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Alexander
Detig

Die
letzten
Yakuza

Exklusive Einblicke
in Japans Unterwelt

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Copyright der deutschen Ausgabe 2015:
© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Holger Schiffelholz
Gestaltung, Satz und Herstellung: Martina Köhler
Lektorat: Egbert Neumüller
Korrektorat: Ursula Prawitz
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-250-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

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Für meine Frau und meine Tochter,
Tanja und Lara Marie

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„Siebenmal hinfallen, achtmal aufstehen.“
„Nana korobi, ya oki.“

Japanisches Sprichwort

Inhalt

Vorwort

Kapitel 01: „Takahiko Inoue – Der Buddha“

Kapitel 02: „Gensou Mizuhara – Der Tätowiermeister“

Kapitel 03: „Ken Kitashiba – Der Experte“

Kapitel 04: „Jiro Nakano – Der Ex-Yakuza“

Kapitel 05: „Aizu Kotetsu-Kai – Die Geheimnisvollen“

Kapitel 06: „Azuma-gumi – Die Ehrenwerten“

Kapitel 07: „Susumu Kizaki – Der Kaiser“

Kapitel 08: „Ken’Ichi Uetaka – Der alte Freund“

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Die Karten Acht, Neun und Drei, im japanischen Kartenspiel oicho-kabu

 

VORWORT

Ein später Abend.

Vier Männer sitzen an einem niedrigen Tisch und spielen Karten. Mehrere Zuschauer haben sich hinter den Rücken der Zocker versammelt und fiebern mit. Der frische Geruch des Meeres sickert durch die löchrigen Holzwände der Hütte, und keiner der Anwesenden scheint davon Notiz zu nehmen.

Giftige Kommentare und lautes Gelächter füllen den Raum. Für die Hafenarbeiter ist dies eine Möglichkeit, nach einem anstrengenden Tag zu entspannen und sich gleichzeitig etwas Taschengeld dazuzuverdienen.

Eine Partie des urjapanischen Kartenspiels oicho-kabu, das man am ehesten mit dem bekannten Black Jack vergleichen könnte, neigt sich dem Ende zu. Die Spieler schauen gespannt in ihre Karten.

Einer der Spieler, der vor ein paar Augenblicken noch völlig zuversichtlich seine Geldbörse leerte, um bei dem hohen Einsatz mitzugehen, wirkt jetzt mehr als enttäuscht.

Die Meute der Zuschauer verlangt, dass er seine Karten aufdeckt. Langsam legt er eine nach der anderen offen auf den Tisch:

Acht … Neun … Drei.

Ya … Ku … Za.

Dieser Spieler wird heute ohne Geld und ohne seine Geldbörse nach Hause gehen, denn er ist der Verlierer. Sein Blatt war das schlechteste, wertloseste, das man in diesem Spiel ausspielen kann.

Der Mann wird am nächsten Tag sicher von seinen Arbeitskollegen wegen dieses verlorenen Spiels geneckt werden, doch er kann dann seinen üblichen Geschäften nachgehen, im Gegensatz zu einer ganzen Organisation, einer Kaste in der Gesellschaft Japans, die sich in ihrem eigensinnigen Stolz selbst den Namen dieser wertlosen Kartenkombination gab: Yakuza.

Seit der Edo-Periode, etwa im 17. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, gehört sie zur Gesellschaft, zur Geschichte und zur Kultur Japans.

Gerne erzählen ihre Angehörigen auf Fragen zu ihrem Ursprung heldenhafte Geschichten, dass sie von Linien herrenloser Samurai abstammen würden, die damals im Stil japanischer Robin Hoods durch das Land zogen, um von den Reichen erbeutete Werte unter den Armen zu verteilen.

Viele Historiker sehen ihren Ursprung eher in einfachen Räuberbanden, den bakuto, den „Gesetzlosen“ und „Spielern“. Diese machten im mittelalterlichen Japan das Glücksspiel, die Prostitution und Geldschiebereien zu ihren Geschäften.

Die Yakuza übernahmen militärische Hierarchiestrukturen mit einem einsamen Herrscher an der Spitze, gefolgt von Offizieren und Soldaten.

Und sie gewannen über die Jahre immer mehr Einfluss in der japanischen Gesellschaft. Ihre Blütezeit begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Zeitweise gingen mehr als 90.000 Gangster in ganz Japan ihren illegalen Geschäften nach.

Seit der Einführung neuer, weitaus rigiderer Gesetze zur Bekämpfung der Kriminalität gehen die Mitgliederzahlen schnell zurück. Die Yakuza werden weniger, sie scheinen zu verschwinden.

Ich habe dieses Buch basierend auf meinen Recherchen zu meinem Dokumentarfilm „Die letzten Yakuza“ verfasst. Ich habe nicht versucht, ein enzyklopädisches Nachschlagewerk zum Thema Yakuza zu schaffen, sondern mir erlaubt, meine Erlebnisse in der Welt der japanischen Kriminellen unzensiert niederzuschreiben.

Meine Faszination von Japan, seinen Menschen und seiner Kultur ist untrennbar mit den Yakuza, auch bōryokudan, sprich „gewalttätige Gruppen“ genannt, verbunden.

Wie konnte eine derart mächtige kriminelle Organisation etliche Jahrhunderte lang mit einer hochentwickelten Gesellschaft verflochten sein? Wie haben es die Yakuza geschafft, zu einem Teil der Kultur zu werden, trotz ihres Rufes, „nutzlos“ zu sein? Was geschieht in der Gegenwart, und haben die alten Traditionen noch Platz in der modernen technisierten Welt Japans?

Auf diese und viele weitere Fragen suchte ich während meiner Recherchereisen nach ehrlichen Antworten.

Meine Erlebnisse und Erfahrungen möchte ich nun mit dem Leser teilen.

Alexander Detig

Im April 2015

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KAPITEL 1

Der Buddha

Kabukichō, Tōkiō

„Würden Sie bitte herunterkommen? Es ist dringend!“

Der höfliche Rezeptionist meines Hotels am anderen Ende der Leitung klang recht nervös. Auf meine Frage, was denn los sei, antwortete er nur kurz und knapp, dass meine Anwesenheit in der Lobby des Hotels unbedingt erforderlich sei.

„Da sind zwei Herren für Sie. Hier unten … in der Lobby.“

„Welche Herren?“, fragte ich.

„Ich denke, es sind sehr wichtige Herren, Detig san1. Die Herren erwarten Sie.“

Ich schaute auf meine Uhr. Sie waren überpünktlich an diesem Abend. Genug Zeit für eine chauffierte Fahrt vom Hotel zu Takahiko Inoue, einem der damals einflussreichsten Yakuza-Bosse in Kabukichō2, dem stattlichen und berüchtigten Rotlichtviertel von Tōkiō. Mitten in der Stadt gelegen, umrahmt von edlen Einkaufsstraßen und der größten und lebendigsten Bahnstation Tōkiōs, der Shinjuku3 Station, dem rund um die Uhr pulsierenden Herzen dieses Stadtteils.

Viele Klischees trafen hier in Kabukichō aufeinander. Das „alte“ und traditionelle Japan, welches mit seinen shintōistischen und buddhistischen Tempeln und den beschaulichen Gassen lockte, konnte man in diesem Teil Tōkiōs nur entdecken, wenn man sich auskannte. Nicht-japanische Touristen hätte man hier vergebens gesucht. Diese fand man eher in Stadtteilen wie Akihabara4, der weltbekannten „Elektronik-Meile“, oder an der berühmten Kreuzung von Shibuya.

Kabukichō war anders als alle Rotlichtviertel der westlichen Welt. Auch laut, hektisch, bunt und schrill, aber durchaus sehr japanisch. Animiermädchen, wie lebendig gewordene Manga-Figuren und Callboys aller Art, die ich auf den ersten Blick mit ihren langen, sorgfältig toupierten blonden Haaren und geschminkten Gesichtern nur schwer vom anderen Geschlecht unterscheiden konnte, drehten hier ab den ersten Nachtstunden ihre Runden. Aber nicht nur sie füllten die Straßen, sobald die Sonne unterging. Da gab es gestandene Geschäftsleute auf Erkundungstour mit ihren Geschäftspartnern, junge Männer auf der Suche nach einfachem und schnellem Sex, junge gestylte Frauen, die den Duft eines unbezahlbar teuren, europäischen Parfums verbreiteten, einige wenige Touristen aus allen Teilen Japans und dazwischen ich, als gaikokujin5 stellvertretend für den Rest der Welt.

„Ich komme gleich. Bitte sagen Sie den Herren Bescheid.“

Ich legte auf, packte Diktiergerät und Kamera ein und machte mich flink auf den Weg nach unten. Die Türen des Aufzugs öffneten sich und sanfte Klaviermusik kam mir aus der menschenleeren Lobby entgegen. Ich bemerkte sofort die beiden Gestalten, die sich von einer makellos weißen Wand lösten und entschieden auf mich zu marschierten. Kam es mir damals nur so vor, oder hatte der Concierge des Hotels tatsächlich die Luft angehalten?

Ich musterte den jüngeren der beiden, einen etwa 25 Jahre alten Mann mit einem recht grobschlächtigen Gesicht. Ich zählte die Narben darauf und schätzte seine krumme Nase auf mindestens drei schlecht verheilte Brüche. Sein schwarzer Anzug saß erstaunlich perfekt auf dem drahtigen Körper, und als er sich sehr tief vor mir verbeugte, wich ich vor Überraschung etwas zurück. Er stelle sich als Toshimoro Makino vor und deutete höflich auf die Drehtür. An seiner Hand erkannte ich nur noch vier vollständige Finger.

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Toshimoro Makino, der Leibwächter von Godfather Takahiko Inoue

„Inoue kumichō6 erwartet Sie, Detig san“, brummte Makino zackig.

Sein Begleiter verbeugte sich ebenfalls sehr tief, als ich an ihnen vorbei die Lobby verließ. Wir traten zu dritt hinaus in die schwitzende Abendschwüle Tōkiōs.

Trotz der zahlreichen Erfahrungen, die ich in diesem Land schon machen konnte, war es in diesem Moment doch sehr befremdlich für mich, zum ersten Mal zu erleben, wie ungezwungen und unbeeindruckt sich diese Männer in ihrer Umwelt bewegten. Ich erkannte weder Angst noch verstohlene Blicke, wie ich es von Kriminellen überall auf der Welt erwartet hätte. Diese Männer traten überraschend selbstbewusst auf die Straße und hielten höflich verneigend die Tür der schwarzen Luxuslimousine eines süddeutschen Edelkarossenherstellers für den Gast ihres Bosses auf.

Nach all meinen Erlebnissen als Investigativ-Journalist hätte ich doch eigentlich abgestumpft sein sollen. Es war immer wieder aufregend, sobald man sich in Bereiche begab, wo einem der Verstand eigentlich sagte, dass es ab diesem Zeitpunkt gefährlich werden würde. Ich war während des Jugoslawienkriegs in Bosnien als Kameramann unterwegs gewesen, ich arbeitete in Bagdad und in den verstrahlten Zonen von Fukushima und Tschernobyl, und dennoch versuchte ich mir immer ins Gedächtnis zu rufen, was wohl hätte geschehen können, wenn ich das anstehende Risiko nicht genau abgewogen hätte. Manche Kollegen hatten ihre Unachtsamkeit teuer mit ihrer Gesundheit oder gar ihrem Leben bezahlen müssen. Auch schusssichere Westen gaben nur ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Große Vorsicht, gesundes Misstrauen und Besonnenheit waren in unserem journalistischen Beruf immer schon ein Muss.

Nachdem die Wagentür satt ins Schloss gefallen war, musste ich unwillkürlich über eventuell existierende Fluchtmöglichkeiten nachdenken. Schließlich saß ich nun in einem Wagen mit zweifelsfrei kriminellen Männern.

Wer waren diese Männer? Welche rechtswidrigen Taten hatten sie schon begangen und welche würden sie auf Befehl ihres Bosses in Zukunft noch begehen? Im schummrigen Licht des Fahrzeugfonds versuchte ich sie zu beobachten, ohne zu viel zu starren, was mir wahrscheinlich in diesem Moment nicht besonders gut gelang. Auch jegliche Versuche, einen Smalltalk zu eröffnen, scheiterten an einem kurzen Kopfnicken von Makino für „Ja” und einem energischen Schütteln für „Nein”. Die ohnehin schon wortkargen Männer waren völlig verstummt, seit wir im Wagen Platz genommen hatten.

Während ich auf meine Finger starrte und geduldig auf das Ende der Fahrt wartete, erinnerte ich mich nochmals an all das, was mich letztlich hierher gebracht hatte.

Ich konnte durch meine journalistische Arbeit schon viel Zeit in Japan verbringen. Von Natur aus neugierig und offen, traf ich während meiner Arbeit und der viel zu seltenen Freizeit auf Menschen aus allen möglichen Schichten der japanischen Gesellschaft. Reich und Arm, Professoren und Müllmänner, Künstler und Geistliche, Politiker und Hausfrauen. Eines hatten sie alle gemein: die in ihrem Leben tief verwurzelten japanischen Traditionen und die Etikette. Japanerinnen und Japaner, die aus der gewohnten Umgebung herausgerissen wurden und aus beruflichen oder privaten Gründen im Ausland leben, empfinden ihre späteren Besuche im eigenen Heimatland als befremdlich. Das „normale“ Verhalten ihrer Freunde und Verwandten betrachten sie dann als übertrieben altmodisch und sogar unheimlich.

Ein befreundeter Journalist, ein gebürtiger Japaner, der seit mehr als 15 Jahren in Washington lebte, verriet mir, dass er sich ein Leben in Japan nicht mehr vorstellen kann. Zu groß seien doch die Unterschiede, und er wolle sich nicht mehr neu an die – in seinen Augen – viel zu strengen Regeln der japanischen Gesellschaft gewöhnen.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage wollte in dem Wagen keine Kühle aufkommen. Erst am Tag zuvor angekommen, hatte ich mich natürlich noch nicht an den brühend heißen Sommer von Tōkiō gewöhnt. Der August ist die Zeit, in der sogar eingefleischte Tōkiōter Schutz vor der Hitze suchen und selbst die Stadtverwaltung Tōkiōs ihre Einwohner dazu aufruft, so wenig Zeit wie notwendig im Freien zu verbringen.

Makino, unser Fahrer, schaltete nicht einmal das Radio ein, und so blieb mir nichts anderes übrig, als schweigend abwechselnd auf die Yakuza, meine Hände und aus dem Fenster zu starren. Um diese Uhrzeit kamen wir nur quälend langsam in Kabukichō vorwärts. Ununterbrochen huschten Passanten zwischen Taxis, kleinen Lkw und einigen Polizeifahrzeugen hindurch, um in den nächsten klimatisierten Raum vor der feuchten Hitze der Straße flüchten zu können. Die in diesem Viertel besonders hohe Polizeipräsenz fiel mir schon bei meinen ersten Recherche-Besuchen auf. Kabukichō gehört seit jeher zu den von der japanischen Polizei „sensibel“ genannten Bezirken. Ich erkannte die gelangweilten Blicke auf den Gesichtern der Uniformierten, wie sie das Kennzeichen unserer Limousine musterten und sich sofort wieder wegdrehten. Ich konnte nicht anders, ich musste schmunzeln.

Die Yakuza hatten es immer geliebt aufzufallen. Und dazu gehörten nun mal auch noble Karossen aller Art. Ihre Fortbewegungsmittel sollten nach Möglichkeit immer gleichen Typs und gleicher Farbe sein. Noch in den Siebzigern waren amerikanische Straßenkreuzer ein beliebtes Fortbewegungsmittel der japanischen Unterwelt. Man sah sich in der Tradition der amerikanischen Mafia, wollte auf Augenhöhe mit den so erfolgreichen Gangstern der USA stehen – gefährlich, brutal und reich. Aber auch hier änderte sich die Mode, und jetzt sollten es vornehmlich deutsche Marken aus Schwaben oder Bayern, groß, bullig und stark, in einfachem Schwarz oder Weiß sein. Zusätzliches Merkmal der eigenen Machtpräsentation waren immer schon die Nummernschilder. Mehrstellige Zahlenreihen aus ein und derselben Zahl oder Zahlenreihen mit den Ziffern Acht, Neun und Drei prangten auf den weißen Schildern. Auch das Auto, in dem ich nun saß, war mit so einem Kennzeichen versehen. Es trug die Zahl 7000.

Die Fahrt dauerte schon über 20 Minuten und wir waren kaum mehr als ein paar Hundert Meter vorwärts gekommen, als Makino plötzlich heftig auf die Bremse stieg. An einer Straßenseite schien ein schwarzer Lexus unverschämt platzverschwendend zu parken. Ohne das Nummernschild zu erkennen, wusste ich sofort, was Sache war. Die Fenster wurden heruntergefahren und sogleich begann ein wildes Wortgefecht zwischen den Yakuza in meinem Fahrzeug und zwei jungen Männern in dem japanischen Edelwagen.

„Hey, ihr Penner. Ihr wisst wohl nicht, wer wir sind! Verpisst euch gefälligst!“, schrie Makino mit einer überraschend tiefen Stimme aus dem Fenster hinaus.

„Natürlich wissen wir das! Aber nach eurer letzten Aktion solltet besser IHR euch verpissen!“, brüllte der Mann aus dem Lexus.

„Wir haben hier einen hohen Gast aus Deutschland im Auto. Wollt ihr den beleidigen? Soll er zu spät zu unserem Boss kommen? Das wird eurem Boss ganz sicher nicht gefallen! Glaub mir, das gibt Ärger!“

Der hitzige Dialog fand im typischen Yakuza-Slang statt. Japans Gangster nutzen gerne eine besondere Form der Sprache, die schon im alten Japan unter Männern als Machtdarstellung genutzt wurde. Mit tiefer, grollender Stimme sollen die eigene Stärke und ein hoher gesellschaftlicher Stand demonstriert werden. Besonders der Buchstabe „R“ wird heute bei den Yakuza immer noch exzessiv betont, gerollt und in die Länge gezogen. Einzelne Silben werden absichtlich weggelassen, viele Sätze werden mit „du“ oder „du Arsch“ ergänzt und total verschliffen ausgesprochen. Manche Begriffe haben in der Sprache der Yakuza ihre eigenen Wörter, z. B. für „Pistole“, „Drogen“ oder „Polizei“. Eine Art Gossensprache, die der interessierte Leser gut in der Originalfassung des Films Yoidore Tenshi7 von Akira Kurosawa nachverfolgen kann.

Ich lauschte gebannt diesem für mich unwahrscheinlich interessant klingenden Japanisch und erinnerte mich an meinen ersten Kontakt mit der japanischen Kultur, als ich als Jugendlicher mit James Clavells Roman „ Shōgun “ und der in einer US-amerikanischen TV-Serie umgesetzten Geschichte des englischen See-Navigators William Adams (in der Serie wurde seine Person von der fiktiven Figur des Navigators John Blackthorne verkörpert) in Berührung kam. Seine Geschichten über die neu entdeckte japanische Welt um das Jahr 1600 herum waren faszinierend, spannend und für mich als Westeuropäer befremdlich zugleich. Der japanische Hauptdarsteller Toshiro Mifune war mir schon aus Kurosawas Meisterwerk bekannt und das auffallendste Merkmal seiner Figur, des Shōgun Yoshi Toranaga, war dessen Art und Weise zu sprechen: tief grollend und brummend.

Eines erkannte ich in meinen jungen Jahren sofort: Ich musste irgendwann einmal nach Japan reisen, wollte unbedingt dieses fremde und schöne Land erleben und kennenlernen. Seine Menschen, deren Sprache und Schrift – einfach alles aus dieser geheimnisvollen und exotischen Welt.

Ich begann schon früh, die japanische Sprache zu erlernen. Ein Zufall brachte mich an einen Lehrer, der mir eigentlich in der englischen Sprache Nachhilfeunterricht für mein Abitur erteilen sollte. Dieser junge Mann war ein wahres Sprachgenie, beherrschte zwölf Sprachen fließend, und eine davon war zu meiner großen Freude Japanisch. Schnell erlernte ich die Grundbegriffe der Sprache, die (auch wenn es viele eingefleischte Japanologen gerne anders sehen) doch recht einfach in Form und Grammatik ist. Es gibt im Japanischen keine komplizierten Zeitformen, schwierigen Ausspracheregelungen und besonders im täglichen Sprachgebrauch nur sehr wenig Unregelmäßigkeiten. Die Schrift basiert auf einer einfachen Silbenschrift in Kombination mit chinesischen Schriftzeichen. Doch was wirklich kompliziert an der japanischen Sprache ist: das Erlernen der aus manchmal vielen kleinen Strichen bestehenden Zeichen.

Die Japaner selbst haben für Kinder recht hilfreiche Systeme entwickelt. In Comic-Büchern und -Heften wie z.B. Mangas werden für die Kinder die Bedeutungen der chinesischen Schriftzeichen in einer einfachen Silbenschrift, der Hiragana, gedruckt. Mein Lehrer wandte diese Technik auch bei mir an und so erlernte ich relativ schnell einen Grundwortschatz in japanischer Sprache und Schrift. Den Grundwortschatz aus 1.500 Zeichen lernen Kinder in Japan zwangsläufig durch den Unterricht in der Schule und im täglichen Leben. Als Nicht-Japaner ist das Erlernen wesentlich langwieriger und komplizierter.

Allerdings stellte ich nun schnell fest, dass mir mein Grundwortschatz in der Welt der Yakuza nur bedingt half. Bei diesem rüden, unansehnlichen Straßenslang, zusätzlich geprägt durch regionale Dialekte, haben selbst Japaner Schwierigkeiten, sie zu verstehen.

Noch bevor Waffen gezückt werden konnten, Schüsse fielen oder die Beifahrer der beiden Wagen handgreiflich wurden, setzte der Fahrer des schwarzen Lexus sein Auto plötzlich rückwärts in Bewegung und machte uns, wenn auch sehr widerwillig, den Weg frei. Makino zeigte zum ersten Mal eine kurze emotionale Regung. Er drehte den Kopf, sah mich an und grinste breit. Etwas in seinem Lächeln erinnerte mich an einen Hai – die kalten Augen eines Killers und jede Menge kleiner scharfer Zähne.

Zum Glück waren die hinteren Gassen von Kabukichō nun frei und nach zwei weiteren Gebäude-Blocks waren wir an unserem Ziel angekommen. Bis zu meinem Hotel wäre es von hier aus nur ein 5-Minuten-Spaziergang gewesen, aber ihren Gast zu Fuß gehen zu lassen wäre für diese Männer und ihren Boss ein Affront gewesen, selbst wenn ich mir dies ausdrücklich gewünscht hätte.

Das Auto parkte vor einem modernen Appartementblock. Makino und sein Kollege stiegen nacheinander aus und hielten erneut die Tür für mich auf. Bevor ich mich genauer umsehen konnte, traf mich wieder der fordernde Blick Makinos. Ich solle ihnen bitte folgen. Sie ließen mich keine einzige Sekunde allein.

Während wir durch die elegante Lobby zum Aufzug gingen, klingelte das Mobiltelefon von Makinos namenlosem Begleiter. Dieser war ein, so wurde mir erst jetzt bewusst, bulliger, breiter Yakuza mit einem Soldatenhaarschnitt, wie man ihn aus amerikanischen militärischen Ausbildungslagern kennt. Ich musste mir ein Lächeln verkneifen, hingen doch an seinem Mobiltelefon jede Menge putzige kleine Anhänger, die man eher an den Telefonen japanischer Teenagermädchen erwartet hätte: ein kleines rosafarbenes Herz, ein Miniatur-Holzschildchen aus einem Shintō-Tempel, welches vor bösen Geistern schützen sollte, und ein kleiner weißer Manga-Hase. Das alles wollte einfach nicht zum Image der brutalen Gangster passen, das diese Männer so sorgfältig zu prägen versucht hatten. Wahrlich, in Japan war nicht alles so, wie es scheinen sollte.

Es war genau dieses kleine Detail, das mich dazu brachte, beinahe schon entspannt und flankiert von meinen Bodyguards in die enge Aufzugkabine zu steigen. Ich blickte verstohlen nach oben: eine Überwachungskamera. Drei weitere hatte ich schon direkt am Eingang des Hauses bemerkt. Eine solche Ansammlung von Überwachungskameras war sogar für das technikverliebte Japan recht außergewöhnlich. Makino drückte auf den Etagenknopf und dabei blitzte kurz etwas unter seinem schneeweißen Hemdsärmel auf, was einer schuppigen Schlange ähnelte. Was hatte ich denn sonst erwartet? Ganzkörpertätowierungen gehören zu den Yakuza wie Fisch zu einem guten sashimi8.

Siebter Stock. Erneut verfolgte mich das schwarze tote Auge einer Überwachungskamera. Meine entspannte Laune wich nun aufs Neue meinen Bedenken. Was machte ich hier eigentlich? Allein. Zwischen Kriminellen in einem fremden Land. Aber für einen Rückzug war es nun definitiv zu spät. Wir verließen den Aufzug und stoppten vor einer unscheinbaren Tür.

Makino klopfte, mehrere Schlösser wurden von innen entriegelt und sie öffnete sich. Nach dem üblichen Abstreifen der Schuhe und mehreren höflichen Verbeugungen zu den im Raum anwesenden Männern trat ich hinein. Meine Begleiter warteten hinter meinem Rücken und versperrten die Tür, fast so, als hätten sie mir meine Fluchtgedanken von der Stirn ablesen können.

Als ich Monate zuvor meine Reise in Deutschland geplant hatte, hatte ich natürlich auch daran gedacht, was mich wohl hinter den verschlossenen Türen dieser im Geheimen lebenden Gesellschaft erwarten würde. Ich dachte dabei weder an eine leere Wohnung noch an einen pompösen Palast, möglicherweise eher an ein militärisch gesichertes Büro, aber nichts hatte mich auch nur entfernt ahnen lassen, was ich in diesem Moment als Erstes erblickte: einen prunkvollen buddhistischen Schrein.

Mindestens zwei Meter hoch und vier Meter breit, aus massivem edlen Holz, kunstvoll von Hand geschnitzt. Ein imposanter Buddha glänzte geölt und poliert mitten in diesem für Tōkiōter Verhältnisse riesigen Raum. Ich blinzelte etwas, bis sich mein Gehirn entschieden hatte, dass dies wohl doch keine Täuschung war.

Der allgegenwärtige Makino stand wie ein Schatten hinter mir, und als ich mich umdrehte, bot er mir einen Platz an einem Tisch an. Ich setzte mich und erst jetzt bemerkte ich die argwöhnischen Blicke der anderen Männer, die im schummerigen Neonlicht um den Tisch herum saßen. Im Raum befanden sich mindestens zehn Yakuza. Die meisten, wie Makino, in schwarze Anzüge gekleidet, mit kurzen, beinahe schon militärischen Haarschnitten, weißen Hemden, schwarzen Krawatten und sauberen Socken.

Welcher von ihnen wohl Inoue war? Nach kurzer Überlegung taugte in meinen Augen keiner von ihnen zum Boss eines Gangster-Klans, denn diese Männer, egal wie gefährlich sie auch aussehen mochten, waren allesamt viel zu jung für eine führende Machtposition innerhalb eines Yakuza-Klans.

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Der buddhistische Schrein mit der Gottheit Fudō Myōō im Büro von Boss Takahiko Inoue.

Es duftete nach Räucherstäbchen, die an dem Altar in feinen Rauchfahnen verglühten. Auf einem Monitor erkannte ich den Hauseingang und den Aufzug wieder. Von hier aus wurde jeder meiner Schritte schon vor meiner Ankunft in diesen Räumen beobachtet. Kleine Laternen in den Ecken zwischen Raumdecke und Wänden trugen die Namen mir unbekannter Männer.

Ich nippte ungeduldig an einem Glas Eiswasser, als sich plötzlich eine Tür öffnete, die ich bisher nicht bemerkt hatte, und ein weiterer Mann den Raum betrat. Ich wusste sofort, dass dies der Boss höchstpersönlich sein musste. Er hob sich aus der Menge seiner dunkel gekleideten Gefolgsleute heraus wie ein Schwan aus einer Schar von Krähen. Zu meinem großen Erstaunen trug der Mann die blütenweiße Robe eines buddhistischen Priesters. Mich traf ein wacher aufmerksamer Blick, und ein angenehmes Gesicht voller Intelligenz und Schläue strahlte mir entgegen.

Inoue kumichō musterte mich höflich und beantwortete meine Verbeugung, indem er mir auf überraschend westliche Art seine Hand entgegenstreckte. Ich drückte kräftig zu und fühlte plötzlich, wie die Anspannung von meinen Schultern abfiel. Ich konnte nicht umhin: Der Mann gefiel mir. Er war auf den ersten Blick sympathisch und hatte so gar nichts von einem gefährlichen Gangster. Wir setzten uns gegenüber an den Tisch und schlürften den rasch von einem kobun9 servierten kalten Tee, während er mich weiter musterte. Ich ließ ihn gewähren und wartete, bis er die Konversation schließlich begann.

„Wie war Ihre Reise, Detig san?“, fragte er mich leise, und im Zimmer wurde es sofort still. Seine Gefolgschaft senkte die Stimmen. Der Gast wurde vom Boss akzeptiert, somit für mich auch kein Anlass zur Sorge.

Ich bemerkte nicht einmal, wie schnell die Zeit verging, denn schon bald unterhielten wir uns wie zwei alte Bekannte. Zu meiner Überraschung erfüllte Inoue keinerlei Klischees des typischen Godfathers. Ruhig, nachdenklich, aufmerksam, fast schon schüchtern hätte ich ihn damals eingeschätzt.

Ich blickte vorsichtig auf seine Finger und bemerkte überrascht, dass wohl alle Fingerglieder bei ihm noch vorhanden waren. Inoue bemerkte meinem Blick und mit einem milden Lächeln zupfte er an seinem linken kleinen Finger. Eine Prothese, eine falsche Fingerkuppe, die verblüffend echt aussah, fiel von seinem Finger ab. Selbstverständlich war Inoue ein waschechter Yakuza.

„Das machen viele von uns, um nicht aufzufallen“, erklärte mir der Mann in der Priesterrobe, „vor allem wenn sie etwas erreicht haben. Solange du noch jung bist, kannst du auf yubitsume10 stolz sein. Wenn du älter und weiser wirst, behältst du deine Vergangenheit nur für den engen Kreis.“

Also gehörte ich nun wohl unverhofft ab jetzt zu diesem Kreis.

„Inoue kumichō “, fragte ich ihn unverblümt, „was hat es mit dem Priestergewand und diesem Schrein auf sich?“

Der Mann lachte vergnügt.

„Es gibt den Buddha, der ganz oben an der Spitze steht. Daneben gibt es noch einen zweiten Buddha, der auch mal ein Schwert in die Hand nimmt. Dazu muss er seine Gestalt in Fudō Miyōō11 wechseln. Die vier anderen Figuren in meinem Schrein haben die vollkommene Erleuchtung erreicht und können sich deshalb nicht bewegen. Sie symbolisieren den Schutz aus allen vier Himmelsrichtungen. Wenn man etwas erreichen möchte, benötigt man unbedingt diesen Schutz.“

„So eine Statue von Niō steht doch normalerweise nicht innerhalb eines Hauses, oder?“, glänzte ich mit meinem Wissen über den Buddhismus.

„Stimmt“, nickte Inoue, „Sie sollte vor der Tür stehen und dort alle Feinde abwehren. Aber hier im Appartement-Block geht das natürlich nicht. Also habe ich sie hier auf die Vorderseite des Altars stellen lassen. So bleibt sie durch die Rückseite mit der anderen, der gewöhnlichen Welt verbunden“.

„Wie kamen Sie als Yakuza dazu, sich zum buddhistischen Priester ausbilden zu lassen?“

Inoue schien auf diese Frage schon gewartet zu haben.

„Bei uns in Japan ist es so, dass man im Alter von 40 Jahren in das Jahr des sogenannten „großen Unheils“ kommt. Ich ging damals zu einem Tempel und wollte mich davon reinigen lassen“, begann Inoue seine Geschichte, und sogar das kaum wahrnehmbare Getuschel seiner Gefolgsleute im Nebenzimmer verstummte nun.

„In einem buddhistischen Tempel traf ich auf einen Mönch, der mir zeigte, dass es eine Welt nach dem Tod gibt. Für mich war das damals eine Offenbarung. Man stirbt nicht einfach und dann ist da nichts mehr, sondern es existiert noch ein Reich der Seele, und als ich das verstand, wollte ich dem Buddhismus unbedingt beitreten.“

“Und Sie haben die Ausbildung komplett absolviert?“, fragte ich erstaunt.

„Ja, sicherlich. Drei Tage ohne Essen und Trinken in einer Höhle. Gebete unter einem Wasserfall. Dabei sollen die Tropfen, die auf die Schultern und den Kopf fallen, das Böse von Körper und Geist abwaschen. Das war aber nur der Anfang. Nach vielen Monaten erhielt ich die Qualifikation zum Mönch und ich kehrte neu geboren in die Welt zurück.“

Die Augen des Gangsterbosses leuchteten sanft, er spielte mit einer sehr wertvollen Gebetskette aus Bergkristall und lächelte dabei. Es war nicht einfach, diese zwei Menschen, einen knallharten Yakuza-Boss und einen sanften Buddhisten, in Einklang zu bringen.

„Haben Sie sich danach verändert?“, fragte ich.

„Klar. Ich rastete dann nicht mehr so schnell aus wie früher und ging dann nicht immer zu Handgreiflichkeiten über. Das gab es dann nicht mehr.“

Meinem Blick entging nicht das Flackern in den Augen von Makino, der wie ein ewiger Schatten hinter der linken Schulter seines Bosses verweilte. War es Spott oder Bewunderung? Schwer zu sagen, so kurz war doch diese Regung. Alles in allem machte mich das alles noch weit neugieriger, als ich es ohnehin schon war. Es wurde ein Interview-Termin für den nächsten Morgen vereinbart. Inoue kumichō stimmte zu und bestellte mich mit Kamera für halb sieben in der Frühe zu sich ins Büro ein.

„Heute Abend holen meine Leute Sie ab, Detig san. Ich gebe einen aus!“

Das war keine Einladung, es war kein Vorschlag und auch keine Frage. Ich nickte und verbeugte mich. Man schlägt die Einladung eines japanischen Gangsterbosses zu einem Abendessen nicht aus.

Es folgte wieder eine unnötig die Umwelt belastende lange Fahrt durch die überfüllten Straßen Tōkiōs. Makino und sein Partner begleiteten mich wieder bis zum Aufzug und blieben verbeugt, bis sich die Türen vor ihnen schlossen und ich endlich allein war.

Mein Hotelzimmer, klein wie ein Schuhkarton, begrüßte mich mit einer Gratis-Wasserflasche und Schokoladentäfelchen auf den Kissen. Die Männer in ihren schwarzen Anzügen hatten bei dem Personal einen bleibenden Eindruck hinterlassen und meinen Wert in ihren Augen enorm gesteigert.

Heute Abend sollte ich Inoue erneut treffen. Dieser Gedanke brachte mein Herz zum Rasen. Diesmal musste ich aber viel professioneller und erfahrener agieren, durfte mich nicht von meiner Vorsicht bremsen lassen. Gute Vorbereitung war alles, also setzte ich mich hin und schrieb eine ganz lange Liste von Fragen auf. Darunter auch einige, die aus der Sicht eines Japanologen bestimmt als indiskret angesehen worden wären. Na und?, dachte ich mir, ich bin ein gaikokujin, ein Fremder. Man erwartete von mir keine japanische Diskretion oder Zurückhaltung. So dachte ich zumindest in diesem Moment. Ermutigt durch einen solch freundlichen Empfang, erschienen mir die Dreharbeiten für meine Dokumentation wie ein Kinderspiel.

Schon am Nachmittag wurde ich erneut unruhig, in der Einladung steckte nämlich dennoch ein Haken. Es hieß „heute Abend” – für mich als Deutscher war dies weiß Gott keine genaue Zeitangabe. Wann kämen denn nun die Jungs, um mich abzuholen? Wann war „Abend” für die Yakuza? Um sechs Uhr? Acht? Um mich nicht zu blamieren, entschied ich mich, schon ab frühen Nachmittag bereit zu sein und geduldig zu warten, bis mein Telefon erneut klingelte. Aber diesmal kam es anders. Die leise brummende Klimaanlage wiegte mich im Nu in den Schlaf. Als meine wirren Träume durch ein schrilles Summen unterbrochen wurden, schreckte ich vom Bett hoch, sah auf die Uhr, auf der es bereits viertel vor acht war, und sah nun zudem total zerzaust und verschlafen aus. Ich griff zum Hörer.

„Werter Detig san”, die Stimme des Portiers klang noch angespannter als zuvor. „Die Herren warten wieder auf Sie. Bitte kommen Sie herunter”, flüsterte er und wiederholte leise: „Bitte.”

Ich rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn durch mein Zimmer, stieß mir dabei mehrmals das Schienbein an, zischend vor Schmerz schnappte ich eines meiner Hemden und knöpfte es noch auf dem Weg zum Aufzug zu. Die vorher so sorgfältig zusammengestellte Liste meiner Fragen blieb selbstverständlich auf dem Tisch liegen.

Als ich das Foyer betrat, sah ich sofort den mir schon bekannten Makino, der diesmal von einem für einen Japaner extrem großen Mann begleitet wurde. Sein schicker, maßgeschneiderter, grauer Anzug, vermutlich italienischer Herkunft, erinnerte mich die amerikanische Mafia der Vierzigerjahre. Eine große moderne Brille saß auf einer noch unbeschadeten Nase. Die sorgfältig frisierten Haare glichen in keiner Weise den kurzen billigen Schnitten der übrigen kobun des oyabun Inoue.

Der Mann lächelte breit und stellte sein perfektes Gebiss zur Schau. Er machte einen Schritt nach vorn, nickte kurz und streckte mir seine große Hand mit einem riesigen goldenen Siegelring entgegen.

„Mizuhara”, stellte er sich vor, „nett, Sie kennenzulernen.”

Diese Worte sagte er in einem furchtbaren Englisch, aber allein die Tatsache, dass er eine Fremdsprache beherrschte, überraschte mich enorm. Später erfuhr ich, dass es die einzigen Sätze waren, die Mizuhara auf Englisch kannte. Wir schlenderten zu der mir schon bekannten schwarzen Limousine. Makino fuhr wieder den Wagen und Mizuhara unterhielt sich ausgelassen mit mir. Er machte Witze, erzählte kurze Anekdoten und teilweise mir unverständliche Scherze, auf die Makino nur kurz nickte. Entweder besaß dieser keinerlei Sinn für Humor, oder es war einfach seine Art, was Mizuhara nicht weiter zu stören schien. Ab und zu drehte er sich zu mir um, grinste breit und fragte:

„Alles o.k.?”

Sobald ich dies bejahte, widmete sich der große Mann erneut seinen Geschichten. Ich betrachtete aufs Neue die Stadtbilder, die hinter den schwarz getönten Scheiben vorbeiflogen. Ich liebe Tōkiō, diese riesige Stadt kann man mit keiner anderen Metropole der Welt vergleichen. Sie ist immer noch lebendig, laut, und sie schubst und tritt dir auf die Füße, erst recht, wenn du es wagst, einen Moment mittendrin zu verweilen. Gleichzeitig ist sie so japanisch wie ihre Bewohner. Private Sicherheitsdienst-Mitarbeiter, die Passanten auf der Straße lauthals warnen, wenn ein Auto aus einem Parkhaus ausfährt. Verkäufer, die ihre Waren und Geschäfte anpreisen. Bunte Schaufenster, leuchtende Reklame, eine Armee von Getränkeautomaten im Abstand von 50 Metern, die im Sommer mit kalten und im Winter mit heißen Getränken locken, und die zum gigantischen Stromverbrauch des Landes beitragen. Verschiedenste Essensdüfte aus vielen Läden vermischen sich mit dem Smog zu einem einzigartigen Parfüm, mit dem sich Tōkiō jeden Tag aufs Neue einnebelt.

Und mittendrin: Kabukichō. Ein Ort wie ein Schönheitsfleck, der irgendwann einmal einer jungen Kokette ihren Reiz verlieh, aber durch die Jahre zu einer beinahe abstoßenden Warze mutiert ist. Dieses Viertel ist anders, es hat seinen eigenen Rhythmus, es lebt gegen alle Gesetze und gegen die Traditionen. Es ist eine stille Rebellion auf Japanisch. Und erst wenn die Sonne ins Meer eintaucht, erwachen die Bewohner von Kabukichō. Vom geschäftigen Treiben des übrigen Tōkiō schienen sie sich völlig zu unterscheiden.

Als erstes sah ich die Animiermädchen, die auf ihre Posten eilten. Sie trugen kurze Röcke, hatten allesamt langes Haar, und die meisten von ihnen wollten wie Schulmädchen aussehen, obwohl sie dieses Alter manchmal schon um mehr als zehn Jahre überschritten hatten. Ihre kurzen Faltenröcke, die langen weißen Strümpfe und schwarzen Schuhe weichen jedoch immer mehr moderner Designerkleidung von namhaften europäischen Modemarken. Diese jungen Frauen verdienen gut – sehr gut.

Daneben tauchten die Callboys in ihren viel zu engen Anzügen auf. Ihre toupierten Haare erinnerten an Perücken, geschminkte Augen blickten feucht und lüstern auf die Besucher beiderlei Geschlechts. Die Spitzen ihrer übergroßen Cowboystiefel bogen sich grotesk in die Richtung des Nachthimmels. Sie blieben meistens unter sich, standen in der Nähe ihrer Lokale und sprachen potenzielle Kunden leise an oder hechteten hübschen Frauen hinterher. Ihre Versprechungen sollten sie meistens nicht erfüllen, denn das wichtigste für sie war es, die Menschen in die Bars zu locken, sie dort abzufüllen und ihnen mit wahnwitzig überteuerten Getränken das Geld aus der Tasche zu ziehen. Eine Nacht mit diesen Jungs konnte eine wohlhabende junge Frau oder einen gut betuchten Mann mehrere Tausend Euro kosten. Die sexuelle Ausrichtung hetero oder schwul war zweitrangig.

Die Freier der Huren sind typischerweise Männer. Doch die Freier der Callboys sind oftmals wieder genau diese Huren, die ihr schwer verdientes Geld nur für das Gefühl von Nähe und Geborgenheit an diese schicken Jungs verprassen.

Offiziell ist Prostitution in Japan verboten. Aber niemand verbietet einem Mann, neben einem jungen Mädchen zu sitzen, ihre bewundernden Blicke zu spüren, ihre „Ohs” und „Ahs” zu den eigenen langweiligen Geschichten zu hören, und wenn man ihr ein Bier spendiert, das sie dann noch nicht einmal trinkt – aber wen kümmert es?

Natürlich kann es auch passieren, dass dieses Mädchen gerade in der Nähe eine Wohnung hat und einen zu sich einlädt, weil man ihm gefällt, und nicht, weil es eine monetäre Entschädigung erwartet.

Jeder kennt diese Regeln, alle befolgen sie und jeder Besucher von Kabukichō muss auch die Preise für diese Art der „Unterhaltung” kennen. Sollte es doch einmal anders ablaufen, ein Freier mit einer „Leistung“ nicht zufrieden sein, folgt nur ein kurzer Anruf und es tauchen stämmige Jungs in schwarzen Anzügen auf. Sie klären dann den einfältigen Kunden über seine Pflichten auf.

Ich beobachtete im Vorbeifahren das ach so unschuldig wirkende Treiben auf den belebten Straßen Kabukichōs, die kichernden Mädchen, die tuschelnden Jungs, und dabei vergaß ich für einen Moment fast, dass ich jetzt auch ein Teil dieser Welt geworden war. Das war keine soziologische Feldstudie – das war echter investigativer Journalismus.

Nach nicht einmal 15 Minuten Fahrt wurde ich aus meinen Wachträumen gerissen. Wir hatten uns diesmal überraschend schnell durch die Stadt gekämpft und waren nun in einer winzigen Seitengasse, irgendwo in Kabukichō, an einer mir vollkommen unbekannten Ecke angekommen. Das Gässchen war schmuddelig, es stank nach Fisch und duftete im selben Moment sehr angenehm nach frisch gekochtem Essen.

„Nur noch ein paar Schritte, Detig san”, sagte Mizuhara auf Japanisch, und es klang beinahe so, als ob er sich für etwas entschuldigen wollte.

„Kein Problem”, winkte ich ab und schaute mich genauer um.

Dunkle Häuser aus Beton und Stahl umrandeten diese kleine Gasse, in der überall kleine Ladengeschäfte und winzige Restaurants waren. Unser parkendes Auto blockierte das eine Ende der Straße vollständig. An einer Seite, einige Meter von uns entfernt, blinkte ein schwach leuchtendes Neonschild. Ich konnte nicht erkennen, was darauf stand, und ein kühler Wind in dieser schwülen Nacht trocknete den Schweiß auf meinem Rücken. Die Gasse war menschenleer und es war völlig still.

Einige Zeitungsausschnitte und Berichte von Kollegen blitzten durch mein Gedächtnis. Die Yakuza sind berühmt für ihre gute Miene zum bösen Spiel. Nun ja, ich wäre nicht der erste Journalist, der auf irgendeiner Straße verschwinden würde, nur weil er zu gedankenlos an eine Sache herangegangen war. Ich hätte nur gerne gewusst, worin mein Fehler wohl gelegen hätte? Was hätte ich Godfather Inoue nicht fragen dürfen? Ich sah mich nochmals um.

Es war eigentlich ein perfekter Ort, um einen aufdringlichen und viel zu neugierigen Mann aus der Welt zu schaffen. Ich konnte niemandem einen Vorwurf machen, denn niemand hatte mich zu dieser Reise gezwungen. Also schlurfte ich schicksalsergeben zwischen Mizuhara und Makino auf das leuchtende Viereck einer offen stehenden Tür zu und bereitete mich schon auf das Schlimmste vor.

In einem kleinen, schmutzig und verkommen aussehenden Korridor musste ich meine Schuhe bei der Türschwelle lassen und die üblichen Gummischlappen überstreifen. Danach betrat ich einen kleinen, schlecht erleuchteten und völlig verrauchten Raum. Das Stimmenwirrwarr vieler Männer und Musik aus einer Jukebox schlugen mir entgegen.

Es sah doch nicht so schlecht für mich aus. Meine anfänglichen Bedenken verflogen rasch. Ich stand nun mitten in einer gewöhnlichen japanischen Bar mit traditionellem Touch.

Rechts eine Bartheke, vollgestellt mit jeder Art alkoholischer Getränke, die man auf der Welt nur finden kann. Links eine Art Podest mit einem niedrigen Tisch und typisch japanischen Sitzkissen. Die Wand dahinter war mit Fotos von alten Shintō-Festen vollgeklebt. Auf vielen dieser Bilder trugen volltätowierte Männer den Schrein einer japanischen Gottheit zu einem Shintō-Fest. Auf anderen feierten und lachten sie in die Kameras, während die Menschenmenge ihnen zujubelte.

Es wurde mir klar, dass dies eine der vielen sehr geheim gehaltenen Yakuza-Bars sein musste. Mizuhara wies mir mit einer lässigen Verbeugung einen Platz direkt an einer Tischecke an. Der Barbesitzer, ein dicklicher Mann in einer mit Fettflecken übersäten Küchenschürze, fragte mich ruppig, was ich wohl trinken möchte, und als ich Wasser bestellte, drehte er sich hilfesuchend zu Makino um, der es sich schon auf einem der Barhocker gemütlich gemacht hatte. Anscheinend war es keine richtige Wahl, aber mein Wasser bekam ich trotzdem. Langsam füllte sich der Raum noch mehr, und bald waren alle Sitzkissen bis auf eines belegt. Einige ältere Herren trugen teure Anzüge, andere wiederum sahen eher wie brave Rentner aus. Sie verbeugten sich vor mir, aber keiner nannte mir seinen Namen.

Einer von ihnen, ein Mann um die 70 Jahre mit einer goldenen Brille auf seiner Nase, wurde mir von Mizuhara als „Papa san“ vorgestellt. Dabei lachte er mit seiner tiefen grollenden Stimme.

Wer waren all diese Menschen? Yakuza? Freunde der Yakuza? Gehörten sie zur Familie? Dann lernte ich einen jungen Mann kennen, dessen schwacher Händedruck mich an einen toten und schon lange verwesten Fisch erinnerte. Auch sein teigiges Gesicht zeigte weder Interesse noch Neugier. Er war der einzige Sohn von Inoue. So wie Mizuhara und Makino saß er nicht mit uns am Tisch, sondern fand seinen Platz auf einem der unbequemen Barhocker.

Als alle Gäste sich am Tisch versammelt und ihre Getränke bestellt hatten, tauchte endlich auch der Gastgeber auf. In seinem üblichen weißen Kimono durchquerte Inoue san gemächlich den Raum und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

„Wieso trinkst du nichts?”, fragte er freundlich, „Hat dir der Barkeeper noch nichts gebracht?”

„Ich habe Wasser bestellt”, murmelte ich höflich lächelnd.

„Wasser ist für Frauen und Kinder!”, lachte Inoue und schrie in den Raum hinein.

„Den besten Sake für meinen Gast! Weißt du, bei uns gibt es Sake, den man nur kalt trinken darf, es gibt auch welchen, den man nur warm trinken darf. Aber der hier”, Inoue deutete in Richtung des Wirts, „hat einen, den man sowohl warm als auch kalt genießen kann.”

Eine eiskalte Flasche Sake und klitzekleine Becher, geschmückt mit dem Emblem des Klans der Inagawa-kai, erschienen zwischen uns.

Inmitten dieses von Hostessenklubs, Bars und Liebeshotels geprägten Stadtteils herrschte Boss Inoue seit etlichen Jahren als ein Statthalter der Inagawa-kai12, der mit 3.300 Mitgliedern drittgrößten Yakuza-Vereinigung Japans. Der Klan entstand in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in der Region Yokohama und bestand zunächst nur aus einer Ansammlung verschiedener kleiner Gruppen, die sich schließlich 1972 unter der strengen und harten Hand des Gründers Kakuji Inagawa zu diesem sehr mächtigen Klan formierte.

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Das mōn oder auch daimōn genannte Siegel der Inagawa-kai.

Die Inagawa-kai gilt von jeher als sehr straff und militärisch organisiert. In der Hierarchie stehen die Bosse über allem, gefolgt von den Statthaltern der Vereinigung, die in den ihnen zugeteilten Bezirken der Stadt für die Geschäfte des Klans zu sorgen haben.

Diese Geschäfte sind in erster Linie illegale Kreditgeschäfte, Drogenhandel und Prostitution. Besonders in den 80er-Jahren boomte zusätzlich das Baugeschäft, in dem nahezu alle Yakuza-Klane des Landes ihre größten Geschäfte machen konnten. Bauplätze wurden zum Beispiel kleinen privaten Inhabern abgepresst, an große Konzerne vermittelt oder mit eigenen Bauprojekten bebaut. Dadurch konnte die Inagawa-kai in diesen Jahren über eine Milliarde US-Dollar erwirtschaften. Alles natürlich steuerfrei, denn so weit ging die Liebe zu ihrem Land dann doch nicht.

Takahiko Inoue war nicht nur der oyabun oder kumichō, sprich der „Klan-Vater“, „Godfather“, „Pate“ oder einfach nur der „Boss“ seiner Gang, der Inoue-gumi. Er war auch Mitglied des Exekutivkomitees der Inagawa-kai. Somit hatte er einen der einflussreichsten Posten inne. Und solch eine Position konnte man üblicherweise nicht nur durch Fleiß und harte Arbeit erlangen.

Die in der Hierarchie dem oyabun unterstellten Männer der untersten Riege werden als kobun bezeichnet. Als sich die Yakuza zu Organisationen und Vereinigungen zusammenschlossen, übernahmen sie dieses japanische Hierarchiesystem, in dem der oyabun, der Vater, seine schützende Hand über seine „Kinder“ oder „Söhne“ hielt, welche ihm immer und überall streng ergeben waren. In späteren Zeiten wurde zudem noch der Kodex des jingi übernommen, welcher zusätzlich noch Regeln von Loyalität und Gerechtigkeit übernahm.

„Ich zeige dir, wie ein Japaner trinkt!”, verkündete Inoue und füllte die Fingerhut-großen Becher mit kaltem Sake. Ich prostete ihm zu und trank den Reiswein in einem Zug aus. Eine halbe Flasche Sake später flüsterte Inoue dem Barbesitzer etwas ins Ohr und seine Augen glitzerten dabei schelmisch. Ich ahnte schon, was jetzt kommen würde.

Alle Japaner vereint eins: Egal, wie gut man die japanische Sprache beherrscht oder die Sitten und Gebräuche kennt, so erwartet doch jeder in diesem Land Geborene von einem Nicht-Japaner ein tölpelhaftes Benehmen bei Tisch. Aus der Sicht des Japaners sollte ich als Deutscher nichts mit den Stäbchen anfangen können, mich nicht in den Tischsitten auskennen. Eine große Enttäuschung war es jedes Mal für meine Tischnachbarn oder Gastgeber, als ich die „Toilettenschuhe” da ließ, wo sie hingehörten: im Toilettenraum. Noch immer werden Geschichten von den „dummen” Ausländern genüsslich verbreitet, denn ein durchschnittlicher Japaner trifft in seinem Leben zu selten auf Europäer oder andere Weltbürger, um dabei den endlosen Respekt der Gäste seines Landes vor seiner Kultur schätzen lernen zu können. Aber in diesem Yakuza-Lokal fühlte ich mich auf Anhieb sehr wohl. Keiner zeigte auf mich mit dem Finger, als ich ein Krabbenomelett gekonnt rollte und in meinen Mund beförderte, keiner der Gäste bat mir seine Hilfe beim Vorspeisensalat aus Algen an. Aber es sollte etwas kommen, was mein Können auf eine harte Probe stellte. Würde ich diese bestehen?

Tatsächlich, einige Zeit später wurde es im Raum still und unter plötzlich ausbrechendem Gelächter und Applaus wurde ein Fischkopf serviert. In zwei Teile längs durchgeschnitten, in Gewürzen gekocht, sah er mich vorwurfsvoll aus einem seiner großen trüben Augen an.