Cover

Die Töchter der Elfe. Schicksalstanz

Über die Autorin

Nicole Boyle Rødtnes, geb. 1985, gründete 2002 den Verein »Hoffnungsvolle junge Schriftsteller«, der zahlreiche erfolgreiche dänische Schriftsteller hervorgebracht hat. 2010 debütierte sie mit dem Roman Dødsbørn, dem ersten Band einer Serie, der bei einem kleinen Verlag herauskam und schnell sehr erfolgreich wurde.

Bei Beltz & Gelberg erschien von ihr bereits die Trilogie Die Töchter der Elfe und der Roman Wie das Licht von einem erloschenen Stern.

Sie fingen an zu tanzen und sie tanzten wild, immer in Elfenmanier …

Volkslied »Elverhøj«

Inhalt

Die Tanzshow

Ein Neuer

Verbotenes Terrain

Alles für die Kunst

Unter dem Eis

Alles hat seinen Preis

Fragen ohne Antwort

Der neue Tanzsaal

Das Fest

Entwicklung

Etwas ist auf dem Weg

Dunkle Schatten

Ohne Sicherungsseil

Gespenster

Einmal die Woche

Der Badeanzug

Lügen

Schwangerschaftsvertretung

In tiefem Wasser

Der Elfenblick

Noch eine Chance

Aspirin

Wenn nichts mehr einen Sinn macht

Was der Bach nimmt …

Mörderin

Das Fieber

Der Abschied

Zu schwach

Die Wahrheit

Leseprobe

Bis zu unserem zehnten Geburtstag tanzten meine Schwestern und ich jeden Samstag für unseren Vater. Aber immer nur eine allein. Nie alle zusammen. Das war zu gefährlich.

An meinem zehnten Geburtstag tanzte ich durchs Wohnzimmer auf Füßen, die kaum die Erde berührten. Vater lächelte, während ich durch den Raum glitt. Zuerst langsam, dann immer schneller. Die Musik riss mich mit und ich ließ den Körper bestimmen. Fühlte den Rhythmus, der das Blut wogen ließ. Je schneller ich tanzte, umso mehr kitzelte es im Körper. Es bebte. Glühte. Meine Füße zeichneten lange Streifen auf dem weichen Teppich, während Vaters Blick voller Wärme und Zärtlichkeit auf mir ruhte. Die Töne der Musik strichen über meine Haut, und während die Intensität stieg, tanzte ich schneller, als ich mir je hätte vorstellen können.

Dann fiel Vater vom Stuhl.

Gerade noch saß er wie verzaubert von meinem Tanz da. Im nächsten Moment lag er reglos auf dem Boden.

Ich schrie.

Meine Schwestern, Azalea und Rose, kamen ins Wohnzimmer gelaufen. Wir schüttelten Vater, doch er reagierte nicht.

Im Krankenhaus sagten sie uns, er liege im Koma. Es dauerte fast drei Tage, bis er wieder aufwachte.

Das war das letzte Mal, dass wir für Vater tanzten.

Die Tanzshow

»Hey Birke. Was meinst du, kann ich das nachher bei der Show anziehen?« Rose rauscht in mein Zimmer.

Sie trägt ein dünnes, goldenes Kleid mit langen Fransen, das ihr bis kurz über die Knie reicht. Es schmiegt sich eng an den Körper und betont ihre schlanke, zarte Figur. Vorn ist es tief ausgeschnitten. Sie dreht sich um, und ich sehe, was das Problem ist. Es ist auch am Rücken ausgeschnitten. So tief, dass man fast die Spitzen ihrer Schulterblätter erkennen kann.

»Ich glaube nicht, dass man es sehen kann. Oder?«, fährt sie fort und schiebt ihr rotes, welliges Haar zur Seite.

Vorsichtig ziehe ich das Kleid ein wenig runter. Der kleine Hautstreifen zwischen den Schulterblättern hört auf und ich kann durch sie hindurch auf die braunen Furnierbretter der Wand blicken.

»Wenn es nur einen Zentimeter runterruscht, ist es sichtbar.« Ich habe Gänsehaut auf den Armen. Die bekomme ich immer, wenn ich das Loch sehe. Obwohl das schon hundertmal passiert ist. Obwohl wir alle drei so ein Loch haben.

»Man kann aber auch nie etwas wirklich Schickes anziehen!«, seufzt Rose. »Mach mir mal den Reißverschluss auf, ich werde mir ein anderes aussuchen.«

Ich öffne den Reißverschluss und sie zieht das Kleid aus. Jetzt ist das ganze Loch zu erkennen. Es erstreckt sich vom Anfang der Schulterblätter hinunter bis zum unteren Rückenbereich. Lang, ellipsenförmig. Es wird nur durch den beigefarbenen BH unterbrochen.

Es heißt, Elfen hätten ein Loch im Rücken, weil sie keine Seele haben. Daran können sie die Helden in den Märchen erkennen.

Diese Worte meines Dänischlehrers habe ich nie vergessen.

Rose huscht zurück in ihr Zimmer.

Ich starre in den Spiegel. Spüre, wie die Unruhe mich langsam überfällt. Das tut sie immer, wenn wir auftreten sollen. Obwohl ich es nicht will, wandern meine Gedanken in die Vergangenheit zurück … und ich muss immer wieder mit anschauen, wie Vater vom Stuhl fällt.

Schnell fahre ich mir mit der Bürste durch mein langes Haar. Mit der Unruhe kommt auch die Vorfreude. Obwohl ich mir wünschen würde, dass ich nicht tanzen müsste, es einfach bleiben lassen könnte, so freue ich mich gleichzeitig darauf.

Kurze Zeit später kommt Rose zurück. Jetzt trägt sie ein blaues Kleid.

»Und wie ist es mit dem hier?« Sie dreht sich um die eigene Achse, der Stoff wiegt sich sanft.

»Das ist in Ordnung«, murmle ich und streiche mit den Händen über mein eigenes Kleid.

»Aber langweilig«, seufzt sie. »Das fällt doch niemandem auf.«

»Ganz egal, was du anhast, du wirst allen auffallen, du bist einfach fantastisch.«

»Ja, schon, aber ich möchte für Benjamin besonders gut aussehen.« Sie fährt sich mit der Hand durch ihre Locken.

»Bist du wieder verliebt?«

»Mmm …«, sie nickt. »Ach, verliebt zu sein ist das Schönste auf der Welt! Du solltest es auch mal versuchen.«

»Vater sagt …«, setze ich an, während ich die Haare aus der Bürste zupfe. Mein Haar ist hell, fast weiß, als wäre jede Farbe aus ihm herausgespült worden.

»Vater malt immer den Teufel an die Wand. Ich bin doch nicht dumm! Und seit wann redest du denn wie Azalea?«

»Ich rede nicht wie Azalea!«

Azalea ist die Älteste von uns dreien. Das heißt, sie ist viereinhalb Minuten älter als ich und acht Minuten älter als Rose. So ist das bei Elfen; wir werden zusammen in einem Wurf geboren.

»Woher kennst du diesen Benjamin denn?«, frage ich.

»Wir sind uns in der Stadt begegnet.« Sie dreht eine Locke um den Finger. »Benjamin Skjoldbæk, ist das nicht ein fantastischer Name?«

Wir sind alle vier auf dem Weg zur Tanzhalle. Vater, Azalea, Rose und ich. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen, während wir den kurzen Weg durch den Wald nehmen und auf den Ort Tørveby zugehen. Die Bäume sind kahl, die Büsche nur noch Geäst. Ein Hase läuft an uns vorbei und hinterlässt kleine Pfotenabdrücke im Schnee.

Am Eingang der Tanzhalle hängen große Plakate, sie versprechen eine atemberaubende Show. Ich starre das Foto von uns dreien an, von einem unserer letzten Auftritte. Ich spüre wieder die Unruhe von vorhin.

»Seid ihr bereit, Mädchen?«, fragt Vater und haucht Wärme auf seine Hände.

Azalea und ich nicken, während Rose zum Umkleideraum eilt. Sicher will sie wieder ihre Frisur richten, sie könnte ja auf dem kurzen Weg zerzaust worden sein.

»Ich zähle die Vorbestellungen«, sagt Vater zu uns und verschwindet im Büro. Er zählt die reservierten Eintrittskarten immer zweimal. Es müssen mindestens hundert Zuschauer sein, sonst ist es nicht sicher. In der Regel ist er erst zufrieden bei 120, falls einige nicht erscheinen.

»Du wirkst so nervös.« Azaleas grüne Augen bohren sich in meine, als wir die Tür zum Umkleideraum öffnen. Sie merkt so etwas immer sofort.

»Es ist nichts«, sage ich schnell.

Das Licht flackert auf, und die leeren Bänke und Hakenleisten kommen zum Vorschein. Hier ist Platz für eine ganze Schulklasse. Aber nur wir drei benutzen diesen Raum und das nur einmal im Monat.

Rose macht Dehnübungen an den Bänken. Nicht dass sie das braucht. Wir üben nicht einmal unseren Tanz. Sprechen nichts vorher ab. Wir tanzen einfach, sobald die Musik einsetzt, und auch wenn nichts geplant ist, passen unsere Tanzschritte wie selbstverständlich zusammen. Selbst mit geschlossenen Augen gleiten wir unbeschwert aneinander vorbei.

»Ich laufe nur schnell hoch und schaue, ob Benjamin schon gekommen ist.« Rose ist bereits die Treppe hoch. Sie ist in allem besonders eifrig. Besonders energiegeladen und rastlos vor unserem Auftritt. Aber damit ist sie nicht allein: Wir alle können es spüren. Die letzten vier Nächte habe ich davon geträumt. Jede Nacht hat mein Körper vibriert. Die Lust … nein, der Drang zu tanzen.

»Bist du dir sicher, dass du okay bist?« Azaleas Blick haftet an mir.

Ach, ich wünschte, ich könnte meine Gefühle besser verbergen.

»Ja, es ist nur schon so lange her«, erwidere ich.

Was nicht stimmt.

Es ist nicht länger her als letztes Mal. Oder das Mal davor. Es liegt immer ein Monat dazwischen; so lange können wir warten. So ist das schon seit vielen Jahren. Seit Vater einsehen musste, dass es zu gefährlich ist, wenn wir nur für ihn tanzen.

»Oje, er ist da!« Rose kommt uns aufgeregt entgegen. Azalea und ich gehen nun auch die Treppe hoch. Jetzt dauert es nicht mehr lange.

Ich kann das Rascheln des Bühnenvorhangs hören, der zur Seite gezogen wird, und Vater kommt zu uns.

»Seid ihr bereit?«

»Allzeit bereit«, sagt Rose und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.

Azalea und ich nicken, während wir unsere Haare mit einem Haargummi zusammenbinden.

Es rumort im Bauch. Das unsichere Gefühl von vorhin ist nun vollkommen verschwunden. Es ist nur noch reine Freude zu spüren.

Wir betreten die Bühne und ein Begrüßungsapplaus empfängt uns. Mein Blick huscht schnell über die Zuschauer. Es gibt eine große zusammengehörige Gruppe, sie muss aus Næstbæk stammen, oder aus einem anderen Ort. Sie sind daran zu erkennen, dass sie ein Programm in der Hand halten. Der Rest ist hier aus der Stadt. Obwohl sie uns schon hundertmal gesehen haben, kommen sie jedes Mal wieder.

Die Scheinwerfer werden eingeschaltet, das Publikum verschwindet hinter dem grellen Licht. Verwandelt sich in eine dunkle Masse.

Vater sitzt am Klavier, das zwischen den Zuschauerstühlen steht, deshalb ist er nach unten gegangen.

Seine langen Finger huschen über die Tasten. Langsam entsteht die Musik. Sie bringt mein Blut zum Kochen. Lässt die Haut erzittern. Setzt den Körper in Bewegung. Ich schließe die Augen, alles außer der Musik verschwindet. Ich gleite über die glänzende Bühne, während ich mir vorstelle, es wäre der Waldboden an einem heißen Sommertag. Fast kann ich die winzigen Grashalme zwischen den Zehen spüren. Die Feuchtigkeit der Erde und den Duft des Mooses. Wie sehr ich mich doch aufs Frühjahr freue.

Auch wenn ich Rose und Azalea nicht bewusst sehe, fühle ich sie. Immer dicht bei mir. Sie funkeln in der gleichen Art und Weise wie ich, während die Energie aus dem Publikum uns entgegenströmt.

Ich öffne die Augen und sehe sie. Mustere die vielen Menschen, die uns wie verhext zuschauen. Ihr Lächeln und ihre Begeisterung, ja Verzückung.

Ich sauge ihre Energie in mir auf. Lasse sie in meine Adern fließen, im Blut durch den Körper strömen. Mein Herz schlägt immer schneller. Es folgt dem Rhythmus der Musik.

Ich wirble herum. Schneller und immer schneller. Sauge immer mehr Energie auf. Drehe eine Pirouette nach der anderen und könnte für immer und ewig so weitertanzen. Ich wünschte, das würde nie aufhören. Die Energie hüllt mich ein. Erfüllt mich. Und dann …

Die Musik verstummt. Ohne Vorwarnung oder Ausklang, wie Vater es sonst immer macht. Sie hört einfach auf. Ich bin so erschrocken, dass ich fast stolpere.

Die Scheinwerfer erlöschen und ich kann die Zuschauermenge wieder sehen. Viele sind zu einer Stelle gelaufen, starren alle auf eine schmächtige Person auf dem Boden. Ein kleines Mädchen ist zu Boden gefallen.

Vater hockt neben ihr. Er hat das Handy ans Ohr gepresst, während er ihren Puls überprüft.

Ich schaue Azalea und Rose an. Sie zittern, genau wie ich. Und nicht nur, weil die Energie unter unserer Haut knistert, sondern weil wir alle drei wissen, was das bedeutet.

Dann ergreift Azalea meine Hand und zieht mich von der Bühne weg. Zurück in den Umkleideraum.

Vor meinen Augen blitzt es rot und schwarz auf. Die Angst pumpt das Blut durch den Körper. Immer wieder habe ich das gleiche Bild vor Augen: wie Vater umfällt, wieder und wieder. Das darf nicht noch einmal passieren. Das darf es einfach nicht!

Ich sinke auf dem kühlen Fliesenboden zusammen. Lehne mich gegen die Wand und verberge mein Gesicht in den Händen.

Kurze Zeit später zerreißt die Sirene eines Krankenwagens die Stille.

Rose rennt aus dem Umkleideraum hinaus, ich folge ihr. Sie schlägt die Tür zum Parkplatz auf und wir sehen, wie der Krankenwagen am Haupteingang hält.

Zwei Sanitäter in gelben reflektierenden Jacken schieben eine Trage ins Gebäude. Rose packt meinen Arm. Ihre langen Fingernägel drücken in meine Haut, während alle Geräusche verschwinden. Das Einzige, was ich noch hören kann, ist mein heftig pochendes Herz.

Dann geht die Tür wieder auf. Das Mädchen liegt auf der Trage. Ihr braunes Haar ist ganz zerzaust von der Atemmaske, die sie ihr übers Gesicht gezogen haben.

Eine Frau läuft neben ihr. Drückt die Hand des kleinen Mädchens. Tränen rinnen ihr über die Wangen. Sie weicht keine Sekunde von der Trage.

Dahinter kommt Vater. Ich kann sehen, wie sich sein Mund bewegt. Entschuldigungen formuliert, während er Leute beiseiteschiebt.

Er fängt unseren Blick in der Tür auf, ohne ein Wort befiehlt er uns, wieder hineinzugehen.

Während die Tür hinter uns ins Schloss fällt, heult die Krankenwagensirene wieder auf.

Erst lange Zeit später kommt Vater zu uns. Die Falten auf seiner Stirn scheinen tiefer geworden zu sein, das Lächeln von vorhin ist vollkommen verschwunden.

»Geht es dem Mädchen besser?« Azalea stellt diese Frage. Ihre gebrochene Stimme ist in dem großen Umkleideraum kaum zu verstehen.

»Sie haben sie in die Notaufnahme von Næstbæk gefahren. Morgen werden wir mehr wissen.«

Es folgt ein bedrücktes Schweigen.

»Was ist passiert?«, fragt Vater. Sein Blick springt zwischen uns hin und her.

»Ich weiß es nicht. Ich habe nichts anders gemacht als sonst«, sagt Azalea.

»Ich auch nicht«, stimmt Rose zu.

Ich zögere. Versuche, mich zu erinnern. An den Tanz. Suche nach einem Schritt, der die Katastrophe erklären kann.

»Birke?«, fragt Vater.

Ich schüttle den Kopf. »Genau wie immer.« Meine Stimme klingt belegt. Als klebten die Worte zusammen und wollten nicht heraus.

Vater seufzt.

»Wir müssen die Mindestanzahl höher setzen.«

»Aber es fällt uns ja schon schwer …«, setzt Azalea an.

»Das muss sein«, unterbricht Vater sie.

»Aber vielleicht waren das gar nicht wir; vielleicht lag es an etwas anderem …«, flüstere ich. Es darf nicht sein, dass wir schuld sind. Dass ich schuld bin.

»Wir setzen die Zuschauerzahl auf 250 hoch.« Vaters Stimme klingt weit entfernt, wahrscheinlich spricht er eher zu sich selbst als zu uns.

»Aber du weißt doch nicht einmal, ob es an uns …«, versucht Rose einzuwerfen, doch Vater unterbricht sie.

»Ihr werdet stärker«, sagt er. »Ich merke das auch.«

Ich beiße mir auf die Lippe. Weiß, dass er recht hat. Ich selbst habe es spüren können, dass nur ein Tanz pro Monat bald nicht mehr ausreicht.

»250«, flüstere ich.

Wir haben alle den gleichen Gedanken. Dass die Stadt nicht groß genug ist. Auch wenn sie sich alle bemühen zu kommen, so kann jede Familie nur zu einer begrenzten Zahl von Tanzshows im Jahr kommen, und selbst wenn Vater Touristen aus anderen Städten herbeilockt, sind 250 Zuschauer richtig viele Menschen. Aber wir haben keine andere Wahl.

Ein Neuer

Am nächsten Morgen wache ich mit einem Gefühl der Kälte im Bauch auf, als hätte ich einen riesigen Eisklumpen geschluckt. Gern hätte ich weitergeschlafen. Ich habe geträumt, dass ich tanze, und dieses Mal wurden wir nicht von der abrupt endenden Musik gestoppt oder von einem Mädchen, das in Ohnmacht fiel. Wir tanzten nur immer weiter, bis jede einzelne Zelle in meinem Körper brannte.

Ich fühle mich … hungrig. Nein, das ist das verkehrte Wort. Das klingt nach Vampiren und so ein Gefühl ist es nicht. Das glaube ich zumindest nicht. Es ist ein Riesenunterschied, ob man die Eckzähne in den Hals eines anderen Menschen bohrt oder ob man einfach nur tanzt. Genau betrachtet, ist der Unterschied so groß, dass ich mindestens tausend gute Gründe aufführen könnte, warum sich das unterscheidet. Doch das alles ändert nichts an dem Gefühl: Ich bin hungrig.

Ich spüre es wie eine leichte Erschöpfung im Körper, eine Müdigkeit und ein leichter Druck über dem linken Auge.

Der Tanz gestern Abend hat einfach nicht gereicht.

Ich habe immer gewusst, dass ich anders bin. Seit wir geboren wurden, hat man durch unseren Rücken hindurchsehen können.

Das geht bei Vater nicht. Er hat mir erzählt, dass ich schon danach gefragt habe, als ich noch ganz klein war, gerade angefangen hatte zu sprechen. Ich fragte, warum sein Rücken anders war als meiner.

Und damals begriff ich zum ersten Mal, dass es nicht Vater war, der anders war, sondern ich. Meine Schwestern und ich.

Das wurde sehr viel klarer, als wir in die Schule kamen.

Wir durften uns nie dort umziehen. Nie mit den anderen im See baden. Nie irgendwo mitmachen, wo man eventuell die Bluse ausziehen musste.

Mein Handy piepst, und mir wird klar, dass ich zu früh aufgewacht bin. Ich schalte den Wecker aus und setze mich im Bett auf. Montag. Ich schaue auf meine Schultasche. Geschichte, Dänisch, Bildende Kunst und Englisch. Ich muss wieder auf Alltagsmodus umstellen, alle Grübeleien und Sorgen beiseiteschieben.

Aus Sommers Käfig ist ein Kratzen zu hören, ich ziehe die Decke ab. Der gelbe Wellensittich springt von der Schaukel auf die Stange und beißt ins Türchen, um mir zu sagen, dass er gern rausmöchte.

Ich öffne die Tür und sofort fliegt er hoch und landet auf dem Rand meines Spiegels. Seinem Lieblingsplatz.

Ich gehe nach unten. Vater und Azalea sitzen in der Küche. Ihre dunklen Augenringe sagen mir, dass beide letzte Nacht nicht viel geschlafen haben. Vor Vater liegen Ausdrucke von einer Immobilienseite.

»Guten Morgen, Birke.« Azalea entdeckt mich als Erste.

»Guten Morgen«, erwidere ich, während ich mir eine extragroße Schale heraussuche. Kippe reichlich Joghurt hinein, obwohl ich selbst weiß, dass das nicht gegen den Hunger hilft.

»Guten Morgen, mein Schatz«, sagt Vater müde, während er etwas auf den Seiten unterstreicht.

»Geht es dem Mädchen gut?«, frage ich.

Er löst seinen Blick von den Papieren. »Ja, ich habe heute Morgen im Krankenhaus angerufen. Sie gehen davon aus, dass es einfach Flüssigkeitsmangel war. Sie wird heute noch aus dem Krankenhaus entlassen.«

Erleichtert lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Azalea schenkt mir ein Lächeln.

Ich schaue genauer auf die Papiere.

Tanzstudio zu vermieten.

»Das ist ja in Næstbæk«, sage ich.

Vater nickt.

»Die kleinen Orte haben keine Hallen, die groß genug sind.«

Ich zupfe an einem kaputten Fingernagel. Næstbæk ist eine halbe Autostunde entfernt. Das wird etwas anderes sein als jetzt, da wir in wenigen Minuten zu Fuß vor Ort sein konnten.

»Es sieht ziemlich heruntergekommen aus«, sage ich, während ich mir die Fotos ansehe.

»Wir können es uns nicht leisten, besonders anspruchsvoll zu sein«, erwidert Vater. »Ich werde mir das Tanzstudio im Laufe des Tages mal anschauen.«

Ein lautes Gähnen von der Treppe her sagt uns, dass Rose auf dem Weg hinunter ist. Schweigend und mit halb geschlossenen Augen plumpst sie neben mir auf einen Stuhl. Sie sitzt da mit dem Löffel in der Hand, während sie den Joghurt ansieht, als würde es übermenschliche Kräfte erfordern, nach ihm die Hand auszustrecken und sich davon zu nehmen.

»Guten Morgen, mein Schatz«, sagt Vater auch zu ihr und lächelt Rose an. Sie brummt nur als Antwort, aber ihre Laune scheint sich zu bessern, als Vater ihr erzählt, dass das Mädchen von gestern auf dem Weg der Genesung ist und heute aus dem Krankenhaus entlassen wird.

Der Rest des Frühstücks verläuft in ungewöhnlicher Stille. Die Anzeige des Tanzstudios und das Mädchen, das in Ohnmacht fiel, wirbeln mir durch den Kopf. Am liebsten würde ich das Leben stoppen und es um zwei Tage zurückspulen, bis zu dem Moment, als alles noch ganz einfach war.

Als wir mit unserer Mahlzeit fertig sind, legt Vater die Papiere beiseite.

»Falls jemand in der Schule nach dem Vorfall gestern fragt …« Vaters Stimme zittert vor Ernst.

»Dehydrierung«, sagt Rose. »We’ve got it.«

»Gut«, sagt Vater, doch seine Miene bleibt ernst.

Ich gehe mit Azalea in die Schule. Als wir klein waren, gingen wir immer zu dritt, aber jetzt nicht mehr. Rose zieht es vor, erst in letzter Minute zu kommen – oder zehn Minuten zu spät –, während ich immer schon eine halbe Stunde eher da bin. Azalea kommt auch lieber früher als zu spät. Außerdem muss sie sowieso zeitiger aufbrechen, weil sie das Gymnasium besucht, das am anderen Ende des Ortes liegt.

Azalea besucht die 11g. Auch wenn wir gleichaltrig sind und deshalb in die gleiche Klassenstufe gehen sollten, tun wir das nicht. Drillinge würden zu viel Aufsehen erregen, und das erst recht, weil wir einander überhaupt nicht ähneln. Deshalb »spielt« Azalea die Sechzehnjährige, während Rose die Vierzehnjährige »spielt«. Nur ich habe mein richtiges Alter: fünfzehn Jahre.

Der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Zwanzig Minuten sind es bis zur Schule. Wir wohnen ein Stück in den Wald hinein, also müssen wir erst einmal den Waldrand erreichen. Tørveby ist ein kleiner Ort mit nur viertausend Einwohnern und es werden immer weniger. Die meisten ziehen in die größeren Städte. Ich kann das nicht verstehen. Es gefällt mir, dass wir im Wald, so nahe am Moor und am Bach wohnen. Ich glaube, ich könnte nie an einem anderen Ort leben.

»Hast du dir schon ein Gymnasium ausgesucht?«, fragt Azalea.

»Noch nicht wirklich«, antworte ich kurz.

»Es ist ja nur noch ein halbes Jahr hin. Am besten, du machst dir schon mal Gedanken darüber.«

»Ich glaube, ich werde auch in das hier im Ort gehen«, erkläre ich ihr also. »Dir gefällt es doch auch, oder?«

»Nun ja, aber in Næstbæk könntest du einen Leistungskurs in Bildender Kunst belegen, und das ist doch dein Lieblingsfach, oder?«

Ich sage nichts dazu. Eigentlich erscheint es mir ziemlich egal, wofür ich mich letztendlich entscheide. Ich weiß ja genau, dass es sowieso keinen Unterschied machen wird. Wir werden immer Tänzerinnen sein, und wenn Vaters Theorie stimmt, dann werden wir immer mehr Energie benötigen, je älter wir werden, und somit wird es ein Fulltimejob werden, Säle zu finden, die groß genug sind – und Zuschauer, um sie zu füllen.

An der Hauptstraße trennen sich unsere Wege. Azalea geht weiter geradeaus, während ich um die Ecke biege und schon bei meiner Schule bin. Das Tor scheppert, während der Hausmeister das Gitter zur Seite schiebt.

»Guten Morgen«, grüßt er, und ich erwidere seinen Gruß, während ich auf den Schulhof husche und zu dem Holztisch und den Bänken laufe, die unter dem Vordach stehen. Ich setze mich an den Tisch und lasse die Beine baumeln. Schaue auf meine schneebedeckten Stiefel hinunter und freue mich auf den Frühling, denn dann werden Tisch und Bänke in die Sonne gezogen. Ich lasse meine Tasche auf die Bank fallen und fische meinen Zeichenblock und die Federtasche heraus. Höre den Hausmeister pfeifen, während er die Milchtüten für die jüngeren Klassen in den Keller trägt.

Auf dem Klettergerüst entdecke ich einen Spatz und beschließe: Das wird das Motiv des Tages. Suche ein Stück Zeichenkohle heraus und skizziere schnell den ellipsenförmigen Körper, dann den kleinen, runden Kopf, den spitzen Schnabel und die Schwanzfedern. Die Krallen hebe ich mir bis zum Schluss auf. Aus irgendeinem Grund sind sie am schwierigsten zu zeichnen.

Der Vogel hüpft auf dem Kletternetz ein Stückchen weiter. Er wippt jedes Mal leicht mit den Beinen, bevor er landet. Ich betrachte die vielen kleinen Federn am Körper und versuche, sie abzuzeichnen. Dann schaue ich mir genau das dunkle Muster auf dem Kopf und die kleinen schwarzen Augen an.

»Hi«, sagte eine Stimme hinter mir, im gleichen Moment fliegt der Vogel davon. Ich drehe mich um, ich bin es nicht gewohnt, dass andere so früh schon hier sind. Normalerweise gehört der Schulhof bis mindestens zwanzig vor acht ganz allein mir. Das ist einer der Gründe, warum ich so früh komme.

»Hi«, erwidere ich den Gruß eines jungen Typen hinter mir. Braune Locken, eine Art Windjacke zu einer Jeans. Er kommt mir in keiner Weise bekannt vor, und auch wenn vierhundert Schüler hier auf die Schule gehen, dachte ich doch, dass ich die meisten kenne.

Zumindest denke ich, dass er mir aufgefallen wäre, denn er sieht, wie Rose sagen würde, »richtig süß« aus.

»Störe ich?«, fragt er und nickt zum Zeichenblock. Ich schaue den halb fertigen Spatz an.

»Das macht nichts.« Schnell klappe ich den Block zu und schiebe ihn in die Tasche.

»Ich heiße Malte«, sagt er und streckt mir die Hand entgegen.

»Birke«, sage ich und ergreife seine Hand.

»Weißt du, wo das Klassenzimmer der 10u ist?«, fragt er.

»Ja, Aufgang A, erster Stock. Aber da wird erst in zehn Minuten geöffnet«, antworte ich. »Bist du neu?«

Er nickt. »Mein erster Schultag heute.«

10u, das ist eine Klasse über mir. Merkwürdigerweise spüre ich ein Gefühl der Enttäuschung, als hätte ich gehofft, er würde in meine Klasse gehen. Aber das ist ja albern, ich hätte es besser wissen müssen. So etwas würden die Lehrer doch immer ein paar Tage vorher schon groß verkünden.

Sein Blick flackert, und ich spüre, dass es meine Pflicht ist, das Gespräch weiterzuführen, da wir nun einmal ganz allein hier auf dem Hof sind.

»Warum hast du die Schule gewechselt?«, frage ich. »Seid ihr umgezogen?«

»Ich bin rausgeschmissen worden.«

Seine Worte bringen mich vollkommen aus der Fassung. Ich muss ziemlich verblüfft aussehen, denn schnell fügt er hinzu: »Keine Sorge, ich habe niemanden umgebracht oder so.« Das sagt er mit einem Grinsen. Und ich grinse auch, weiß dabei aber nicht so recht, was ich sagen soll. Es ist ein kleiner Ort, in dem wir leben, nur selten passiert hier mal was. Und ich habe noch nie von jemandem gehört, der von der Schule geflogen ist. Das Schlimmste war angeblich, als ein paar Jungs Graffiti auf die Schulwand gesprüht haben und deshalb einen Monat nicht zur Schule kommen durften.

»Ich hoffe, es wird dir hier gefallen«, sage ich nur, denn es wäre ja wohl absolut unhöflich, zu fragen, warum er rausgeschmissen wurde. Mein Gehirn kann sich nur zwei Gründe vorstellen, die schlimm genug wären: Prügelei oder Drogen – und er sieht nicht aus wie einer, der etwas damit zu tun haben könnte.

»Na, Schule ist ja wohl gleich Schule.« Er wühlt in seiner Hosentasche. »Sag mal, kennst du das?«, fragt er und reicht mir eine zerknitterte Broschüre.

Ich falte sie auseinander und sehe … mich. Oder genauer gesagt, Azalea, Rose und mich. Es ist ein Flyer von unserer Show. Ich glaube nicht, dass er mich wiedererkannt hat, ich stehe hinter den beiden und schaue nicht in die Kamera.

»Alle, die ich bis jetzt hier getroffen habe, sind ganz heiß darauf«, sagt er. »Und meine Mutter will unbedingt, dass ich Karten für die Show kaufe. Weißt du, wo man die bekommt?«

Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt, und bringe es einfach nicht über mich, locker zu sagen, ja, das weiß ich, das bin ich mit meinen Schwestern, die da tanzen. Stattdessen sage ich nur: »Die gibt es in der Bibliothek.«

»Okay, danke.« Er löst seinen Blick von meinem und hebt ihn. »Dein Vogel ist wieder da.«

Dann schlendert er zur anderen Seite des Schulhofs. Ich schaue zu meinem Block, der halb aus meiner Tasche hervorlugt. Zögere einen Moment, dann hole ich ihn doch heraus und schlage ihn auf.

Ich konzentriere mich, nehme die Flügel in Angriff. Betrachte den Vogel, aber irgendwie ist meine Konzentration verflogen, und als ich kurz aufblicke, merke ich, wie Malte mich quer über den Hof hinweg anschaut.

Die steingrauen Augen lassen ein prickelndes Gefühl in mir aufblitzen, bevor ich schnell den Blickkontakt abbreche und zusehe, dass meine Zeichnung fertig wird.

Kurz darauf kommt Elexa. Der Wind wirft ihre Zöpfe hin und her.

»Ich hasse Montage!«, seufzt sie und lässt sich neben mir auf die Bank plumpsen. Sie ist meine beste und eigentlich auch einzige Freundin in der Klasse.

»Ganz deiner Meinung«, stimme ich zu, während ich den Block einpacke.

»Sag mal, was sollten wir uns in Geschichte anschauen?«, fragt sie.

»Die Kubakrise«, antworte ich.

»Hast du das gelesen?«, fragt sie weiter, während sie müde ihren Kopf an meine Schulter lehnt.

»Überflogen.«

»Kannst du mir das nicht eben kurz zusammenfassen. Nur in Stichworten.«

Ich muss schmunzeln, versuche es aber, auch wenn es nicht so leicht ist, mal eben all die Texte zusammenzufassen, die wir lesen sollten.

Verbotenes Terrain

Der Vormittag will nicht enden. Zuerst Geschichte, dann Dänisch. Normalerweise passe ich immer ziemlich gut auf, aber heute kann ich mich einfach nicht auf den Lehrstoff konzentrieren. Es endet damit, dass ich Galgenmännchen mit Elexa spiele.

Nach der Mittagspause sind die Wahlfächer dran. Die haben wir zusammen mit den 10. Klassen, damit es genügend Angebote für uns gibt. Elexa und ich gehen zu den Kunsträumen.

Es riecht nach frischer Farbe, und im Materialraum kann ich sehen, dass eine der jüngeren Klassen Acrylbilder zum Trocknen ausgelegt hat.

Wir gehen in den Zeichenraum. Und da ist er wieder. Der Neue. Malte. Offensichtlich hat er auch Bildende Kunst als Wahlfach. Er sitzt auf dem Tisch und redet mit Søren. Sein schwarzes T-Shirt betont seine muskulösen Arme. Er dreht den Kopf und fängt meinen Blick ein. Es fühlt sich wie ein Funke an, der im Körper auflodert. Ich schaue weg, versuche, den Funken in meinem Inneren zu löschen.

Elexa zieht mich mit sich zu dem hintersten Tisch. Kurz darauf kommt unsere Lehrerin herein. Anita. Wir haben sie in Dänisch und in Bildender Kunst, aber es ist offensichtlich, dass es der Kunstunterricht ist, für den ihr Herz schlägt. Sie strahlt immer auf eine ganz spezielle Art und Weise, wenn sie hier unterrichtet.

Auf dem Lehrerpult sind verschiedene Materialien aufgestapelt. Da gibt es alles von Zeichenkohle über Aquarellfarben bis zu Fotoapparaten.

»Gut, dann wollen wir loslegen«, sagt Anita und macht energisch die Tür zum Flur zu.

Langsam verschwinden die Handys in den Taschen und die Leute setzen sich auf ihre Plätze.

»Heute wollen wir mit einem Projekt beginnen, das sich über die nächsten drei Wochen hinziehen wird«, erklärt Anita.

Ich warte gespannt, brenne darauf, loslegen zu können. Am liebsten zeichne ich. Besonders gern mit Kohle. Es ist fantastisch, das Gehirn auszuschalten und zuzusehen, wie die Striche auf dem Papier Gestalt annehmen. Dabei bin ich nicht mal besonders gut darin. Es sind nie meine Zeichnungen, die wegen der Perspektive oder des Schattenspiels hochgehalten werden, aber trotzdem zeichne ich für mein Leben gern. Bildende Kunst ist eines der Unterrichtsfächer, bei denen ich die Welt vergessen kann und mich nur von meinen Gefühlen lenken lasse.

»Die Schulleiterin hat mich gefragt, ob wir nicht aus Anlass des 50. Geburtstags der Schule Kunstwerke zum Thema ›Schule‹ anfertigen können.«

»Wie langweilig!« Kim seufzt laut.

»Es ist euer Job, es spannend zu machen!«, entgegnet Anita und dreht sich zu dem Whiteboard hinter ihr um.

»Die Schulleitung möchte gern möglichst verschiedene Kunstwerke haben, deshalb sollt ihr alle etwas entwerfen.«

»Darf man auch etwas machen, das zeigt, wie langweilig die Schule ist?«, fragt Hassan.

»Wenn du es künstlerisch darstellen kannst, ja«, antwortet Anita in einem Ton, der deutlich verrät, dass sie der Meinung ist, er könne das nicht.

»Ich finde, wir sollten es ein bisschen spannend machen und das Los entscheiden lassen, mit welchen Materialien ihr arbeiten werdet.«

Anita holt eine Tüte mit vielen kleinen Zettelchen heraus. Das sieht ihr ähnlich – sie benutzt immer irgendwelche Tricks, von denen sie glaubt, sie würden den Unterricht interessanter machen.

»Ich lasse die Tüte herumgehen«, verkündet sie. »Jeder nimmt sich einen Zettel. Und Tauschen gibt es nicht. Das ist für euch eine Möglichkeit, Materialien auszuprobieren, mit denen ihr sonst nicht so häufig arbeitet.«

Die Tüte geht von Hand zu Hand. Einige sehen enttäuscht aus, andere freuen sich, und dem größten Teil ist es sowieso egal. Ich schaue zum Lehrerpult. Hoffe natürlich, Kohle oder Aquarell zu ziehen.

Die Tüte erreicht mich und ich angle in ihr. Schließe die Finger um einen kleinen Zettel und entfalte ihn schnell.

Foto.

Ich starre auf die Digitalkamera auf dem Pult. Denke nur: Ach du Scheiße. Fotos sind nicht gerade mein Ding. Das ist mir viel zu technisch.

Elexa zeigt mir ihren Zettel. Kohle, steht drauf.

Wollen wir tauschen? Sie formt die Worte lautlos mit den Lippen.

Ich schüttle den Kopf. Das wäre geschummelt und ich will nicht schummeln.

»Die notwendigen Materialien stehen hier«, sagt Anita, als die Tüte ihre Runde gemacht hat. »Ihr könnt einfach loslegen. Und geht ruhig in der Schule und auf dem Schulgelände herum, wenn ihr wollt, nur achtet darauf, dass ihr die anderen Schüler nicht stört.«

Elexa und ich stehen auf. Elexa holt sich die Zeichenkohle aus dem Stapel an Kunstmaterial und lässt dabei ein leises Seufzen hören. Mir fällt wieder ein, wie sehr sie es gehasst hat, als wir einmal eine ganze Stunde lang eine Obstschale gezeichnet haben und mit den Schatten arbeiteten. Vielleicht hätte ich ihr zuliebe doch tauschen sollen.

Ich nehme den Fotoapparat in die Hand.

»Ach, hast du Foto gezogen?«, fragt Anita. »Du darfst die Kamera auch gern mit nach Hause nehmen, dann kannst du sie im Laufe der Wochen immer wieder benutzen, wenn du willst.« Sie sagt das mit funkelnden Augen, als hätte sie schon jetzt viel zu große Erwartungen.

»Danke«, sage ich nur. Plötzlich ist mir schwindlig. Um mich herum haben die anderen angefangen, miteinander zu reden, während einige möglichst unbemerkt Zettel von einer Hand in die andere wandern lassen.

Ich brauche Luft, gehe hinaus auf den Hof.

brauchen