten, noch schnell etwas ganz Wichtiges tun muss. Zähne putzen. Eine E-Mail beantworten. Eine andere Hose anziehen. Essen. Deshalb verabreden sich ihre Freundinnen mit Sandy immer eine halbe Stunde vor dem Termin, mit Manu tun sie das nicht. Und genau das ist Manus schlagendes Argument in jeder Diskussion zum Thema.

Ein zugegebenermaßen löchriges Argument, denn die Einzige, die sich alleine mit einer von beiden verabredet, ist Nicoletta. Die hat nach eigener Aussage eine „Wir-Allergie“ und Sandy und Manu sind definitiv ein „Wir“. Eine Einheit, die auch nur noch als solche über die Lippen kommt. Es gibt Manu ein Gefühl von Wärme, dass ihr gesamter Freundeskreis ausschließlich von „Sandyunmanu“ spricht – was sich verbal nicht trennen lässt, kann schließlich auch im wahren Leben niemand guten Gewissens auseinanderbringen. Natürlich gibt es Situationen, in denen Manu Sandy den Hals umdrehen könnte – jedes Mal, bevor sie das Haus verlassen, zum Beispiel. Aber lange kann sie ihrer Liebsten dann doch nicht böse sein. Sie hat sich nach vier drei viertel Jahren langsam an Sandys Spleens gewöhnt und im Ausgleich die bestmöglichen Unpünktlichkeitsvermeidungsstrategien entwickelt, sprich: Sie hat auch diesmal frühzeitig Kino­karten für alle bestellt und ihre beiden schon gestern Abend abgeholt. Kino 4, Reihe Q, Platz 17 und 18, gleich neben den anderen.

Mit der beruhigenden Gewissheit, dass es auf ein paar Minuten mehr oder weniger nun nicht mehr ankommt, steigen sie die Treppen hoch und hinterlassen Reste des U-Bahn-Drecks auf dem roten Teppich. Sandy wittert den warmen Geruch von Popcorn, und dieser bezaubernd krausen Nase kann Manu keinen Wunsch abschlagen. Popcorn, mittelgroß, reicht locker für zwei bei den US-amerikanischen Maßstäben, nach denen die Multiplex-Lichtspielhäuser ihre Portionen bemessen.

Sandyunmanu schlüpfen in den dunklen Saal, Popcorn in der Hand, Bier in der Tasche, und beküssen einen Werbespot lang ihre Freundinnen, die sowieso aufstehen müssen, um sie durchzulassen. Geredet wird später.

„Blöd, dass wir die Verlosung verpasst haben“, flüstert Sandy Manu von Q 17 aus zu und die verkneift sich einen Kommentar. Sie schaffen es fast nie zu der Stuhlnummern-Lotterie bei der Lesbenfilmnacht. Um die DVDs und Gutscheine ist es dabei nicht besonders schade; das Unterhaltsame an der Sache ist die peinliche Berührtheit der Frauen, die nach vorne zitiert werden, um sich gemeinsam mit ihrem Gewinn ihre 30 seconds of fame abzuholen und sich von 386 mehr oder weniger abschätzenden Frauen und vierzehn Männern taxieren zu lassen. Manu mag die Verlosung. Aber noch lieber mag sie Sandy, selbst wenn sie ihretwegen das Highlight des Abends verpasst. Es geht los. Sie nimmt Sandys Hand.

„Wollen wir gleich Karten fürs nächste Mal mitnehmen?“ Der monatliche Kinoausflug ist eine Konstante in Sandyunmanus Sozialleben. Leider denkt der Computer nur bis zum Ende des laufenden Programms, die Kassiererin zuckt bedauernd mit den knochigen Schultern und hackt ungeduldig mit der Spitze des Kunstnagels auf der Tastatur herum. Wo sie nur solche Nägel machen?, grübelt Manu und fragt sich, wann der Generationenwechsel stattgefunden hat, der Natur- von Plastiknägeln trennt. Eine ähnliche Verwirrung muss ihre Mutter empfunden haben, als sie sich plötzlich zwischen rasierten Achseln und Beinen wiederfand. Manche Dinge passieren tief im Verborgenen und sind plötzlich überall. Plastiknägel zum Beispiel. Mit Glitzer und grellbunt in Neukölln, diskret französisch manikürt in Mitte und überall so unpraktisch wie – zumindest in Manus Augen – hässlich. Sie betrachtet ihre eigenen Fingernägel, die immer noch kurz, aber immerhin nicht mehr kurzgekaut sind. Sich die Beißerei abzutrainieren ist eine größere Tortur gewesen, als sich das Rauchen abzugewöhnen, an dessen Stelle sie sich das Nägelkauen angewöhnt hatte. Dabei hat Manu gern geraucht, aber Sandys Argumente waren unschlagbar wie immer: Extra der Luft wegen aus Kreuzberg weg und raus nach Erkner zu ziehen und dann zu rauchen ist sensationell blödsinnig. Von ihrer Vorbildfunktion einmal abgesehen. Manu ist schließlich Grundschullehrerin.

Sie setzt vorsorglich einen Erinnerungsalarm in ihrem Handy, damit sie fürs nächste Mal wieder rechtzeitig im Kino anruft und schöne Plätze kriegt.

„Und jetzt?“, fragt Sandy abenteuerlustig. Freitagabend in Berlin. Nach dem Film ist vor der Party.

„Erst mal raus und eine rauchen“, bittet Tekgül und Manu starrt wieder auf ihre Finger. Und dann auf Tekgüls. Deren Nägel sind lang genug, um gepflegt auszusehen, und kurz genug, um auch ohne Latexhandschuhe guten Sex haben zu können. Warum ist eigentlich alles an ihr perfekt?, fragt sie sich.

„Wie beruhigend, dass du auch Macken hast“, stichelt Sandy, die sich offenbar dasselbe fragt.

„Rauchen ist noch die harmloseste. Wenn du wüsstest, welche Abgründe sich hinter dieser Fassade verbergen!“, flachst Marte und bringt sich gackernd in Sicherheit. Tekgül, die unangezündete Zigarette schon zwischen den Fingern, spurtet hinter ihrer Freundin her in die junge Nacht. Sandyunmanu und Nicoletta lassen sich lächelnd hinter ihnen treiben.

„Tanzen?“, fragt Nicoletta.

„Im SchwuZ?“, fragt Manu.

„Los“, sagt Sandy.Der Kellerraum ist angenehm bevölkert, obwohl es erst halb zwölf ist. Die DJanes geben sich alle Mühe, die Luft noch stickiger zu machen.

Sandy streift gleich zwei Lagen Klamotten ab. Da es ein außergewöhnlich heißer Frühsommer ist, hat sie nicht viel an – was bleibt, ist ein kleines Stück hellblauen Jerseys. Und weil das so schön ist, küsst Manu ihre Liebste nachdrücklich – sie hört erst auf, als Tekgül und Marte sich mit Madonna auf der Tanzfläche vergnügen und Nicoletta demonstrativ gähnend zur partyinternen Kontaktbörse geht, sich eine Nummer anstecken lässt und damit durch die Hallen flaniert.

Es ist immer das Gleiche, denkt Manu, sobald ich mit Sandy unter Leuten bin, will ich sie noch fester halten. „Revier markieren“, nennt Tekgül das und findet es besitzergreifend und scheiße. Aber Sandy fühlt sich davon nicht eingeengt, sondern geschmeichelt. Außerdem sind Partys die idealen Beziehungsbestätiger – zumindest Manu wird inmitten schwitzender, feiernder Frauen regelmäßig klar, dass sie nur eine will, und zwar die, die sie im Arm hat. Und dann wallen so starke Liebesgefühle in ihr auf, dass sie Sandy am liebsten gleich auf der Tanzfläche vernaschen würde. Sie hatten schon superheißen Sex auf so ziemlich jeder Lesbenparty der Stadt. Ihre Freundinnen haben sich daran gewöhnt, mit – O-Ton Nicoletta – einem „peinlich-sexualisierten Symbiosemonster“ unterwegs zu sein. Immerhin ist es ihnen nach dem ersten halben Jahr, in dem sie vollständig von der Bildfläche verschwunden waren, gelungen, sich in privaten Zusammenhängen wieder als zwei Personen in den Freundeskreis einzugliedern. Nur in der Öffentlichkeit kriegen sie es nicht besonders gut hin, das Individuum-Sein. Vermutlich sind wir wirklich keine besonders amüsante Gesellschaft, denkt Manu.

Sie zieht Sandys Rücken an sich, schiebt eine Hand auf den nackten Bauch, vergräbt die Nase in ihrer Schulter und schaut am Kopf der Liebsten vorbei den Mädels auf der Tanzfläche zu. Nicoletta, die „117“ auf den Bauch geheftet, balzt mit Nummer „84“ und Tekgül tanzt daneben völlig versonnen auf die ungelenke Art, die so gar nicht zur Eleganz ihrer Erscheinung passt. Marte hat sich eine große Blondine geschnappt und übt mit ihr eine Szene aus Thriller. Sie sehen allesamt hochzufrieden aus.Das Brummen wird lauter, umkreist den Kopf zweimal, dreimal, zielt und landet auf dem Ohr. Es windet sich in die Muschel, streift Hammer und Steigbügel und macht es sich schließlich unter dem Amboss gemütlich. Nicoletta stöhnt.

Seit zwei Monaten und achtzehn Tagen ist das ihre morgendliche Spontanreaktion. Wortgewaltig oder schweigend, je nach ihrer Verfassung und dem Charakter der vorhergegangenen Nacht, trauert sie ihrem alten, roten, laut läutenden Aufziehwecker nach, der nach einem hollywoodreifen Streit und zwölf Metern freien Falls laut scheppernd auf dem Beton ihres hübschen Hinterhofs seinen Geist aufgab. Ganz gleich, wie reumütig die Urheberin der Szene die Einzelteile zwischen Fahrrädern und Sandkasten auflas, kaputt ist kaputt. Und Nicoletta ist eine urtreue Seele. Ein Partner, der fünfundzwanzig Jahre neben dem Bett gestanden, der Sex, Heulkrämpfe und Movie-Marathons begleitet hat, lässt sich nicht so mir nichts, dir nichts ersetzen. Erst recht nicht durch ein silberfarbenes, brummendes Tchibo-Ding, auch wenn die Verursacherin des spektakulären Fenstersturzes es mit dem Optimismus einer Damenboutique-für-Übergrößen-Verkäuferin angepriesen hat.

Aufstehen wird im 21. Jahrhundert total überbewertet, denkt Nicoletta und will mit diesem Teil der Moderne nichts zu tun haben. Auch und gerade nicht wegen dieser albernen Zusatzfunktion eines Außenthermometers, das dem Wecker funkt, wenn es weniger als drei Grad misst. Woraufhin der sein blödes Gebrumme dreißig Minuten früher startet, um seiner Besitzerin Extrazeit zum Autoscheiben-Freikratzen zu bescheren. Nicoletta hat kein Auto.

Kein Wunder, dass der Frau, die den Wecker auf dem Gewissen hat, nachdrücklich und bestimmt der Weg aus Nicolettas Wohnung und Leben gewiesen wurde.

Sie lässt ihr müdes Haupt rücklings über den Rand des Bettes hängen, um sich der so auf den Kopf gestellten Umgebung vorsichtig zu nähern. Die Welt, findet Nicoletta, ist hübscher, wenn man sie verdreht betrachtet. Die Füße des Bettes kleben fest an der Decke und sie selbst klebt fest auf dem Bett – betrachtet die herunterwachsenden Pflanzen, die schwebenden Regale und die Kleider, die von unten in den Raum ragen.

Das Blut fließt träge in ihren Kopf. Von innen wird er weiter; von außen allerdings behält er die Form – eine Diskrepanz, die sie schummerig macht. Als sie sich mit einem Seufzer zur Seite rollt, schaut sie geradewegs ins Gesicht von Fräulein Rottenmeier. Verrunzelte Augen betrachten sie aufmerksam, dann reckt die Alte den Hals und dreht sich schwerfällig um. Nicoletta schraubt sich aus dem Bett und trottet der Schildkröte hinterher, die sie sogar noch länger kennt als den zerstörten Wecker.

Fräulein Rottenmeier hatte ein weitestgehend unbeachtetes Dasein im Streichelzoo von Bad Salzuflen gefristet, wo Nicoletta früher die Ferien bei ihrer Oma verbrachte. Sie selbst erinnert sich nicht daran, aber der Familiensage zufolge wurde das Gehege aufgelöst und die tierliebe Oma gab der damals noch namenlosen Kröte ein liebevolles Zuhause. Als die Oma starb, starben mit ihr die Ferien im Nordrhein-Westfälischen, und statt des Rezeptes für Kirschkaltschale erbte Nicoletta Fräulein Rottenmeier, hinter der sie jetzt durch den unaufgeräumten Flur tapert. Fräulein Rottenmeiers Kopf verirrt sich in einer Chipstüte und schiebt die knisternde Dunkelheit beharrlich vor sich her, bis Nicoletta sie auf dem halben Weg zur Küche davon befreit. Sie hebt die alte Dame hoch, trägt sie zum Küchentisch und setzt sie behutsam ab.

Auch wenn das panische Strampeln aus den Anfangstagen ihrer Beziehung nun stoischer Resignation gewichen ist – es ist unübersehbar, dass Fräulein Rottenmeier Durch-die-Luft-Schweben hasst. Und zwar mit größter Wahrscheinlichkeit bereits seit der Zeit, als die Kinder im Streichelzoo (unter ihnen die kleine Nicoletta, die damals alle „Nicki“ riefen) ausdauernd Flugzeug mit ihr gespielt haben. Quasi stellvertretend für die gesamte Schildkröten herumwirbelnde Kinder-Gang musste Nicoletta sich Fräulein Rottenmeiers Vertrauen und ihre Duldsamkeit in Sachen Herumtragen hart erarbeiten – maßgeblich in Form von Tomaten. Mittlerweile lässt sich die Kröte widerstandslos hochheben, wenngleich sie dabei noch immer nervös die Augen zukneift. Ein Trauma bleibt eben ein Trauma.

Auf dem Tisch liegt das WG-Buch, in das ihr Mitbewohner eine lange To-do-Liste geschrieben hat. Typisch Clemens. Er liebt Listen, die wiederum für Nicoletta ultimativen Druck bedeuten. Umso erstaunlicher, dass sie trotzdem so eine tolle Wohngemeinschaft sind. Auf Fräulein Rottenmeier ist wirklich Verlass. Seit sie aus dem kleinen Haus der Eltern in Zehlendorf ausgezogen sind, musste nämlich jeder ihrer potenziellen Mitbewohner, allesamt männlich, durch Fräulein Rottenmeiers Tauglichkeitstest: Geht sie auf den Kandidaten zu, ist er genehmigt, reagiert sie nicht, ist er egal, und wenn sie sich mit Kopf und Fuß im Panzer verkrümelt, hat der Bewerber verloren.

Bei Clemens hat sie den Hals ganz lang gemacht und langsam genickt. Eine äußerst verwunderliche Reaktion, fand Nicoletta und hat die Entscheidung akzeptiert. Ihr Mitbewohner und ihr Kindermädchen sind ein Herz und eine Seele; vielleicht, weil sie die gleiche Langsamkeit an den Tag legen, ihre Rituale brauchen und überhaupt auf dieselbe altmodische Art ticken.

Ach, der Wecker …

Neben Thermoskanne und einer sauberen Tasse für Nicoletta hat Clemens drei Salatblätter und eine Cocktail-Tomate für Fräulein Rottenmeier drapiert. Außerdem fünf gelbe Ranunkeln und eine Karte: Happy Birthday. Darunter, klein: Vergiss das Aufräumen nicht. Es wird Nicoletta von Tag zu Tag klarer, warum sich die Schildkröte ausgerechnet Clemens ausgesucht hat. Regelversessenheit und Pedanterie liegen eng beieinander.

Das Geburtstagsfrühstück in trauter Zweisamkeit fällt spartanisch aus. Nicoletta lungert am wackeligen Flohmarkttisch und betrachtet Clemens’ stylischen Designerschaukelstuhl in der Ecke des Zimmers, auf dem er, Füße auf der Heizung, Blick auf die Linde im Hof, morgens Zeitung liest. Seit sie die Fünf-Zimmer-Küche-Bad mit Clemens teilt, hat sich Nicolettas kleine Welt zwangserweitert – statt Hörbüchern gibt es jetzt Nachrichten zum Frühstück und abends Anekdoten aus der Berliner Tagespolitik. Clemens ist nämlich Redakteur bei einer linken Zeitung, Onlineausgabe, was ein immenses Plus gegenüber dem Lebenskonzept seines partysüchtigen Vorgängers bedeutet. Clemens steht für pünktliche Miete und ein geordnetes Leben.

Beides ist sehr wichtig für Nicoletta, deren Job als Sozialarbeiterin mehr als genug Unwägbarkeiten bietet. Wann immer sie sich zu einer ihrer Nachtschichten in dem Krisen- und Übergangsheim draußen in Weißensee aufmacht, hat sie keine Ahnung, was sie dort erwarten wird. Ihr Arbeitsalltag mit den Teenagern, die sich in akuten Notsituationen befinden, wenn sie in der Obhut von Nicoletta und ihren Kolleginnen und Kollegen landen, ist pure Improvisation, deshalb setzt sie im Privatleben auf Verlässlichkeit und klare Strukturen. In allen Bereichen. Es hat viel Schweiß, Tränen, Wortklaubereien und einige Jahre gekostet, dieses Bedürfnis umzusetzen, vor allem in Liebesbeziehungen, aber diesen Gedanken schiebt Nicoletta zum Abwasch in die Spülmaschine. Heute, ganz im Geiste ihres Vorsatzes für das neue Lebensjahr und auf Clemens’ Drängen hin: Die innere Klarheit auch äußerlich sichtbar machen. Aufräumen, neudeutsch Feng Shui. Clemens ist im Büro und schiebt die Wochenendmeldungen ins Netz, hat aber versprochen, abends zu Nicolettas Grillparty zurück zu sein und frisches Pide mitzubringen. Er muss ohnehin durch die Oranienstraße radeln und da gibt es, das ist Fakt, das beste Fladenbrot in Kreuzberg. Auch samstags.

Warme Luft streicht durch die gekippten Fenster, der frühe Sommer verneigt sich. Fräulein Rottenmeier hängt bereits mit dem halben Panzer über der Tischkante, bevor Nicoletta sie bemerkt und auf ihren Lieblingsplatz im Altpapierkorb setzt. Die Schildkröte gräbt ein bisschen und legt sich dann auf den Werbebeilagen zur Ruhe. Nicoletta weckt widerwillig die Putzfee in sich, die, nicht minder seufzend, ihren Wischmopp entstaubt, die szenekompatible Variante einer Kittelschürze glatt streicht und sich ans Werk macht.

Um halb vier glänzt alles, auch Nicoletta selbst, die sich eben noch ihr blondes Haupt mit einer Mischung aus Bier, Ei und Zitronensaft einweicht, weil sie gelesen hat, dass die Haare davon gesund und kräftig werden. Nicht, dass Nicoletta sich über ihre Haare beklagen könnte – sie sind sowieso zu kurz, um Probleme zu machen –, aber sie mag den Gedanken, sich was Gutes zu tun. Schließlich ist sie jetzt achtunddreißig, da darf das schon mal vorkommen.

Es klingelt an der Tür, so pünktlich, wie nur Tekgül sein kann. Bingo. Sie umarmt Nicoletta lange, gratuliert und sieht dann abschätzend an der Jubilarin hoch und runter und wieder hoch. „Du hast dich wirklich kein Stück verändert.“

„Seit letzter Woche?“

„Seit deinem letzten Jahr“, grinst Tekgül und stutzt. „Was ist das?“ Sie zieht angewidert etwas aus Nicolettas Haaren und hält es ihr unter die Nase.

Nicoletta untersucht das schleimige Ding kurz. „Die Nabelschnur“, stellt sie fest.

Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Abscheu lauscht Tekgül der Erklärung, warum Nicoletta ein Ei samt Nabelschnur auf dem Kopf trägt. In die Litanei über glänzende, gesunde Haare und Selbstfürsorge hakt sie eigentlich nur ein, um die richtige Mischung dieser Wunderkur herauszukriegen – es gibt keine – und greift dann schließlich die Gelegenheit beim Schopf. Es folgt ein langes und wortreiches Plädoyer für die weitaus unvergleichlichere Wirkung von Olivenöl. Tegkül muss es wissen. Sie ist nicht nur die Einzige in Nicolettas engerem Bekanntenkreis, die das Haar lang trägt, sondern auch das mit Abstand schönste Wesen, das sich Nicoletta auf ihre Eroberungsfahne schreiben kann. Und das will was heißen, denn diese Fahne wiederum ist die größte im gesamten Freundeskreis.

Nicoletta geht, um sich das Ei vom Kopf zu waschen. Tekgül häuft derweil sämtliche Salatzutaten auf den Küchentisch, schaltet das Radio ein und beginnt mit dem Waschen, dem Bürsten, dem Schnippeln. Sie will sich gerade an die Salatsoße machen, als Nicoletta frisch geföhnt und strahlend blond zu ihr stößt und ihr die Schüssel aus der Hand nimmt.

„Lass mich die Vinaigrette machen“, sagt Nicoletta.

Tekgül beißt sich auf die Lippe, wohl wissend, dass Nicolettas Gefühl für Essig mehr als fragwürdig ist. Trotz einer erschöpfenden Menge des eben noch hochgelobten Olivenöls erweist sich die Sorge als berechtigt: Nicolettas Salatsoße nach Geheimrezept kann außer Nicoletta selbst keine essen. Tekgül, die ansonsten selten ein Blatt vor den Mund nimmt, überrascht heute mit Feingefühl.

„Wie wär’s, wenn wir ein paar mehr Dressings machen, dann kann sich jede ihren Salat selbst anmischen? Ich könnte noch eine Honig-Senf-Soße und was mit Joghurt und Kräutern zusammenrühren.“

Nicoletta schluckt den Köder. Das Grünzeug ist gerettet. Das Radio singt Eternal Flame und wird von krakeelenden Frauenstimmen und dem rhythmischen Wiegen des Kräutermessers begleitet. Erst über der Vorbereitung der Gemüsespieße traut sich Nicoletta zu fragen.

„Und?“

„Was, und?“

„Hat es geklappt?“

Tekgül viertelt Champignons. Krumm und schief, aber voller Enthusiasmus. „Wissen wir nicht. Dauert noch ein paar Tage.“

„Bist du aufgeregt?“

Wenn Tekgül tief in sich geht, sammelt sich ihre Konzentration in einer allumfassenden Stille, wie sie Nicoletta sonst nur während einer Sonnenfinsternis erlebt hat – und bei dem einen Mal, als sie mit Tekgül schlafen durfte, unmittelbar vor deren Orgasmus. Auf diese Stille folgte beim Sex ein weltengebärendes Ausatmen. Auch am Küchentisch erlaubt sich Tekgül einen Moment des Schweigens, ehe sie die Luft wieder ausstößt und mit leiser Stimme gesteht: „Ich hab höllische Angst davor, dass es geklappt hat. Keine Ahnung, was ich dann machen soll. Stell dir mal mich mit einem Kind auf dem Arm vor – ich hab so viel Mutterinstinkt wie eine Scheibe Knäckebrot!“ Noch einmal dieses Schweigen, kürzer diesmal. „Also, klar krieg ich auch mal so ein Gefühl von ‚Sind das winzige Finger!‘ und ‚Wie hat das alles jemals in einen einzigen Menschen gepasst!‘ und ‚Ein Wunder!‘ –, aber das ist nach ein paar Minuten vorbei und darüber bin ich total froh. Bei Marte ist das ein andauerndes Lebensgefühl. Wenn du ihren Blick sehen könntest, während sie bloß über das Baby redet, wüsstest du, was ich meine. Sie strahlt dann richtig. Und ich, ich hab das Gefühl, mich dabei innerlich zu verknoten.“

Nicoletta ist einigermaßen erstaunt über dieses Bekenntnis. In Gedanken fügt sie dem Pathos ihrer Erinnerungen an mögliche Ereignisse nach dramatischem Schweigen einen nicht minder dramatischen Redeschwall hinzu.

„So schlimm? Warum habt ihr es dann gemacht?“

„Wir? Von einem ‚Wir‘ war doch nie die Rede. Das hat Marte ganz alleine entschieden.“

Die Champignons verwandeln sich unter Tekgüls erregt hackenden Händen in Mikropartikel. Nicoletta entscheidet sich in Anbetracht der enormen emotionalen Energie gegen eine Intervention und für Champignonmus. Vielleicht wird sie es mit Avocado und Knoblauch mischen.

„Sie sagt, bei aller Liebe wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für sie und dass sie ein Kind will, bevor sie in das Alter kommt, in dem die Leute sie für die Oma halten.“

„Aber sie ist doch erst …“

„Achtundzwanzig drei viertel, richtig. Wenn es also klappt, ist sie eine Mutter unter dreißig. Sie sagt, das wär perfekt, und wenn sie so alt ist wie du jetzt, wird das Kind schon zur Schule gehen und sie kann das Leben genießen. Mit Mitte dreißig fängt ja alles erst an, sagt sie. Und dass sie mich zwar liebt, aber diese Entscheidung schon stand, bevor wir zusammenkamen, und sie sich leider nicht von mir abhängig machen kann, weil es ihr Leben und ihr Kind ist.“

„Aber du bist ihre Lebensgefährtin!“

„‚Lebensabschnittsgefährtin‘, sagt sie und dass sie sich sehr wünscht, dass wir zusammenbleiben, aber ‚man weiß ja nie‘ und deshalb will sie das alleine durchziehen.“

„Autsch.“

„Ja.“

Beide starren auf die graubraune Masse unter Tekgüls ordentlich manikürten Händen. Aus Pilz-Grillspießen wird wohl nichts.

„Sorry.“ Die Augen glitzern. Der Mund, zartrosa, schmal und breit, schweigt.

„Schon okay. Wir machen einfach weniger Spieße. Und Champignonpaste fürs Brot.“

„Mit Avocado und Knoblauch?“

„Exakt.“

Sie lächeln sich an, ein bisschen unsicher, aber sehr liebevoll. In Nicolettas Innerem krabbelt ein kleiner grüner Gnom unter einem Stein hervor. Sein Grinsen sagt: „Siehst du, wie gut wir uns verstehen? Wie wunderbar wir zusammenpassen? Mit mir hättest du dieses Problem nicht gehabt. Mit mir ni-hicht!“ Nicoletta tritt ihn mit der Präzision einer Weltklassefußballerin unter den Stein zurück.

„Aber du bleibst bei ihr?“, presst sich ihr Stimmchen unter dem Stein hervor.

„Klar, ich lieb sie doch. Und sie hat sogar einen Vertrag entworfen, darüber, dass ich keinerlei Verpflichtungen eingehe, wenn ich die Befruchtung mit ihr durchziehe. Da steht drin, dass sie mir das niemals unter die Nase reiben wird, egal, ob wir uns streiten. Und dass sie hofft, dass wir noch viele gemeinsame …“, Tekgüls Laune hebt sich etwas, „… durchvögelte Nächte haben werden, nach denen sie ihren Verstand unterm Schrank hervorkratzen muss.“

Der Stein sinkt in den Boden und will sich nie wieder einen Millimeter bewegen. Der grüne Gnom ist Mus.

Nicolettas Grinsen verrutscht nur ein ganz klein wenig. Sie sind Freundinnen, richtig gute Freundinnen, die eben zufällig voneinander wissen, wie die andere im Bett stöhnt, sich in ihr Zentrum zurückzieht und dann in einem Ausatmen explodiert. Eine Supernova.

Freundinnen.

Auf dieser Basis geht fast alles.

„Bestimmt ein hübscher Vertrag“, ist alles, was Nicoletta einfällt. Schließlich hat Marte Grafikdesign studiert, ehe sie sich entschied, für Adventure-Spiele künstliche Welten zu entwerfen. Oder war es Kommunikationsdesign? Auf jeden Fall hat Marte eine äußerst ausgeprägte künstlerische Ader und mehr Fantasie, als ihr Computerbildschirm Pixel anzeigen kann.

Rock ’n’ Roll Suicide, Major Tom Lucy in the Sky with Diamonds

Fünfzehn Jahre später haben die Freundinnen ihr Kennenlernen in den runderneuerten Praxisräumen neu inszeniert, ohne Leinsamen zwar, aber dafür mit einer erheblichen Menge von dem echten Stoff, aus dem so viele Rockstars gemacht sind. Zu diesem Zeitpunkt hatte Nicoletta ihr Coming-out bereits hinter sich gebracht, während Johanna sich und ihre Gesinnung zunächst einige Jahre auf Herz und Sexualorgane geprüft hatte, bevor sie dem Beispiel ihrer Freundin schließlich gefolgt ist.

Dennoch: Unterschiedlicher als Nicoletta und Johanna können zwei Lesben selbst in Berlin kaum leben. Und ohne gelegentliche Telefonate und noch gelegentlichere Treffen hätte sich die Freundschaft, die sich existenziell aus der Vergangenheit speist, sicherlich längst in selbiger aufgelöst. Aber wer lässt schon freiwillig zweiunddreißig Jahre seines Lebens verpuffen? Das wäre Zeitverschwendung und Zeit verschwendet Johanna äußerst ungern. Nicht mal, wenn sie bereits vergangen ist.

Deshalb war das Geburtstagsschwänzen auch nur die Idee einer Idee. Natürlich ist sie zum Geburtstagsgrillen gegangen. Gemeinsam mit der Flasche Champagner, die ihre Haushaltshilfe Frau Schäfer besorgt und ihr auch gleich mit goldenem Edding „Happy Birthday“ auf den Hals gepinselt hatte.

Was täte Johanna ohne Frau Schäfer? Das Aufgabenspektrum der Putzkraft hat sich mit Johannas und Cristianas Trennung sukzessive erweitert, vor allem um Botengänge zum KaDeWe. Johanna liebt Frau Schäfer, denn die ist ordentlich, zuverlässig und nahezu unsichtbar. Genau genommen haben sie sich seit dem Vorstellungsgespräch vor sieben Jahren nicht mehr gesehen. Sie kommunizieren über kurze Notizen, zum Geburtstag schickt Johanna per Kurier einen Blumenstrauß, Weihnachten tauschen sie eine Schachtel voll mit selbst gebackenen Keksen gegen eine Flasche Dom Perignon oder einen Parfümerie-Gutschein. Diese Dinge allerdings kauft Johanna, im Gegensatz zum Schampus für Nicoletta, dann doch selbst ein.

Dass Nicoletta dem Alkohol zeitgleich mit allen anderen Wach-, Laune- und Müdemachern – Kaffee ausgenommen – pünktlich zu ihrem siebenundzwanzigsten Lebensjahr abgeschworen hat, fiel Johanna erst wieder ein, als sie den verständnislosen Blick bemerkte, mit dem das Geburtstagskind vorhin die Flasche entgegennahm. Sie schwankte zwischen Ausreden und Entschuldigungen, entschied sich aber in Anbetracht von Nicolettas süffisantem Grinsen zur Wahrheit.

„Mein Hirn verdrängt einfach komplett, dass es Menschen gibt, die sich dem Genuss von Champagner verschließen“, sagte sie halb ernst und dann: „Entschuldige.“

„Macht ja nix“, antwortete Nicoletta wie jedes Jahr. „Es findet sich sicher eine Abnehmerin.“

„So sicher wie das Meer nach Salz schmeckt“, drang es aus dem dunklen Hausflur hinter Nicolettas Rücken und langsam nahm die Stimme Gestalt an. Die Gestalt einer Göttin. Groß, dunkel, atemberaubend schön.

Und die Welt offenbarte sich.

„Tekgül kennst du ja“, sagte Nicoletta.

„Das wüsste ich“, entgegnete Johanna und streckte Tekgül die Hand entgegen. Die Erscheinung schüttelte die Hand und nahm Nicoletta die Flasche ab. „Ich stell den mal kalt.“ Tekgül verschmolz mit dem Flur. Weg.

„Wieso kennt ihr euch nicht?“ Verwirrt zerzauste Nicoletta ihr Haar, die gleiche Geste seit mehr als dreißig Jahren.

„Woher sollten wir uns kennen?“, wollte Johanna wissen.

„Sie ist seit vier Jahren eine meiner engsten Freundinnen. Ich lade sie immer zu meinem Geburtstag ein.“

„Sonderbar.“

„Ja.“

Nichts erklärte sich an diesem Abend von selbst und Aufklärung war zu diesem Zeitpunkt auch vollkommen zweitrangig. Wichtig war nur die schöne Unbekannte. Der Druck ihrer Hand, der Johannas Handfläche nachhaltig verformt hatte und den sie immer noch, Stunden später und alleine zu Hause, deutlich spürt.

Johanna ist kein einfacher Mensch. Weder von Herkunft und Bildungsniveau noch von dem her, was sie vom Leben erwartet. Sie erwartet viel – alles, um genau zu sein – und gibt auch alles, wenn sie findet, dass es den Aufwand wert ist. Werte, das sind: Anerkennung, Erfolg, Ovationen. Messbar an der Anzahl der Menschen, mit denen sie Freizeitgestaltungstermine vereinbart, und denen, die sie auf Partys einladen. Und messbar an iPod und Audi, Nespresso, Malediven und Quadratmetern in Mitte. Es ist harte Arbeit, die Anzahl von allem ständig zu erhöhen – Stagnation ist tödlich.

Wäre Berlin eine Frau, sie wäre Johanna. Oder vielleicht besser: Wäre Berlin-Mitte eine Frau, sie wäre Johanna. Keine Shoppingmall und kein süßer, kleiner Szeneladen, keine frischeröffnete Jungdesigner-Boutique in Nordneukölln – Johanna ist die Friedrichstraße: Gucci, Prada und Dolce&Gabbana. Vor allem Dolce&Gabbana. Geld spielt keine Rolle und doch jede.

In der anderen Welt, in die sie manchmal aus ihrem knallharten Geschäftsleben auf- oder besser eintaucht und zu der auch Nicoletta gehört, heißt Johanna Jo – nein, nicht Dscho: J-o, genauso, wie es geschrieben wird. Ein Relikt aus Kindertagen, das aus der Businessfrau die Privatperson macht.

Die Folgen ihrer Kindheit hat sie in drei langen Jahren zweimal die Woche zu einer Chaiselounge in Prenzlauer Berg getragen. Zu einem Psychologen, der sich zeitgemäß Life Coach nannte und damit auch ohne schamhaftes Erröten und Erklärungsnöte in Abendunterhaltungen einfließen durfte. Den Großteil der bei ihm gewonnenen Analyseergebnisse hat sie auch bei ihm gelassen; mitgenommen hat sie lediglich die Essenz. Will sagen: Sie kann exakt erklären, aus welchem Grund sie welches Verhalten an den Tag legt. Sie hat über alles gesprochen und das verstanden, was sie verstehen wollte.

Eine aufgeklärte, analysierte, rundum moderne Frau. Das stimmige Bild, das Johanna von sich selbst gemalt hat, macht sie keineswegs stutzig. Das mag daran liegen, dass sie ihre Selbstironie gemeinsam mit vielen anderen, dem Anschein nach überflüssigen Dingen in der Coaching-Praxis zurückgelassen und säuberlich unter den hellbeigen Berber-Teppich gekehrt hat, ohne das alles eines Blickes zu würdigen. Ihre eigenen Abgründe schlummern platt getreten unter einem Teppich für mehrere Tausend Euro und warten auf ihren Auftritt.

Bis dahin: Eine perfekte Frau für alle Blicke, die sie kontrolliert abfängt. An der Seite dieser Perfektion kann sich nur ein Superlativ halten und in weniger als das kann sich Johanna nicht verlieben. Folglich ist ihr Herz Jungfrau. Unberührt, ungebrochen.

Bis die Welt für einen Augenblick ihren Schleier vom Gesicht zog und sich offenbarte.

Tekgül.

Was ist das für ein Name?, fragt sie sich später in der Nacht, als sie nach Nicolettas Geburtstagsfeier hellwach in ihrem Bett liegt. Die klammen Laken entstammen dem Spannungsfeld zwischen intensiver Wachheit im Kopf und der Hitze ihres aufgewühlten Körpers. In der feuchtwarmen Erregung Bilder von Tekgüls Händen, lang und schlank und weich, perfekt. Die sanfte Biegung, mit der sich Hals und Schulter vereinen. Der Duftfilm nach Grillfeuer, Champagnertropfen, Schweiß und Thierry Mugler, der letzte Nacht Tekgüls Haut überzogen hat, der Duftfilm, den Johanna aufsaugen, ablecken, absorbieren will.

Der Mund. Tekgüls Mund.

Augen wie die Glasmurmeln, mit denen Jo und Nicki anno dazumal gespielt haben. Durchsichtig mit grünblauen oder grünbraunen Wirbeln im Bauch. Tekgüls Murmelaugen strudeln meerwassergrün. Johannas Schlaf gleitet über Tekgüls Körper und in sie hinein.