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Flüsse sind eine Metapher für unser eigenes Leben – wie wir entstehen sie, wachsen und entwickeln sich, werden von der Umgebung geformt und beeinflussen sie ihrerseits, um am Ende zu verschwinden oder sich in einem großen Ganzen aufzulösen.

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Einleitung

Wenn man die Bäche Brigach und Breg betrachtet, die sich bei Donaueschingen zur jungen Donau vereinigen, kann man kaum glauben, zu welch gewaltigem Strom sich das Flüsschen noch entwickeln wird. Nach 2888 Kilometern – von der Bregquelle ab gemessen – wird die Donau der zweitlängste Fluss Europas sein, nur die Wolga ist noch länger. Mit nie versiegender Kraft bahnt sie sich durch Bergmassive den Weg zum Schwarzen Meer. Mit ihren zahlreichen Nebenflüssen zieht sie sich wie ein grünes Band durch Mittel- und Südosteuropa, durchquert sowohl verschiedene Naturregionen als auch mehrere Sprach- und Kulturräume. An ihre Ufer grenzen zehn sehr unterschiedliche Länder, und mit ihrer Mündung ins Schwarze Meer verbindet sie Europa mit Asien. Diese Vielfalt macht ihre Besonderheit aus und unterscheidet sie von anderen europäischen Flüssen.

Die Idee, der Donau auf ihrem gesamten Lauf zu folgen, ist allmählich entstanden, hat sich in mir verankert und entwickelt, bis der Plan so weit gereift war, dass ich ihn verwirklichen konnte. Ich gehöre zu den Menschen, deren Kindheit von einem Fluss geprägt wurde, von seinem sich bewegenden Wasser und der Frage, woher er kommt und wohin er fließt. Der Mensch, der an einem Fluss aufwächst und für diese Erfahrung empfänglich ist, wird frühzeitig spüren – und der Fluss zeigt es ihm beispielhaft –, dass man nicht an dem Platz, wo man geboren wurde, gefangen bleiben muss, dass ein Weiter und immer Weiter möglich ist, eine Fortbewegung in die Ferne.

Der Fluss, der mich so nachhaltig beeinflusst hat, hieß Unstrut. Schon der Name weckte meine Fantasie, er klang für mich nach unbezähmbarer Wildheit, nach Ungestüm, nach Strudel und Gefahr und beflügelte meine angeborene Lust auf Abenteuer. Die Unstrut fließt bei Naumburg in die Saale, mein Heimatort Freyburg liegt nur wenige Kilometer von Naumburg entfernt. Die Unstrut hat dort schon fast das Ende ihres Laufes erreicht, ist schätzungsweise 20 Meter breit und etwa zwei Meter tief.

Schwimmen hatte ich in einem See gelernt, die wilde Unstrut aber formte mich zu einem Wesen, das sich im Wasser sicher fühlt, sich seiner eigenen Fähigkeiten bewusst wird und gleichzeitig Respekt vor der Macht und Gewalt des Wassers hat. Ich ließ mich von der Strömung mitziehen, schwamm gegen sie an, tauchte mit weit geöffneten Augen hinab zum Grund, suchte zwischen bunten Kieseln nach goldenen Schätzen und fand lebende Flussperlmuscheln. Das Wasser der Unstrut war kristallklar und kalt.

Ich glaube, damals entstand in mir der Wunsch, Flüsse von ihrer Quelle bis zur Mündung zu erkunden. Meinem Heimatfluss konnte ich nicht folgen, denn noch bevor ich 14 Jahre alt war, zogen wir in eine andere Gegend. Erstmals habe ich diesen lang gehegten Plan an der Isar erprobt, um mich nun der Donau zu widmen, die sich schon durch ihre enormen Dimensionen von der Isar unterscheidet. Wie abenteuerlich wird eine Reise entlang dieses zweitgrößten Flusses Europas sein, der auf fast magische Weise durch das Herz des europäischen Kontinents führt?

Flüsse waren schon immer lebenswichtig für Menschen. Seit alters siedelten sie bevorzugt in den umliegenden Tälern, denn der Fluss lieferte zuverlässig das nötige Trinkwasser, und in den tierreichen Auen konnten die Jäger des Stammes gute Beute machen. Als die Menschen zum Ackerbau übergingen, zweigten sie das Flusswasser zur Bewässerung der Felder ab, tränkten ihre Tiere und ließen Mühlen »klappern«. Der Fluss wurde aber auch als praktischer Handelsweg genutzt und war zugleich Barriere, Schutz und Grenze gegen feindliche Nachbarn. Steine, Sand und Kies, die der Fluss anschwemmte, dienten als Baumaterial, und nicht zuletzt war der Fluss der große Saubermacher. Alles, was die Menschen loswerden wollten, wurde in den Fluss geworfen. Er trug den Abfall rasch außer Sichtweite. Trotzdem konnte das Wasser bei der nächsten Siedlung wieder getrunken werden, denn durch die natürliche Selbstreinigung mittels Wasserpflanzen, Algen und Mikroorganismen war es bald wieder rein. So waren Flüsse für die Menschen von unschätzbarem Wert. Orte, die an Flüssen lagen, wuchsen und gediehen. Die Donau als mächtiger Strom hat gleich vier Hauptstädte an ihrem Ufer erblühen lassen: Wien, Bratislava, Budapest und Belgrad.

Meine erste Idee, mit einem Paddelboot oder Kajak auf dem Fluss zu fahren, verwarf ich bald. Würde ich auf dem Strom dahingleiten, sähe ich nur wenig von der Umgebung. Das abenteuerliche Erlebnis, sich sportlich mit dem Element Wasser zu messen, wiegt für mich nicht die Begegnungen mit Menschen auf. Ich möchte erfahren, wie der Fluss das Land und seine Bewohner prägt, will die Dörfer und Städte an seinen Ufern kennenlernen, die Wiesen, Wälder und Moore auf der Suche nach Pflanzen und Tieren durchstreifen. Nur zu Fuß bin ich langsam genug, um Schritt für Schritt die Umwelt mit all ihren Schönheiten wahrzunehmen. Allerdings, an der Donau gibt es so gut wie keine Wanderwege, nur hin und wieder kieselharte Dammwege, vor allem aber asphaltierte Radwege. Autostraßen führen durch zersiedelte Landschaft und von Industrieanlagen geprägte Orte. In diesen Gegenden wäre das Wandern mühselig und unerfreulich. Die Lösung war daher eine Fahrrad-Wander-Kombination.

Um die Donau in voller Länge zu erforschen, teilte ich die Strecke in zwei Teile. Beide Male brach ich im Mai auf. Die erste Tour begann ich an der Quelle und fuhr bis nach Wien. Im Jahr darauf startete ich in Wien und radelte bis zur Donaumündung. Das hatte den Vorteil, dass ich beide Male im Frühling unterwegs war, wenn die Natur sich zu beleben beginnt, Blumen blühen und Vögel mich mit ihrem Gesang erfreuen. Vor allem aber erreichte ich das Delta bereits Ende Juni, bevor die extrem heißen Sommermonate begannen, die das Reisen erschweren.

In Deutschland und Österreich stellte ich das Rad öfter für ein paar Tage in einer Herberge ab und wanderte in landschaftlich reizvoller Umgebung abseits der Donau, um dann an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Hin und wieder übernachtete ich im Zelt, zum Beispiel im Quellgebiet, in der Schwäbischen Alb, an der Schlögener Schlinge und in der Wachau. In den östlichen Donauländern verzichtete ich auf diese Art der Übernachtung, hatte aber für den Notfall, der nicht eintrat, ein Zelt dabei.

Ab Budapest spürte ich mehr und mehr einen unwiderstehlichen Sog, die Dynamik des Vorankommens setzte ein und zog mich mit sich. Jeden Morgen brannte ich darauf, meine Radtour entlang des Flusses fortzusetzen. Für Erkundungen in Nationalparks, wie dem Gemencer Wald oder im Naturschutzgebiet Kopački rit, nahm ich mir allerdings einen oder mehrere Tage Zeit, um der Natur näherzukommen und Tiere zu beobachten.

Für mein Empfinden war die Fahrradstrecke vom Schwarzwald bis nach Ungarn oft zu gut ausgebaut und beschildert. Ab Budapest gab es dann nur noch selten autofreie Dammwege. Meistens waren es Straßen, die ich mir auf dem Rad mit dem üblichen Verkehr teilen musste. Trotz der Gefahr durch rasante Autofahrer gefiel mir die Route ab Budapest weitaus besser als der bequeme und sichere Abschnitt davor, denn sie bietet mehr Herausforderungen, nicht nur in der Wegführung, sondern auch bei der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten und bei der Kommunikation mit der Bevölkerung in den verschiedenen Landessprachen.

Belohnt wurde ich für die Anstrengungen mit landschaftlicher Schönheit. Ungestörte Natur jedoch gibt es entlang der Donau nicht in dem Maße, wie ich sie mir gewünscht hätte, und schon gar keine vom Menschen unbeeinflusste Wildnis. Im dicht besiedelten Donauraum kann es sie nicht geben, ebenso wenig im Delta, wo rund 15 000 Menschen auf 25 Dörfer verteilt leben. Trotzdem kann man sich an einer reichen Pflanzen- und Tierwelt erfreuen, vor allem in Bulgarien.

Das bulgarische Donauufer war für mich neben dem Delta einer der absoluten Höhepunkte der gesamten Reise. In den Dörfern bekam ich eine Ahnung, wie Menschen früher in und mit der Natur in harmonischem Zusammenspiel gelebt haben. Nicht nur landschaftlich, auch kulturell fand ich die Route durch Bulgarien reizvoller als die Strecke am gegenüberliegenden, flachen rumänischen Ufer. Die bulgarische Donauseite verlangte mir aber wegen der vielen schönen Berge einiges an Kraft und Kondition ab.

Acht der zehn an der Donau gelegenen Länder habe ich durchquert. Zwei habe ich ausgelassen, nämlich Moldawien und die Ukraine, denn beide Länder berühren nur auf wenigen Kilometern die Donau. Während der Reise bekam ich immer mehr ein Gefühl dafür, wo die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern liegen. Von Tag zu Tag entdeckte ich Neues, doch nicht nur Gegenwärtiges, sondern auch, was sich in vergangenen Jahrhunderten abgespielt hat. Wer sich auf die Donau einlässt, erlebt europäische Geschichte auf anschauliche Weise.

Bei den Kapitelüberschriften zu den einzelnen Donauländern gebe ich die Flusskilometer an, damit eine gewisse Vorstellung von den Entfernungen entsteht. Da jedoch mitunter zwei Länder auf einem Donauabschnitt jeweils ein Ufer beanspruchen, ist die Summe der von mir angegebenen Kilometer höher, als es der eigentlichen Länge der Donau entspräche. Die Fahrradkilometer werden bei jedem anders sein, je nachdem, welche Wegvariante man wählt und zu welchen abseits gelegenen Sehenswürdigkeiten man von der Hauptroute abweicht.

Gewundert habe ich mich, dass selten Transportschiffe auf der Donau unterwegs waren. Kreuzfahrtschiffe sieht man noch am häufigsten. Dabei wurde die Donau begradigt, kanalisiert und ihrer ursprünglichen Natur beraubt, weil der Warentransport ungeheuer wichtig und ökologisch sinnvoll erschien. Nur findet er kaum statt. Dieter Hildebrandt hat dies schon 1982 in seiner satirischen Sendung »Scheibenwischer« prophezeit. Er sagte auf seine unnachahmliche Art: »Statt Schiff ahoi wird es heißen: Hoi, a Schiff.«

Durch Begradigung, Uferbefestigung, Anstauung, Kanal- und Schleusenbau ist der Donau viel angetan worden. Doch obwohl sie streckenweise ein technisch verbautes Gewässer ist, hat sie sich dennoch immer wieder großartige Naturräume bewahrt, die man durch Schutzgebiete und Nationalparks zu erhalten versucht.

Die Donau in Deutschland – 655 Kilometer

Den Ursprung dieses Flusses zu finden ist eine mühsame und durchaus problematische Sache. Sosehr Menschen auch versucht haben, diesen speziellen Punkt in der Geographie zu ermitteln, den Geburtsort, die Quelle, so umfassend sind sie doch schließlich damit gescheitert. Wahrscheinlich kann man mit diesem Unterfangen auch nur scheitern – denn möglicherweise hat die Donau gar keinen Anfang. Vielleicht kreuzt sie einfach nur auf, kommt um die Ecke gebogen, zeigt sich plötzlich silbern schimmernd in der Landschaft.

Niels und Lars Hoffmann

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Auf Quellensuche

Vom Kolmenhof nach Donaueschingen

Gleißendes Licht zerreißt den Himmel. Sekundenlang wird die Dunkelheit durchbrochen, der Donnerschlag folgt unmittelbar. Das Gewitter ist direkt über mir. Blitze schießen aus nachtdunklen Wolken auf die Erde herab, und ich stecke mittendrin. Ich bin im Schwarzwald unterwegs, ohne Schutz. Auf einem schmalen Bergsträßchen eile ich, so schnell ich kann, hinauf zum Kamm. Dort, irgendwo in 1100 Meter Höhe, soll der Berghof »Martinskapelle« liegen. In der Nähe, so heißt es, entspringt die Donau.

Wenn Blitze das Land ringsum erhellen, erkenne ich schemenhaft schwarze Wälder und ausgedehnte Weiden. Die Wolken haben sich geöffnet, und Regen prasselt wie eine Sturzflut auf mich herab, nimmt mir die Sicht. Immer steiler geht es bergauf.

Endlich sehe ich gegen den Nachthimmel und verschwommen durch den Regenvorhang rechts am Weg eine Kapelle und direkt vor mir schattenhaft die Umrisse eines zweiten Gebäudes, das sich gegen die gewitterdunklen Wolken abhebt – meine Unterkunft. Triefend vor Nässe, lege ich im Vorraum meinen Regenumhang, die lehmverschmierten Wanderschuhe und den Rucksack ab und öffne die Tür. Der Gastraum wird von Kerzen warm beleuchtet, die Elektrizität ist wegen des Gewitters unterbrochen. Zwei Frauen und ein Mann blicken mir neugierig entgegen. Der Mann, dessen imposante Barttracht mich fasziniert – die Enden seines Schnurrbarts sind die Wangen hinaufgezwirbelt –, ist der Wirt Franz Dold.

Nach einer freundlichen Begrüßung setze ich mich zu den Wirtsleuten und erfahre, dass Franz Dolds Familie in der dritten Generation den wenige Meter weiter unten gelegenen Kolmenhof betreibt, den er inzwischen seinem Sohn überschrieben hat. Gemeinsam mit seiner Frau Karin hat er sich auf der Berghöhe mit dem Gasthaus »Martinskapelle« ein neues Domizil geschaffen. Mir wird eine kräftige Linsensuppe serviert, dann zeigt mir die Wirtin mein Nachtquartier.

Das Gewitter verliert seine Kraft, aber unentwegt trommelt der Regen auf das Dach des Gästehauses, ein Geräusch, das ich noch beim Einschlafen höre. Erleichtert denke ich, wie gut es doch ist, dass ich nicht wie so oft bei meinen Reisen in meinem winzigen Zelt liege. Bei dieser Nässe wäre das recht ungemütlich.

Am Morgen hängen graue Wolken tief am Himmel. Ein durch den Gewitterregen angeschwollener Bach rauscht das mit Nebel gefüllte Bergtal hinab. Es ist die Breg, einer der zwei Quellflüsse der Donau. »Brigach und Breg bringen die Donau zuweg«, ein Spruch, den fast jedes süddeutsche Kind in der Schule lernt. Die Breg ist länger als die Brigach. Folgt man ihrem Lauf, sind es 2888 Kilometer bis zum Schwarzen Meer.

Die Frage, wo die Donau herkommt, hat Menschen bereits vor Tausenden von Jahren bewegt. Schon der römische Kaiser Tiberius schickte Suchtrupps zum nebelverhangenen, mystischen Ursprung des großen Stroms, den der griechische Sagenheld Jason mit seinen Argonauten befahren haben soll. Er hatte das Goldene Vlies geraubt und flüchtete vor kaukasischen Verfolgern auf seinem Schiff über das Schwarze Meer und von dort die Donau aufwärts. Eine historisch nicht belegbare Sage. Die Gelehrten der Antike vermuteten die Quelle wahlweise bei den Völkern der Skythen oder Kelten, im Harz, in den Alpen, den Pyrenäen. Der Schwarzwald war zu unbekannt und abgelegen, als dass er damals als Quellgebirge in Erwägung gezogen worden wäre.

Wie wird die Breg-Donau-Quelle aussehen? Ich wollte mich überraschen lassen und habe mir vorab keine Fotos angesehen, keine Beschreibungen gelesen. Die Quelle eines Flusses, vor allem die eines so bedeutenden wie der Donau, birgt für mich etwas Geheimnisvolles, das ich unbeeinflusst von Vorgaben erfahren möchte.

Am gestrigen Abend strömte Regen herab, und es war zu dunkel, um zur Quelle zu gehen, jetzt aber kann ich es kaum erwarten und will sie vor dem Frühstück besuchen. Das erste Morgenlicht erhellt spärlich die Landschaft. Vom Hof weist mir ein Holzschild den Weg einige Meter den Hang hinab. Unter den Wiesengräsern verborgen, gluckert und rieselt es, und nach wenigen Schritten stehe ich am Beginn der Donau, 1078 Meter über dem Meeresspiegel, wie eine Tafel anzeigt. Aus einem Rohr fließt Wasser in ein Steinbecken und plätschert zu Tal – eine künstlich gestaltete Geburtsstätte. Ich bin enttäuscht, mir hatte etwas anderes vorgeschwebt. Einen aus dem Felsen sprudelnden, kristallklaren Strahl hätte ich mir gewünscht.

»Gibt es nicht weiter oben eine natürliche Quelle?«, frage ich meinen Wirt, als ich später beim Frühstück in seiner gemütlich warmen Gaststube sitze.

»Noi, der ganze Wiesenhang isch der Quell«, antwortet er. »Da sind viele Quellrinnen, je nachdem, wie viel’s geregnet hat. Amol isch’s mehr, amol weniger. Die Leut haben dauernd unsere Wies zertrampelt. Und deswegen haben wir die Hauptadern miteinander verbunde, sie zum Quelltopf geleitet und ihn mit Stein gefasst.«

Franz Dold ist überzeugt, dass sich schon vor 3000 Jahren ein keltisches Quellheiligtum hier befand. Denn damals führte eine uralte Handelsverbindung durch den Schwarzwald, und die Gegend war, wenn auch dünn, von Kelten besiedelt.

»I mein, dass der heidnische Tempel oder was des war, da gwesn isch, wo heut unsere Martinskapelle steht.« Die Kapelle befindet sich gegenüber seiner Berggaststätte, die er nach ihr benannt hat.

»Die Martinskapelle verbindet keltische und frühe christliche Kultur und hat a wechselvolle Gschicht. Die isch immer wieder zerstört und wieder aufbaut worde. Amol war’s sogar a Saustall. Ein Vorfahr von mir hat gelobt, dass er alles wiederherstellt, wie des früher amol war. Damit unserem Kolmenhof kein Unheil passiert. Des war damals im Jahr 1906.«

Doch das war noch nicht alles, was Franz Dold an Erstaunlichem zu berichten weiß. Bis in die Neuzeit hinein wusste man nicht, wo die Donau wirklich entspringt. Es wurde gemessen, verglichen, gestritten, argumentiert. Erst im Jahr 1954 lieferte die Geologin Irma Öhrlein den Beweis. Sie schüttete rote Farbe in die Bregquelle und konnte den Lauf des so gekennzeichneten Wassers bis nach Donaueschingen verfolgen, wo Breg und Brigach zusammenfließen.

»A verdammt lange Zeit haben sie und ihr Mann Ludwig alle Bäch untersucht«, erzählt mir der Wirt. »Das Geheimnis um die Donauquelle hat sogar den Jacques-Yves Cousteau zu uns geführt. Des war doch der berühmte Forscher aus Frankreich. Der war mit einem Filmteam da. Des muss 1987 gewesen sei. Die Argonautensage hat ihn saumäßig interessiert. A bsonderer Mann war er scho, der Cousteau.«

Ich verabschiede mich herzlich von Franz Dold, der mir so viele interessante Dinge erzählt hat, und von seiner Frau Karin. Gestärkt von dem reichlichen Frühstück, wandere ich nun auch noch zur Quelle der Brigach. Auf einem vom Regen aufgeweichten Weg mit Namen »Quellenweg« gehe ich durch den tropfnassen Nadelwald. Warum ist es so wichtig, den Ursprung eines Flusses zu finden, überlege ich? Warum haben Menschen ihr Leben riskiert, die Nilquellen zu suchen? Warum quälten sich Forscher durch den Amazonasdschungel? Und warum hat der römische Kaiser Tiberius seine Leute zur Donauquelle geschickt, wobei sie allerdings nur bis Donaueschingen kamen? Neben der rein praktischen Überlegung, dass es nützlich ist, den Verlauf eines Gewässers zu kennen, wenn ein Gebiet für Handel und Gütertransport erschlossen werden soll, muss es tiefer liegende Gründe geben. Vielleicht interessieren wir uns für Flussquellen, weil wir unseren eigenen Ursprung suchen? Weil wir wissen wollen, woher wir kommen und wohin wir gehen? Wir geben einem Fluss Eigennamen wie einem lebenden Wesen, und wenn wir nach seiner Quelle suchen und dann seinem Lauf folgen, kann es passieren, dass wir uns mit ihm wie mit einer Person identifizieren. Ein Fluss hat ja auch Ähnlichkeit mit uns Menschen. Er beginnt sein Leben als winziges Rinnsal, wächst und verändert sich, nimmt Einfluss auf seine Umgebung, wird mächtig und größer, sammelt Dinge in sich an, und am Ende seines Lebens fließt er ins Meer, geht ein in ein großes Ganzes.

Eine halbe Stunde später stehe ich an der Elzquelle, einem moos- und farnumgrenzten Quelltopf mitten im Wald. Die Elz, obwohl nur wenige Hundert Meter von der Bregquelle entfernt, fließt nicht wie diese nach Osten, sondern westwärts und mündet in den Rhein. Bald darauf wandere ich steil einen Bergrücken hinauf zu einer Passhöhe – zur »Europäischen Wasserscheide«, wo die Flüsse sich überlegen müssen, wohin sie wollen, in die Nordsee oder doch lieber ins Schwarze Meer. Wenn sie lesen könnten, wüssten sie, was zu tun ist, denn ein Schild verkündet: »Alle Gewässer westlich von hier fließen in die Nordsee und alle östlichen zum Schwarzen Meer.«

Der Wald lichtet sich, wird hier und dort durch Wiesen unterbrochen, auf denen braun-weiß gescheckte Rinder weiden. Einzelgehöfte mit schützenden, tief herabgezogenen Dächern schmiegen sich in die sanft gewellte Weidelandschaft. Da die Höfe im Schwarzwaldgebiet vernünftigerweise an einen einzigen Erben übergeben werden, haben sich weiträumige Wiesen- und Waldflächen erhalten. Auf einigen dieser Höfe wurden früher in Heimarbeit Holzuhren geschnitzt, in denen ein Kuckuck die Stunde ausruft. Inzwischen haben Kuckucksuhren den Schwarzwald weltweit bekannt gemacht. Die Idee dazu hatte der Uhrmacher Franz Ketterer im Jahr 1720.

In der Nähe des Hirzbauernhofs, wenige Kilometer vor dem Ort Brigach, befindet sich die Quelle des gleichnamigen Bachs. Der Bauer hat das Wasser gefasst und in einen See eingespeist, den er auf einem Schild als Brigachquelle ausweist. Bei der Erneuerung seines Küchengewölbes fand der Hirzbauer eine Steinplatte, die wohl aus keltischer Zeit stammt und wahrscheinlich 2000 Jahre alt ist. In den Sandstein eingraviert sind drei Tiere: Hirsch, Hase und Vogel, dazu drei Köpfe, vielleicht keltische Gottheiten. Das Original befindet sich inzwischen im Lapidarium-Museum der Stadt St. Georgen. Für seine Quelle hat der Bauer eine Kopie fertigen lassen, er glaubt, dass sich früher auch bei der Brigachquelle ein keltisches Heiligtum befunden hat.

An St. Georgen vorbei schlängelt sich die Brigach nach Donaueschingen und teilt sich das Tal mit der malerischen Schwarzwaldbahn. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie erbaut und gilt noch heute als Meisterleistung der Ingenieurskunst. Über Brücken und durch mehr als 30 Tunnel, in Kehren und Schleifen, bergauf und bergab, führt der Schienenstrang und diente anderen Gebirgsbahnen als Vorbild. Manchmal werden noch Fahrten mit historischen Dampfloks durchgeführt.

Eigentlich sollte man meinen, ein Fluss könne nur eine Quelle haben. Die Donau jedoch gibt sich damit nicht zufrieden und entspringt im Schlosspark der Fürsten von Fürstenberg in Donaueschingen zum zweiten Mal in einem kunstvoll eingefassten Quelltempel. Grün schillert das Wasser in dem flachen, kreisrunden Becken, das von einem filigranen Gitter umgeben ist. Über dem Brunnen thront das pathetische Denkmal zweier Frauengestalten. Mutter Baar weist mit ausgestreckter Hand ihrer Tochter, der jungen Donau, den Weg hinaus in die Welt. Mit »Baar« ist die flache Landschaft zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb gemeint. Der fürstliche Brunnen wird weder von Breg noch Brigach gespeist. Vielmehr handelt es sich hier um eine kleine Karstquelle, wie es viele in dieser Gegend gibt, die nach wenigen Metern in die Brigach mündet. Die von Kaiser Tiberius ausgeschickten römischen Geografen hatten sich nicht in den damals wilden, gefährlichen und unwegsamen Schwarzwald hineingewagt. Sie entschieden einfach, dass die Donau hier, am Fuß des Schwarzwalds, entspringt. Die Fürsten von Fürstenberg machten sich das später zunutze und schmückten sich damit, dass sich der Ursprung der Donau in ihrem Park befinde.

Im »Hirschen«, einem traditionsreichen Gasthaus in Donaueschingen, wo ich mein Fahrrad während der Quellwanderung untergestellt hatte, übernachte ich. Am nächsten Tag nehme ich mir Zeit, die Stadt und das fürstenbergische Schloss zu besichtigen. Vor allem die Hofbibliothek interessiert mich. Neben zahlreichen kostbaren Handschriften soll hier auch eine Fassung des Nibelungenlieds aufbewahrt sein. In der im 13. Jahrhundert niedergeschriebenen Sage werden nicht belegbare Ereignisse aus dem 5. Jahrhundert berichtet, unter anderem auch Kriemhilds Hochzeitszug entlang der Donau nach Ungarn zu König Etzel, besser bekannt als Hunnenkönig Attila. Wie passend, dass sich das Heldenepos über diese Flussreise gerade hier am Beginn der Donau befindet. Allerdings muss ich dann erfahren, dass der Fürst von Fürstenberg das kostbare mittelalterliche Werk bereits im Jahr 2001 der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe verkauft hat.

Donaueschingen wurde erstmalig 889 in einer Schenkungsurkunde erwähnt. Der Ort wechselte mehrmals seine Besitzer und wurde im 15. Jahrhundert von der Familie der Fürsten von Fürstenberg erworben. Sie zählt zu den ältesten des Hochadels und geht zurück bis ins 9. Jahrhundert, zu ihrem Urahn Unruoch II., dessen Sohn Eberhard eine Enkelin Karls des Großen heiratete. Im Jahr 1908 wurde Donaueschingen durch einen verheerenden Brand völlig zerstört. Beim Wiederaufbau entstanden Häuser mit Jugendstilfassaden, und anstelle der bis dahin bäuerlichen Dorfstruktur entwickelte sich eine Stadt des Bürgertums.

Hinter dem Schloss, einem mächtigen, lang gestreckten neubarocken Gebäude mit weißer Fassade und schiefergrauem Dach, das im 19. Jahrhundert seine heutige Gestalt erhielt, öffnet sich der Schlosspark. Im Süden wird der Park von der Breg begrenzt und im Norden von der Brigach durchflossen. Hohe Laubbäume beschatten Wege und Wiesen. Auf Teichen und Bächen dümpeln Stockenten, Graureiher spähen am Ufer nach Beute. Bachstelzen hüpfen von Stein zu Stein, wippen mit ihren langen Schwanzfedern, Buchfinken schmettern in den Kronen der Bäume ihre Lieder. Ein kaffeebraunes Eichhörnchen springt über den Weg und huscht blitzschnell einen Baumstamm hinauf, keckert von oben zu mir herab.

Am östlichen Parkende fließen Breg und Brigach zusammen, und nun entspringt die Donau zum dritten Mal, denn die Vereinigung der beiden Quellbäche gilt offiziell als Beginn der Donau. Von hier bis zur österreichischen Grenze wird sie 618 Kilometer zurücklegen.

Eigentlich müsste die Zählung dieses ersten Flusskilometers mit »null« beginnen, denn Flüsse werden üblicherweise flussabwärts gemessen. Nicht so die Donau, sie beansprucht auch da eine Ausnahme. Sie beginnt am Schwarzen Meer mit Kilometer null und endet im fürstlichen Park von Donaueschingen mit Kilometer 2845.

Die Donau verschwindet

Von Donaueschingen nach Beuron

Als munter murmelnder Bach schlängelt sich die Donau in sanften Schleifen durch blühende Wiesen. Beschwingt radle ich an ihr entlang und erfreue mich an der bunten Pracht, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne, als noch nicht ständig gemäht und gedüngt wurde. Ein farbenfrohes Bild wie auf der Palette eines impressionistischen Malers, wo die Farben wild durcheinanderwirbeln, bietet sich mir beidseits des Radwegs. Ich freue mich, dass ich die Pflanzen noch alle benennen kann: blaulila der Storchschnabel, blassrosa mit geschlitzten und gefiederten Blüten die Kuckuckslichtnelke, rosarot der Wiesenknöterich, daneben die nickenden Blüten des Bachnelkenwurzes, auch das dunkelrote Sumpfblutauge fehlt nicht, dazu Wiesenwachtelweizen, Klappertopf und Hahnenfuß – als Kind nannte ich ihn Butterblume –, der prächtig rote Blutweiderich, die violetten Teufelskrallen und Margeriten, die weiße Tupfer in das bunte Muster setzen. In den Bäumen und Sträuchern am Wiesenrand singen Gelbspötter und Mönchsgrasmücken, am Himmel kreist ein Roter Milan.

Nach wenigen Kilometern schon endet das blumengeschmückte Ried bei Pfohren, dort brütet auf dem Kirchturm ein Storchenpaar. Der Donau sind Bäche zugeflossen, und als ansehnlicher Fluss rauscht sie nun durch die Ortschaft. Auf dem Weg nach Geisingen, wo ich übernachten werde, erhebt sich links ein 820 Meter hoher Vulkankegel aus der flachen Landschaft, auf dessen Gipfel das Schloss Wartenberg steht. In alten Zeiten haben sich die Wartenberger und die Fürstenberger lange Jahre gestritten und bekämpft, bis es Graf Heinrich II. von Fürstenberg gelang, eine Wartenbergerin zu ehelichen. Damit hatte der Zwist ein Ende, und der Graf übernahm den gesamten Besitz der Wartenberger.

Am nächsten Morgen, einem kühlen, bewölkten Tag, radle ich von Geisingen weiter nach Immendingen und blicke dort in ein trockenes Flussbett. Fast das gesamte Wasser der Donau, die zu einem stattlichen Fluss geworden war, versiegt plötzlich. Gurgelnd und gluckernd, in kleinen Strudeln verschwindet das Wasser spurlos im Untergrund. Wie von magischer Kraft wird es unter die Erde gesogen. Die Donau, die schon mit ihren drei Quellen für Verwirrung gesorgt hatte, gibt es nicht mehr, sie versickert. Fossiliensucher freuen sich, denn in dem trockenen Flussbett findet man seltene Muscheln und Versteinerungen von Tieren, die vor Jahrmillionen hier lebten.

Die Ausläufer der Schwäbischen Alb mit ihrem wasserlöslichen Karst sind an der Versickerung schuld. Die Donau hat über lange Zeiträume hinweg immer größere Löcher aus dem Kalkgestein herausgelöst. Unterirdisch rauscht das Wasser durch ein weitverzweigtes Höhlensystem und kommt zwölf Kilometer entfernt als Quelle wieder ans Tageslicht. Aber nun heißt der Fluss nicht mehr Donau, sondern Aach und mündet in den Bodensee. Aus dem Bodensee wiederum fließt nur ein Fluss heraus – der Rhein. Wollten wir dem Quellwasser von Breg und Brigach folgen, müssten wir jetzt zum Rhein wechseln und unseren Weg an der Nordsee beenden, denn die junge Donau ist eigentlich ein Quellfluss des Rheins.

Doch allmählich füllt sich das trockene Flussbett der Donau von Neuem durch einmündende Bäche. Vor allem im Frühjahr zur Schneeschmelze und an Tagen, wenn es stark regnet, gibt es genügend Wasser, sodass sich trotz Versickerung ein schmales Rinnsal durch das alte Flussbett schlängelt und später durch Zuflüsse wieder Gestalt annimmt. Es bleibt aber nicht bei dieser einen Versickerungsstelle. Auf einer Strecke von rund 30 Kilometern von Immendingen über Tuttlingen bis Fridingen gibt es jede Menge durchlässige Stellen im Kalkgestein. Verzweifelte Müller, denen das Wasser zum Betrieb ihrer Mühlen fehlte, haben in früheren Zeiten versucht, die Spalten und Risse mit Sand, Lehm und Holzpfählen zu stopfen, später mit Zement, doch das Flussbett ist nicht dicht zu kriegen. Daher wurde in heutiger Zeit ein Umlaufstollen gebaut, der, bevor der Untergrund durchlässig wird, Wasser abzweigt und es danach wieder ins Flussbett einspeist. Damit wurde aber der Unmut von Bewohnern an der Aach hervorgerufen, die nun über Wassermangel klagen.

Wenn ich geglaubt hatte, die Abenteuer und Geheimnisse des Reisens könnte ich nur in fernen Ländern finden und meine Wanderung entlang der Donau durch Deutschland würde keine Überraschungen in sich bergen, so bin ich schon auf den ersten Kilometern eines Besseren belehrt worden. Nie hätte ich gedacht, dass die uns allen wohlbekannte Donau so viel Neues und Unbekanntes zu bieten hat. Anders als bei meinen sonstigen abenteuerlichen Reisen in exotischen Ländern bewege ich mich diesmal durch eine vertraute Kulturlandschaft mit Straßen, Städten, Dörfern, und doch spüre ich bei jedem morgendlichen Aufbruch, wie sich mein Herzschlag vor Spannung beschleunigt.

Das breite Tal, durch das der Radweg mich von Immendingen bis Tuttlingen führt, ist wiesengrün und wird von bewaldeten, dunkelgrünen Höhenzügen begrenzt. Die Dörfer liegen dicht beieinander. Unter den Dächern der Häuser entdecke ich Nisthilfen für Mehlschwalben, auf den Kirchtürmen hin und wieder ein Storchennest. Früher war diese Gegend römischem Einfluss unterworfen. Eine der zahlreichen Römerstraßen führte von Straßburg nach Tuttlingen.

In Möhringen bestaune ich auf dem Marktplatz einen Brunnen mit einer prächtigen braun und gold lackierten Statue, einer Mohrin. Sie ist in Erz gegossen, barbusig und nur mit einem Lendenschurz aus Federn bekleidet. In der Hand hält sie Pfeil, Bogen und Köcher, und auf ihrem schwarzen Kraushaar prangt ein goldenes Diadem. Der Name des Ortes lautete bis ins 13. Jahrhundert »Moringas«, abgeleitet vom alemannischen Sippennamen Moro. Von Kaiser Friedrich III. bekam Möhringen im Jahr 1470, nachdem es schon fast 200 Jahre lang als Stadt anerkannt war, endlich das heiß ersehnte Stadtwappen. Ob der Mohr auf dem Wappen an den alemannischen Siedlungsgründer Moro erinnern soll, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Die Mohrin am Marktbrunnen greift das Motiv des Stadtwappens auf, nur hat man diesmal eine weibliche Figur gewählt.

Am Himmel kämpfen Sonne und Wolken um die Vorherrschaft, mal wird die Sonne verdeckt, dann brennt sie wieder heiß herab. Üppig grün sind die Wiesen, gedüngt und bewirtschaftet, haben sie ihre Blütenpracht verloren. Nirgendwo ein Schmetterling, auch kein Heuhüpfer, keine Grille und keine Schwebfliege oder was es sonst an Insekten geben mag, sie fehlen alle. Die intensive Landwirtschaft lässt wenig Raum für Pflanzen und Tiere.

Die Donau hat in der Vergangenheit, seit man vor etwa 200 Jahren mit der Uferbegradigung begann, eine Unzahl künstlicher Eingriffe ertragen müssen. Man glaubte, dadurch die Hochwassergefahr bannen zu können. Erreicht wurde das Gegenteil, vor allem für die am Unterlauf gelegenen Orte. Neben dem Hochwasserschutz wollte man aber auch neues Land urbar machen, und so wurden die Windungen und Schleifen der Donau begradigt, Altwasserarme trockengelegt, im Fluss liegende Kiesinseln beseitigt, bis man die Donau in ein schnurgerades Bett gezwungen hatte, mit schwerwiegenden Folgen. Die Fließgeschwindigkeit beschleunigte sich, tief und tiefer grub sich der Fluss in den Untergrund hinein, der Grundwasserspiegel sank, die Auwälder vertrockneten. Der Lebensraum für Tiere und Pflanzen, die an diese Umwelt angepasst waren, ging verloren.

Mit hohem finanziellen Aufwand und Einsatz schwerer Maschinen wird versucht, die Donau zu renaturieren. »IDP«, »Integriertes Donau-Programm«, wird das Projekt genannt, mit dem eine naturnahe Flusslandschaft gestaltet wird. Das Wappentier des IDP ist der Flussregenpfeifer, der das Leben an einem natürlichen Fluss symbolisieren soll. Bild- und Texttafeln entlang des Flusses liefern Informationen wie zum Beispiel, dass für eine Strecke von nur 1,8 Kilometern 50 000 Kubikmeter Erdreich und Kies bewegt wurden, was fast zwei Millionen Euro kostete. Auf die Renaturierung der Donau zwischen Hundersingen und Binzwangen ist man besonders stolz. Hier könne der Fluss wieder seine natürliche Dynamik ausleben, heißt es auf den Bildtafeln. Allerdings sind es nur 2,7 Kilometer, die 2,6 Millionen Euro gekostet haben. Das IDP ist gut gemeint, ob jedoch trotz des immensen Aufwands wirklich viel erreicht wird? Die naturnah gestalteten Abschnitte sind viel zu klein und scheinen mir eher Alibifunktion zu haben. Wichtiger wäre, den technischen Ausbau der Donau mit Stauwerken, Stauseen, Schleusen und Begradigungen nicht fortzusetzen.

Eine kleine Wildnis erfreut mich wenige Kilometer vor Mühlheim am Wulfbach, einem schmalen Gewässer, das vom Hang herab in die Donau mündet. Wuchernde Vegetation und umgestürzte Bäume zeigen ein ungewohntes Bild, wie man es in unserer aufgeräumten Landschaft kaum noch findet. Das dschungelartige Durcheinander hat ein besonderer Baumeister ganz ohne finanziellen Aufwand geschaffen – der Biber. Auf einer Infotafel lese ich, dass im Jahr 1834 der letzte hier lebende Biber geschossen worden ist. Doch seit einigen Jahren wandern Nachkommen der Tiere, die man in Bayern ausgewildert hatte, bis nach Baden-Württemberg. Überall, wo er auftaucht, staut er Wasserläufe, verwandelt unsere geordnete Landschaft in ein wildes Mosaik ökologischer Fülle. Der Nager verändert die Umwelt, wie es sonst nur der Mensch kann. Er setzt Äcker unter Wasser, fällt Obstbäume, vernässt Wiesen, manchmal verstopft er auch Klärabflüsse und höhlt Uferböschungen aus. Dennoch sind die Schäden marginal und durch finanzielle Entschädigungen zu mildern. Zum »Problembiber« wird das Tier in unseren Köpfen, weil wir ihm nicht zugestehen wollen, dass er die nach unseren Ansprüchen ausgerichtete Gestaltung der Ökosysteme durcheinanderbringt.

Nicht weit von der Mündung des Wulfbaches entfernt, hoch über der Donau auf einem Bergsporn, liegt das von einer Stadtmauer umschlossene Mühlheim. Durch ein enges Stadttor, früher der einzige Zugang, gelange ich in die mittelalterlich wirkende Stadt mit verwinkelten Gassen und historischen Fachwerkhäusern. Auch das Rathaus ist ein Fachwerkbau aus dem frühen 15. Jahrhundert.

Im Garten des Gasthauses »Altes Stadttor« setze ich mich unter schattige Bäume, die mich vor der prallen Mittagssonne schützen. Als ich nach einer kleinen Pause weiterradle, häufen sich am Himmel dunkle Kumuluswolken. Sie künden von einem nahenden Gewitter. Ich beschließe, nicht im Zelt zu übernachten, sondern mir ein Quartier zu suchen. Bei einem Maisfeld begegne ich einem Bauern. Da ich annehme, es sei sein Feld, verwickele ich ihn in ein Gespräch. Ich will wissen, was er vom Maisanbau hält. Seitdem in Deutschland alternative und nachhaltige Energieformen propagiert werden, wird viel mehr Mais angebaut als früher, von dem der überwiegende Teil nicht mehr dem Füttern der Kühe dient, sondern zu Ökostrom verarbeitet wird.

»Des war amol mein Feld. Ich hab’s verkaufe müsse, bin z’alt für die schwere Arbeit«, erzählt mir der Bauer. Das Verbrennen von Mais findet er auch nicht gut, aber das sei die neue Zeit. Besorgt deutet er auf die sich türmenden Wolken und fragt, wo ich vor dem Gewitter Zuflucht finden will.

»In der Nähe von Fridingen im ›Gasthof Bergsteig‹«, antworte ich.

Er nickt beifällig: »Kenn i, war früher ein Weiler, mitten im Wald.«

Ich verabschiede mich und trete kräftig in die Pedale. Bevor das Unwetter losbricht, will ich die Unterkunft erreichen. Ein Steg führt über die Donau zum rechten Ufer, dort schiebe ich mein Rad einen steilen bewaldeten Hang hinauf. Der verwurzelte Waldweg lässt mich eine rustikale Unterkunft erwarten. Doch die Realität holt mich ein, als ich aus dem dichten Wald auf ein Plateau hinaustrete. Das Gasthaus liegt direkt an einer verkehrsreichen Landstraße, die von Fridingen heraufführt. Aber es ist zu spät, eine andere Herberge zu suchen, außerdem versöhnt mich der Blick von hoch oben hinunter auf die Donau und weit über das Land.

Im Gastraum wird ein delikates Abendbüfett geboten, alle Tische sind besetzt. Stimmengewirr und Lachen dröhnen durch den Raum. Die Gäste kennen sich, ich würde mich unter ihnen bestimmt nicht wohlfühlen. Deshalb verziehe ich mich auf mein Zimmer und esse, was ich unterwegs gekauft habe. Immerhin bin ich vor dem jetzt losbrechenden Gewitter geschützt.

Beim Frühstück am nächsten Morgen stelle ich fest, dass ich der einzige Übernachtungsgast war. Die Leute vom Abendessen sind nicht geblieben. Ich komme mit dem Wirt ins Gespräch, und er erzählt mir die spannende Geschichte seines Großvaters. Der war als junger Mann nach Amerika ausgewandert, hatte sich als Goldgräber versucht, tatsächlich Glück gehabt und eine Goldader gefunden. Geplagt von Heimweh, kehrte er nach zehn Jahren in Übersee zurück, kaufte mit dem gefundenen Gold ein Stück Land, auf dem von seinen Nachkommen der jetzige »Gasthof Bergsteig« gebaut wurde.

Nach dem Frühstück verabschiede ich mich vom Wirt und schiebe das Rad den steilen Waldwurzelweg hinunter zur Donau, die sich durch eine wie verzaubert wirkende Landschaft windet. Der Fluss ist nun wieder mindestens so breit wie vor der Versickerung und fließt durch ein enges Tal aus leuchtend weißen Kalkfelsen. Mit zäher Ausdauer und unermüdlicher Kraft, wie es nur das Wasser vermag, hat sich die Donau durch die Schwäbische Alb einen Durchschlupf erkämpft. Mehrere Hundert Meter ragen die senkrechten Felsen empor und begrenzen den Fluss auf den nächsten 20 Kilometern.

Keine Straße führt durch das schmale Tal, nur der Radweg und die Schienen der Bahn schlängeln sich am Fluss entlang. Die Uferwiesen werden wenig gedüngt, so schmücken sie sich mit Leimkraut, Wiesenbocksbart, Klappertopf und Glockenblumen. Schwebfliegen umschwirren die Dolden des Wiesenbärenklaus, und Schmetterlinge gaukeln von Blüte zu Blüte.

Es ist noch früher Nachmittag, als sich das enge Tal zu einem breiten Rund öffnet. In diesem Kessel liegt die Erzabtei Beuron mit der gleichnamigen Ortschaft, mein Tagesziel. Für die Besichtigung des Klosters sowie der einen oder anderen Burg auf den Felsgipfeln und zum Erkunden der Schwäbischen Alb will ich mir Zeit lassen und habe mich für eine Woche in der Herberge »Maria Trost« angemeldet. Das Wirtspaar erzählt mir beim Kaffeetrinken die interessante Geschichte des Hauses: Die Barmherzigen Schwestern vom Orden des heiligen Vinzenz haben die ehemalige Villa im Jahr 1925 erworben und zu einem Exerzitienhaus umgebaut. Edith Stein, eine jüdische Philosophin, die zum Katholizismus konvertierte und in den Karmeliterorden eintrat, weilte oft hier. Am 9. August 1942 wurde sie in Auschwitz ermordet.

Die hauseigene Kapelle, die Möglichkeit zu Rückzug und Besinnung bietet, und die einfach eingerichteten Zimmer prägen noch heute das Haus, obwohl es inzwischen von den neuen Besitzern restauriert und verändert wurde. Ich könnte mir vorstellen, wer Heilung und Genesung für Körper, Geist und Seele sucht, findet hier die geeignete Umgebung. Ich habe es wegen seiner Vergangenheit gewählt und genieße die besondere Atmosphäre.

Im Sommer sind die Besucher sicherlich zahlreich, aber es ist noch früh im Jahr, und so bin ich der einzige Gast im »Maria Trost«. Ich habe das größte und schönste der karg eingerichteten Zimmer bekommen, das einen Balkon mit Blick auf Tal und Kloster hat. Die Donau windet sich in einer weiten Schleife durch den Wiesengrund, die weißen Felsen des Jurakalks umgrenzen den Talkessel wie ein Amphitheater. In diese Naturidylle schmiegen sich die imposanten Gebäude des Kloster Beuron mit ihren hellen Fassaden und den backsteinroten Dächern.

Die ersten Mönche kamen vor über 1000 Jahren in die damals weltabgeschiedene Gegend. Im Jahr 861 wird urkundlich ein Kloster erwähnt, und schon im 11. Jahrhundert war es als Augustiner-Chorherrenstift bekannt. Die Säkularisation, angeordnet von Napoleon, beendete das Klosterleben. Die Mönche mussten ihre Heimstätte verlassen. 60 Jahre lang war das Kloster unbewohnt. Die leeren Räume wurden zeitweilig zweckentfremdet, als Militärhospital, dann wieder als Amtswohnungen. Erst 1862 übergab Katharina Fürstin von Hohenzollern-Sigmaringen die Abtei dem Benediktinerorden. Von da an gingen von Beuron spirituelle Impulse aus, die dem Niedergang infolge der Säkularisation entgegenwirkten. Mehr als 30 Klostergründungen wurden initiiert, die gregorianischen Choräle, die in Vergessenheit geraten waren, wurden wiederbelebt. Auch die Malerei bekam wertvolle Anstöße durch das Kloster Beuron. Drei bedeutende Künstler der Beuroner Kunstschule, Peter Lenz, Jakob Wüger und Fridolin Steiner, traten ins Kloster ein, nannten sich nun Desiderius, Gabriel und Lukas. Mit ihren Werken schufen sie die Vorstufe des Jugendstils.

Es ist Abend geworden, und ich sitze noch immer auf dem Balkon, kann mich von dem Blick in den stillen Talgrund nicht trennen. Dunkle Wolken sind am Himmel aufgezogen, keine schwarzen Gewitterankünder, sondern anthrazitfarbene Regenbringer. Da prasselt es schon auf das frische Laub und das Dach der Herberge, das weit über den Balkon reicht und mich vor Nässe schützt. Als der Regen versiegt, beginnt eine Amsel zu singen. Melancholisch süß durchwebt ihr Gesang die Dunkelheit. Erste Sterne blinken am nun klaren Himmel.

Der nächste Tag ist sonnenwarm, mein Ziel ist die mittelalterliche Trutzburg Wildenstein auf einem über 800 Meter hohen Felsen. Ich lasse das Rad in der Herberge zurück und wandere den Talgrund entlang Richtung Hausen und gelange über eine Brücke zum rechten Flussufer. Ein Pfad, von Wurzeln überzogen und von Bäumen beschattet, führt steil die Anhöhe hinauf zur Burg. Mächtig thront sie auf dem Felsen. Erste Baufunde datieren aus dem 13. Jahrhundert. Anfang des 16. Jahrhunderts wurde die Burg vom Grafen von Zimmern mit Mauern, doppeltem Burggraben und Fallbrücke geschützt und zu einer uneinnehmbaren Bastion ausgebaut. Tatsächlich wurde sie nie erobert und blieb daher unzerstört erhalten. Sie gehört zu den schönsten der an Burgen reichen Gegend.

Lachend laufen Kinder über den Schlosshof und durch die überdachten Wehrgänge, ihre hellen Stimmen hallen durch die alten Gemäuer. Für sie muss es ein unvergessliches Erlebnis sein, in dem wildromantischen Schloss übernachten zu dürfen, denn Burg Wildenstein wurde zur Jugendherberge umgebaut.

Auf dem Rückweg nach Beuron mache ich im Tal bei der Kapelle des heiligen Maurus halt, der im 6. Jahrhundert lebte und zum Nachfolger des heiligen Benedikt wurde. Die Kapelle war das Erstlingswerk der Beuroner Künstler. Das Bauwerk selbst bleibt dem Stil seiner Zeit, dem 19. Jahrhundert, verhaftet, die Fresken aber sind fremdartig und ohne Beispiel in der damaligen zeitgenössischen Kunst. Pater Desiderius und seine beiden Mitstreiter orientierten sich an altägyptischen Vorbildern, entwickelten eine ästhetische Formensprache und wollten durch geometrische Maße und Zahlenproportionen eine Kunst schaffen, mit der sich religiöse Gefühle ausdrücken ließen. Es sind spröde und streng wirkende Darstellungen, denen jegliche Individualität fehlt. Die abstrakten Figuren erinnern an frühchristliche und byzantinische Ikonenmalerei. Ich kann mir gut vorstellen, dass der spätere Jugendstil hier seine Anregung fand. Weitere Werke der Künstlerpatres sollen in der Abteikirche des Klosters zu finden sein. Dort wurde der Hochaltar entfernt und durch das Gemälde »Die Krönung Marias« ersetzt. Ich bin gespannt auf seine Wirkung.

Als ich die Kirche am nächsten Tag betrete, bin ich die einzige Besucherin. Ich liebe es, einen Kirchenraum ganz für mich allein zu haben, ihn in Stille auf mich wirken zu lassen, seine besondere Atmosphäre zu atmen. Überrascht verharre ich beim Eingang, so heiter und beschwingt und unerwartet bunt wirkt der sakrale Raum. Wohl sind die sechs vierkantigen Pfeilerpaare blendend weiß, doch sie und die reinweißen Bögen, die Stuckverzierungen und die ungewöhnlich hoch angesetzten Galerien bewirken durch ihre Helligkeit, dass die Deckengemälde umso farbiger erscheinen. Die Fresken sind eigentlich in dunklen, erdigen Tönen gehalten, dennoch entfalten sie eine leuchtende Kraft. Der aus Riedlingen stammende Maler Josef Ignaz Wegscheider, der um 1720 an der Kunstakademie in Wien studierte, hat sie geschaffen. Die Malerei in der Mitte der Decke zeigt die Gründungslegende des Klosters: eine Jagdszene im Beuroner Talgrund vor der Felsenkulisse der Schwäbischen Alb. Am unteren Bildrand lässt der Flussgott Danubius die Donau entspringen, ein Hirsch mit goldenem Geweih macht den adligen Jäger auf eine Marienerscheinung aufmerksam. Die Mutter Gottes befiehlt, an diesem Ort ein Kloster zu gründen.