Stefanie Sourlier

Das weiße Meer

Erzählungen

Durch nichts als durch uns von uns abgelenkt, erblickten wir uns in Amras in unserem brodelnden, dann wieder starren Geschwisterzusammenhang … immer wieder die Frage stellend: warum wir noch leben müssen …

Thomas Bernhard

And people who are uglier than you and I, they take what they need and just leave.

The Smiths

Kupfersulfatblau

Als ich elf Jahre alt war, wollte ich sterben und schluckte das Kupfersulfat aus dem Kosmos-Chemiekasten, den mein Bruder zum Geburtstag bekommen hatte. Nachdem Paul die Herstellung von Plutonium nicht gelungen war, blieb der Chemiekasten unberührt unter seinem Bett liegen. Auch mein erster Versuch misslang. Ich nahm einen Löffel der leuchtend blauen Kristalle auf die Zunge. Kupfersulfat wirkt ätzend auf Haut und Schleimhäuten. Schlimm war nicht die schmerzende Zunge, nicht der Hals, Angina in fortgeschrittenem Zustand, sondern der Geschmack. Bitter, säuerlich, metallisch, es gibt kein Wort. Deshalb gelang es mir nicht, den zweiten Löffel hinunterzuschlucken, obwohl es mir ernst war mit dem Sterben und ich beschlossen hatte, Härte zu beweisen. Minuten später kotzte ich ins Waschbecken. Danach fühlte ich mich elend. Am nächsten Tag ging es mir besser, nur der Geschmack blieb. Er blieb erst im Hals, zwischen den Zähnen, dann noch im Kopf.

Nach einer Woche beschloss ich, den zweiten Versuch durchzuführen. Ich blieb beim Kupfersulfat. Ich leerte den Inhalt von Pauls Aknekapseln, füllte sie neu, schluckte sie und wartete. Erst geschah nichts. Aber nach zwei Stunden kam es. So stark, dass ich mich am Badewannenrand festhalten musste. Ich wusste, dass das Sterben nicht einfach sein würde, also nahm ich es hin. Ich spürte das Kupfersulfat in die Kehle steigen und erbrach mich. Danach blieb ich lange auf dem kaltgefliesten Badezimmerboden liegen und wunderte mich. Wie nach einem Traum, in dem man in die Tiefe stürzt und doch noch rechtzeitig erwacht, kurz bevor man auf dem Boden aufschlägt.

Meine Freundin und ich sitzen auf dem Sofa im Ferienhaus in Südfrankreich und spielen Einander-schlimme-Dinge-Erzählen. Die Kupfersulfatgeschichte ist nicht meine schlimmste Geschichte. Paul übt Geige im oberen Stockwerk. Das Spiel hat keine Regeln. Man darf lügen, übertreiben und verdrehen; Hauptsache, die Geschichten vertreiben die hochsommerliche Nachmittagslangeweile, die in der vor Hitze flirrenden Luft stillsteht wie die grünschimmernden Grillen, die im eintönigen Singsang des Altweibergeschwätzes mitschwingt und einen selbst zu ergreifen droht, den Rücken hinunterschleicht mit den Schweißrinnsalen, unbemerkt die Wirbelsäule entlang. Man sollte drinnen sitzen im kühldunklen Steinhaus, auch wenn alle sich fragen, warum man nicht an den Strand geht bei diesem Wetter, warum man denn sonst gekommen sei, wenn nicht wegen des Meeres. Man sollte drinnen sitzen, für dieses Spiel, bei einem Glas Wein oder einer Flasche, vin de table de la région, Flaschen ohne Etikett, kein Wein, der mit dem Alter besser wird, dieser Wein wird nur Essig. Dazu sollte man Zigaretten rauchen; unzählige, filterlose Gauloises, von denen man gelbe Zähne und Fingerkuppen kriegen würde wie die Alten im Dorf.

Der Sommer ist heißer als normal, und die Hitze sollte noch zunehmen. Doch im kühlen Haus merkt man nichts davon. Eine fünfstufige Treppe trennt Küche und Eingangsbereich, gesäumt von zwei Säulen, auf denen zwei steinerne Katzen stehen, deren leere Augen zur Tür gerichtet sind. Es ist fünf Uhr nachmittags, wir sind gerade erst aufgestanden; der Schlaf war weiß und weich und leicht wie Watte. Alles ist nicht anders als anderswo, höchstens etwas verschoben. Wir erzählen uns schlimme Dinge, damit die Langeweile nicht kommt, während wir warten, bis vielleicht jemand kommen könnte oder bis etwas passiert.

Hier passiert nie etwas. Jacques, der Dorfverrückte, bastelt seit zehn Jahren an einer Bombe aus Strandgut und Schrott, mit der er das Dorf in die Luft sprengen will. Bisher hat es nicht geklappt.

Das Einzige, was je geschah, war der Waldbrand auf dem Hügel zwischen unserem und dem Nachbardorf im Sommer vor drei Jahren. Am selben Tag verliebten wir uns, meine Freundin und ich. In denselben Jungen. Der ganze Hügel brannte; Rauch lag in der Luft, und im Dorf war ein Geschrei, dann kamen Flugzeuge über den Étang. Wir kletterten aufs Dach, starrten ins Feuer und zählten die Flugzeuge. Hinter dem Hügel wohnte der Junge. Einer von denen, die vorbeikamen, schweigend an unserem Küchentisch herumsaßen und dann wieder gingen. Sie brachten Kassetten oder CDs mit eintönigem Techno, Spiraltribe, wie sie stolz erklärten, die wir auf volle Lautstärke drehten. Manchmal gingen wir grillen, aßen süße Crepes mit Marmelade oder quadratische Löschpapierstückchen, die LSD enthielten, wir tranken Absinth, verdünnt mit Wasser und viel Zucker. Die Mädchen aus dem Dorf hassten uns. Der Junge war blond und dünn, er war kaum fünfzehn Jahre alt und sah aus wie ein junger Gott. Ich wusste, dass meine Freundin sich verliebt hatte, und sagte nichts von mir.

Ich weiß genau, dass die Geschichte, die meine Freundin nun erzählt, erfunden ist. Ich kenne sie zu gut, meine Freundin, ich kenne sie in- und auswendig, ich kenne ihre Worte, bevor sie sie ausspricht, und trotzdem wird mir nie langweilig. Nur manchmal bin ich ungeduldig. Von dem einen Mädchen aus dem Nachbardorf handelt die Geschichte meiner Freundin, von dem Mädchen mit den strähnigen braunen Haaren und den nach innen gewandten Augen, nicht ganz richtig im Kopf war das Mädchen, sagte man. Chez Henri, bei der Ruine habe sie das Mädchen gesehen, sagte meine Freundin, den Kopf vergraben im Schoß eines Mannes. Sie würde es mit allen treiben, das Mädchen, erzähle man im Dorf, so meine Freundin, sogar mit dem verrückten Jacques. Meine Freundin blickt mich an, ihr Haar ist von der Sonne ganz blond geworden und sieht aus, als würde es nach Meer riechen, dabei waren wir gar nicht am Meer. Unter ihrem dünnen T-Shirt zeichnen sich die Brustwarzen dunkel ab. Auf dem T-Shirt steht Bubblegum.

Meine nächste schlimme Geschichte ist nur halb so schlimm wie die vom Kupfersulfat. Paul durfte einmal eine Nabelschnur durchschneiden. Dies war etwas, was Paul durfte und ich nicht; etwas, worin er mir voraus war. Eine Eifersuchtsgeschichte, wie der ewige Kampf, wer schneller laufen konnte oder wer mehr Rosinen im Müsli habe, die wir aus der Milch fischten, am Tellerrand aufreihten und zählten. Dabei mochte ich Rosinen gar nicht. Das Kind, ein Brüderchen, dessen Geschlecht ich aber erst am nächsten Tag bemerkte, hatte einen roten Kopf und war überhaupt sehr rot. Nur die Nabelschnur war bläulich. Mit einer Schere schnitt Paul diese Nabelschnur durch. Die Schere war so groß, dass er sie kaum alleine halten konnte. An alles andere kann ich mich nicht erinnern, weil sich das Video der Geburt des kleinen Elefäntchens, das wir einige Jahre später im Zoo anschauten, vor das Bild der Geschwistergeburt geschoben hat. Ich versuchte, einen unsichtbaren Punkt hinter dem Fernseher und der Elefantengeburt zu fixieren, um nicht umzukippen vom Rauschen des Blutes in meinem Kopf.

Meine Freundin findet die Geschichte schlimmer als ich. Sie hätte nie eine Nabelschnur sehen, geschweige denn durchschneiden können, sagt sie angewidert, ihr werde schon übel beim Hören eines Wortes wie Mutterkuchen.

Am Abend nach dem Waldbrand gingen wir grillen. Chez Henri nennen sie die Ruine einer mittelalterlichen Burg am Ufer des Étang. Henri war ein Herzog, dessen Frau ihre vier Kinder im Étang ertränkte. Die Frau wurde hingerichtet, und Henri erhängte sich darauf, aber wie erzählt wird, lebt sein ruheloser Geist immer noch in der Ruine und huscht zuweilen über das seichte Gewässer. An den verbliebenen Mauern stehen die Namen derer, die hier waren, und die der Geliebten, I Love You, mon amour pour toujours. Fuck la police. Der Boden ist brauner Staub, zwischen Steinbrocken liegen leere Bierflaschen und Scherben, Überreste der nächtlichen Feste und Saufgelage der Dorfjugend. An dem Abend nach dem Waldbrand saßen wir auf dem staubigen Boden um das Feuer, und ich trank etwa zehn Flaschen Bier mit einem Jungen aus dem Nachbardorf.

Der Junge hatte die Angewohnheit, uns Geschenke mitzubringen, um uns zu beeindrucken, zwei alte Fischerruten, ein vom Étang angeschwemmtes Skelett einer Katze oder die Beinprothese seines verstorbenen Großvaters. Einige Tage zuvor hatte er eine Gans mitgebracht. Er kam zur Tür herein, holte das flatternde Tier aus seinem Rucksack, und ehe ich mich versah, hielt ich zwei riesige Gänseflügel in den Händen. Als das Genick unter seinen Händen brach, spürte ich es fast körperlich. Die tote Gans zuckte und flatterte immer noch auf dem Steinboden. Das versteht ihr eben nicht, sagte er, dabei hatte ich weder Entsetzen noch Bewunderung geäußert. Wir sind Vegetarierinnen, sagte meine Freundin, das war gelogen. Der Junge packte die Gans, deren Nerven noch lebten, in einen blaudurchsichtigen Müllbeutel und brachte das Geschenk seiner Großmutter.

Meine Freundin und der junge Gott saßen etwas abseits und sprachen über Henri, den Geist. Tu m’étonnes, sagte der Junge neben mir, du erstaunst mich, wobei ich nicht wusste, ob er mich oder das viele Bier, das ich trank, meinte. Als wir keine vollen Bierflaschen mehr fanden, küssten wir uns. Nach diesem Abend schlief er meist in meinem Bett. Er presste seinen mageren Jungenkörper an mich und fragte, ob ich nicht Lust dazu hätte, akzeptierte aber mein Nein, erst etwas widerwillig, wie ein Kind, das nur bis acht Uhr aufbleiben darf, weil das Fernsehprogramm danach nichts für Kinderaugen ist, und schlief sofort ein. Ich lag noch wach, betrachtete seinen schlafwarmen Körper und es war gut. Am Morgen duschte er und lief den eineinhalbstündigen Weg zurück ins Nachbardorf.

Meine Freundin schreckt auf, weil der Vorhang aus papiernen Perlen vor der Glastür raschelt. Doch es kommt niemand. Die Leute, die in den Lichtblitzen zwischen den Papierperlen erscheinen, gehen an der Tür vorbei. Pauls Geigenspiel hallt von den alten Steinmauern wider. Er spielt Bach. Ich soll eine weitere Geschichte erzählen, meine Freundin wartet. Aber heute fallen mir nur wahre Geschichten ein. Wir könnten die Perlen des Vorhangs aus eingerolltem Papier aufrollen. Wir könnten Depression spielen und die Platte mit dem alten Mississippi-Jazz, Tom Waits oder Charles Aznavour hören, auf der Couch herumliegen, Chips und Schokolade essen und vielleicht etwas weinen. Aber worüber sollen wir weinen?

Gegen Abend wird die Hitze erträglicher, und wir stellen unsere Stühle in die Gasse vor der Haustür wie die Alten vom Dorf, die mit ihrem Strickzeug tagelang auf der Straße sitzen und sich erzählen, was man so sagt, und immer sofort verstummen, wenn wir vorübergehen, so dass wir nicht erfahren, was man so sagt über uns. Wir sitzen vor dem Haus, und da wir kein Strickzeug besitzen, erfinden wir uns welches. Am Fuß des Dorfes liegt der Étang in der Sonne wie eine glänzende Metallscheibe. Die Leute mustern uns und schütteln den Kopf. Morgen wird man es in der Bäckerei erzählen, die Alten werden es wiederholen wie die Litanei in der Kirche, die Spatzen werden es von den Dächern pfeifen.

Wir gehen zu dritt durch das Dorf; vom kopfsteingepflasterten Platz vor dem kleinen Café und dem Dorfladen führt eine asphaltierte Straße durch den neuen Dorfteil, mit den lachsrosa und beigefarbenen zweistöckigen Flachdachhäusern, hinaus in die hügelige Landschaft. Meine Freundin hat die zwei alten Angelruten aus dem Keller geholt. Gemeinsam mit Paul hat sie die starren Fäden entwirrt und die rostenden Gewinde mit Speiseöl eingerieben. Die Stühle vor dem Café auf dem Dorfplatz sind nur spärlich besetzt, die Stammgäste und Dorfalkoholiker haben sich ins Innere der Bar verzogen und trinken Pastis oder Bier, draußen spritzen sich ein paar Kinder mit Wasserpistolen nass, und ein Touristenpaar in kurzen Shorts über sonnenverbrannten Beinen fotografiert den Brunnen, den ein berittener Bote aus grünlich verfärbter Bronze ziert.

Der Dorfladen ist geschlossen. Der Inhaber, Jean-Marie, ist einen Monat vor unserer Ankunft gestorben. Beim Boule-Spiel auf dem sandigen Platz unterhalb des Nachbardorfes bekam er einen Herzinfarkt. Jean-Marie war ein ruhiger Mensch. Er war vielleicht sechzig Jahre alt und zu den Einheimischen freundlicher als zu uns. Über den Sportteil der lokalen Zeitung gebeugt, saß er hinter der Kasse seines dunklen, leicht schmuddeligen Ladens, ohne aufzublicken murmelte er eine Begrüßung, und wenn man nach etwas fragte, bewegte er sich ohne Eile und blickte einen an, als verlange man etwas Ungehöriges. Genau dies fehlte gerade im Sortiment. Aber außer uns und den Alten kaufte niemand im kleinen Dorfladen ein, alle fuhren in die großen Einkaufszentren, Géant, Lidl, Leader-Price an den Autobahnschleifen vor der Stadt. Also war Jean-Marie oft in der Bar gegenüber zu finden, und an der Ladentür stand: fermé.

Vor den pastellfarbenen Häusern des neuen Dorfteils parken Autos, frischgeputzt strahlt das glänzende, zuweilen zerbeulte Metall der Sonne entgegen. Ein paar zigarettenrauchende Jungs hocken auf der Steinmauer neben dem Schild, das den Weg ins Nachbardorf anzeigt, und tuscheln. Sie entscheiden sich dafür, uns zu ignorieren.

Das Gras ist braun vor Trockenheit, die gezackten Blätter der Reben, die den Straßenrand säumen, sind gelblich verfärbt. Die Reben sind prall mit unreifen hellgrünen Traubenkugeln behängt. An den buckligen Bäumen wachsen Granatäpfel und samtig grüne Mandeln. Der schmale Weg führt zwischen hochragenden Schilfstangen am Ufer des Étangs entlang, vorbei am Entenkäfig des verrückten Jacques. Aufgescheucht flattern die Enten gegen das Gitter. Jacques verkauft sie als Köder für die Jagd; die Jäger lassen sie über das Wasser fliegen, und wenn ihre wilden Artgenossen ihnen aufflatternd folgen, fallen diese nach wenigen gezielten Schüssen tot vom Himmel. Neben dem Entenkäfig dümpeln rote und hellblaue Fischerbote im Wasser. Am Ufer liegen die schlauchförmigen Fischernetze ausgebreitet in der Sonne, zwischen den filigranen Schnüren spannt sich eine feine Algenschicht.

Die Fenster des Geisterhauses sind zugemauert. Als wollten sie den Geist einsperren, meint meine Freundin. Oder die Jugendlichen aussperren, sage ich. Meine Freundin und Paul haben sich schon auf dem Steg niedergelassen und halten ihre Angeln ins Wasser, ich bleibe oben bei der Ruine. Es gibt nur zwei Angeln. Mit jedem Windstoß dringt der faulige Geruch stehenden Wassers zu mir. Ich ziehe die Sandalen aus, die dünnen Riemchen haben rote Striche auf meinen staubigen Füßen hinterlassen, ich gehe, vorsichtig zwischen die Scherben tretend, zum Ufer. Der Boden ist mit eingetrocknetem Schlamm bedeckt, die poröse Algenschicht bricht unter meinen Füßen. Die Schilfstengel ragen hoch in den Himmel, dahinter glänzt golden das Wasser.

Meine Freundin hat einen Regenwurm gefunden, wegen der Hitze nurmehr halb lebendig, wir haben Schinkenstückchen dabei. Es gibt Fische und Fische, sagt meine Freundin, die einen beißen nur bei lebendigem Köder, die andern auch bei Aas. Wir müssen erst kleinere Fische fangen, meint sie weiter, um sie dann als Köder für die größeren zu benutzen, vor allem für die Aale, die gehen nur auf lebendige Köder. Der Aal ist das Schutztier des Dorfes, an einigen Häusern hängen Plaketten mit dem Bild des schlangenartigen Fisches. Die Aale gehörten früher zu den meistgefangenen Fischen im Étang. Aber wegen der schlechten Wasserqualität soll sich die Population in den letzten Jahren um mehr als die Hälfte verringert haben. Das Blut der Aale wurde früher zur Heilung von Wahnsinnigen verwendet, zumindest behaupten das die Alten im Dorf. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft daran, Aale zu fangen, sage ich.

Paul stößt ein undefinierbares Geräusch aus, gefolgt von einem Schrei meiner Freundin. Er dreht an der rostigen Kurbel und zieht einen mittelgroßen Fisch aus dem trüben Wasser. Der Fisch liegt zuckend auf den Holzplanken des Stegs in der Sonne. Du musst ihn töten, sage ich zu Paul, am besten mit einem Stein. Paul hat keinen Stein. Der Fisch ist bestimmt zu klein, sagt meine Freundin und verzieht das Gesicht, wir sollten ihn besser wieder ins Wasser werfen. Ich gehe zum Ufer und finde einen Stein, den ich Paul reiche. Paul hält den zappelnden Fisch am Schwanz fest. Der Fisch ist bläulich silbern geschuppt, am Bauch fast weiß, er hat kleine gestreifte Flossen. Sein Maul, in dem immer noch der Haken steckt, ist weit geöffnet. Paul schlägt mit dem Stein auf den Fisch, ich sehe ihm nicht in die Augen.

Igitt, das Auge, schreit meine Freundin. Das Fischauge steht leicht hervor und glotzt uns an. Paul hat den Fischschwanz losgelassen. Der Fisch zuckt immer noch. Das sind nur die Nerven, sage ich, nehme Paul den Stein aus der Hand und schlage mit aller Kraft zu.

Zu Hause wasche ich den Fisch und schabe ihm mit einem Messer die silbernen Schuppenblättchen ab. Er glänzt nun kaum mehr, und das weiße Fischfleisch ist in den symmetrisch angeordneten, wabenförmigen Löchern sichtbar. Die oberen Flossen können bewegt und fächerartig ausgebreitet werden. Ich schneide ihm den Bauch auf und greife mit Daumen und Zeigefinger zwischen Skelett und Fleisch, nehme die Gedärme und blasenartigen Gebilde heraus. Ich spüle die offene Bauchhöhle des Fisches aus und schiebe Salz, Gewürze und Knoblauchstücke hinein. Meine Freundin schaut mir zu. Der Fisch, den ich im Backofen mit verschiedenen Gemüsen gare, schmeckt etwas bitter, da ich wohl beim Ausnehmen die Gallenblase zerstört habe, was man nicht tun sollte. Paul und meine Freundin essen demonstrativ nur die Kartoffeln.

Ich stehe neben dem verrückten Jacques in der engen Telefonzelle an der Straßenkreuzung, um die Ecke soll eine Party in einem Keller stattfinden. Jacques bröselt etwas weißes Pulver aus einem Plastiksäckchen und schiebt es mit meinem Personalausweis auf der silbernen Oberfläche des Telefons zu zwei schmalen Straßen. Er hat mir den Telefonhörer gegeben und sagt, ich solle so tun, als ob ich telefoniere; ich presse den Hörer ans Ohr und sage: Hallo. Auf dem aufgeschlagenen Telefonbuch liegt eine Tüte mit Resten von Fritten und eingetrocknetem Ketchup, auch die Telefonbuchseite ist mit Ketchup verschmiert. Jacques tippt den Rest des Pulvers mit dem Finger auf und fährt sich damit über seine verfärbten Zähne. Er grinst mich an, als hätte er mich überlistet.

Die wenigen Leute verteilen sich an den Rändern des großen Kellerraums mit den kahlen Betonwänden. Als ich zur Bar gehe, fürchte ich plötzlich, dass ich zu schlittern beginne und ausgleite auf dem glatten Boden. Als wäre der See zugefroren, wie früher, eine weiße Fläche, wie die Haut auf der Milch. Eine Eisschicht, die in einem hohen Ton unter den scharfen Kufen der Schlittschuhe summt. Das Eis zu fest, um zu bersten, wenn wir umfielen, erzitterte es nicht einmal unter unseren Fliegengewichten. Man konnte sich flach darauf legen und mit eiskalten Ohren horchen, ob die Fische tief unter der meterdicken Eisschicht noch lebten. Der Fischgesang hallte dumpf unter dem Eis, oder war es nur der Wind, der den feinen Schnee in weißen Staubwolken über den See blies.

An der Bar, die aus einer alten Kommode besteht, dränge ich mich zwischen die redenden Leute und versuche, den Blick einer jungen Frau mit gebleichten Haaren zu erfassen. Sie ist unglaublich langsam, im Zeitlupentempo gießt sie Wodka oder Gin in Plastikbecher, reißt Eiswürfel aus einer Plastikfolie, Wasser tropft aus der Folie und zwei Eisklumpen fallen auf den Boden. Dann füllt sie die Becher mit Tonic auf. Ich hebe einen der Eisklumpen vom Boden auf und zerdrücke ihn in meiner Hand. Ich bestelle ein Mineralwasser für mich und ein Bier für den verrückten Jacques. Der Becher Wasser ist in wenigen Schlucken ausgetrunken, und da ich Jacques nicht finden kann, beginne ich, auch das Bier zu trinken.

Baywatch

Die Leute diskutieren auf Französisch, ich verstehe kaum etwas, wegen des Rauschens in meinen Ohren. Als sie mir damals sagten, dass man in den großen schneckenförmigen Muscheln, die wir auf italienischen Souvenirmärkten gekauft hatten, nicht das Meer rauschen hört, sondern das eigene Blut im Innern des Kopfes, ist mir übel geworden.

Der Bademeister hat aufgehört mit der Beatmung. Paul beginnt, zu würgen und Wasser zu spucken, sein magerer Körper bäumt sich auf und schnappt nach Luft, wie die Kaulquappen, nachdem sie Frösche geworden sind und beginnen, Luft zu atmen. Als wir Kinder waren, fingen wir die Kaulquappen des nahen Moorsees in der hohlen Hand, glitschig kribbelten sie zwischen den Fingern. An sonnigen Nachmittagen trieben sie in riesigschwarzen Schwärmen über den algenbewachsenen Steinen im seichten Wasser, und man musste nur hineingreifen, um eine reiche Beute zu erwischen. Paul schaffte immer mehr als ich. Wir füllten sie in Gläser, nahmen sie mit nach Hause und schauten zu, wie sie sich in Frösche verwandelten. Ein Wunder geschah in den Kompottgläsern unter unseren Betten.

Weißgekleidete Sanitäter drängen sich durch die Menge. Paul hat die Augen nun geöffnet, sein Brustkorb hebt und senkt sich. Die beiden Sanitäter heben ihn auf eine Trage. Durch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren dringt die Frage zu mir, ob ihn jemand kenne, den jungen Mann, der soeben beinahe ertrunken sei. Ich bin die Schwester. Der Satz liegt unhörbar hinter dem Rauschen.

Die Leute zerstreuen sich langsam, gehen diskutierend zurück zu ihren Badetüchern, die wie farbige Flecken auf dem Grün des Rasens liegen. Kaum jemand geht zurück ins Wasser, als sei man plötzlich wasserscheu geworden. Ich denke, dass Paul gar keine Kleider haben wird, wenn sie ihn aus dem Krankenhaus entlassen; denke an die weißen Spitalnachthemden, die hinten offen sind. Meine Freundin kommt zurück mit zwei Schokoladen- und einem Erdbeereis und fragt, was los war.

Wir hatten die kleinen Frösche immer zum Seeufer zurückgebracht. Nur einmal, als wir nach Italien fuhren, ans richtige Meer, vergaßen wir in der Eile und der nevösen Aufregung die Gläser der letzten Kaulquappengeneration unter unseren Betten. Als wir zurückkamen, das Bild des richtigen Meeres noch vor Augen, schwammen die aufgedunsenen gräulichen Froschleichen an der Wasseroberfläche.

Ein paar Leute sind stehengeblieben und diskutieren mit einem Bademeister. Man hätte auch nicht gedacht, dass der nicht schwimmen kann, sagt der Bademeister und grinst. Ich blicke an ihnen vorbei zum Schwimmbecken, das kupfersulfatblau leuchtet im Licht der Nachmittagssonne. Ich hätte nicht gedacht, dass man Schwimmen verlernen kann.