Vorwort

„Die Frauen sind aufgrund ihres Geschlechts und ihrer körperlichen Verfassung für Forschungsreisen ungeeignet und die Spezies des professionellen weiblichen Globetrotters, die wir seit kurzem Amerika verdanken, ist einer der größten Schrecken dieses zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts.“ Diese Meinung vertrat Lord Curzon 1893 anläßlich der heftigen Kontroverse, die in den Reihen der Royal Geographical Society über die Zulassung von Frauen als Mitglieder ausgebrochen war. Nicht alle Frauen zeigten sich beeindruckt durch solche Versuche, sie weiterhin ans Haus zu binden, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet man sie immer häufiger auf Reisen in die entlegensten Weltgegenden. Einen erheblichen Teil dieser Globetrotterinnen bildeten die Engländerinnen, denn Größe und Macht des britischen Empires garantierten in zahlreichen Ländern ein sicheres Geleit.

Viele der weiblichen Reisenden blieben aber auch während ihrer Abenteuer von Kopf bis Fuß Ladies, immer bedacht darauf, ihr gesellschaftliches Image und ihre hohen moralischen Ansprüche an sich selbst und die Umwelt zu verteidigen. Die Kleidung unterstrich in besonderem Maß ihre unerschütterliche Tugendhaftigkeit. Sie reisten in hochgeschlossenen Blusen, langen Röcken und manche sogar in Korsetts und hatten eine ausgesprochene Abneigung gegen lange Hosen. Als in der Times das Gerücht verbreitet wurde, Isabella Bird reite in männlicher Kleidung durch die Rocky Mountains, forderte sie empört ihren Verleger auf, ihren guten Ruf gegen derartige Verleumdungen zu verteidigen. Auch Gertrude Bell konnte nach einem langen Ritt durch die Wüste ein makelloses Kleid aus ihrem Gepäck zaubern, und ihre Umgangsformen unter den arabischen Scheichs waren eher passend für die Salons der Londoner Gesellschaft.

Ungefähr zur gleichen Zeit, als Lord Curzon den Frauen ihre Unfähigkeit zum Reisen attestierte, machte Gertrude Bell bei einer Reise nach Persien ihre erste Bekanntschaft mit dem Orient.Die damals erwachte Begeisterung für die arabische Welt sollte sie bis an ihr Lebensende nicht mehr loslassen und sie zu einer bedeutenden Forschungsreisenden machen. Die dabei erworbenen Kenntnisse waren die Basis für ihre spätere, für eine Frau damals eher ungewöhnliche politische Karriere im Rahmen der britischen Kolonialverwaltung im Nahen Osten.

Gertrude Bell war ein vom Schicksal begünstigtes Kind. Sie genoß das Privileg, aus einer reichen britischen Industriellenfamilie zu stammen, die außerdem Verständnis für die Talente ihrer Tochter zeigte. Gertrude wurde am 14. Juli 1868 in Durham geboren. 1871 starb ihre Mutter Mary kurz nach der Geburt ihres Bruders Maurice. Sechs Jahre später heiratete Gertrudes Vater wieder. Lady Florence Bell war eine gebildete Frau, eine anerkannte Stückeschreiberin, aber auch eine vollendete Dame der viktorianischen Gesellschaft, die äußerst großen Wert auf gesellschaftliche Etikette legte. Sie sollte neben dem Vater einen beachtlichen Einfluß auf Gertrude ausüben.

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts war es nicht üblich, daß Töchter wohlhabender Familien eine Schule besuchten. Die Mädchen wurden normalerweise zu Hause erzogen, wo sie unter der Anleitung von Gouvernanten und Hauslehrern gewisse Fertigkeiten wie Handarbeiten und Klavierspielen perfektionierten. Die Bells entschlossen sich jedoch, ihre talentierte Tochter im Alter von 16 Jahren an das Queen’s College in London zu schicken. Trotz einiger Bedenken gestatteten die Eltern schließlich auch den Besuch von Lady Margaret Hall in Oxford. Hochschulbildung für Frauen war ein umstrittenes Thema in der damaligen Zeit. Gertrude Bell schloß nach nur fünf Semestern, anstatt der üblichen neun, ihre Studien in moderner Geschichte mit Auszeichnung ab. Ein akademischer Grad wurde ihr nicht verliehen; dieses Recht erhielten Frauen in Oxford erst 1920.

Schon damals verfügte Gertrude Bell über ein starkes Selbstvertrauen und feste Grundsätze, die sie mit großer Hartnäckigkeit verfolgte. Seit ihrer Studienzeit verbrachte sie nur wenig Zeit in ihrem Elternhaus, trotzdem empfand sie eine intensive Bindung. Sie litt an Heimweh und schrieb ihren Eltern Briefe, in denen sie um Erlaubnis für all ihre Schritte bat. Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Vater gab es praktisch nicht, sein Urteil und seine Entscheidungen akzeptierte Gertrude meist, ohne sie in Frage zu stellen. Nicht einmal die Beziehung zu Henry Cadogan konnte sie dazu bewegen, gegen die elterliche Autorität zu rebellieren. Auf deren Wunsch löste sie die nicht standesgemäße Verlobung mit dem gebildeten, aber mittellosen Mann, den sie während eines Aufenthalts in Persien kennengelernt hatte. Dieses Erlebnis spiegelt jenen grundsätzlichen Konflikt wider, dem sich reisende Frauen stellen mußten: nämlich der Entscheidung zwischen Konvention und Neigung.

In späteren Jahren erfüllte Gertrude Bell sich ihren Traum von Abenteuer und Reisen, stieß damit aber sicherlich bei ihren Eltern und in der englischen Gesellschaft auf wenig Verständnis. Ein entscheidendes Ereignis in ihrem Leben war ihr Aufenthalt in Persien im Jahr 1892. Sie besuchte ihren Onkel Sir Frank Lascelles, der kurz zuvor zum britischen Botschafter in Teheran ernannt worden war. Die junge Frau war fasziniert von der persischen Kultur, von der Schönheit der Landschaft und den endlosen Weiten der Wüste. Einer Freundin schrieb sie: … Persien ist der Ort, den ich schon immer sehen wollte. Sie schwelgte in romantischen Vorstellungen einer geheimnisvollen orientalischen Traumwelt, die ihr aus den Märchen ihrer Kindheit so vertraut war. Schon vor ihrer Abreise hatte sie begonnen, Persisch zu lernen, und bald beherrschte sie die Sprache so gut, daß sie die alten Dichter im Original lesen konnte. Henry Cadogan, der an der Botschaft in Teheran beschäftigt war, teilte ihre Leidenschaft, und bald verband sie eine romantische Liebe. Sie sollte ihn jedoch nie wieder sehen. Neun Monate nach Gertrudes Abreise starb Henry an den Folgen eines Sturzes in das kalte Wasser des Flusses Lar, an dessen Ufern sie so schöne Stunden verbracht hatten.

Das Ergebnis des Persienaufenthaltes waren Gertrude Bells ersten beiden Bücher. Safar Nameh. Persian Pictures. A book of travel wurde 1894 anonym veröffentlicht, eine deutsche Übersetzung dieser Skizzensammlung 1949 unter dem Titel Persische Reisebilder*. 1897 erschien das Buch Poems from the Divan of Hafiz, Gedichte, die sie aus dem Persischen übersetzt hatte.

Nun begann für Gertrude Bell die Zeit rastloser Reisen.

Sie besuchte mit Eltern und Verwandten verschiedene Länder Europas, nahm gemeinsam mit ihrem Bruder Maurice an einer Cook’s Weltreise teil und erklomm zahlreiche Gipfel in den Alpen. Die Leidenschaft für die arabische Welt ließ sie jedoch nicht mehr los. Seit einiger Zeit lernte sie Arabisch, und schon bald befand sie sich wieder im Nahen Osten. Während dieses Aufenthalts in Jerusalem 1899 unternahm Gertrude Bell erstmals alleine eine Expedition in die Wüste – komplett ausgerüstet mit Maultieren, einem Maultiertreiber, einem Beduinen als Führer und eskortiert von einigen Soldaten. Und sie machte ihre erste Erfahrung mit dem Mißtrauen der Türken gegenüber britischen Reisenden, die immer unter dem Verdacht der Spionage standen.

Der Ritt durch Syrien 1905 markierte für Gertrude Bell den Beginn einer zehn Jahre andauernden einsamen Reisetätigkeit durch die Wüsten des Vorderen Orients und in entlegene Teile Kleinasiens. Sie fand hier Frieden und innere Ruhe, und es reizte sie die Freiheit, die die endlosen Wüsten versprachen. In der Ferne konnte sie den beengenden Konventionen der viktorianischen Gesellschaft entfliehen. Bereits in den Persischen Reisebildem klagte sie: Ach, gäbe es nicht diese Konvention, wie oft würde man da neben einem Menschen von Fleisch und Blut sitzen statt neben einem bloßen Frack! Und diese Menschen aus Fleisch und Blut glaubte sie im Orient finden zu können. Ihr hauptsächliches Interesse galt von Anfang an den Bewohnern dieser Länder und jenen Menschen, die sie ein Stück ihres Weges begleiteten. Ihre Erlebnisse in Persien kommentierte sie mit folgenden Worten: Was mich betrifft, so neige ich bisweilen zu dem Glauben, daß das eigentliche Vergnügen des Reisens in den Reisegefährten besteht. Mit welch merkwürdigen Wesen kommst du unterwegs zusammen, und an welch unerwarteten Orten triffst du sie an! Wenn deine Bekanntschaft auch nur wenige Stunden zählt, ist sie doch reich an Erfahrungen, und wenn man sich trennt, ist man so vertraut miteinander, als hätte man schon im Kindergarten sein Butterbrot geteilt oder als Student eine Flasche Rotwein zusammen getrunken.

Auch in ihrem Reisebericht über Syrien, der 1907 unter dem Titel The Desert and the Sown erschien, findet man nicht so sehr Beschreibungen von Sehenswürdigkeiten, sondern Gertrude Bell zeichnete ein lebendiges Bild der Menschen und der Welt, in der sie lebten. Sie war stolz darauf, Anerkennung und Freunde in allen Teilen der syrischen Bevölkerung zu finden. In den Zelten der Beduinen wurde sie ebenso wie von hochgestellten Beamten der türkischen Kolonialverwaltung mit allen Ehren empfangen, und sie war gerngesehener Gast in den Häusern der Drusen und Kurden. Durch die Beherrschung der arabischen Sprache und ihr Verständnis für die kulturellen Eigenheiten der Menschen vor Ort war es ihr möglich, Einblick in die Sichtweisen der Einheimischen zu geben. Schon damals interessierte sie sich besonders für politische Zusammenhänge, sie beschrieb Bündnisse und Machtkonstellationen der arabischen Stämme, und ihr Reisebericht enthält Aufschlüsse über Syriens ethnische und religiöse Minderheiten und deren Probleme.

Gerade dieses unstillbare Interesse für die Menschen und ihre Lebensweise, die lebendige Wiedergabe von Gesprächen und Gertrude Bells Begeisterung, Neues zu entdecken und zu erleben, machen ihre Reiseschilderungen spannend und unterhaltsam. Sie beschrieb zwar auch die Beschwernisse des Reisens, Kälte und Regen, Schmutz und Ungeziefer, aber nie mit Selbstmitleid, sondern gespickt mit ihrem spitzen englischen Humor. 1908 erschien eine anonyme deutsche Übersetzung dieses Reiseberichts mit dem Titel Durch die Wüsten und Kulturstätten Syriens. Die hier vorliegende Ausgabe ist eine Neuauflage der ursprünglichen Übersetzung, sprachlich behutsam aktualisiert, ergänzt mit erläuternden Anmerkungen und mit einem Inhaltsverzeichnis sowie mit einer Auswahl der Originalphotos versehen.

Im ersten Moment überrascht es, daß Gertrude Bell den fremden Frauen so wenig Aufmerksamkeit schenkte. In einer Gesellschaft, in der die Bereiche der Geschlechter so streng voneinander getrennt waren, suchte sie vor allem Kontakt zu den Männern, da diese für die Durchsetzung ihrer Interessen von größerer Bedeutung waren. Auf ihrer Reise durch Syrien drang sie in Gegenden vor, wo vor ihr noch keine europäische Frau gesehen worden war. Sie wurde jedoch immer wie ein männlicher Gast empfangen; in den Zelten der Nomaden wies man ihr den Platz für den Ehrengast zu, sie diskutierte im Kreis der männlichen Verwandten über Politik und stattete den Frauen des Hauses meist nur einen kurzen Besuch ab. Als alleinreisende Frau genoß Gertrude Bell also die gleichen Privilegien wie ihre männlichen Landsleute, war Mann honoris causa. Nicht das Geschlecht war hier ausschlaggebend, sondern die Tatsache, einer mächtigen Nation anzugehören, die gewisse Rechte und Freiheiten garantierte.

Während die Herrschaft des Osmanischen Reiches immer mehr verfiel, trachteten die Briten danach, ihren Einfluß im Nahen Osten zu verstärken, vor allem zur Sicherung des Seeweges nach Indien. Bereits 1839 hatten sie sich in Aden festgesetzt und beanspruchten immer mehr Gebiete an der Südküste der Arabischen Halbinsel. Auch am Persischen Golf durchkreuzten sie mit ihrer Präsenz die russischen Ambitionen. 1899 schlossen sie mit dem Scheich von Kuwait einen Protektoratsvertrag, der ihnen allerlei wirtschaftliche Vorrechte auf diesen begehrten Handelsplatz einräumte. Die Unterstützung der Japaner im Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) brachte den Engländern Anerkennung bei den unterdrückten Völkern des Vorderen Orients. Gertrude Bells Aufenthalt in Syrien fiel mit einigen demütigenden Niederlagen der Russen zusammen. Wie große Aufmerksamkeit man in Syrien diesem Krieg zollte, dokumentieren die zahlreichen Gespräche, von denen die Britin berichtet. Der Sieg einer orientalischen Nation über eine große westliche Macht gab den Menschen in Syrien, die seit Jahrhunderten von den Osmanen beherrscht wurden, neue Hoffnung.

Die Briten vertraten jedoch eine klare Politik gegenüber den Völkern des Nahen Ostens: Sie sollten in die moderne Welt integriert werden und brauchten dazu die Aufsicht der westlichen Mächte. Auch Gertrude Bell war überzeugt, daß die Menschen in dieser Region nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vom britischen Regierungssystem profitieren würden. Besonders stolz waren die Engländer auf Ägypten, das seit 1883 inoffiziell von ihnen verwaltet wurde. Unter Lord Cromer hatte sich die finanzielle Lage des Landes erheblich verbessert, aber es regte sich wachsender Unmut über die neue Fremdherrschaft.

Wie andere Reisende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war Gertrude Bell überzeugt von der Überlegenheit der eigenen Kultur und deren Errungenschaften und befürwortete die imperialistischen Ambitionen Englands. Andererseits erfüllte sie die Tatsache, daß die ursprüngliche Lebensweise der Bewohner des Vorderen Orients durch das Vordringen der westlichen Zivilisation immer mehr verdrängt wurde, mit Wehmut. Sie selbst wollte den Touristenhotels und Ansichtspostkarten entfliehen, auf der Suche nach dem unvergänglichen Orient, dem Sinnbild einer romantischen Traumwelt. Vor allem das freie, ungebundene Leben der Beduinen in den Weiten der Wüsten übte eine magische Anziehungskraft auf viele Reisende aus, die der Zivilisation überdrüssig waren. Gertrude Bell war fasziniert vom urwüchsigen, wilden Araber; diejenigen, die sich der westlichen Lebensweise zuwandten, wie die amerikanisierten Christen von Safita und der Vali von Damaskus, erregten oft ihr Mißtrauen.

Gefahr und Abenteuer reizten Gertrude Bell: Schon bei ihrer ersten Expedition in die Wüste 1899 war es ihr ein besonderer Genuß, die türkischen Behörden zu überlisten, und sie versuchte mehrmals, ohne offizielle Genehmigung und die vorgeschriebene Eskorte aufzubrechen. Auch 1905 verzichtete sie darauf, eine Erlaubnis für den Besuch des Djebel Druz einzuholen. Wahrscheinlich wäre sie ihr ohnehin nicht erteilt worden, denn die Türken befürchteten Komplotte der Engländer mit den rebellischen Drusen. Die Britin zog es vor, sich unter den Schutz lokaler Machthaber zu stellen, mit deren Hilfe und Empfehlungsschreiben sie relativ sicher ihre Ziele erreichte. Bei den türkischen Beamten verursachte sie zwar Überraschung und zum Teil Verärgerung, als sie ohne offizielle Erlaubnis aus der Wüste auftauchte, doch der Einfluß des Osmanischen Reiches war nicht mehr besonders groß – man sprach seit einiger Zeit nur noch spöttisch vom kranken Mann am Bosporus –, und so mußte Gertrude Bell keine negativen Konsequenzen in Kauf nehmen.

Abenteuerlust war aber nicht der einzige Anreiz für die ener­giegeladene und talentierte Britin. Ebenso intensiv und interessiert wie den politischen Fragen widmete sie sich der Archäologie. Von Nordsyrien begab sie sich nach Kleinasien, um die frühen byzantinischen Kirchen zu studieren. In den folgenden Jahren wurde sie zu einer gefeierten Orientexpertin, und ihre zahlreichen wissenschaftlichen Artikel und Bücher über ihre archäologische Tätigkeit fanden allgemein Anerkennung. Gemeinsam mit Sir William Ramsay veröffentlichte sie 1909 The Thousand and One Churches, 1911 erschien Amurath to Amurath und 1914 Palace and Mosque at Ukhaidir.

Am meisten Beachtung fand Gertrude Bells Expedition 1913/14 in das Zentrum der Arabischen Halbinsel, nach Ha’il, dem Sitz von Ibn Rashid, einem unberechenbaren und blutrünstigen Herrscher. Es war tatsächlich ihr gefährlichstes Abenteuer, und die Britin hegte selbst Zweifel, ob sie es lebend überstehen würde. Nach ihrer Ankunft in Ha’il wurde sie für einige Zeit gefangengehalten, erhielt jedoch zuletzt die Erlaubnis, weiterzuziehen. Ständig in Gefahr, während des Ritts durch die Wüste von Räubern überfallen zu werden, erreichte ihre Karawane schließlich Bagdad. Ihre politische Überzeugung, daß die Zukunft Arabiens bei Ibn Saud liege, dem mächtigen Gegner Ibn Rashids, hatte sich gefestigt. Sie sollte damit recht behalten, denn dieser wurde später zum Gründer des Königreiches Saudi Arabien.

Mit der Reise nach Ha’il versuchte Gertrude Bell vielleicht auch, ihren persönlichen Problemen und einer weiteren unglücklichen Liebe zu entfliehen. Sie hatte Charles Doughty-Wylie 1907 während ihrer Ausgrabungstätigkeit in Kleinasien kennengelemt. Eine leidenschaftliche Beziehung, die aber nie Erfüllung finden sollte, hatte sich zwischen den beiden entsponnen. Charles war verheiratet und dachte nicht daran, seine Frau zu verlassen. Ihre tragische Geschichte fand schließlich ein jähes Ende, als Doughty-Wylie 1915 beim britischen Angriff auf Gallipoli fiel, was Gertrude monatelang in dumpfe Hoffnungslosigkeit versinken ließ.

Das Angebot von David Hogarth zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in Kairo als Oriental Secretary für die Arabien-Abteilung des britischen Geheimdienstes zu arbeiten, mußte Gertrude Bell als erlösender Ausweg erschienen sein. Vermutlich quälten sie die Einsamkeit und der Verlust ihres Geliebten, außerdem hatte sie sich dem Leben der englischen Gesellschaft immer mehr entfremdet. Ihre Leistungen riefen zwar Erstaunen und Bewunderung hervor, sie galt aber eher als kuriose Außenseiterin. Das Stigma der unverheirateten Frau mußte sie als besonders schmerzlich empfinden, denn eine ‚alte Jungfer‘ galt in ihren gesellschaftlichen Kreisen als sozial gescheitert. Gertrude Bell war zwar eine außergewöhnliche Frau, die den ‚natürlichen Barrieren‘ für das weibliche Geschlecht keinen besonderen Respekt zollte, aber sie war keine Rebellin. Im Prinzip blieb sie den Normen und Werten der englischen Oberschicht treu, und daher überrascht es nicht zu sehr, sie 1908 unter den Gründungsmitgliedern der Anti-Stimmrechts-Liga zu finden. Viele ihrer Freunde und auch ihr Vater unterstützten diese Bewegung, die sich gegen die Einführung des Frauenwahlrechts richtete. In diesen Kreisen vertrat man die Meinung, daß talentierte, gebildete Frauen – also jene aus privilegierten Gesellschaftsschichten – auch ohne Wahlrecht bereits beträchtlichen politischen Einfluß ausüben und eine Menge erreichen konnten. Gertrude Bell sollte in den folgenden Jahren ein leuchtendes Beispiel dafür werden.

Im November 1915 traf sie, als Teil einer Gruppe von Experten zur Beratung des Außenministeriums und des Geheimdienstes, in Kairo ein. Es ging darum, den Widerstand gegen die Osmanen im Vorderen Orient geschickt für die britischen Interessen auszunutzen. Von der Kolonialpolitik waren Frauen normalerweise noch strenger ausgeschlossen als vom Reisen. Aber aufgrund ihrer genauen Kenntnisse der arabischen Stämme und der politischen Konstellationen im Nahen Osten konnte Gertrude Bell in diese männliche Domäne eindringen. In den folgenden Jahren bewältigte sie ein enormes Arbeitspensum und verbrachte viel Zeit damit, Kontakte zu Stammesscheichs anzubahnen, um sie als politische Verbündete der Briten zu gewinnen – eine Tätigkeit, bei der sie großes Geschick an den Tag legte.

Nach Kriegsende und der Aufteilung des Nahen Ostens – der Völkerbund übertrug England das Mandat für Palästina und den Irak, Frankreich das Mandat für Syrien und den Libanon – war Bells politische Tätigkeit noch nicht beendet. Sie hatte inzwischen ein Haus in Bagdad bezogen, ihr erstes eigenes Heim, und hier glaubte sie, die Möglichkeit einer erträglichen Existenz gefunden zu haben. Großen Einfluß auf die Geschicke des Irak sollte sie noch bei der Übergabe der Regierung an einen arabischen Herrscher ausüben. Sie unterstützte die Kandidatur von Faisal ibn Hussein, der sich an der Seite von T. E. Lawrence während des Ersten Weltkriegs an den Kämpfen gegen die osmanische Herrschaft beteiligt hatte. Der Erfolg des arabischen Aufstandes soll maßgeblich auf die genauen Informationen von Gertrude Bell zurückgehen. Manchmal wird sie auch als weiblicher Lawrence von Arabien bezeichnet. Zwei Jahre arbeitete sie unnachgiebig daran, Faisal den Thron zu sichern, was ihr den Titel einer ungekrönten Königin des Irak eintrug. Im August 1921 wurde er nach einer Volksabstimmung offiziell zum Oberhaupt des Irak ernannt.

Als Gertrude Bells Einfluß nach 1921 zunehmend dahinschwand, wandte sie sich wieder ihrer alten Leidenschaft, der Archäologie, zu. Sie wollte verhindern, daß der Irak all seine antiken Schätze ans Ausland verlor, brachte ein Ausgrabungsgesetz durch und gründete schließlich das Nationalmuseum in Bagdad, das heute eine der bedeutendsten archäologischen Sammlungen weltweit beherbergt. Allerdings wurde es im Gefolge des Irakkriegs ab 2003 zum Teil geplündert und beschädigt.

Obwohl Bell weiterhin Berichte und Artikel über die politische Lage im Irak schrieb, bot ihr Leben neben der Museumsarbeit nicht viel Aufregendes. Die Aufenthalte in England, wo sie immer schmerzlicher ein Gefühl der Desintegration empfand, hatte sie in den letzten Jahren auf ein Minimum beschränkt, aber auch in Bagdad fühlte sie sich zunehmend ausgeschaltet und überflüssig. Der Großteil ihrer Freunde und Bekannten hatte den Irak verlassen, und eine endlose Reihe einsamer Tage lag vor ihr. Sie war ausgelaugt von den Belastungen des Klimas in Bagdad, von den zahlreichen Krankheiten und dem unmenschlichen Arbeitspensum der vergangenen Jahre. All das wollte Gertrude Bell nicht länger ertragen. In den frühen Morgenstunden des 12.  Juli 1926 starb sie, zwei Tage vor ihrem 58. Geburtstag, an einer Überdosis Schlafmittel.

Gabriele Habinger, im Mai 2015

* Im Promedia Verlag in der „Edition Frauenfahrten“ erschienen unter dem Titel Miniaturen aus dem Morgenland. Reiseerinnerungen aus Persien und dem Osmanischen Reich 1892, Wien 1997.

Vorwort

Wer es heutzutage als Nichtgelehrter und Nichtpolitiker wagt, zu der ungeheuer umfangreichen Reiseliteratur einen neuen Band hinzuzufügen, muß mindestens mit einer Entschuldigung ausgerüstet sein. Die meinige ist bereit und ist, wie ich hoffe, auch so überzeugend und glaubhaft, wie solche Dinge sein müssen. Ich wollte weniger eine Reisebeschreibung liefern als vielmehr eine Schilderung der Leute, denen ich begegnet bin oder die mich auf meinen Wegen begleitet haben, wollte berichten, in was für einer Welt sie leben und mit welchem Auge sie dieselbe betrachten. Und da ich es für besser hielt, die Leute soviel als möglich selbst reden zu lassen, habe ich ihre Worte in meine Wanderungen eingeflochten, habe getreulich wiederholt, was ich gehört: die Erzählungen, womit der Hirt sowie der Bewaffnete die Stunden des Marsches kürzten, die Unterhaltungen, die am Lagerfeuer, im schwarzen Zelt der Araber und im Gastgemach der Drusen von Mund zu Mund gingen, sowie die vorsichtigeren Äußerungen der türkischen und syrischen Beamten. Ihre Politik beschränkt sich auf Vermutungen – oft sind sie scharfsinnig genug – über die Resultate, die das Zusammenwirken unbekannter Kräfte, deren Stärke und Zweck meist nur undeutlich erfaßt werden, ergeben könnte; sie schöpfen ihr Wissen aus so ganz anderen Informationsquellen, legen bei ihren Vergleichen einen so ganz anderen Maßstab an als wir und treten an die ihnen vorgelegten Probleme mit einem von dem unseren ganz verschiedenen Anschauungskreis heran. Der Orientale ist ein altes Kind. Mancher Wissenszweig, der uns von elementarster Notwendigkeit erscheint, ist ihm unbekannt; meist, nicht immer, bereitet ihm auch die Pflicht, sich solches Wissen anzueignen, wenig genug Sorge, und er kümmert sich kaum um das, was wir praktischen Nutzen nennen. Nach unserer Auffassung des Wortes praktisch ist er nicht praktischer als ein Kind, und sein Begriff von Nutzen weicht sehr von dem unseren ab. Andrerseits wieder wird sein Tun und Lassen durch überlieferte Sitten- und Umgangsgesetze geregelt, die bis auf den Beginn der Zivilisation zurückdatieren, Gesetze, die bis jetzt noch durch keinen Wechsel der Lebensweise, der sie entsprungen sind und auf die sie sich beziehen, eine größere Veränderung zu erfahren brauchten. Abgesehen davon ist der Orientale ganz wie wir auch; die menschliche Natur verändert sich jenseits des Suezkanals nicht vollständig, auch ist es nicht etwa unmöglich, sich mit den Bewohnern jener Himmelsstriche auf freundlichen, ja freundschaftlichen Fuß zu stellen. Ja, in gewisser Beziehung ist es sogar leichter als in Europa. Ist doch die Verkehrsweise des Ostens weit weniger durch künstliche Fesseln eingeengt, herrscht doch infolge der größeren Verschiedenheit auch eine viel weitgehendere Duldsamkeit. Kasten, Stämme und Sekten teilen die Gesellschaft in zahllose Gruppen, deren jede ihrem eignen Gesetz folgt, und mag dieses Gesetz unserer Meinung nach noch so phantastisch sein, dem Orientalen ist es eine ausreichende Erklärung für jede Sonderbarkeit. Ob ein Mann sich bis an die Augen in Schleier gehüllt zeigt, oder ob es ihm gefällt, nur mit einem Gürtel bekleidet zu erscheinen – es wird keine Bemerkung über ihn fallen. Warum auch? Gehorcht er doch, wie ein jeder, lediglich seinem eignen Gesetz. So kann auch der Europäer die weltfremdesten Orte bereisen, ohne großer Kritik, ja auch nur Neugier zu begegnen. Man wird die Neuigkeiten, die er bringt, voll Interesse, seine Ansichten voll Aufmerksamkeit anhören, aber niemand wird ihn für sonderbar oder närrisch oder auch nur für im Irrtum befangen halten, weil seine Gewohnheiten und seine Anschauungsweise von denen des Volkes abweichen, in dem er sich gerade aufhält. „Adat-hu“: es ist so Brauch bei ihm. Der Ausländer handelt deshalb auch am klügsten, wenn er gar nicht versucht, sich bei den Orientalen dadurch einzuschmeicheln, daß er ihre Gewohnheiten nachäfft, außer wenn er es geschickt genug tut, um für einen der Ihrigen gelten zu können. Im allgemeinen mag er den Bräuchen achtungsvoll begegnen, sich selbst aber genau an seine eigenen halten – das wird ihm die größte Achtung sichern. Die Beachtung dieser Regel ist vor allem für Frauen von höchster Wichtigkeit, denn eine Frau kann nie ganz sich selbst verleugnen. Daß sie einer großen und geachteten Nation angehört, deren Sitten unantastbar sind, wird für sie die beste Gewähr für allgemeine Rücksicht sein.

Keins der Länder, die ich besucht habe, ist dem Reisenden jungfräuliches Land, wenn auch manche dieser Gegenden bisher nur selten aufgesucht und nur in teuren und meist schwer erhältlichen Werken beschrieben worden sind. Von solchen Orten habe ich einen kurzen Bericht gegeben und alle die Photogra­phien hinzugefügt, die mir von Interesse zu sein schienen. Bei den Städten Nordsyriens habe ich auch jener historischen Überreste Erwähnung getan, die dem gelegentlichen Beobachter ins Auge fallen. Es gibt in Syrien und am Rande der Wüste noch viel Forscherarbeit zu tun, noch manches schwierige Problem zu lösen. De Vogüé, Wetzstein, Brünnow, Sachau, Dussaud, Puchstein und seine Kollegen, die Glieder der Princetonschen Expedition und andere mehr haben das Werk mit gutem Erfolg begonnen, und auf ihre Schriften verweise ich alle diejenigen, denen daran liegt zu erfahren, wie unermeßlich reich das Land an architektonischen Monumenten und schriftlichen Überresten einer weit zurückliegenden Geschichte ist.

Meine Reise endete nicht in Alexandrette1, wie dieser Bericht hier. In Kleinasien habe ich mich jedoch hauptsächlich mit Archäologie beschäftigt; die Resultate meiner dortigen Forschung sind in einer Serie von Artikeln in der „Revue Archéologique“ veröffentlicht worden, wo sie dank der Güte Monsieur Salomon Reinachs, des Herausgebers, einen weit günstigeren Platz gefunden haben, als ihnen die Seiten dieses Buches bieten konnten.

Ich kenne weder die Leute noch die Sprache Kleinasiens gut genug, um in engere Fühlung mit dem Lande zu kommen, aber selbst auf meine spärliche Bekanntschaft hin bin ich bereit, dem türkischen Bauern ein ehrenvolles Zeugnis auszustellen. Ihn zeichnen viele Tugenden aus, unter denen die Gastfreundschaft obenansteht.

Ich habe mich bemüht, auch die politische Stellung unwichtiger Personen zu schildern. Sie erscheinen denen, die in ihrer Mitte leben, gar nicht so nebensächlich, und ich meinesteils bin immer denen dankbar gewesen, die mir über ihre gegenseitigen Beziehungen Aufschluß gegeben haben. Aber es kommt mir nicht zu, die Regierung des Türken zu rechtfertigen oder zu verdammen. Ich habe lange genug in Syrien gelebt, um einzusehen, daß seine Verwaltung weit davon entfernt ist, eine ideale zu sein, habe aber auch die unruhigen Elemente genügend kennengelernt, die er mehr oder weniger gut im Zaum hält, um zu wissen, daß seine Stellung eine schwierige ist. Ich glaube nicht, daß irgendeine andere Regierung allgemeine Zufriedenheit ernten würde: gibt es doch wenige, die selbst in geeinigteren Ländern dieses ersehnte Ziel zu erreichen imstande sind.

Aber diese Erwägungen liegen außerhalb des Rahmens unseres Buches. Ich schließe mein Vorwort wohl am besten damit, womit jeder orientalische Verfasser es begonnen haben würde: Im Namen Gottes, des Barmherzigen und Gnädigen.