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Zum Buch

Im Jahre 1939 wurde die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung Südtirols unfreiwillig vor die Alternative gestellt, die Heimat zu verlassen und nach Deutschland abzuwandern oder im italienischen Staat zu verbleiben und damit ihre Sprache und kulturelle Eigenart aufs Spiel zu setzen.

Die beiden Diktatoren Hitler und Mussolini hatten beschlossen, im Sinne der Achse Berlin – Rom das Südtirolproblem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und damit ein ganzes Volk in tiefste Verzweiflung gestürzt.

Rund ein Drittel der Bevölkerung verließ nach einer äußerst hart geführten Propagandaschlacht zwischen „Dableibern“ und „Gehern“ das Land. Hauptziele der Auswanderer blieben Tirol und Vorarlberg, obwohl auch andere Siedlungsgebiete ins Auge gefasst worden waren. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges brachte die Abwanderung allerdings ins Stocken. Von den rund 200.000 Optanten waren schlussendlich nur 74.000 abgewandert, 20.000 kehrten nach 1945 wieder nach Südtirol zurück.

Dieses Buch, eine überarbeitete Fassung der Artikelserie des Wochen magazins FF aus dem Jahre 1989, bietet, reich illustriert und leicht lesbar, einen handlichen Überblick über dieses vielleicht düsterste Kapitel der wechselhaften Geschichte Südtirols.

Inhalt

Impressum

Vorwort

Der Stillstand der Herzen

Der Keulenschlag des Führers

Die Stimme des deutschen Blutes

Der Auszug aus der Heimat

Die Rückkehr unter Schmerzen

Zeittafel

Verwendete Literatur

Bildnachweis

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Autonomen Provinz Bozen - Südtirol, Abteilung Kultur, über das Südtiroler Kulturinsitut.

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© Edition Raetia, Bozen, Zweite Auflage, 2013

Grafik: Dall’O & Freunde, Bozen

ISBN E-Book 978-88-7283-485-5

Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com

Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an: info@raetia.com

Die Rechtsinhaber der Bilder konnten nicht in allen Fällen einwandfrei ermittelt werden.

Vorwort

Südtirol hat sich heuer an ein spezielles Ereignis seiner wechselvollen Geschichte zu erinnern. Vor 70 Jahren wurde die Bevölkerung vor die Alternative gestellt, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und ins Reich abzuwandern oder die italienische Staatsbürgerschaft beizubehalten und weiterhin in Südtirol unter faschistischer Herrschaft zu verbleiben. Mit dieser Option wollten die beiden Diktatoren Hitler und Mussolini das Südtirolproblem ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Sie stürzten damit ein ganzes Volk in tiefste Verzweiflung. Die Option von 1939 geht als das vielleicht düsterste Kapitel in die Südtirolgeschichte ein.

Kein Wunder, dass dieses Thema nach wie vor die Geister scheidet. Dabei steht die zentrale Frage im Raum, ob die große Mehrheit der Südtiroler für Deutschland optiert hat, um den faschistischen Repressalien zu entkommen, oder ob das sogenannte Gehen nicht auch ein eindeutiges Bekenntnis zu Hitlerdeutschland war.

So bleibt denn auch das Reden und Schreiben über jene Zeit weiterhin ein schwieriges Unterfangen. „Nur net rogeln“, meinte noch vor 20 Jahren Silvius Magnago, als ich im Wochenmagazin FF eine Artikelserie zum Thema Option schrieb, und viele aus der Generation des damaligen Landeshauptmannes pflichteten ihm bei. Nicht aber jene jüngeren Jahrgänge, welche diese tragische Zeit nicht selbst miterlebt hatten, nun aber wissen wollten, was damals die Seele ihrer Vorfahren so zermartert hatte.

Auch im heurigen Gedenkjahr ist wiederum starkes Interesse am Thema Option zu verspüren, weshalb unser Verlag beschlossen hat, die FF-Artikelserie aus dem Jahre 1989 zu überarbeiten, zu ergänzen und nunmehr in Buchform herauszubringen. Reich illustriert und leicht lesbar soll das Werk vor allem auch eine Stütze für den Unterricht an Südtirols Schulen sein.

Gottfried Solderer

Der Stillstand der Herzen

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Trauer um die „Verlorene Heimat“ (Bild 1)

Die Anweisung steht auf einem formlosen Blatt Papier. „Auf Grund der Besprechungen zwischen Berlin und Rom“, schreibt Sturmbannführer Wilhelm Luig, „sind Sie aus dem italienischen Heer entlassen worden, um in die Deutsche Wehrmacht überführt zu werden.“

„Sie fahren nun“, schreibt der Leiter der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle von Bozen weiter, „am Samstag, den 16. Dezember mit dem fahrplanmäßigen Zuge, der am Brenner um 10.20 Uhr eintrifft, nach Innsbruck, um dort in die Deutsche Wehrmacht überführt zu werden.“

Mitzubringen seien neben Stiefelwichse und Schuhbürste auch noch „Unterzeug, soweit vorhanden“ Kamm, Haar- und Kleiderbürste, Taschentücher und Rasierzeug, drei Kleiderbügel und zwei Lichtbilder. „Sie haben während der Fahrt“, so die unterstrichene Drohung am Beginn des Schreibens, „jegliches Singen und Grölen zu unterlassen“ und die Gesetze des Landes zu beachten.

Für den jungen Soldaten, an den sich das Schreiben richtete, waren die Würfel gefallen. Deutschland hatte am 1. September Polen überfallen, und die Südtiroler im italienischen Heer konnten gegen eine formlose Option für die deutsche Staatsbürgerschaft sofort aus dem Militärdienst entlassen und in die Deutsche Wehrmacht überstellt werden.

Viele Soldaten nutzten dies und wurden damit die ersten Deutschlandoptanten. Zum Teil nach harten Gewissenskämpfen, zum Teil aber auch freiwillig, marschierten sie für den Führer an die Front. „Südtirols wehrfähige Jugend“, frohlockte ein anonym gebliebener Autor in der Broschüre „ Opfergang und Bekenntnis“, „kommt und meldet sich wie ein Mann.“

2500 Kriegsfreiwillige stünden für die großdeutsche Wehrmacht bereit „und das Volk ist stolz auf seine jungen Soldaten, die ersten Schildträger einer neuen Zeit“.

Doch diese neue Zeit hatte ihre Tücken und sollte für die Südtiroler zum finsteren Kapitel ihrer Geschichte werden. Seit am 23. Juni des Jahres 1939 von den faschistischen und nationalsozialistischen Machthabern in Berlin die Heimführung der volksdeutschen Südtiroler ins Reich und damit die Endlösung des Südtirolproblems beschlossen worden war, ward kein schöner Land mehr unterm Brenner. Die Kunde kam aus Meran. Dort hatte Otto Bene, seit 1936 deutscher Generalkonsul in Mailand, als zuständiger Hoheitsträger für alle in Oberitalien lebenden reichsdeutschen Staatsbürger, am 29. Juni eine Versammlung aller NSDAP-Funktionäre der Provinzen Bozen und Trient einberufen, um sie über die wichtigsten Punkte der geplanten Umsiedlung aller Reichs- und Volksdeutschen in Südtirol zu informieren.

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Die Soldaten zählen zu den ersten Deutschlandoptanten

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. „Durch das Land Südtirol geht die Todesnachricht der alten Heimat“, heißt es in „Opfergang und Bekenntnis“. „Vom Brenner bis Salurn, vom Ortler bis zum Haunold stehen für einen Augenblick die deutschen Herzen still; empörte und zitternde Stimmen freveln und beten gegen diese Botschaft des Reiches im Angesicht des uralten Feindes.“

Wer immer auf den Führer vertraut hatte, war maßlos enttäuscht. „Keine feierliche Erklärung erreicht dieses Volk; kein Wort der deutschen Presse hat diese Botschaft vorbereitet, erklärt und gerechtfertigt. Deutschland schweigt.“ Man hatte sich die Angliederung Südtirols an Deutschland und nicht die Rückführung seiner Einwohner unter dem gleichzeitigen Verzicht auf die Heimat erwartet.

Dr. Franz von Braitenberg, ein vor Jahren verstorbener Bozner Frauenarzt und einer der ersten Optanten bei der ADERST-Zweigstelle Bozen im Oktober 1939, der selbst Mitglied des VKS gewesen und während seines Studiums in Wien 1938 auch schon der NSDAP beigetreten war, hielt sich gerade am Strand von Miramare auf, als „Herr Fuchs von der Brauerei Forst aus Meran mit den erschütternden Nachrichten ankam“.

In seinem unveröffentlichten Nachlass, „Südtiroler Katzenköpfe“, erinnert er sich: „Unter diesen Umständen schämte ich mich, ein Deutscher zu sein. Diese Nachricht war das einzige Thema bei Tag und Nacht. Wir versuchten wohl, den Gedanken an diese Ungeheuerlichkeit abzuschalten. Das konnte man zwar für Momente, aber immer wieder kam der Albtraum hoch.“

Auf die Südtiroler hatte das Wiedererstarken des Deutschen Reiches eine ungeheure Zugkraft ausgeübt. Man hoffte, so der spätere Optant Norbert Mumelter in einem Gespräch mit der bundesdeutschen Dissertantin Ursula Oehlsen, „auf irgendeine Erlösung, auf irgendeine Befreiung“. Doch Hitler verzichtete endgültig auf Südtirol, die Enttäuschung war perfekt.

Durch das Abkommen zwischen Rom und Berlin, endgültig fixiert allerdings erst am 21. Oktober 1939, wurden die Südtiroler vor die Alternative gestellt, mit einem roten Stimmzettel für die deutsche Staatsbürgerschaft zu optieren und in das Dritte Reich abzuwandern oder sich durch die Unterzeichnung des weißen Stimmzettels für einen Verbleib in Italien unter faschistischer Herrschaft zu entscheiden.

Diese Option spaltete die Südtiroler in zwei unversöhnliche Lager, in das der Optanten und das der Dableiber. „Die Entscheidung“, schreibt der Historiker Leopold Steurer in einem von Reinhold Messner vorbereiteten Buch über die Option, „wurde damals für viele zur menschlichen Zerreißprobe.“

Was, lautete die Frage, war wichtiger? Die Treue zu Deutschland oder die Treue zur Heimat? Und welches waren die eventuellen Folgen dieser Entscheidung?

„Kann man abstimmen, sein Land zu verlassen, das von den Vätern ererbt war, um dieses Erbe aufrechtzuerhalten, um sein Volkstum zu beweisen?“, fragt Ellen von Lutterotti in ihren Erinnerungen an die Dableiber und Geher. „Oder war es Verrat, seiner Heimat treu zu bleiben und dadurch der Stimme der Nation nicht zu folgen?“ Wohl nie sei ein Volk vor so widersinnige Fragen gestellt worden. Dieser Widersinn fand alsbald Ausdruck in einer beispiellosen Propagandaschlacht zwischen Optanten und Bleibern. Maria Veronika Rubatscher kleidet sie in dramatische Worte: „Hass und Zwietracht zerriss die Dorf- und Talgemeinschaften, entzweite Eltern und Kinder, Alt und Jung, Hirt und Herde.“

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Optantenversammlung in Ulten (Bild 2)

In ihrem Buch „ Die Option 1939“ erinnert sie sich: „Betende wurden zu Fluchenden, Priesterhörige zu Pfaffenlästerern, Freunde zu Feinden, ein Nachbar am anderen zum Brandstifter, Verleumder, Verführer und Zerstörer. Das Weib stand wider den Mann, und der Mann wider sein Weib. Die Söhne erhoben sich wider ihre Väter und trotzten ihnen die Unterschrift zur Auswanderung, zur Preisgabe der Heimat ab.“

Die Fronten waren alsbald klar: Auf der Seite der Optanten stand, nachdem er sich anfangs noch gegen die Option ausgesprochen hatte, der Völkische Kampfring Südtirols, VKS, unter dem Volksgruppenführer Peter Hofer, auf der Seite der Dableiber ehemalige Mitglieder des von den Faschisten aufgelösten Deutschen Verbandes, Bozner Bürgerkreise und ein Großteil der Kirche.

„Das Bedürfnis der betroffenen Südtiroler, ausreichend über die Umsiedlungsaktion informiert zu werden“, schreibt der Historiker Karl Stuhlpfarrer in seinem Standardwerk „Umsiedlung Südtirol“, ist in keiner Phase der Optionspropaganda ausreichend erfüllt worden.

Bis zur Veröffentlichung der Richtlinien am 26. Oktober 1939 bildeten die Mitteilungen des deutschen Generalkonsuls Otto Bene, die Informationen der italienischen Behörden und die zahlreichen Gerüchte die eigentliche Grundlage der Entscheidungsfindung. Im Oktober, erinnert sich der Dableiber Friedl Volgger in seinen Memoiren, brach dann die Propagandalawine für das „Heim ins Reich“ richtig los.

Der VKS verfügte über eine ausgezeichnete Organisation und verstand sich auf Propaganda. „Die Werbung für die Option“, sagt Volgger, „wurde im besten Stil des Reichspropaganda-Ministers Dr. Joseph Goebbels geführt.“

Die Kampagne wurde mit der geschlossenen Option einiger sogenannter Musterdörfer und einiger einflussreicher und angesehener Persönlichkeiten im ganzen Lande eröffnet und als Volksfest gefeiert. Damit, so Steurer, hatte der VKS zweierlei erreicht: die sofortige Beherrschung der öffentlichen Meinung im Sinne eines Glaubens an den Sieg der Sache und das Abdrängen der Dableiber in die Isolation.

Der anonyme Autor von „Opfergang und Bekenntnis“ ist zufrieden: „Die Wahlurnen füllen sich, und die Entschlossenen, voran die Kameraden der Bewegung, geben dem Führer ihre Stimme.“

Dann folgt eine detaillierte Beschreibung: „Die Bauern von Gossensaß marschieren geschlossen im festen Gleichschritt zur deutschen Stimmenabgabe nach Sterzing und lassen sich von ihrem Pfarrer, der ihnen händeringend entgegentritt, nicht aufhalten; das Dorf Spinges rückt geschlossen bei der deutschen Zweigstelle in Brixen zur Abstimmung an und bringt seine alten Leute auf den bäuerlichen Fahrzeugen mit; als Musterdörfer stimmen Kastelbell, Geiselsberg, Gossensaß und Pflersch zu hundert von hundert für Deutschland ab; den Gegnern gehen die Augen über: das haben sie niemals für möglich gehalten.“

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Peter Hofer: Kampf um jede Stimme (Bild 3)

Die Optanten zogen, meist organisiert und in Gruppen, zu den deutschen Umsiedlungsstellen oder zum italienischen Gemeindeamt, um ihre Stimme für Deutschland abzugeben. Die Dableiber gaben ihre Stimme für den Verbleib in der Heimat meist allein und geheim bei einem Dableiberaktivisten, im Pfarrhaus oder beim Podestà, dem faschistischen Bürgermeister, ab. Die Öffentlichkeit, das war bald einmal klar, gehörte dem VKS. Seinen „idealistischen Appellen an die höheren Werte des Blutes, der Rasse, des Volkstums und des germanischen Opfergedankens“ (Steurer) hängte er eine Reihe von materialistischen Versprechen an, die seiner Meinung nach für die Option sprachen.

Jeder Südtiroler, so hieß es beispielweise auf VKS-Flugblättern, werde in der neuen Heimat mindestens so viel Besitz erhalten, wie er in Südtirol hinterlassen habe. Ja, jeder Bauernsohn bis zum Viertgeborenen werde im neuen Siedlungsgebiet einen eigenen Hof erhalten. Volgger: „Dass die sonst doch nüchternen Südtiroler zum Großteil all den Unsinn für bare Münze nahmen, kann die heutige Generation überhaupt nicht mehr fassen.“