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ROBERT SEDLATZEK-MÜLLER

 

SOLDATENGLÜCK

MEIN LEBEN NACH DEM ÜBERLEBEN

 

 

 

 

 

 

 

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VORWORT von Stefan Aust

Mehr als zehn Jahre ist es her, da begann ein Krieg, der bis heute nicht zu Ende ist. Und auch die Deutschen sind dabei, am Hindukusch, wo sie nach den Worten eines ehemaligen Verteidigungsministers die Sicherheit, auch unsere Sicherheit verteidigen sollen. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 hatten die USA den Bündnisfall erklärt und das bedeutete, dass alle NATO-Mitglieder den Amerikanern Beistand leisten mussten. Da war es nur logisch, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder den Amerikanern die »uneingeschränkte Solidarität« Deutschlands zusicherte. Seitdem kämpfen neben US-Truppen und weiteren Alliierten auch Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, inzwischen länger als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen dauerten.

 

Der Anlass ist schon fast vergessen.

 

Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. An einem herrlichen Septembermorgen jagte ein Passagierflugzeug in einen der beiden Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Kurz darauf eine zweite Maschine in den zweiten Turm. Spätestens da war klar: kein Unfall, sondern ein mörderischer Terroranschlag. Es dauerte nicht lange, da wussten die amerikanischen Sicherheitsbehörden, wer dahintersteckte: Osama Bin Laden und seine islamistische Terrororganisation alQaida. Es war eine Kriegserklärung und als Kriegserklärung fasste der amerikanische Präsident George W. Bush diesen Angriff auf. Die USA würden nicht nur die Terroristen jagen, sondern auch gegen jene vorgehen, die sie beherbergten. Er meinte die islamistischen Machthaber in Afghanistan, die Taliban, Verbündete und Beschützer von Bin Ladens alQaida. Es war eine Kriegserklärung in einem Krieg ohne Fronten, gegen einen heimtückischen Feind, der meistens unsichtbar ist und aus dem Hinterhalt zuschlägt, zu Mord und Selbstmord bereit. Ein für alle Mal wollte US-Präsident Bush mit dieser Bedrohung aufräumen. Ein Blitzkrieg sollte es werden, schnell rein und schnell wieder raus. Und anfangs schien es, als würde das Konzept aufgehen.

Der amerikanische Geheimdienst CIA, unterstützt von Special Forces und ausgestattet mit vielen Millionen Dollar, konnte mithilfe einheimischer Warlords die Taliban aus Afghanistan verjagen und die Stützpunkte von Bin Ladens alQaida ausräuchern. Doch dann wollte man dem geschundenen Land auch noch eine neue, möglichst demokratische Regierung schenken. Dazu war es notwendig, westliche Truppenkontingente auf Dauer in Afghanistan zu stationieren. Auch die Deutschen schickten ihre Soldaten an den Hindukusch. Und da sind sie heute noch. Ein Stabilisierungseinsatz sollte es werden, doch es wurde ein Krieg daraus. Und die Befreier wurden zur Zielscheibe in einem heimtückischen Bürgerkrieg. In einem Land, das schon in der Geschichte als Friedhof der Supermächte galt und in dem immer neue Generationen von Gotteskriegern der Marke Taliban heranwachsen. Krieg in einem Land, das noch niemals von fremden Truppen erobert, besetzt oder gehalten wurde. Ein verlustreicher Krieg.

Für die Deutschen der erste seit 65Jahren. Nie wieder wollten Deutsche Waffen tragen. »Nie wieder« war das einzige, das alles überragende Credo nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges. Nachdem das 1000-jährige Reich unter endlosen Bergen von Schutt und Schuld begraben wurde – in nur sechs Jahren Krieg. Deutsche Soldaten, so hatte man geschworen, so steht es im Grundgesetz, sollten das Land verteidigen und nie wieder in fremden Ländern kämpfen. Doch als am 11. September 2001 das World Trade Center in Rauch und Staub aufging, war die Schonfrist für die Deutschen endgültig vorbei. Der Sonderweg des geteilten Deutschland, ein pragmatischer Pazifismus, endete in den staubigen Straßen von Kabul. Die Sicherheit, auch die der Deutschen, so hieß es, müsse am Hindukusch verteidigt werden. Das klang gut und sah am Anfang auch so aus.

 

Zehn Jahre und über 50 tote deutsche Soldaten später stellt sich der Fall Afghanistan anders dar.

 

Es begann – wie fast immer – ziemlich harmlos. Im Norden Afghanistans schienen die Taliban vertrieben, die Bevölkerung glücklich über die Invasion der Westmächte. Brunnen bohren, Kinder in die Schule bringen, das zivile Leben organisieren, so hatten sich die Deutschen den Krieg vorgestellt. Gutmenschen in Uniform. Nachts konnte man noch ohne Helm und Schutzweste auf Patrouille gehen. Fast wie in der Heimat. Man kam mit guten Absichten – da musste niemand Angst haben. Nicht die Afghanen und schon gar nicht man selbst. Die Zusammenarbeit mit den afghanischen Sicherheitsbehörden machte Fortschritte. Gemeinsam wollte man aus Afghanistan einen funktionierenden demokratischen Staat machen. Der Norden war ruhig. Doch anderenorts lieferten sich die Amerikaner schon heftige Schlachten mit den Aufständischen, den wieder erwachten Taliban. Und die wichen aus. Nach Norden.

Die Deutschen wollten nicht in den Krieg. Aber der Krieg kam zu ihnen. Langsam und unaufhaltsam. Die Politik wollte das lange nicht wahrhaben, man wollte den Menschen in der Heimat nicht die Wahrheit zumuten, dass ihre Soldaten, ihre Angehörigen, Söhne, Väter, Männer in einem regulären Krieg kämpften, aber nur ausgerüstet waren für eine Friedensmission. Keine schweren Waffen, mit denen man auf Raketenangriffe gegen das Lager zielgenau reagieren konnte – die dazu geeignete Panzerhaubitze 2000 lieh man höchstens den niederländischen Kameraden aus, die damit erfolgreich die Taliban auf Abstand halten konnten. Im deutschen Lager hätte das schwere Gerät allzu sehr nach Kriegswaffe ausgesehen. Ein solches Verleugnen der Realität und der damit unzureichenden Ausstattung der Truppe nannte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Kujat »skrupellos« – wohl der schwerste Vorwurf, den ein General der Politik und seinen Nachfolgern machen kann. Nicht einmal Kampfhubschrauber – die Grundausstattung jedes Anti-Guerilla-Krieges – konnte die Bundeswehr vorweisen.

 

Bei Patrouillenfahrten wurden die Deutschen immer wieder in schwere Gefechte verwickelt. Mit Verletzten und Toten. Inzwischen sprach auch die Politik von »Gefallenen«. Zuvor hieß es im offiziellen Sprachgebrauch: »einsatzbedingt ums Leben gekommen« in einer »besonderen Situation«. Die öffentliche Empörung über ihren Tod hielt sich in der Heimat in Grenzen. Dass sich ihre Soldaten mitten in einem blutigen Krieg befanden, konnten oder wollten die Deutschen noch nicht zur Kenntnis nehmen. Leidtragende waren die Soldaten an dieser unübersichtlichen Front, wo sie den Gegner weder angreifen noch sich gegen ihn zur Wehr setzen konnten.

Das änderte sich plötzlich, als Taliban zwei Tankwagen entführten und sie offenbar als fahrende Bomben gegen das Bundeswehrlager Kunduz einsetzen wollten. Die Lkw fuhren sich auf einer Sandbank fest und in dieser undurchschaubaren Gefahrensituation ließ der Lagerkommandant Bomben von amerikanischen Kampfflugzeugen abwerfen. Die Folge: Vermutlich hundertvierzig Menschen starben. Kriegsopfer, die das Selbstbild deutscher Politik erschütterten: Deutsche als Täter, das war fast schlimmer als Deutsche in der Opferrolle. Plötzlich war die Rede von einem deutschen Kriegsverbrechen, dabei zeigten sich in der Katastrophe von Kunduz wie »in einem Brennglas« (Kujat) die generellen Schwächen der Truppe: zu wenige Kampfsoldaten, unzureichende Ausrüstung und Aufklärung. In Deutschland ist gerade Wahlkampf, eine Diskussion über Afghanistan kommt da ungelegen. Aber dass – knapp 65 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – deutsche Soldaten wieder sterben und auch töten müssen, ist in Berlin noch immer ein Tabu.

Die todbringende Bombennacht hat das Verhältnis der Deutschen zum Afghanistankrieg von Grund auf verändert. Es war das Ende der Lüge vom harmlosen Stabilisierungseinsatz. Der vormalige Verteidigungsminister Jung musste wegen seiner Vernebelungstaktik im Fall Kunduz zurücktreten, sein Nachfolger sprach erst von kriegsähnlichen Zuständen, dann vom Krieg. Und selbst die vorsichtige Kanzlerin hat sich inzwischen zur Realität durchgerungen. Die Deutschen sind angekommen in der Wirklichkeit dieses Weltkriegs gegen den Terror. Die Bundeswehr setzt jetzt auf eine neue Strategie. Die Soldaten sollen, wie es heißt, mehr Präsenz in der Fläche zeigen. Raus aus den abgesicherten Stützpunkten. Nicht um offensiv zu kämpfen, sondern um die Ausbildung der afghanischen Armee und Polizei und den Schutz der afghanischen Bevölkerung miteinander in Einklang zu bringen. Doch auch das ist nicht ohne Risiko. Oft entpuppt sich der afghanische Kamerad an der Seite als heimlicher Taliban und fällt den Soldaten in den Rücken, als Selbstmordattentäter, ohne Rücksicht auf das eigene Leben und das der Fremdlinge, die gekommen waren, um dem Land Frieden, Demokratie und Menschenrechte zu bringen.

Jetzt wird offenbar mit dem Feind verhandelt, mit den Taliban, damit man irgendwann wieder verschwinden kann aus diesem Land, aus dem viele Soldaten tot im Zinksarg, mit schweren Verletzungen – oder mit schrecklichen Albträumen zurückgekehrt sind. Und danach einen weiteren Kampf führen mussten – gegen die Militärbürokratie. Einer von ihnen ist Robert Sedlatzek-Müller. Dies ist seine Geschichte.

 

Stefan Aust, Januar 2012

 

 

 

Für meine Kinder

Patricia-May und Mailin Lotte

PROLOG

Es ist ein kühler Morgen im Spätfrühjahr, ich befinde mich auf meinem täglichen Weg von Stade zur Bundeswehrfachschule in Hamburg. Dort erhalte ich eine pädagogische Ausbildung zum Erzieher. Jeden Tag passiere ich bestimmte Punkte zur gleichen Zeit. Ein fester Zeitplan, den ich unbedingt einhalten will, läuft ab. Um Punkt 05:50 Uhr werde ich von meinem Handy mit einem Trommelwirbel geweckt. Damit beginnt für mich ein Ritual, das sich von Montag bis Freitag wiederholt. Ich schaue auf das Display meines Handys und überzeuge mich, dass der Akku vollständig aufgeladen ist, während ich das Ladegerät von der Steckdose trenne. Um meine Frau, die neben mir liegt, nicht vollends zu wecken, lasse ich die Rollläden an den Fenstern geschlossen und schleiche mich aus dem Schlafzimmer durch die dunkle Wohnung. Mein alter Diensthund Idor, der schlafend unter der Treppe liegt, quittiert das Knarren der Holztreppe, die ich zum Flur hinabsteige, mit einem leisen Knurren. Alles in der Wohnung hat seinen Platz, sodass ich mich auch im Dunkeln hindurchbewegen kann und das Badezimmer erreiche, ohne zu stolpern oder irgendwo anzustoßen.

Fürs Duschen und Abtrocknen sind genau acht Minuten eingeplant. Ich schlüpfe in meine Kleidung, die ich mir am Abend zuvor auf einem Stuhl zurechtgehängt habe. Diesen sogenannten »Alarmstuhl« habe ich als nützliche Angewohnheit seit meiner Wehrdienstzeit beibehalten. Ich brauche keine Minute, um angezogen in der Küche zu stehen und mir meinen Kaffee fertig zu machen. Nach dem Frühstück noch exakt 18 Minuten mit dem Hund Gassi gehen und dann los. Ein kurzer Blick auf die Zeitanzeige in meinem Golf Kombi, es ist 06:35 Uhr. Viele der Fahrzeuge und Insassen, die mir während der Fahrt nach Hamburg begegnen, erkenne ich wieder. Irgendwie sind wir doch alle die gleichen Gewohnheitstiere, denke ich, während ich versuche, bestimmte Wegpunkte zu der mir gesetzten Zeit zu erreichen. Der Blitzer in Höhe der Citaswerft ist mein nächster Rallyepunkt. Oftmals ärgere ich mich dabei über die Traktoren der Apfelbauern aus dem Alten Land. Sie tuckern mit 25 km/h über die Landstraße, was mich zur Verzweiflung bringt. Aber heute ist keine dieser Nervensägen unterwegs und ich erreiche das Alte Land kurz vor Jork termingerecht um 06:50 Uhr. Das Autoradio ist eingeschaltet, auf NDR Info höre ich die Nachrichten.

Mit einem Schlag ist der ekelerregende Geruch von verbranntem Blut in meiner Nase. Nicht etwa der von Fleisch. Heißes Blut hat einen ganz eigenen, intensiven, leicht metallischen Geruch. Bilder blitzen vor mir auf. Das Gesicht eines jungen Mannes, der mich mit großen, erschrockenen Augen Hilfe suchend ansieht. Die Worte, die seine Lippen formen, werden wie durch eine Nebelwand aus unbestimmter Richtung und Entfernung an mich herangetragen. Sie vermischen sich mit einem dumpfen Gewirr aus aufgeregten Stimmen und Schreien. Trotzdem höre ich sie heraus: »Mama! Mama!« Da, wo die Beine und der Bauch des Mannes sein sollten, ist nur eine graubraune Masse. Soldaten in zerrissener Tarnkleidung liegen wie hingeworfene Stoffpuppen im feinen, gelben Wüstensand um mich herum.

Ich fahre scharf rechts auf den Grünstreifen, bringe den Wagen abrupt zum Stehen und springe aus dem Fahrzeug. Ich brauche festen Boden unter den Füßen, will die kalte Morgenluft in meinem Gesicht spüren und tief in meine Lungen saugen, um das Stahlband, das sich fest um meine Brust gelegt hat, zu sprengen. Meine Beine werden weich, zittern und ich erbreche mich mehrfach. Nur langsam fällt die Anspannung von mir ab und ich registriere die unentwegt an mir vorbeifahrenden Autos. Viele der Fahrer werden gerade die gleiche Meldung gehört haben wie ich. In Göttingen starben gestern Abend drei Sprengmeister bei dem Versuch, eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg zu entschärfen. Eine Randnotiz.

EIN KOCH MUSS ZUM BUND

»Oh, wir haben Sie ja ganz vergessen«, sagt mir die junge Frau im Einwohnermeldeamt. Eine interessante, gut bezahlte Anstellung als Küchenchef in einem renommierten norddeutschen Restaurant steht mir in Aussicht. Eine großartige Chance für einen gerade mal neunzehnjährigen Koch. Doch weil zuvor geklärt sein muss, wie lange ich dem Betrieb bis zu meiner Einberufung zum Wehrdienst zur Verfügung stehen kann, erkundige ich mich auf dem Amt nach deren Planung. Im gleichen Augenblick, in dem die Dame mir offenbart, dass ich gar nicht auf der Liste bin, ärgere ich mich über mein pflichtbewusstes Handeln. »Können wir es dann nicht dabei belassen?«, frage ich hoffnungsvoll. Doch es ist zu spät. Mit flinken Fingern ist mein Name bereits getippt. Der Computer hat mich als Wehrpflichtigen erfasst.

Seit diesem Tag gingen mir ständig Kindheitserinnerungen aus DDR-Zeiten an meinen Großvater durch den Kopf. Er war ein ranghoher Kommandeur der Kampfgruppen und hat mich oft zu Militärparaden mitgenommen. Stolz sah ich zu ihm auf, wenn er in seiner prächtigen Uniform mit ordenbehängter Brust von allen militärisch zackig und respektvoll gegrüßt wurde. Soldaten waren in der DDR grundsätzlich etwas ganz Besonderes. Seit der ersten Schulklasse sahen wir in unserer Fibel Geschichten und Bilder von Soldaten, die unser Land beschützten. Selbstverständlich schuldete das Volk ihnen dafür Dank und Anerkennung.

Einmal durfte ich meinen Opa am Tag der offenen Tür in eine russische Kaserne begleiten. Das war aufregender als Geburtstag und Weihnachten zusammen. Er zeigte mir alle Fahrzeuge und ich durfte sie anfassen, mich hineinsetzen und ihm Dutzende Fragen stellen. Mich ärgerte zwar, dass ich keines der Gewehre anfassen sollte, ebenso, dass mein Großvater abwinkte, als ein russischer Soldat mir eine Pistole zeigen wollte, aber es gelang ihm rasch, mich wieder aufzumuntern, indem er mich in einen Panzer setzte und aus der Deckelluke schauen ließ. Seit dem Besuch auf dem Meldeamt kamen mir auch wieder die langen Familienfahrten mit dem Trabant von Rostock nach Berlin in den Sinn. Dort überholten wir häufig Kolonnen von NVA-Transportern. Meine Schwester und ich winkten den Soldaten vom Auto aus zu. Bei den 80km/h Reisegeschwindigkeit der ostdeutschen Rennpappen hatte man reichlich Zeit dazu. Die Soldaten lachten dann und winkten uns zurück. Besondere Freude machte es uns, wenn sie uns mit dem Tatra oder Ural per Lichthupe antworteten. Die Bezeichnungen dieser aus sowjetischer Produktion stammenden Fahrzeuge der NVA hatte mir mein Opa schon früh beigebracht.

Zu meinem achten Geburtstag bekam ich von ihm ein Kinderbuch geschenkt, das ich seither sorgsam aufbewahre. Es heißt »Unsere Nationale Volksarmee« und informiert über Land, Luft-und Seestreitkräfte der Nationalen Volksarmee und über den Dienst bei den Grenztruppen der DDR. Zahlreiche farbige Zeichnungen und Fotos bilden die damals moderne Technologie der Streitkräfte der NVA ab. Schützenwaffen, Panzer, Kanonen, Jagdflugzeuge, Raketen; Schiffe und Boote der Volksmarine werden präsentiert und interessante, vielseitige militärische Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten in Aussicht gestellt. Stundenlang konnte ich mir das Buch ansehen. Die Panzer und die Fallschirmjäger der NVA malte ich besonders gerne ab. Diese Bilder hingen lange Zeit über meinem Bett oder bedeckten den Tisch in meinem Kinderzimmer.

An meiner Schule sah ich den älteren Schülern vom Klassenfenster aus neidisch bei ihren militärischen Übungen auf dem Pausenhof zu. Ich wollte auch im braunen Sportanzug und mit einem Holzgewehr, das dem AK47 nachempfunden war, Nahkampfübungen absolvieren, statt Mathe zu pauken. Im Unterricht wurde häufig über den Zweiten Weltkrieg geredet. Uns wurde vermittelt, dass der Kapitalismus ein schlimmes Übel sei, das mit jeglichem Krieg in direktem Zusammenhang stehe. Doch dank unserer Grenzsoldaten und der Soldaten der Nationalen Volksarmee sei unsere Heimat gut geschützt. Ich war zutiefst vom selbstlosen Edelmut der Soldaten überzeugt.

Etwa drei Monate nach meinem Termin im Meldeamt erfolgt die Musterung. T1– Tauglichkeitsstufe 1, das bedeutet, dass ich alle Tests der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit besonders gut bestanden habe und für jede Verwendung bei der Bundeswehr geeignet bin. Ich darf mir sogar aussuchen, zu welcher Truppengattung ich mich entsenden lasse. Man empfiehlt mir, mich für einige Jahre bei der Luftwaffe zu verpflichten, und stellt mir eine Ausbildung zum Hubschrauberpiloten in Aussicht. Mir kommen die ausgedehnten Gespräche über das Militär in den Sinn, die mein Großvater mit meinem Vater geführt hat. Auch er hat in der Nationalen Volksarmee gedient. In ihren Unterhaltungen zollten sie den Fallschirmjägern, die international als Eliteeinheit ausgebildet werden, immer sehr viel Respekt. Dort wären die besten Soldaten anzutreffen, denke ich. Wenn ich es mir also schon aussuchen kann, will ich selbstverständlich diesem besonderen Kreis angehören. Ich entscheide mich für eine Ausbildung zum Fallschirmjäger.

Am frühen Morgen des 4. Mai 1998, 21 Tage vor meinem zwanzigsten Geburtstag, ist es so weit. Der Kofferraum meines alten, silbernen Ford Sierra ist bis obenhin mit Kleidung und Dingen gefüllt, von denen ich denke, dass sie mir nützlich sein werden, denn meinem Vater zufolge würde ich die nächsten sechs Monate keine Gelegenheit haben, nach Hause zu fahren. Meine Mutter und meine beiden Schwestern umarmen und drücken mich, verabschieden sich tränenreich. Im Hintergrund läuft das Lied »Time to Say Goodbye«. So viel Dramatik ist zu viel für mich. Ich fühle mich schrecklich und steige ganz schnell in mein Auto. Bis zehn Uhr muss ich mich in der Kaserne in Varel einfinden. Nahe dem Ziel überhole ich einige Militär-Lkw. Auf der Ladefläche sitzen unglücklich dreinschauende junge Männer in Zivil unter der geöffneten Plane, die einen sehnsüchtigen Blick auf die hinter ihnen liegende Freiheit zu werfen scheinen. Acht Mann sitzen dort jeweils Rücken an Rücken auf einer schmalen, ungepolsterten Holzbank, die mittig längs der Ladefläche aufmontiert ist. Der Fahrtwind pfeift ihnen offensichtlich kalt unter die Plane. Wie einer von ihnen mir später erzählte, waren sie mit dem Zug angekommen und an dem kleinen Bahnhof nahe der Kaserne von grimmigen, wortkargen Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 313 erwartet worden. Bei dem Anblick bin ich froh, noch in meinem warmen Auto sitzen zu können.

Am Kasernentor ist meine Schonzeit allerdings vorbei. Durch den hastigen Aufbruch bei meinen Eltern habe ich meinen Einberufungsbescheid auf dem Küchentisch liegen lassen. »Sie haben was …?«, ranzt mich der Wachsoldat an. »Sie haben Ihre Einberufung liegen lassen? Gewöhnen Sie sich so eine Scheiße hier ganz schnell ab, ansonsten kann ich Ihnen jetzt schon versprechen, dass Ihnen hier der Arsch hochgebunden wird!« Ich bin völlig perplex. Dass ich wegen des fehlenden Bescheids gleich so zusammengeschissen werde, hatte ich nicht erwartet. Eingeschüchtert und etwas betreten fahre ich über das Kasernengelände zum Parkplatz für die Neuankömmlinge. Auf keinen Fall will ich sofort den Ärger auf mich ziehen und wie in dem Film »Full Metal Jacket« zum »Private Paula« werden, der ständig schikaniert wird. Der Kasernenblock, in dem ich mich melden soll, liegt dem Parkplatz genau gegenüber. Es ist ein rotes Backsteingebäude, dem Erscheinungsbild nach zu urteilen wurde es zwischen den beiden Weltkriegen erbaut. Der Grundriss gleicht einem H. Die Gebäudeflügel umfassen somit zu beiden Seiten der Querverbindung eine freie Fläche U-förmig.

Eine dieser Flächen ist gepflastert. Dort stehen bereits einige junge Männer, die von vorbeikommenden Soldaten kritisch beobachtet werden. Wer mit einem freundlichen Empfang gerechnet hatte, sollte enttäuscht werden. Ein Soldat steht ihnen gegenüber und gibt mir die Anweisung, mich zu den anderen zu stellen. Wir stehen alle in einer Linie nebeneinander. Hinter jedem von uns liegt sauber abgelegt unser Gepäck. Der hünenhafte, muskelbepackte Soldat steht wie eine Statue da. Die Füße schulterbreit auseinandergestellt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ein bordeauxrotes Barett bedeckt eng anliegend seinen kurz geschorenen Schädel. Die aufeinandergepressten Lippen sind von einem dünn ausrasierten Bart umschlossen. »Reufer« ist auf dem Namensschild auf seiner Brust zu lesen. Keine Sekunde lang lässt er uns aus den Augen, bereit, jeden, der sich rührt oder seinem Nebenmann etwas zuraunen will, in die Schranken zu weisen. In einer Hand hält er einen Zettel und als sich zwanzig Minuten später eine Gruppe von acht Neuankömmlingen vor ihm versammelt hat, sagt er ganz schlicht: »Wenn Sie Ihren Namen hören, dann antworten Sie laut und vernehmlich mit ›Hier!‹. Danach nehmen Sie Ihre Gepäckstücke auf und gehen ins Gebäude. Dort wird Ihnen vom UvD die Stube zugewiesen. Legen Sie Ihr Geraffel dort ab und finden Sie sich danach sofort wieder im Lichthof ein!«

Das ist also der Lichthof, denke ich. Und obwohl ich den Rest nicht so ganz verstanden habe, frage ich lieber nicht nach, sondern orientiere mich an den anderen. Im Gebäude sammeln wir uns in einer kleinen Halle. Wir bekommen stapelweise Zettel in die Hand gedrückt, sogenannte PEBA. Im Klartext sind das Personalerfassungsbögen, die wir schleunigst lesen, ausfüllen und unterschreiben sollen. Am Ende weiß ich gar nicht mehr, was ich da alles unterzeichnet habe, aber mir bleibt auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Wir werden in einen Hörsaal gescheucht, dort beginnt sofort der Unterricht. Uns wird im Eilverfahren eingetrichtert, wie wir uns zukünftig zu verhalten haben. »Zum Essen haben Sie zehn Minuten Zeit – inklusive Hinund Rückmarsch, Anstehen und Abräumen. Niemand geht selbstständig irgendwohin. Sie werden auf allen Wegen von einem Ausbilder geführt und absolvieren diese im Laufschritt. Wer zum WC, zum Arzt oder sonstwohin alleine geht, meldet sich auf jeden Fall bei seinem Vorgesetzten ab und anschließend auch wieder zurück.«

Dafür habe ich eine gut bezahlte Anstellung als Chefkoch sausen lassen? Um mir hier alles vorschreiben lassen zu müssen? Von der Art und Weise, wie und wann ich eine Kopfbedeckung aufzusetzen habe, bis zum Fußnagel, der nach irgendeiner Zentralen Dienstvorschrift gerade und ja nicht rund abzuschneiden ist. Statt mit meiner Freundin gemütlich in unserer Wohnung zu sitzen, muss ich mich auf eine massive Einschränkung meiner persönlichen Freiheit einstellen. Die nächsten zehn Monate soll ich mit fünf Kameraden, die mir bis dato völlig unbekannt sind, in einer kleinen, miefigen Stube hausen. Außer drei durchgelegenen Etagenbetten mit fleckigen Matratzen, sechs hässlich orangefarbenen oder grünen Spindschränken sowie zwei einfachen Tischen und sechs ungepolsterten Stühlen in derselben Farbauswahl ist der Raum kahl. Die Wände sind weiß getüncht und der Boden ist mit einem dunklen Parkett belegt, das seine glanzvollen Tage lange hinter sich hat. Ich frage mich, worauf ich mich hier eingelassen habe. Bis in die Abendstunden wird uns absolute Aufmerksamkeit abverlangt. Wem trotz der Kälte im Hörsaal die Augen zufallen, wird befohlen aufzustehen. Einer schläft allerdings sogar im Stehen ein, mein Stubenkamerad Limmann, direkt neben mir. All meine Bemühungen, ihn mit Ellbogenstößen in die Rippen wach zu halten, haben nicht gefruchtet. Mit Liegestützen soll er seinen Kreislauf wieder in Schwung bringen.

Es ist seit Langem dunkel, als der Unterricht endlich beendet wird. Ins Bett dürfen wir allerdings nicht, wir müssen noch zur Einkleidung nach Wilhelmshaven fahren. In kalter Nachtluft steige ich auf die Ladefläche eines dieser gut dreißig Jahre alten Militärtransporter, die mir auf dem Weg zur Kaserne begegnet sind. Nun sitze ich also selbst auf dieser schmalen Holzbank und schnalle mich und drei Leidensgenossen mit einem Gemeinschaftsgurt über die Hüften an. Das ist nötig, denn dem Fahrer scheint es völlig egal zu sein, ob er Personen oder Sandsäcke an Bord hat. Als wir die Kleiderkammer betreten, sind wir froh, uns in dem gut beheizten Gebäude etwas aufwärmen zu können. Wer jedoch seine Ausrüstung für die nächsten zehn Monate entgegengenommen hat, muss mit einem randvoll gepackten Seesack und einer genauso voluminösen sogenannten Kampftragetasche sofort wieder vor die Tür und dort auf die Abholung warten. Die Raucher nutzen die Gelegenheit, um sich gierig die erste Zigarette seit Stunden anzuzünden. Wir wuchten unsere neue Garderobe auf die eintreffenden Fahrzeuge und fahren zurück zur Kaserne, wo wir todmüde ins Bett fallen.

Keine vier Stunden später müssen wir wieder aufspringen. Um 05:00 Uhr hallt die Stimme des UvD durch das Gebäude: »Fünfte Kompanie!«, gefolgt von einem langgezogenen »Aufstehen!« Einhundertzwanzig blaue Plastikbadelatschen klappern eilig über die blassgelben Bodenfliesen zu den Gemeinschaftswaschräumen. Wir tragen alle nur die schlabberige, hellblaue Schlafanzughose und haben außer einem olivgrünen Handtuch einen Waschzeugbeutel gleicher Farbe in den Händen. Die Waschbecken an der Wand sind zuerst belegt, denn über ihnen hängt ein Spiegel, in dem man wenigstens sehen kann, ob man sich bei der flinken Rasur die Wangen zerschneidet. Wer zu spät auf die Beine kommt, muss sich mit einem der beiden Waschbecken zufriedengeben, die den Raum auf der ganzen Länge mittig teilen. Sie erinnern mich an die langen Futtertröge in einem Rinderstall. Diejenigen, die nur noch dort einen Platz finden, schauen statt in einen Spiegel in das verschlafene Gesicht eines Kameraden, der sich die Zähne putzt oder blind rasiert. Das geschieht natürlich alles unter den Augen eines Ausbilders. Jeder, der gegen den Befehl verstößt, den Waschraum nur mit freiem Oberkörper zu betreten, wird rigoros aufgefordert, das Schlafanzugoberteil auf die Stube zu bringen. Die acht Minuten, die einem für die komplette Morgentoilette zugestanden werden, verknappen sich dadurch merklich.

Kaum ist die Zeit abgelaufen, werden wir auf den Flur gerufen: »Zwoter Zug – vor den Stuben antreten!« Das ist das Signal, um die Stubentür, an der wir alle bereits mit blank geputzten Stiefeln und tadellos sitzender Uniform leise und lauschend warten, aufzureißen und in affenartiger Geschwindigkeit Aufstellung zu nehmen. Das hat man uns am Abend zuvor eingeschärft, ebenso, dass man beim Militär nicht »zwei« sagt, sondern immer nur »zwo«, um eine Verwechslung mit der ähnlich klingenden Zahl Drei auszuschließen. Wir werden mit strengem Blick begutachtet und wer noch einen Bartschatten hat, wird zum Nachrasieren geschickt. Einige müssen einen Knopf am Feldhemd schließen oder ihren Stiefelputz verbessern, weil die Sohle nicht mit Schuhcreme geschwärzt wurde. Als dem Ausbilder ein paar lose aus dem Stiefel hängende Schnürsenkel auffallen, verliert er die Geduld: »Sie haben eine Minute, um sich ordentlich anzuziehen! Auf die Stuben wegtreten!« Aber auch beim nächsten Antreten erregt etwas sein Missfallen und genauso bei den darauf folgenden, sodass wir wie ein aufgeregter Vogelschwarm zwischen Stube und Flur hinund herfliegen. Spätestens als wir nach dieser Flugschau auf dem Flur Liegestütze und Situps machen, sind wir alle schweißgebadet.

Nun werden wir zum Essen geführt und laufen wie junge Gänse in einer Reihe hintereinander her, verzweifelt um Gleichschritt bemüht, um dem Vordermann nicht ständig in die Hacken zu treten. In der Kantine wird das Frühstück hastig auf ein Tablett gerissen und an einem der ungedeckten weißen Tische verschlungen. Da wir nach Größe gestaffelt marschiert sind und so den Mannschaftsspeisesaal betreten haben, bleibt denjenigen, die unterhalb des Gardemaßes liegen, am wenigsten Zeit zum Essen. Den Rest des Tages hetzen wir von einer Ausbildungsstation zur nächsten und werden mit Dingen und Begriffen überhäuft, die völliges Neuland für uns sind. Als am Wochenende eine zweistündige Dienstunterbrechung ausgerufen wird und wir zum ersten Mal die Gelegenheit erhalten, im Mannschaftsheim ein Bier zu trinken, hält es niemanden auf seiner Stube.

Während der gesamten Grundausbildung werden wir im Laufschritt von einer Station zur nächsten gescheucht. Trotz der Anstrengungen gewöhne ich mich schneller als erwartet an den militärischen Drill und die gemeinsam mit meinen Kameraden durchgestandenen Abschnitte der Ausbildung. Zur Verblüffung meines Vaters lässt man uns am Wochenende nach Hause fahren. Lediglich drei Leute müssen in den sauren Apfel beißen und dem jeweiligen Unteroffizier vom Dienst, in der bundeswehrtypischen Art zu UvD abgekürzt, bei der unbeliebten, 24 Stunden dauernden Bewachung des Kompanieblocks helfend zur Seite stehen. Daher wird die Abkürzung GvD, für Gefreiter vom Dienst, auch gerne etwas derber interpretiert. Für alle anderen beginnt im Anschluss an den Stubendurchgang am Freitagmittag die sogenannte NATO-Rallye. Jeder versucht als Erster auf die Autobahn zu kommen, um dem folgenden Stau eine Nasenlänge voraus zu sein. Wer allerdings beim Stubendurchgang dabei ertappt wird, seine Ausrüstung schlampig gereinigt oder im Spind verstaut zu haben, kann sich auf eine späte Heimfahrt einstellen.

Die Rekrutenbesichtigung erlebe ich nach dieser Schinderei als krönenden Abschluss. Diese 36Stunden dauernde Prüfung alles dessen, was wir beigebracht bekamen, ist meine bislang größte körperliche Herausforderung. Durch das tägliche Training bin ich aber so gut vorbereitet, dass ich eine Leistung abrufen kann, die ich mir zuvor niemals zugetraut hätte.

Nach drei Monaten ist die Grundausbildung endlich überstanden. Die alten, olivgrünen Uniformen werden in der Kleiderkammer gegen neue in Flecktarnmuster eingetauscht. Es ist ein erhabenes Gefühl, den Feldanzug zum ersten Mal anzuziehen. Endlich ist man nicht mehr als Neuling zu erkennen, der kritisch beäugt und ständig korrigiert wird. Mit stolzgeschwellter Brust genieße ich das Privileg, die Kaserne nun in diesem Anzug verlassen zu dürfen. An den freien Wochenenden trete ich die Heimfahrt grundsätzlich als »Staatsbürger in Uniform« an. Ich identifiziere mich so sehr mit meiner neuen Aufgabe, dass ich mich selbst beim Autokauf für einen Citroën BX in Olivgrün entscheide. Jeder soll es sehen, jeder soll wissen, dass ich Soldat, mehr noch, dass ich Fallschirmjäger bin.

Einige Tage später wird meine Euphorie jäh gebremst, denn Kompaniefeldwebel Kams, der Spieß der Ausbildungskompanie, teilt mir mit: »Gefreiter Müller, ich habe Sie für die Truppenküche eingeplant.« Genau davor hatte mich mein damaliger Küchenchef gewarnt. Zum Abschied hatte er mir noch den Rat gegeben, so ein Vorhaben unbedingt abzuwenden: »In der Großküche einer Bundeswehrkantine verlierst du deine Reputation für die Haute Cuisine! Da kochen doch nur Maurer und Fliesenleger, bestenfalls Bäcker!« Also antworte ich: »Herr Hauptfeldwebel, ich möchte bitte nicht als Koch eingesetzt werden.« – »Was!? Warum denn nicht? Sie sind doch gelernter Koch!« Noch während ich ihm meine Gründe erkläre, zeigt sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. »Gefreiter Einstedt hat mir vorhin dasselbe erzählt.« Einstedt hatte mit mir die Grundausbildung absolviert. Vor seiner Einberufung war er Koch in einem bekannten Münchner Gourmettempel. »Ihn habe ich jetzt als Mkf für die 3. Kompanie eingeplant. Sie können sich auf das Gleiche einstellen. Sie bleiben hier in der 5. und kommen in den Zugtrupp.« Mkf – Militärkraftfahrer – mehr konnte ich mir nicht wünschen. Ein guter Posten für einen Wehrdienstleistenden. Während andere sich bei Wind und Wetter, in voller Gefechtsmontur aufgerödelt, Blasen liefen, konnte man gemütlich Lkw fahren. Das hatte ich schnell begriffen, als ich während der kalten Tage meiner Grundausbildung jemandem als Beifahrer zugeteilt wurde und mir schon beim Öffnen der Kabinentür warme Heizungsluft entgegenkam. Ich freue mich über das Verständnis vom Spieß. »Jawohl, Herr Hauptfeldwebel!«, schmettere ich heraus, bevor ich die Dienststube verlasse. Er nickt mir nur kurz zu und vertieft sich wieder in den Papierwust, den er vor sich liegen hat.

 

Die folgenden drei Wochen an der Bundeswehrfahrschule in Oldenburg genieße ich, sie sind eine willkommene Abwechslung. Im Gegensatz zur Fallschirmjägertruppe geht man hier sehr viel lockerer und entspannter miteinander um, die Ausbilder blaffen einen nicht sofort wegen der kleinsten Verfehlung an. Hier werden alle Truppen des Heeres, der Luftwaffe und der Marine ausgebildet, die in der näheren Umgebung stationiert sind. Den meisten von ihnen ist es völlig fremd, zur Steigerung der Motivation und Leistungsbereitschaft Liegestütze und Klimmzüge zu machen oder die Kaserne mit vollem Marschgepäck im Laufschritt zu umrunden.

Den hierherbeorderten Soldaten, die mindestens einen zivilen Führerschein Klasse 3haben müssen, bringt man an der Fahrschule sehr umfassend die besonderen Anforderungen an einen Militärkraftfahrer bei. Das umfasst zu einem großen Teil auch die Technik, um Mängel selber erkennen zu können, weil man für die Verkehrssicherheit der Fahrzeuge Verantwortung trägt. Da ich mich seit Langem für Autos interessiere und für mein junges Alter über sehr viel Fahrpraxis verfüge, fällt mir der Unterricht leicht. Mir bleibt also genug Zeit, um nach Dienstschluss in der ehemaligen Garnisons und jetzigen Studentenstadt Oldenburg den Sommer zu genießen. Es macht Spaß, mal wieder ausgehen zu können und in einem der vielen Cafés oder Biergärten in der Flaniermeile, der Wallstraße, mit den Mädchen zu flirten. Die Nächte verbringe ich weiterhin mit meinen Kameraden auf der Stube, denn bis 22:00Uhr müssen wir uns zurückmelden. Zumindest wurde uns erlaubt, einen Fernseher in die Stube zu stellen. Nach Monaten der Fremdbestimmung ist es schon ein Privileg, abends entspannt vom Bett aus fernsehen zu dürfen. Wer erst nach dem Zapfenstreich in die Kompanie zurückkehrt, kann sich auf ein einseitiges »Jawohl-Gespräch« mit dem Vorgesetzten gleich am nächsten Morgen einstellen.

Die Abschlussprüfung absolviere ich, obwohl ich sie lässig angehe, in allen Bereichen mit Bestnoten. Die Zeit an der Fahrschule erschien mir wie ein schöner Urlaub, aber jetzt freue ich mich, zu meiner Kompanie zurückzukehren und neue Aufgaben zu erhalten. Abgesehen von meiner Tätigkeit als Fahrer bin ich im Trupp der Ausbildungskompanie beim Drill der Rekruten aktiv. Das, was mir selbst erst wenige Monate zuvor eingetrichtert wurde, gebe ich nun also an die nächsten Frischlinge weiter. Ein geschicktes System, denn so muss das vor Kurzem Erlernte erinnert und umso mehr verinnerlicht werden. Mir fällt auf, dass ich nicht anders mit den Rekruten umgehe, als ich es selbst erlebt habe. Die Notwendigkeit, einen unangenehmen Druck auszuüben, der eine schnelle Anpassung und Lernfähigkeit bewirkt, leuchtet mir in der neuen Rolle schnell ein. Ich erkenne an der Haltung der erfahrenen Ausbilder, dass es nicht um reine Schikane, sondern um einen erzieherischen Kniff geht. Terror und Angst bewirken eine erhöhte Lern- und Anpassungsbereitschaft. Anders ließe sich die Ausbildung, die bei vielen Jugendlichen mit einer Umerziehung einhergeht, in der kurzen Zeit nicht bewerkstelligen.

Da ich meine Aufgaben gut und zuverlässig erledige, gewinne ich schnell an Ansehen in meiner Einheit. Von einem Anschiss bleibe ich verschont – bis auf ein Mal. Da benötigt die 4. Kompanie für eine Gefechtsübung ein zusätzliches Transportfahrzeug samt Fahrer. Ich bekomme also den Auftrag, mich um 11:00 Uhr vormittags mit einem unserer Lkw beim Kompanieblock der 4. einzufinden, Hauptfeldwebel Strenz erwartet mich. Obwohl ich eine Viertelstunde eher ankomme, stehen die etwa hundert Männer der Kompanie bereits in voller Gefechtsmontur angetreten vor dem Block. Im rechten Winkel zueinander stehen der I., der II. und der III. Zug regungslos auf dem gepflasterten Platz. Ein Soldat steht am offenen Ende dieser Hufeisenformation den Männern gegenüber. Es ist Hauptfeldwebel Strenz. Jeder Zug besteht aus etwa dreißig Mann. Diese sind in drei bis vier Gruppen, bestehend aus jeweils acht Soldaten, unterteilt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ihre Koppel mit der daran befestigten Trinkflasche, den Munitionstaschen, der Gasmaskentasche samt Zubehör und der Mehrzwecktasche, in die ein kleiner Kocher, Kochtopf, Essbesteck, Regenzeug und sonstiger nützlicher Kleinkram gestopft sind, schwer auf den Hüften liegt. Die Rucksäcke reißen an ihren Schultern und der Schlafsack obendrauf wird ihnen bei jedem Schritt in den Nacken wippen. Die Helme, griffbereit vor die Brust geschnallt, werden dazu im gleichen Takt auf die Rippen schlagen. Sicherlich wünschen sich die Maschinengewehrschützen in diesem Moment, das G3Sturmgewehr auf der Schulter zu haben, das ganze 7 Kilo leichter ist als ihr MG3. Dazu kommen noch die Munitionskästen. Jede Gruppe hat einen Maschinengewehrschützen, dem jeweils ein Kamerad aus der Gruppe als sogenannter MG-Zwo zugeteilt ist. Dieser hilft beim Schleppen der Munitionskästen und hat auf Befehl auch noch eine Lafette für das MG mit.

Den Männern ist anzusehen, dass sie nicht erst seit wenigen Minuten dort stehen. Ich bin etwas verwundert, lasse mir jedoch nichts anmerken und melde mich bei Hauptfeldwebel Strenz, der den Männern gegenübersteht. Ich habe kaum ausgeredet, da herrscht er mich an, weshalb ich erst jetzt da sei. Ich bin mir keiner Schuld bewusst und sage ihm, dass ich den Auftrag erhalten habe, mich um 11:00 Uhr bei ihm zu melden und wir es 10 vor 11 haben. »Zulu!!!«, brüllt er mich an, dass man es sicherlich noch vor meinem 400Meter entfernten Kompanieblock deutlich vernehmen kann. »Zulu!!! Kennen Sie denn nicht den Unterschied zwischen Bravo- und Zuluzeit?« Ich verstehe gar nichts und sage schlichtweg: »Nein.« – »Wie blöd sind Sie eigentlich? Sie sind zwei Stunden zu spät!« Wutentbrannt schreit er mich vor versammelter Mannschaft weiter an. Dabei steht er so dicht vor mir, dass er mich bei jedem Wort anspuckt. Mit betretenen Gesichtern und versteinerter Miene sehen die Männer dem Spektakel zu. »Wir brauchen Sie jetzt nicht mehr!«, brüllt er abschließend. »Melden Sie sich in Ihrer Einheit zurück und lassen Sie sich eine Einweisung in die NATO-Zeiten geben!«

Von der 4. Kompanie hatte ich bereits einige Horrorgeschichten gehört. Zum Beispiel, dass Hauptfeldwebel Strenz seine Untergebenen früher gerne mal mit einem alten Stahlhelm im Stillgestanden auf seiner Dienststube antreten ließ, um seinen Worten mit kräftigen Stockschlägen auf den Helm Nachdruck zu verleihen. Den Stahlhelm und den dazugehörenden »Disziplinator« hatte er noch als Insignien seiner Macht auf seiner Schreibstube, allerdings solle ihn eine für zwei Jahre verhängte Beförderungssperre davon abhalten, erneut zu ihnen zu greifen, heißt es. Ich will es nicht herausfinden. Der Anschiss hat mir auch so schon gereicht. Nie zuvor bin ich derart angeschrien und niedergemacht worden. Selbst mein alter Küchenchef, der fluchend mit Pfannen um sich schmiss, hat es niemals geschafft, dieses Gefühl der völligen Wertlosigkeit und Unfähigkeit, das ich jetzt empfinde, in mir auszulösen.

Komplett durch den Wind fahre ich den Lkw zurück und melde mich sofort bei meinem direkten Vorgesetzten, Leutnant Bleske. Ich sage ihm, was passiert ist, zittrig, verunsichert und innerlich bereit, die nächste Zurechtweisung zu erhalten. Leutnant Bleske aber reagiert völlig unverhofft. Ich solle mich erst mal wieder beruhigen und setzen. Dann greift er zum Telefon und lässt sich in meiner Gegenwart mit Hauptfeldwebel Strenz verbinden: »Herr Hauptfeldwebel, hier Leutnant Bleske am Apparat!«, sagt er und betont dabei die Dienstgrade in einer Art, dass sofort klar wird, wer das Sagen hat. »Was fällt Ihnen ein, einen meiner Soldaten vor der Front zusammenzuschreien? Wenn Ihnen irgendwas nicht passt, dann wenden Sie sich gefälligst an mich. Wir lesen hier keine Gedanken. Wenn Sie nicht klar sagen, was Sie wollen, dann ist das Ihr Problem! Mich brauchen Sie in Zukunft nicht mehr um einen Gefallen zu bitten. Ende.« Ein riesiger Stein fällt mir vom Herzen, als mir klar wird, dass mein Zugführer sich vollkommen auf meine Seite stellt und die Konfrontation mit einem altgedienten Hauptfeldwebel nicht scheut. Die meisten jungen Offiziere haben noch nicht den Schneid, den alteingesessenen Unteroffizieren entgegenzutreten. Sie sind die grauen Eminenzen jeder Kompanie. Wenn ein unerfahrener, junger Offizier, der gerade vom Studium kommt, versucht, alte Strukturen umzukrempeln und sein theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen, lassen ihn die alten Hasen einfach ins offene Messer laufen. Mit ihrer Erfahrung verfügen sie über ein Wissen, das in keinem Lehrbuch zu finden ist. Vieles von dem, was den Offizieren in der Theorie vermittelt wurde, funktioniert in der Praxis schlichtweg nicht. Sie merken dann schnell, dass sie ohne die Hilfe und Unterweisung der alten Unterführer aufgeschmissen sind.

Leutnant Bleske blickt mich an und sagt: »Gefreiter Müller, Sie haben sich nichts vorzuwerfen.« Er erklärt mir, dass bei NATO-Übungen einheitlich die Zuluzeit gilt. Sie entspricht der Greenwich Mean Time, früher auch Weltzeit genannt. Die Alphazeit ist die in unserem Breitengrad normale Zeit und die Bravozeit ist unsere Sommerzeit. »Vergessen Sie den Vorfall und machen Sie Ihren Dienst weiterhin so ordentlich wie bisher«, sagt er mir abschließend. Ich verlasse das Dienstzimmer mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Ich begreife, dass ich mit meinem Vorgesetzten Glück habe und es einen jederzeit ganz anders treffen kann.

ICH WERDE ELITESOLDAT

Nach kurzer Zeit habe ich mich in meine Kompanie gut eingelebt. Es macht mir Freude, mich im sportlichen Wettkampf mit meinen Kameraden zu messen. Die Herausforderungen sind vielseitig – 30 Kilometer-Märsche mit Gepäck, die im Feldanzug mit Stiefeln im Laufschritt absolviert werden, Schießübungen mit diversen Waffen und Orientierungsmärsche, bei denen man mit Landkarte und Kompass oder GPS, manchmal auch anhand einer hastig unter Zeitbegrenzung handgemalten Skizze oder auch nur mit der grob genannten Himmelsrichtung und Entfernung bestimmte Stellen im Gelände finden muss, an denen die Orientierungshilfen für die nächste Wegstrecke versteckt wurden. Der alltägliche Dauerlauf von mindestens 5 Kilometern ist nach anfänglicher Quälerei bald zur Gewohnheit geworden. Obwohl man mir an meinem vorgesehenen Arbeitsplatz die wesentlich besser bezahlte Stelle als Chefkoch noch frei hält, entscheide ich mich, meine Wehrdienstzeit um weitere 13 Monate auf insgesamt 23 Monate freiwillig zu verlängern. Dadurch sichere ich mir endlich einen Lehrgangsplatz an der Fallschirmspringerschule in Altenstadt. Wegen der Sparmaßnahmen wird nicht mehr jeder Wehrdienst leistende Fallschirmjäger automatisch für diese kostspielige Springerausbildung eingeplant.

Ich bin unglaublich aufgeregt und erzähle meinen Kameraden im Mannschaftsheim stolz davon. Jeder hat noch einen guten Rat oder eine Horrorgeschichte, die er mir unbedingt mit auf den Weg geben zu müssen meint. Selbst der Spieß hat noch einen Tipp für mich parat, als er mich mit einer Bahnfahrkarte und dem Marschbefehl ausgestattet auf die Reise schickt: Ich solle mich zum Teedienst einteilen lassen, ruft er mir zu.

Den Samstag verbringe ich bei meinen Eltern, dann muss ich, mit einem schweren Seesack bepackt, die Reise quer durch die Republik bis nach Oberbayern antreten. Herrlich, in Bayern war ich noch nie und jetzt bin ich dorthin auf dem Weg, um den ersten Flug meines Lebens anzutreten, den ich dann mit einem Fallschirmsprung beenden sollte. Es ist ein ruhiger Sonntagmorgen im November. Da es sich um eine Dienstreise handelt, ist es meine Pflicht, in Uniform zu reisen. Damit ist allerdings nicht der tarnfarbene Feldanzug gemeint, den wir gerne scherzhaft als den »leichten Biertrinkeranzug« bezeichnen, sondern der »kleine Diener«. Es ist die Ausgehuniform des Heeres: eine graue Anzugjacke, deren Schnitt sich seit den Sechzigerjahren nicht geändert hat, zu der man ein hellblaues Hemd mit Krawatte, eine schwarze Bügelfaltenhose und Halbschuhe trägt. Die Uniform ist vielleicht nicht ganz so kleidsam wie die der Luftwaffe oder Marine, aber ich trage sie mit sehr viel Stolz. Nicht zuletzt wegen des bordeauxroten Fallschirmjägerbaretts, das ich ab morgen allerdings erst mal im Spind lassen muss. Traditionell setzt man das Barett erst zum Ende des Springerlehrgangs wieder auf, wenn einem das begehrte Abzeichen mit den Schwingen an die Brust gesteckt wird. Das Recht, es zu tragen, muss man sich, wie schon bei der Grundausbildung, erst verdienen.

Mit meiner guten Laune ist es vorbei, als ich in die Bahn steige und erkenne, dass ich die nächsten 13Stunden wahrscheinlich im Stehen oder auf meinem Seesack hockend verbringen muss, weil der Dienstherr mir zwar eine Fahrkarte für den IC stellt, eine Sitzplatzreservierung aber nicht für nötig hält. Einen Augenblick später steigt meine Laune wieder, als ich unter den anderen Soldaten, die mit mir im Gang zwischen den Abteilen hocken, ein paar bekannte Gesichter aus meiner Kaserne sehe. Wir kommen ins Gespräch und haben kein anderes Thema als den bevorstehenden Lehrgang. Die Geschichten und Anekdoten, die wir nur aus Erzählungen kennen, tragen wir uns gegenseitig vor, als hätten wir sie selbst erlebt. Alle sind betont gelassen und furchtlos. Über so etwas wie Höhenangst reden wir nicht – obwohl die insgeheim meine größte Sorge ist. Doch ich tue so, als würde ich zweifellos alles meistern. In Wahrheit weiß ich nicht mal, ob ich meinen ersten Flug überstehe.