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Thomas Reich

Tote Kinder spielen nicht





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Tote Kinder spielen nicht

 

Tote Kinder spielen nicht

 

 

 

 

 

Thomas Reich

 

Text 2015 © von Thomas Reich

 

Coverphoto © https://www.flickr.com/photos/joshme17/4298814087/ mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Wilhelm Diehl ist einer dieser bösartigen Alten, wie es sie in jeder Siedlung gibt. Die am Fenster auf den kleinsten Kinderlärm lauern, um Streit anzufangen. Niemand ahnt von seiner Frau in der Eistruhe, oder dem sanften Flüstern der Engelsstimmen in seinem Kopf. Die ihm den Tod der Kleinen befehlen... Stück für Stück gleitet Wilhelm in den Wahnsinn ab. Wer ist mutig genug, ihm auf diesem Weg zu folgen?

Der Mann am Fenster

Weitab der Wolkenkratzer die die Frankfurter Skyline markierten, lag der Ortsteil Sachsenhausen mit seinen grauen Betonbunkern, die der Ostberliner Tristesse in nichts nachstanden. Zwischen kastenförmigen Zweckbauten versuchten die Menschen ihr Seelenheil zu finden. Hier wohnte man nur. Das Leben war eine stete Flucht, in den Köpfen malten sie bunte Traumwelten aus. Bisweilen nahm das groteske Züge an. Verwahrloste Spielplätze wurden frisch geharkt. Graffiti von Schulprojekten übermalt. Das Leben der kargen Bewohner spielte sich zwischen Hilfsarbeiterjobs im Industriegebiet Höchst, und Putzdiensten in den verspiegelten Banktürmen ab. Zwischen den Plattenbauten keimte kein Arbeitsleben. Hierhin floh, wer sich die Mieten in der Innenstadt nicht mehr leisten konnte, und im Leben gescheitert war. Die Hartz-4-Quote war höher als in allen anderen Stadtteilen. Kinder bekamen Namen wie Jaqueline oder Pascal. Die dazugehörigen Mütter verfügten über keinen nennenswerten Schulabschluss, und gingen ungelernten Tätigkeiten nach. Sofern sie überhaupt arbeiteten. Ihre Kinder spielten lautstark in den Grünanlagen, mehr schlecht als recht beobachtet. Erziehung wurde von der Playstation geleistet. Rentner hingen in den Fenstern und schimpften lautstark über tobende Kinder, weil sie sonst kein Leben hatten. Wilhelm Diehl war einer von ihnen. Niemand ahnte, wie weit sein pathologischer Kinderhass ging. Man kannte ihn vom Norma, wo er sein Einkaufsnetz am Band ausleerte, und mit den roten Kupferlingen centgenau herausgab. Oder Gassi ging mit seinem Hund. Der wohlgemerkt eine Hässlichkeit sondergleichen war, mit toten Puppenaugen in einer gefühlskalten Teigvisage. Gerüchten zufolge war Diehl verheiratet. Doch seine Ehefrau hatte man lange nicht gesehen. Allgemein hin galt er als harmloser Querulant. Der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.


*


Im Innern des Plattenbaus war es kalt wie in einer Gruft. Schwitzwasser tropfte von den Wänden. Müll wurde entweder zum Fenster hinausgeworfen, oder wild in Hof und Treppenhaus entsorgt. Der Hausverwaltung war es ein Dorn im Auge. Doch mangelnde Personalstrukturen führten dazu, es mit einem jovialen Schulterzucken abzutun. Wenn die Mieter wie Schweine im Dreck leben wollten, dann sollten sie es eben. Der Block ging zunehmend vor die Hunde. Gänge wurden nicht mehr gefliest, Wände nicht gestrichen. Auf der Westseite tobte der Schimmelpilz. Im Aufzug stank es unverkennbar nach menschlichen Ausscheidungen. Nachts suchten Penner hier Zuflucht, die ihre abgewetzten Cordhosen einschissen. Zuletzt war er vor zehn Jahren offiziell gewartet worden. Danach war regelmäßig Schmiergeld geflossen wie eine Weihnachtsgratifikation. Geprüft worden war die alte Rumpelkiste seitdem nicht mehr. Natürlich waren die Mieten billig. Und manche Wohnung ein wahres Schmuckstück in einem ansonsten zum Himmel stinkenden Misthaufen. Hinter geschlossenen Türen lebte jeder nach seiner Fasson. Man war hier völlig anonym. Wer wusste wirklich, was in den Plattenbauten vorging? Ob Kinder missbraucht wurden? Ehefrauen geschlagen? Der nächste Schuss gesetzt wurde? Wer einsam masturbierte? Wer fremdging, wenn der Mann auf Arbeit war? Ob Teenager sich ritzten oder bulimisch in der Toilette erbrochen?

Wenn ein Mieter starb, merkte man es meist am Geruch. Dann wurde die Hausverwaltung angerufen, oder die Wache am Gallus. Zwei Wochen später stand am schwarzen Brett wieder eine Wohnung zur Vermietung frei.


*


Die faltigen Arme auf ein Kissen gestützt, lehnte Wilhelm auf der Fensterbank. In der einen Hand eine dampfende Tasse Kräutertee, in der anderen eine glimmende Zigarette. Auf dem Küchentisch mit der fettigen Patina klebte die Bildzeitung. Von einer Reihe ungeklärter Kindermorde war die Rede. Seit Wochen beherrschte das Thema die Schlagzeilen. Den Täter hatten sie nicht gefunden. Bald würden die ersten Köpfe im Präsidium rollen. Wenn bestimmte Personen ihre politische Verantwortung wahrnahmen. Ein leichter Wind wehte Diehl die feinen Haare aus der Stirn. Umlaufend wie ein dunkelgrauer Schwimmring hatte ein schmaler Kranz der Glatze getrotzt. Über der Buschgrenze wuchsen einzelne Gräser, zart wie Babyflaum. Sein Gesicht wies die ungepflegten Stoppeln eines Witwers oder Junggesellen auf, der nur alle paar Tage zum Rasierer griff. Es war ein freundliches Gesicht ohne Argwohn. Kleinkariert vielleicht oder konservativ. Ganz bestimmt aber nicht hasserfüllt. An diesem Morgen trug er ein gelbstichiges Unterhemd und eine ausgebeultes Jogginghose. Das Küchenradio spielte Helene Fischers Atemlos. Später würde die aktuelle Schlagerparade kommen, und Wilhelm seinen Einkaufszettel schreiben. Doch jäh wurde das süße Vogelgezwitscher von der lautstarken Sirene eines kleinen Jungen unterbrochen.

„Mama, schau mal her.“

Diehls Küchenfenster ging direkt zum Spielplatz hinaus. Der einzige Nachteil seiner ansonsten recht schönen Wohnung. Zähneknirschend hatte er sabbernde Babys ertragen. Jubelnde Mädchen mit Flechtzöpfen auf der Rutsche. Ihr Geplärre, wenn sie mit aufgeschürften Knien im Kies lagen. Letzteres war Musik in seinen Ohren.

„Mama...!“

Von seiner Blockwarte aufs Fensterbrett gestützt, konnte er weit und breit keinen Erziehungsberechtigten erkennen. Warum denn auch? Denen war es doch scheißegal, wie sich ihr Kind in der Öffentlichkeit benahm! Konnte das elendige Aas nicht endlich die Schnauze halten?

„Bist du krank, oder warum brüllst du so laut? Halt die Fresse du blöde Sau! Es gibt Menschen, die möchten einfach in Ruhe eine Radiosendung hören. Pass auf, dass ich deine Mutter nicht hole!“

„Ich bin seine Mutter und Kevin darf so viel toben, wie ihm lustig ist.“

„Kinder die schreien und Hühnern die krähen, soll man beizeiten den Hals abdrehen.“

„Fick dich Alter!“

Wütend knallte Wilhelm das Fenster zu. Ein Querulant eben. Einer, der am liebsten seine Ruhe hatte. Manuela Kisoglu schüttelte den Kopf und schickte ihrer Freundin ein lustiges Bildchen via WhatsApp. Sollte der Alte sich eben aufregen. An ihren Kevin ließ sie nichts kommen, noch nicht einmal Bildung. Nur allerbeste Pommes und RTL2.


*


Wilhelm schloss das Fenster und himmlische Ruhe kehrte ein. Diese kleinen Teufel machten ihm das Leben zur Hölle. Dazu kam der militante Egoismus der Mütter, man müsse das asoziale Verhalten ihrer kleinen Monster uneingeschränkt akzeptieren. Mit Gutmenschen zu diskutieren glich dem Schachspiel mit einer Taube: Erst wirft sie dir alle Figuren um, dann kackt sie aufs Brett, und am Ende gewinnt sie. Oder glaubt es zumindest. Diskussionen erübrigten sich. Gottseidank war seine Ehe mit Erika kinderlos geblieben. Er hatte weder Söhne die ihn besuchten, noch Enkel die ihn belästigten. Zeit seiner Frau einen kleinen Besuch abzustatten.


*


Auf seinem Weg nach unten wurde Wilhelm von keiner Menschenseele begrüßt. Sie waren ihm nicht feindlich gesinnt, im Gegenteil. Ihre Beziehung zu ihm war von vollkommenen Desinteresse geprägt. Jahrzehntelang lebte man nebeneinander her, ohne tiefere Einblicke in die Welt des Anderen zu erhaschen. Niemand hatte ihm zum Einzug gratuliert. Niemand Brot oder Salz gebracht, wie es Sitte gewesen wäre. Oder einen Kuchen gebacken, wie es gute Nachbarschaft erfordert hätte. Wenn Wilhelm Diehl einmal das Zeitliche segnete, würde niemand ihm eine Träne nachweinen. Sie würden fragen: Wilhelm wer? und ihrem finsteren Tagesgeschäft nachgehen. Was dem alten Eigenbrötler gerade recht kam. So war er keinem Rechenschaft schuldig.

Das Untergeschoss beherbergte die Kellereinheiten der Mietparteien. Bretterverschläge unterschiedlicher Größe, aufgeräumt oder verdreckt, mit Ratten oder ohne. Wilhelm war nicht der Einzige, der sein Abteil mit Plastikfolien vor neugierigen Blicken abschirmte. Weil er mit seiner Frau gerne allein war. Zum Keller gelangte man über eine muffige Treppe aus Waschbeton. Modernere Hochhäuser verfügten über den Luxus einer Tiefgarage. Hier parkten die Bewohner ihre heruntergekommenen Karossen im Hinterhof. Mehrere Reihen moosbewachsener Teerpappe füllten das Brachland hinter dem Wohnblock mit Leben. Im Sommer polierten sie die letzte Lackschicht vor der Grundierung, und hörten Machine Gun Kelly aus vibrierenden Ghettoblastern. Stoßfänger wurden montiert, die es mit einem Büffel aufnehmen konnten, und verchromte Endrohre.

Endstation spezielle Sehnsucht, der Reisende stieg aus. Nur der Schacht des Müllschluckers reichte bis unter die Erde. Dort wo die hohen Temperaturen des Brennofens alle Abfälle einschmolzen, und die Warmwasseraufbereitung speisten. Neues Leben entstand aus toter Materie. Spendete Wärme und Energie. Wilhelm dachte an all das, was er dem Müllschlucker anvertraut hatte wie einem geduldigen Beichtvater. Der Müllschlucker fragte nicht, was man durch seinen Schlund schickte. Er vergab dir deine Sünden ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Nicht einmal Reue. Nur wenige Treppenstufen trennten Wilhelm von der Erinnerung an bessere Zeiten. Als er mit Erika glücklich gewesen war. Und die Einflüsterungen der Engel in weiter Ferne lagen.



*


Vor zwei Jahren war sie beim Frühstück tot umgefallen. Mit glasigem Blick war Erika vom Stuhl geglitten, ihre Augen feucht schimmernd wie Konfitüre. Ihre Hand war zur Seite gerutscht, und ein halbes Brötchen über die Fliesen gekullert. Semmelbrösel legten die Krumenspur zu Großmutters Haus. Er erinnerte sich, wie er die Zeitung beiseite gelegt hatte. Und das Messer aufhob, an dem noch Butterreste klebten.

„Liebling...“

Wilhelm vermutete einen Herzinfarkt, kein Mediziner hatte seine Diagnose je bestätigt. Denn nach ihrem Tod hatte er sie hier unten in der Gefriertruhe eingelagert, mitsamt der Kittelschürze in der sie gestorben war. Nur selten öffnete er den Deckel um nach dem Rechten zu sehen. Wilhelm wollte keinen Gefrierbrand riskieren. Für gewöhnlich genügte es ihm, in ihrer Nähe zu sein. Weniger ihr Tod hatte ihm zu schaffen gemacht. Schwieriger gestaltete sich die Frage, wie er Erika unbemerkt in den Keller bekommen sollte. Sie in ein Tuch zu schlagen und zu schultern wie den Sack des Nikolaus schien nicht ratsam. So anonym konnte kein Wohnblock sein. Schweren Herzens kaufte er im Traditionshaus Schultze einen Schrankkoffer, um seine Frau nach unten zu befördern.

„Planen Sie eine Weltreise oder einen Zaubertrick?“

„Weder noch. Ich muss eine Leiche verschwinden lassen.“

„Haha, ein Spaßvogel. Also die Kreuzfahrt.“

Der Verkäufer führte ihm das samtene Innenleben vor. Es hätte Erika gefallen. Schon zu Lebzeiten war Rot ihre Lieblingsfarbe gewesen. Rot wie ihre Lippen, wenn sie ausgingen. Rot wie die Liebe. Ihr kalter Körper hegte immer noch Gefühle für ihn. Seit vierzig Jahren waren sie verheiratet. Daran mochte auch der Tod nicht zu rütteln.

„Viele geräumige Fächer und eine kleine Kleiderstange für die Abendgarderobe der feinen Dame.“

„Wie ist es um die Schließen bestellt?“

„Stahlverstrebter Grundrahmen, besser als manche C-Klasse.“

Über tausend Euro hatte ihn der Spaß gekostet. Plus das Geld an den Taxifahrer mit dem geräumigen Wagen. Zuhause hatte er es leichter. Ebenerdig rollte er den klobigen Kasten zur Eingangstür hinein. Weiter, in den Fahrstuhl. Als echtes Hindernis würde sich die Wohnungstür erweisen. Gekippt und auf den hinteren Rollen passte er unter dem Türrahmen durch. Wohlgemerkt: In leerem Zustand. Voll würde er viel schwerer sein. Darüber konnte Wilhelm sich später den Kopf zerbrechen.


*


Liebevoll hatte er ihren Körper aufs Bett gelegt. Dem Erzengel auf Knien gedankt dafür, sie nicht in ihrem Stuhl hängen gelassen zu haben. Während Wilhelm einen Reisekoffer aussuchte, fiel Erika auf dem Totenbett in Leichenstarre. Kein Biegen oder Brechen hätte mehr geholfen, ihren klammen Leib in die richtige Position zu bringen. Ob der Kofferboden hielt? Wilhelm band ihr ein Seil unter die Arme, und führte es im Nacken zu einer Schlinge zusammen, die er an der Kleiderstange einhängte. Zur Sicherheit fixierte er sie zusätzlich an den Seiten. Ihre Kreuzfahrt konnte beginnen.

Der Türrahmen erwies sich als ebenso tückisch, wie befürchtet. Da erst spürte er Erikas Gewicht. In jungen Jahren hatte es ihm nichts ausgemacht. Wie oft hatte sie auf ihm gelegen, und seinen Namen geschrien? Beim Liebesspiel schien sie leichter zu sein, als wenn sie Tod spielten. Im Fahrstuhl begegnete Wilhelm einem Nachbarn aus den oberen Stockwerken. An seinen Namen konnte er sich nicht erinnern. Sie waren sich selten begegnet. Beide sahen während der gesamten Fahrt zu Boden. Kratzten sich verlegen am Kopf. Gesprochen wurde nichts. Erst im Erdgeschoss, wo der Mann glücklicherweise ausstieg.

„Na dann. Einen schönen Nachmittag noch.“

Wilhelm musste die Truhe ausräumen, um Platz für seine geliebte Erika zu schaffen. Pommes Frites schichtete er ab, mexikanische Gemüsemischung, Vanilleeis und ein paar schöne Steaks. Nur wenig brachte er in dem kleinen Eisfach seiner Küche unter. Den Rest musste er die nächsten Tage über verzehren oder wegwerfen. Mühsam wuchtete er seine Frau aus dem Koffer in die Truhe. Am Ende war er trotz der Kälte nassgeschwitzt bis auf die Haut. Auf ihrer Brust lag eine Packung Tiefkühlerbsen. Endlich ging der Deckel zu. Laut brummend sprang der Motor an, kleine Signale auf dem Display leuchteten rot. Automatisches Schockfrosten, wenn eine neue Ladung Gefriergut eingelagert wurde. Die Maschine musste schwer arbeiten um diese Masse auf Minusgrade zu bekommen. Wilhelm stellte den Koffer in die Ecke und ging nach oben.



*


Heute öffnete er die Truhe, um ihr mit einer Bürste den Reif von den Wangen zu schaben. Dabei musste er sehr vorsichtig sein, um ihre Haut nicht zu beschädigen. Von Zellerneuerung konnte schon lange keine Rede mehr sein. Die Kälte verlangsamte lediglich den Verwesungsprozess. Es wurden Gletschermumien gefunden, die Jahrtausende überdauerten. Wilhelm reichte es schon, wenn sie ihn überlebte. An seiner rechten Hand hatte er eine kleine Narbe. Das war ganz am Anfang gewesen. Als er sie gestreichelt hatte, und kleben geblieben war. Er hatte dabei ein Stück Haut eingebüßt. Und Erikas Wange eine offene Wunde verpasst, stumme Einladung für Keime und Bakterien, in ihren Körper einzudringen. Schwarz war der Gefrierbrand auf ihrer Wange erblüht wie Steckrosen.

„Es ist einsam ohne dich.“

Kurz nach ihrem Tod hatten die Engel angefangen mit ihm zu sprechen. Zuvor war es nur ein vages Summen in seinem Schädel gewesen. An manchen Tagen meinte er Stimmen herauszuhören. Dann wurde es ihr Säuseln wieder schwächer, und Wilhelm tat es als Hirngespinst ab. Wie Jonas hatte er sich vor Gottes Stimme versteckt. Doch kein Busch in der Wüste mochte ihn vor den Engeln zu verstecken. Die ihm der Kinder Tod befahlen.