Jonathan Franzen

Die 27ste Stadt

Deutsch von Heinz Müller

Der Autor dankt der Artist Foundation of Boston und dem Massachusetts Council for the Arts and Humanities für deren Unterstützung im Jahr 1986.

Hinweis des Übersetzers: Die für das Romangeschehen relevante Mehrdeutigkeit des englischen Wortes Indians (dt. Inder und/​oder Indianer) lässt sich im Deutschen leider nicht wiedergeben.

Für meine Eltern

Diese Geschichte spielt in einem Jahr, das vage an 1984 erinnert, und in einer Stadt, die sehr an St. Louis erinnert. Viele öffentliche Errungenschaften, Ereignisse und Gegenstände, die es wirklich gegeben hat, wurden verschiedenen Figuren und Gruppierungen zugeschrieben; diese sollten mit realen Personen oder Körperschaften nicht verwechselt werden. Leben und Ansichten der Figuren sind frei erfunden.

1

In den ersten Tagen des Juni gab Polizeichef William O’Connell vom St. Louis Police Department bekannt, dass er in den Ruhestand gehen werde, und ohne die Kandidaten zu berücksichtigen, die von der städtischen Oberschicht, der schwarzen Bürgerschaft, der Presse, dem Polizeibeamtenverband und dem Gouverneur von Missouri favorisiert wurden, berief der Polizeiverwaltungsrat für die fünfjährige Amtszeit eine Frau, die vorher bei der Polizei von Bombay, Indien, tätig gewesen war. Die Stadt war entsetzt, aber die Frau – eine S. Jammu – trat ihren Posten an, ehe sie jemand daran hindern konnte.

Das geschah am 1. August. Am 4. August, als der begehrteste Junggeselle von St. Louis eine Prinzessin aus Bombay heiratete, beschäftigte der Subkontinent die Lokalpresse erneut. Der Bräutigam war Sidney Hammaker, Geschäftsführer der Hammaker-Brauerei, des Vorzeigebetriebs der Stadt. Der Braut sagte man märchenhaften Reichtum nach. Presseberichte von der Hochzeit bestätigten Gerüchte, dass sie ein auf elf Millionen Dollar versichertes Brillantcollier besaß und eine achtzehnköpfige Dienerschaft in das im Vorort Ladue gelegene Hammaker-Anwesen mitgebracht hatte. Anlässlich der Hochzeit fand ein Feuerwerk statt, dessen verkohlte Reste im Umkreis einer Meile auf den Rasenflächen niedergingen.

Eine Woche später begannen die Sichtungen. Eine zehnköpfige indische Familie wurde auf einer Verkehrsinsel einen Block östlich vom Cervantes Convention Center gesehen. Die Frauen trugen Saris, die Männer dunkle Anzüge, die Kinder Turnhosen und T-Shirts. Und alle trugen sie Zeichen verhaltenen Unmuts im Gesicht.

Anfang September gehörten Szenen wie diese bereits zum Alltag. Man sah Inder, die sich ohne erkennbaren Grund auf der Fußgängerbrücke zwischen dem Kaufhaus Dillard’s und dem St. Louis Centre aufhielten. Man beobachtete, wie sie auf dem Parkplatz des Art Museum Decken ausbreiteten und auf einem Primuskocher Essen zubereiteten, wie sie auf dem Bürgersteig vor der National Bowling Hall of Fame Karten spielten, zum Verkauf stehende Häuser in Kirkwood und Sunset Hills besichtigten, vor dem im Stadtzentrum gelegenen Amtrak-Bahnhof Schnappschüsse machten und sich um die hochgeklappte Motorhaube eines Delta 88 scharten, der auf dem Forest Park Parkway liegen geblieben war. Die Kinder schienen ausnahmslos gut erzogen zu sein.

Der Frühherbst war auch die Zeit eines anderen, vertrauteren Besuchers aus dem Osten, des Verschleierten Propheten von Khorassan. Eine Gruppe von Geschäftsleuten hatte den Propheten im 19. Jahrhundert durch einen Zauber heraufbeschworen, um für wohltätige Zwecke Spenden zu erwirken. Jedes Jahr kehrte Er – verkörpert in einem anderen angesehenen Bürger, dessen Identität stets ein gut gehütetes Geheimnis blieb – zurück, und mit Seinen überkonfessionellen Mysterien brachte Er heiteren Glanz in die Stadt. Es stand geschrieben:

Auf seinem Throne saß Mokanna, der große Prophet,

gepriesen von Millionen, in blindgläub’gem Gebet.

Sein Antlitz war verborgen, von einem Schleier fein,

denn blenden tat die Sterblichen sein heller Glorienschein.

Aus Gnade trug Er den Schleier und lüftete ihn nicht,

bis die Menschen dort unten konnten ertragen sein Licht.

Es regnete nur ein einziges Mal im September, am Tag der Prophetenparade. Wasser strömte in die Schalltrichter der Tuben, und Trompeter bekamen Schwierigkeiten mit ihren Mundstücken. Die Pompons erschlafften und befleckten die Hände der Mädchen mit Farbe, die sie, wenn sie ihr Haar zurückstrichen, auf ihrer Stirn verschmierten. Mehrere Festwagen versanken in den Fluten.

Am Abend des Prophetenballs, dem gesellschaftlichen Höhepunkt des Jahres, rissen Sturmböen überall in der Stadt Stromleitungen von den Masten. Im Khorassan-Saal des Hotels Chase-Park Plaza gingen kurz nach dem Einzug der Debütantinnen die Lichter aus. Kellner eilten mit Leuchtern herbei, und kaum waren die ersten Kerzen angezündet, erhob sich aufgeregtes Getuschel: Der Thron des Propheten war leer.

Auf dem Kingshighway Boulevard raste ein schwarzer Ferrari 275 an den fensterlosen Supermärkten und den festungsartigen Kirchen der North Side vorbei. Beobachter hätten hinter dem Steuer eine schneeweiße Robe ausmachen können, auf dem Beifahrersitz eine Krone. Der Prophet fuhr zum Flughafen. Er parkte auf der Feuerwehrzufahrt und eilte in die Lobby des Hotels Marriott.

«Haben Sie ’n Problem?», fragte ein Hotelboy.

«Ich bin der Verschleierte Prophet, du Blödmann.»

Im obersten Geschoss blieb Er vor einer Tür stehen und klopfte. Die Tür wurde von einer großen dunkelhäutigen Frau im Jogginganzug geöffnet. Sie war sehr schön. Sie brach in Gelächter aus.

 

Als der Himmel aufhellte, weit im Osten, über Südillinois, waren die Vögel die ersten, die es bemerkten. In den Bäumen an den Flussufern, Grünanlagen und Plätzen begann es zu rascheln und zu zwitschern. Es war der erste Montagmorgen im Oktober. Die Vögel der Innenstadt wachten auf.

Nördlich des Geschäftsviertels, dort, wo die ärmsten Leute wohnten, wehte eine morgendliche Brise den Geruch von Suff und saurem Schweiß aus Durchgängen, in denen sich nichts regte; das Knallen einer Tür war blöckeweit zu hören. Auf dem Güterbahnhof in der Innenstadtsenke, umgeben vom Gesumm schadhafter Trafos und unvermittelt bebenden Gitterzäunen, dösten Männer mit Eisenbahnermützen in klotzigen Stellwerkstürmen vor sich hin, während unter ihnen Güterzüge rangierten. Dreisternehotels und Privatkliniken standen verloren am Hang. Nach Westen hin wurde das Land hüglig und gesündere Bäume fassten die Wohngegenden ein, doch das war nicht mehr St. Louis, das war schon die Vorstadt. Auf der South Side drängten sich Reihen um Reihen kubischer Ziegelhäuser, wo Witwen und Witwer in ihren Betten lagen und die Jalousien, in einer früheren Epoche heruntergelassen, den ganzen Tag geschlossen blieben.

Aber kein Teil der Stadt war so tot wie das Zentrum. Hier im Herzen von St. Louis, im Schatten des auch nachts pausenlos dröhnenden Verkehrs auf den vier Schnellstraßen, gab es jede Menge Parkplätze. Hier balgten sich die Spatzen, pickten die Tauben. Hier erhob sich das Rathaus, eine giebelreiche Kopie des Pariser Hôtel de Ville, in zweidimensionaler Pracht aus dem flachen Gelände. Die Luft in der Market Street, der Hauptstraße von St. Louis, war mild. Zu beiden Seiten hörte man die Vögel singen, einzeln und im Chor – wie auf einer Waldwiese. Wie in einem Garten.

Die Hüterin dieses Friedens hatte die Nacht schlaflos in der Clark Avenue verbracht, ein wenig südlich vom Rathaus. Im fünften Stockwerk des Polizeipräsidiums breitete Chief Jammu die Morgenzeitung unter der Schreibtischlampe aus. In ihrem Büro war es noch dunkel, und vom Kragen abwärts sah sie mit ihren schmalen, hochgezogenen Schultern, den knochigen Knien in Strümpfen und den ruhelosen Füßen wie ein Schulmädchen beim Lernen aus.

Ihr Kopf wirkte älter. Als sie sich über die Zeitung beugte, zeigten sich im seidig schwarzen Haar über dem linken Ohr weiße Strähnen. Wie Indira Gandhi, die an diesem Oktobermorgen noch am Leben und indische Premierministerin war, neigte Jammu zu einseitigem Ergrauen. Ihr Haar ließ sie so lang wachsen, dass sie es im Nacken feststecken konnte. Sie hatte eine hohe Stirn, eine schmale und gebogene Nase und breite Lippen, die blutleer aussahen, bläulich. Wenn sie ausgeruht war, beherrschten die dunklen Augen ihr Gesicht, aber an diesem Morgen waren sie trübe und von Tränensäcken beschwert. Fältchen schnitten in die zarte Haut um ihren Mund.

Sie blätterte den Post-Dispatch um und fand, was sie suchte, ein Foto von sich, aufgenommen an einem guten Tag. Sie lächelte darauf, mit gewinnendem Blick. Die Bildunterschrift – «Jammu: Das Persönliche im Visier» – rief dasselbe Lächeln in ihr wach. Der begleitende Artikel von Joseph Feig trug den Titel EIN NEUANFANG. Sie begann zu lesen.

 

Kaum jemand wird sich daran erinnern, aber der Name Jammu ist vor fast zehn Jahren in den amerikanischen Zeitungen schon einmal aufgetaucht. Es war das Jahr 1975, und der indische Subkontinent befand sich in Aufruhr, nachdem Premierministerin Indira Gandhi den Ausnahmezustand verhängt und ihre politischen Widersacher in die Schranken gewiesen hatte.

Neben vielen widersprüchlichen, von der Zensur verstümmelten Berichten geisterte auch eine kuriose Meldung über das so genannte Puri-Projekt durch die westliche Presse. Mit dieser von der Polizeibeamtin Jammu ins Leben gerufenen Initiative war die Polizei von Bombay, so schien es zumindest, in den Lebensmittelgroßhandel eingestiegen.

Schon damals hörte sich die Sache verrückt an. Aber da Jammu aufgrund einer Laune des Schicksals inzwischen die Polizeichefin von St. Louis ist, fragt man sich hier, ob das Puri-Projekt wirklich so verrückt war, wie es noch heute den Anschein hat.

Bei einem Interview in ihrem geräumigen Büro an der Clark Avenue spricht Jammu über die Vorgeschichte des Puri-Projekts.

«Bevor Mrs. Gandhi die Verfassung außer Kraft setzte, war der Subkontinent wie Gertruds Dänemark – durch und durch verrottet. Aber dank der Einführung des Präsidialregimes konnte die Polizei etwas dagegen tun. Allein in Bombay verhafteten wir 1500 Straftäter pro Woche und beschlagnahmten Hehlerware und Gelder im Wert von 30 Millionen Rupien. Als wir nach zwei Monaten Bilanz zogen, stellten wir fest, dass wir kaum einen Schritt weitergekommen waren», erinnert sich Jammu.

Das Präsidialregime stützt sich auf eine Klausel der indischen Verfassung, die der Zentralregierung in Zeiten des Notstands diktatorische Vollmachten erteilt. Daher wurde die neunzehnmonatige Ära des Präsidialregimes auch als Notstandsregierung bezeichnet.

1975 hatte die Rupie etwa den Wert von zehn US-Cent.

«Ich war damals Stellvertreterin des Polizeichefs», sagt Jammu, «und schlug ein anderes Vorgehen vor. Warum nicht versuchen, die Korruption mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, da Drohungen und Verhaftungen nichts fruchteten? Warum nicht selbst ins Geschäft einsteigen, unsere Ressourcen nutzen und einen freieren Markt durchsetzen? Wir entschieden uns für die wichtigste Warengruppe: Lebensmittel.»

Also wurde das Puri-Projekt entwickelt. Puri, ein frittiertes Fladenbrot, ist in Indien Grundnahrungsmittel. Am Ende des Jahres 1975 galt Bombay bei westlichen Journalisten als einzige Stadt Indiens, deren Geschäfte gut gefüllt und deren Preise gemäßigt waren.

Natürlich stand Jammu bald im Mittelpunkt des Interesses. Ihr Projekt, über das in der amerikanischen Tagespresse, in Time und Newsweek ausführlich berichtet wurde, stieß auch bei unseren Polizeibehörden auf Beachtung. Niemand aber hätte für möglich gehalten, dass sie eines Tages Sheriffstern und Dienstrevolver des Polizeichefs von St. Louis tragen würde.

Doch Colonel Jammu, die gerade am Beginn ihres dritten Amtsmonats steht, hält das für die normalste Sache der Welt. «Ein guter Polizeichef betont das persönliche Engagement in allen Bereichen der Polizeiarbeit», sagt sie. «Einen Revolver zu tragen ist Zeichen meiner Dienstauffassung. Sicher», fügt sie hinzu und lehnt sich in ihren Chefsessel, «eine tödliche Waffe ist er auch.»

Jammus offener, mutiger Führungsstil hat sich im wahrsten Sinne des Wortes weltweit herumgesprochen. Als die Suche nach einem Nachfolger für den vormaligen Polizeichef William O’Connell in einem Patt der zerstrittenen Fraktionen zu enden drohte und ein Kompromisskandidat benötigt wurde, fiel ihr Name als einer der ersten. Und obwohl sie in den Vereinigten Staaten über keinerlei Polizeierfahrung verfügte, wurde ihre Ernennung nur wenige Tage nach dem Vorstellungsgespräch vom Polizeiverwaltungsrat bestätigt.

Für viele kam es überraschend, dass die Inderin die staatsbürgerlichen Voraussetzungen für diese Dienststellung erfüllte. Aber Jammu ist in Los Angeles geboren, ihr Vater war Amerikaner, und ihre Nationalität hat sie stets gehütet wie einen kostbaren Schatz. Schon als Kind träumte sie davon, in Amerika zu leben.

«Ich bin schrecklich patriotisch», sagt sie lächelnd. «Neubürger wie ich sind das oft. Ich möchte viele Jahre in St. Louis leben. Ich bin gekommen, um zu bleiben.»

Jammu spricht mit leicht britischem Akzent, und ihre Gedanken sind von frappierender Klarheit. Ihre zarte und zerbrechliche Gestalt könnte kaum weiter vom Klischee eines rabiaten amerikanischen Polizeichefs entfernt sein. Doch ihre Laufbahn spricht eine andere Sprache.

1969, fünf Jahre nach dem Eintritt in den indischen Polizeidienst, wurde sie Stellvertreterin des Polizei-Generalinspekteurs der Provinz Maharashtra. Fünf Jahre später, mit nur 31 Lenzen, hatte sie es an die Spitze der Polizei von Bombay geschafft. Mit 35 ist sie nun die jüngste Polizeichefin in der Geschichte von St. Louis und die erste Frau in diesem Amt.

Bevor sie zur indischen Polizei stieß, erwarb sie einen Abschluss in Elektrotechnik an der Universität Srinagar in Kaschmir. Im Anschluss studierte sie drei Semester Volkswirtschaft in Chicago.

«Ich habe hart gearbeitet, aber auch viel Glück gehabt», bekennt sie. «Ohne die gute Presse für das Puri-Projekt hätte ich diesen Job wohl kaum bekommen. Das Hauptproblem war natürlich immer, dass ich eine Frau bin. Es war nicht einfach, gegen fünftausend Jahre geschlechtlicher Diskriminierung anzukämpfen. Vor meiner Beförderung zur Kommissarin trug ich eine Männeruniform», erinnert sie sich.

Erfahrungen wie diese spielten offenbar eine Schlüsselrolle bei der Entscheidung des Verwaltungsrats. Für eine Stadt, die nach wie vor gegen ihr «Verlierer-Image» ankämpfen muss, ist die unorthodoxe Wahl ein geschickter PR-Schachzug. St. Louis ist jetzt die größte Stadt der USA mit einem weiblichen Polizeichef.

Der Vorsitzende des Polizeiverwaltungsrats, Nelson A. Nelson, meint, St. Louis könne sich etwas darauf zugute halten, dass Frauen Zugang zu städtischen Regierungsämtern hätten. «Das ist Gleichstellung im wahrsten Sinne des Wortes», stellt er fest.

Jammu hingegen scheint von dem Thema nichts zu halten. «Ja, ich bin eine Frau. Na und?», sagt sie lächelnd.

Eins ihrer Hauptziele ist es, die Straßen sicherer zu machen. Zu den Leistungen ihrer Vorgänger auf diesem Gebiet will sie nicht Stellung nehmen, aber sie sagt, dass sie in enger Zusammenarbeit mit dem Rathaus ein umfassendes Konzept zur Bekämpfung der Straßenkriminalität entwickeln wird.

«Die Stadt braucht einen Neuanfang, ein gründliches Großreinemachen. Wenn wir die Unterstützung der Wirtschaft und der Bürgergruppen bekommen – wenn es uns gelingt, den Menschen vor Augen zu führen, dass es sich um ein die ganze Region betreffendes Problem handelt –, dann bin ich überzeugt, dass wir die Straßen in sehr kurzer Zeit wieder sicher machen können.»

Polizeichefin Jammu sieht keinen Grund, ihre Absichten zu verhehlen. Dabei ist anzunehmen, dass alle ihre Bemühungen auf erbitterten Widerstand stoßen werden. Aber ihre Verdienste in Indien beweisen, dass sie kein Fliegengewicht ist, sondern eine politische Kraft, die man im Auge behalten sollte.

«Nehmen Sie das Puri-Projekt als Beispiel», sagt sie. «In einer Situation, die aussichtslos schien, haben wir eine ganze Reihe neuer Maßnahmen ergriffen. Vor jedem Bahnhof errichteten wir Basare. Damit haben wir unser Image verbessert und auch das Arbeitsklima. Erstmals seit Jahrzehnten hatten wir keine Schwierigkeiten mehr, qualifizierten Nachwuchs anzuwerben. Die indische Polizei galt als korrupt und gewalttätig, was vor allem auf den Mangel an gut ausgebildeten und verantwortungsbewussten Beamten zurückzuführen war. Das Puri-Projekt brachte die Dinge ins Rollen.»

Kritiker äußern die Befürchtung, dass eine Polizeichefin, die an die autoritären indischen Verhältnisse gewöhnt ist, nicht das nötige Feingefühl für die rechtlichen Belange der Bürger von St. Louis mitbringt. Charles Grady, Sprecher der örtlichen Sektion der Amerikanischen Bürgerrechtsunion ACLU, geht sogar so weit, die Entlassung Jammus zu fordern, bevor es zum «Verfassungsdebakel» komme.

Jammu weist diese kritischen Stimmen energisch zurück. «Die Reaktion der liberalen Gruppierungen hat mich ziemlich überrascht», sagt sie. «Ihre Befürchtungen, so glaube ich, gründen sich auf ein hartnäckiges Misstrauen gegenüber der Dritten Welt. Sie übersehen, dass die indische Regierungsform zutiefst von westlichen Idealen geprägt ist, in erster Linie natürlich von den britischen. Sie übersehen den Unterschied zwischen den gewöhnlichen indischen Polizeibeamten und dem nationalen Offizierskorps, dessen Mitglied ich war. Unsere Ausbildung entsprach den Normen des britischen Staatsdienstes. Die Anforderungen waren hoch. Wir waren ständig hin und her gerissen zwischen der Loyalität gegenüber unseren Beamten und der Treue zu unseren Idealen. Meine Kritiker übersehen, dass es genau dieser Konflikt war, der mir eine Tätigkeit in den USA attraktiv erscheinen ließ.

Heute», fährt sie nach einer Pause fort, «fällt mir am Puri-Projekt auf, wie amerikanisch unser Ansatz war. Einer bankrotten und fehlgeleiteten Ökonomie haben wir eine kräftige Dosis freie Marktwirtschaft verpasst. Bald waren die Vorräte der Hamsterer nur noch die Hälfte des Einkaufspreises wert. Die Schwarzhändler bettelten um Kundschaft. Was wir erreicht haben, war ein echtes Wirtschaftswunder im kleinen Rahmen», sagt Jammu in Anspielung auf den deutschen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wird sie in St. Louis ähnliche Wunder vollbringen können? Ihre Vorgänger haben beim Amtsantritt vor allem auf Loyalität, Qualifikation und technische Ausstattung gepocht. Für Jammu heißen die wesentlichen Punkte: Erneuerung, harte Arbeit und Selbstvertrauen.

«Unsere Beamten haben zu lange ihre Aufgabe darin gesehen, den Verfall von St. Louis so korrekt wie möglich zu verwalten», sagt sie und fügt sarkastisch hinzu: «Auf die Stimmung in der Stadt hat das Wunder gewirkt.»

Wie nicht anders zu erwarten, reagierten viele, besonders die älteren unter den städtischen Beamten, auf Jammus Berufung mit Skepsis. Aber die Ansichten ändern sich bereits. Die wohl häufigste Einschätzung, die man in der Stadt zu hören bekommt, lautet: «Sie ist in Ordnung.»

 

Nach fünf Minuten Gespräch mit Joseph Feig hatte Jammu ihren Achselschweiß wahrgenommen, einen muffig-animalischen Geruch. Feig hatte eine gute Witterung; einen Lügendetektor brauchte er nicht.

«Ist Jammu nicht eine Stadt in Kaschmir?», fragte er.

«Im Winter ist Jammu die Hauptstadt.»

«Aha.» Ein paar lange Sekunden musterte er sie eindringlich. Dann fragte er: «Wie ist das, wenn man mitten im Leben einfach in ein anderes Land geht?»

«Ich bin schrecklich patriotisch», sagte sie lächelnd. Sie war überrascht, dass er die Frage nach ihrer Vergangenheit nicht weiter vertiefte. Diese Interviews gehörten zu den Initiationsriten in St. Louis, und Feig, ein erfahrener Redakteur, galt als Nestor des Lokaljournalismus. Als er mit seinem zerknitterten Jackett und dem wochenalten Bart, grau und grimmig, in ihr Büro trat, hatte er sie so sehr an einen Detektiv erinnert, dass sie rot geworden war. Sie war auf das Schlimmste gefasst gewesen:

 

FEIG: Colonel Jammu, Sie behaupten, dass Sie der Gewalttätigkeit der indischen Gesellschaft entkommen wollen, dem menschlichen Elend und den Kastenproblemen. Aber es bleibt eine Tatsache, dass Sie fünfzehn Jahre lang einer Polizeimacht vorstanden, die für ihre Brutalität berüchtigt ist. Wir sind nicht auf den Kopf gefallen, Colonel. Wir wissen Bescheid über Indien. Zerschmetterte Ellbogen, gezogene Zähne, Vergewaltigungen mit Waffengewalt. Kerzen, Säure, Stockschläge, Elektroschocks –

JAMMU: Die Missstände waren, als ich den Dienst antrat, im Wesentlichen beseitigt.

FEIG: Colonel Jammu, wenn man sich klar macht, dass Mrs. Gandhi ein fast obsessives Misstrauen gegen ihre Untergebenen hegt, und sich vor Augen führt, welche zentrale Rolle Sie selbst im Puri-Projekt gespielt haben, dann stellt sich die Frage, ob Sie nicht irgendwie mit der Premierministerin verwandt sind. Anders kann ich mir nicht vorstellen, dass eine Frau Polizeichefin wird, erst recht eine Frau mit einem amerikanischen Vater –

JAMMU: Ich sehe nicht, welche Bedeutung meine Verwandtschaftsverhältnisse für St. Louis haben sollten.

 

Aber nun wurde der Artikel gedruckt, unumstößlich, unwiderruflich. In den Fenstern von Jammus Büro wurde es Tag. Sie stützte das Kinn in die Hände und ließ die Druckbuchstaben verschwimmen. Mit dem Artikel war sie zufrieden, doch Feig machte ihr Sorgen. Warum erging sich dieser offenkundig intelligente Mann in Plattitüden? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Vielleicht knüpfte er schon die Schlinge und «gewährte» ihr das Interview wie eine letzte Zigarette im Morgengrauen, während er seine Enthüllungen hinter ihrem Rücken zu einem effizienten Hinrichtungskommando formierte 

Ihr Kopf sank vornüber. Sie knipste die Lampe aus, und mit einem trockenen Klatschen sackte ihr Oberkörper über der Zeitung zusammen. Sie schloss die Augen, begann sofort zu träumen. In dem Traum war Joseph Feig ihr Vater. Er interviewte sie. Als sie von ihren Triumphen sprach, dem köstlichen Nachgeschmack der Lügen, die die Leute hören wollten, der Flucht aus Indien mit seiner stickigen Atmosphäre, lächelte er. In seinem Blick entdeckte sie das traurige, geteilte Wissen um die Leichtgläubigkeit der Welt. «Du bist eine Kratzbürste», sagte er. Sie schob sich über den Schreibtisch, schmiegte den Kopf in die Ellenbeuge. Kratzbürste, dachte sie. Dann hörte sie den Interviewer auf Zehenspitzen hinter ihren Sessel schleichen. Sie streckte die Arme nach hinten, um nach seinen Beinen zu tasten, aber ihre Hände griffen ins Leere. Sein stachliges Gesicht strich ihr Haar beiseite und streifte ihren Nacken. Seine Zunge kam aus dem Mund. Schwer, warm, wie Teig drückte sie gegen ihre Haut.

Schaudernd wachte sie auf.

Jammus Vater war 1974 umgekommen, als ein Hubschrauber mit ausländischen Journalisten und südvietnamesischen Militärs nahe der kambodschanischen Grenze von einer Rakete der Kommunisten getroffen wurde. Ein zweiter Hubschrauber filmte den Absturz und entkam nach Saigon. Jammu und ihre Mutter hatten die Nachricht aus der Pariser Ausgabe der Herald Tribune, dem einzigen Verbindungsglied zwischen dem Mann und ihnen. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte Jammu erstmals seinen Namen erfahren, aus einer Zeitung, die über eine Woche alt war. Seit Jammu Fragen stellen konnte, war die Mutter ausgewichen und hatte, wann immer Jammu auf ihren Vater zu sprechen kam, jede Auskunft brüsk verweigert. Dann, im Frühjahr bevor sie ihr Studium aufnahm, hatte ihre Mutter das Schweigen gebrochen. Sie saßen beim Frühstück auf der Veranda, Maman mit ihrer Herald Tribune und Jammu mit ihrem Mathematikbuch. Maman schob ihr die Zeitung hin und strich mit einem langen Fingernagel über einen Artikel am Fuß der Titelseite.

 

WACHSENDE SPANNUNGEN AN DER

CHINESISCH-INDISCHEN GRENZE

Peter B. Clancy

 

Jammu las ein paar Absätze, ohne zu wissen, warum. Fragend blickte sie auf.

«Das ist dein Vater.»

Mamans Ton war sachlich wie immer. Sie sprach nur englisch mit Jammu, und das mit einer Geringschätzung, als würde sie jedem Wort misstrauen. Jammu überflog den Artikel erneut. Vergeltungsschläge. Separatisten. Düstere Perspektiven. Peter B. Clancy.

«Ein Reporter?», fragte sie.

«Hm.»

Ihre Mutter wollte über ihn nicht sprechen. Sie hatte eingeräumt, dass es ihn gab, doch der Wissbegier ihrer Tochter begegnete sie mit Spott. Da sei nichts zu erzählen, sagte sie. Sie hätten sich in Kaschmir kennen gelernt. Sie hätten das Land verlassen und zwei Jahre in Los Angeles gelebt, wo Clancy irgendeinen Abschluss gemacht habe. Dann sei sie zurückgekehrt, allein mit ihrem Baby, nach Bombay, nicht nach Srinagar, und dort sei sie geblieben. Nichts in ihrem nekrologartigen Bericht ließ vermuten, dass Clancy mehr für sie gewesen war als ein lästiges Stück Gepäck. Jammu begriff – es hatte nicht geklappt. Und es war auch egal. Die Stadt war voll von Mischlingen, und Maman pfiff auf die öffentliche Meinung. Für die Presse war sie der «lachende Immobilienschakal». Weil sie gut lachen hatte, wenn sie zur Bank ging. Sie war Spekulantin und Slum-Lord, und zwar eine der erfolgreicheren in dieser Stadt der Spekulation und Slums.

Jammu öffnete die Schreibtischlade, wählte zwei Schmerztabletten und eine Amphetaminpille aus und spülte sie mit dem restlichen Kaffee hinunter. Ihre nächtliche Lektüre hatte sie schneller beendet als geplant. Es war erst halb sieben. In Bombay war es schon fünf Uhr am Nachmittag – Indien leistete sich die Marotte, eine halbe Stunde zwischen den weltweit üblichen Zeitzonen zu liegen –, und Maman saß wahrscheinlich zu Hause im Obergeschoss und genehmigte sich den ersten Drink. Jammu griff zum Telefon, rief das Fernamt an und gab die Nummer durch.

Während die Verbindung den halben Globus umrundete, rauschte es im Hörer. In Indien rauschten die Ortsgespräche genauso. Maman meldete sich.

«Ich bin’s», sagte Jammu.

«Oh. Hallo.»

«Hallo. Gibt’s was Neues?»

«Nein. Ohne deine Freunde ist die Stadt wie leer gefegt.» Ihre Mutter lachte. «Heimweh?»

«Eigentlich nicht.»

«Apropos – hat dich die Aufgeklärte Despotin angerufen?»

«Haha.»

«Im Ernst. Sie ist in New York. Die Sitzungsperiode der UN-Vollversammlung hat begonnen.»

«Das ist tausend Meilen von hier entfernt.»

«Na, einen Anruf könnte sie sich leisten. Aber sie lässt es sein. Ja. Sie lässt es einfach sein. Heute Morgen hab ich gelesen … liest du noch Zeitungen?»

«Wenn ich die Zeit dazu habe.»

«Verstehe. Wenn du die Zeit dazu hast. Ich wollte sagen, dass ich heute Morgen was über ihren Minigipfel mit amerikanischen Intellektuellen gelesen habe. Leitartikel auf der Titelseite. Asimov, Sagan … Futurologen. Sie ist ein Phänomen. Schau sie dir an, du lernst etwas. Auch wenn sie nicht unfehlbar ist. Auf dem Foto war zu sehen, dass Asimov Rippchen gegessen hat. Aber egal – wie ist es in St. Louis?»

«Gemäßigt. Sehr trocken.»

«Und du mit deinen Nebenhöhlen. Wie steht’s mit Singh?»

«Singh ist Singh. Muss jeden Augenblick kommen.»

«Lass ihn bloß nicht an deine Buchführung ran.»

«Er macht aber meine Buchführung.»

«Du Dickkopf. Ich werde Bhandari schicken müssen, gegen Monatsende, damit er alles prüft. Singh ist nicht –»

«Hierher? Du schickst Karam her?»

«Nur für ein paar Tage. Etwa am Neunundzwanzigsten kannst du mit ihm rechnen.»

«Bitte nicht Karam. Ich kann ihn nicht ausstehen.»

«Und ich kann Singh nicht ausstehen.» Jammu hörte ein leises Geräusch, das Klingeln von Eiswürfeln. «Hör zu, Liebes, wir reden morgen weiter.»

«Na gut. Bis dann.»

Maman und Indira waren blutsverwandt, Kaschmir-Brahmanen mit einem gemeinsamen Urgroßvater auf der Nehru-Seite. Dass Jammu noch im Jahr des Amtsantritts von Indira Gandhi in den indischen Polizeidienst aufgenommen wurde, kam nicht von ungefähr. Natürlich war dann niemandem befohlen worden, sie zu befördern, aber gelegentliche Anrufe aus dem Ministerium erinnerten die zuständigen Beamten daran, dass man Jammus Karriere «mit Interesse» verfolgte. Im Lauf der Jahre hatte auch sie Hunderte solcher Anrufe erhalten, die ähnlich vage blieben, selbst wenn konkrete Anliegen dahinter standen. Ein hoher Justizbeamter des Bundesstaats Maharashtra signalisierte, dass ihm an der Eröffnung eines bestimmten Strafverfahrens gelegen sei, ein Führer der Kongresspartei machte seinem Ärger über die Geschäfte eines bestimmten Oppositionspolitikers Luft. Anrufe von Regierungsstellen oberhalb der Gouverneursebene waren jedoch selten; Indira maß Detailkenntnissen große Bedeutung zu, aber nur im Rahmen der Tagesordnung. Wie jeder Entscheidungsträger war sie darauf bedacht, sich bei fragwürdigen Aktionen möglichst gute Rückendeckung zu verschaffen, und fragwürdig waren Jammus politische Aktionen allemal. Nur einmal hatte sie privat mit Indira gesprochen – kurz nachdem sie mit ihrer Mutter das Puri-Projekt ausgebrütet hatte. Jammu flog nach Delhi und verbrachte siebzig Minuten im Garten von Madams Residenz an der Safdarjang Road. Madam, auf einem Segeltuchstuhl sitzend, musterte sie aufmerksam, die hervorquellenden Augen braun, der Kopf schräg gelegt und die Lippen zu einem Lächeln verzogen, das von Schnalzlauten begleitet war, ein Lächeln, in dem Jammu nichts als Mechanik sah. Madam wandte den Kopf um eine Vierteldrehung zur Seite und richtete den Blick auf das Rosenspalier, hinter dem Gewehrläufe patrouillierten. «Ihnen ist bestimmt klar», sagte sie, «dass dieses Großhandelsprojekt nicht funktionieren wird. Sie sind doch eine vernünftige junge Frau. Aber wir werden es trotzdem finanzieren.»

In Jammus Vorzimmer knarrten Schuhe. Sie fuhr hoch. «Wer …» Sie räusperte sich. «Wer ist da?»

Balwan Singh trat ein. Er trug eine graue Bügelfaltenhose, ein weißes Maßhemd und eine azurblaue Krawatte mit feinen gelben Streifen. Er wirkte so kompetent und Vertrauen erweckend, dass er sich, wenn er zu ihr heraufkam, selten ausweisen musste. «Ich bin’s», sagte er und legte eine weiße Papiertüte auf Jammus Schreibtisch.

«Du hast gelauscht.»

«Ich, gelauscht?» Singh stellte sich ans Fenster. Er war groß und breitschultrig, und sein heller Teint verdankte einem mittelasiatischen Vorfahren zusätzliches Gold. Nur eine alte Freundin und Exgeliebte wie Jammu konnte bemerken, wann die Anmut seiner Bewegungen die Grenze zur Affektiertheit überschritt. Nach wie vor bewunderte sie ihn, als Zierde. Für einen Mann, der noch im Juli im Schmutz von Dharabi gehaust hatte, hätte er auffallend – und verdächtig – adrett ausgesehen, wäre er unter seinen so genannten Genossen in Bombay, deren Geschmack eher zu Velours, Kunstfasern und schlampigen Pullovern tendierte, nicht exakt genauso gekleidet gewesen. Singh war ein Marxist der ästhetischen Art, der mit der Idee des Revolutionsexports zum Teil zumindest deshalb kokettierte, weil der den Export europäischer Moden nach sich zog. Sein Herrenausstatter lag am Marine Drive. Jammu argwöhnte seit langem, dass Singh dem Sikhismus in früher Jugend entsagt hatte, weil er einen Bart entstellend fand.

Singh deutete mit einem Nicken auf die Tüte. «Wenn du möchtest, ist da Frühstück für dich.»

Sie nahm die Tüte auf den Schoß und öffnete sie: zwei Schoko-Doughnuts und ein Becher Kaffee. «Ich hab mir ein paar Bänder angehört», sagte sie. «Wer hat die Mikrophone in den Toiletten des St. Louis Club installiert?»

«Ich.»

«Hab ich mir gedacht. Baxtis Mikros klingen wie mit Kaugummi verklebt. Deine kommen ganz gut. Ich hab ein paar brauchbare Gespräche gehört. General Norris, Buzz Wismer –»

«Seine Frau ist ein Miststück», sagte Singh abwesend.

«Wismers Frau?»

«Ja. Bev heißt sie. Von allen Frauen hier, die Asha niemals verzeihen werden, dass sie Sidney Hammaker geheiratet hat, oder Hammaker niemals verzeihen werden, dass er Asha geheiratet hat – und solche Frauen gibt es in Mengen –, ist Bev die Schlimmste.»

«Auf allen Bändern höre ich dieselben Klagen», sagte Jammu. «Zumindest von den Frauen. Die Männer lassen durchblicken, dass sie, was Asha betrifft, ‹schwankend› sind. Immerzu betonen sie Ashas Intelligenz.»

«Womit sie ihre betörende Schönheit meinen.»

«Und ihren märchenhaften Reichtum.»

«Wismer gehört jedenfalls zu den Schwankenden. Bev macht das wütend. Ständig hackt sie auf ihm rum.»

Jammu warf den Deckel des Kaffeebechers in den Papierkorb. «Warum lässt er sich das bieten?»

«Er ist sonderbar. Ein scheues Genie.» Singh runzelte die Stirn und setzte sich aufs Fensterbrett. «Von den Wismer-Jets habe ich zum ersten Mal vor zwanzig Jahren gehört. Keiner baut bessere Flugzeuge.»

«Und das heißt?»

«Das heißt, er ist nicht der Mann, den ich in ihm vermutet habe. Die Stimme täuscht.»

«Du hast dir eine Menge Bänder angehört.»

«Hundertfünfzig Stunden etwa. Was glaubst du, was ich den ganzen Tag mache?»

Jammu zuckte die Schultern. Sie konnte sicher sein, dass Singh nicht übertrieb. Sein Arbeitseifer war über jeden Verdacht erhaben. Da ihn nichts ablenkte (außer gelegentlich ein blonder Boy) und er niemandem verantwortlich war (außer ihr), hatte er genügend Zeit, ein geordnetes Leben zu führen. Ein herrliches Leben. Sie, die zwei Jobs von jeweils sechzig Wochenstunden gleichzeitig erledigte, war in dieser Hinsicht nicht mit Singh zu vergleichen. Ihr Fuß begann aus eigenem Antrieb zu wippen, das Amphetamin wirkte also. «Ich ziehe dich von Wismer ab», sagte sie.

«Ach ja?»

«Und setze dich auf Martin Probst an.»

«Gut.»

«Das heißt, du musst ganz von vorn anfangen. Wismer kannst du vergessen, deine hundertfünfzig Stunden auch.»

«Das waren nur die Bänder. Sagen wir, dreihundert Stunden.»

«Baxti hat mir die Akte von Probst gebracht. Du fängst sofort an.»

«Hast du dir das eben erst überlegt?»

«Nein. Ich habe mit Baxti bereits geredet, er hat mir die Akte bereits übergeben, und deshalb bist du hier. Um sie mitzunehmen.»

«Schön.»

«Also nimm sie mit.» Sie wies mit dem Kopf auf einen teefleckigen Ordner neben der Schreibtischlampe.

Singh ging zum Schreibtisch und nahm den Ordner. «Noch was?»

«Ja. Leg ihn hin.»

Er legte den Ordner wieder hin.

«Hol mir ein Glas Wasser, und dreh die Heizung auf.»

Er verließ den Raum.

Martin Probst war der Bauunternehmer, der den Gateway Arch errichtet hatte, das Wahrzeichen der Stadt. Er war auch Vorsitzender des «Städtischen Wachstumsvereins», einer gemeinnützigen Organisation, die sich aus den Geschäftsführern der großen Firmen und Geldinstitute im Raum St. Louis zusammensetzte. Der Wachstumsverein war ein Muster an Effizienz und Gegenstand fast allumfassender Ehrerbietung. Brauchte jemand Sponsoren für ein städtisches Sanierungsvorhaben – der Wachstumsverein spürte sie auf. Wollte eine Bürgerinitiative den Bau einer Schnellstraße verhindern – der Wachstumsverein zahlte die Verkehrsstudie. Wenn Jammu die Machtstrukturen von St. Louis ändern wollte, kam sie am Wachstumsverein nicht vorbei.

Singh kehrte mit einem Pappbecher zurück. «Hat Baxti vor, neue Welten zu erobern?»

«Hol dir einen Stuhl und setz dich.»

Er gehorchte.

«Baxtis Fähigkeiten sind doch ganz offensichtlich beschränkt. Wozu also die Diskussion?»

Er schüttelte eine Nelkenzigarette aus einer karamellfarbenen Packung, zündete ein Streichholz an und schirmte die Flamme gegen einen imaginären Luftzug ab. «Weil ich nicht verstehe, warum wir tauschen sollen.»

«Ich fürchte, da musst du mir vertrauen.»

«Fürchte ich auch.»

«Worum es geht, weißt du wahrscheinlich – um Probsts charmante Frau Barbara, um seine charmante achtzehnjährige Tochter Luisa. Sie wohnen, was interessant ist, in Webster Groves. Ein reicher Vorort, aber bei weitem nicht der reichste. Sie haben allerdings einen Gärtner, der auf dem Grundstück wohnt … Baxti bezeichnet die Atmosphäre im Haus als ‹sehr friedvoll›.»

«Mikros?»

«In Küche und Esszimmer.»

«Das Schlafzimmer wäre aufschlussreicher gewesen.»

«So viele Frequenzen haben wir nicht. Und im Schlafzimmer steht ein Fernseher.»

«Schön. Was noch?»

Jammu schlug die Probst-Akte auf. Blinzelnd entzifferte sie Baxtis Hindigekritzel. «Es fängt damit an, dass er keine Gewerkschaftsmitglieder einstellt. In den sechziger Jahren gab es da einen großen Rechtsstreit. Sein Chefanwalt war Charles Wilson, Barbaras Vater, mittlerweile sein Schwiegervater. So haben sie sich kennen gelernt. Probsts Angestellte haben noch nie gestreikt. Er zahlt nach Tarif oder sogar darüber und versichert seine Leute. Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Rente, manches davon einzigartig in der Branche. Paternalismus vom Feinsten. Probst ist kein Vashni Lal. Er genießt die, in Anführungsstrichen, Reputation, sich auf allen Geschäftsebenen persönlich zu engagieren.»

«Das Persönliche im Visier.»

«Haha. Gegenwärtig ist er Vorsitzender des Wachstumsvereins, seine Amtszeit geht bis nächsten Juni. Das ist wichtig. Außerdem: seit 1976 im Vorstand des Zoos. Vorstandsmitglied beim Botanischen Garten, beim East-West-Gateway-Koordinierungsausschuss. Fördermitglied bei Channel 9. Das ist weniger wichtig. Wie man so sagt, tanzt er auf vielen Hochzeiten. Baxti hat einiges zusammengetragen. Alte Zeitungen durchgeackert, mit Leuten geredet …»

«Das hätte ich gern gehört.»

«Sein Englisch wird langsam besser. Der Globe-Democrat scheint in Probst einen Heiligen des American Way of Life zu sehen – vom Tellerwäscher zum Millionär. 1950 ein Niemand, in den Sechzigern Bauherr des Gateway Arch, parallel dazu der Rohbau des Stadions, dann noch eine ganze Reihe weiterer Projekte. Wenn das nicht bezeichnend ist.»

«Er streckt sich nach der Decke.»

«Tun wir doch alle.»

Singh gähnte. «Und er ist wirklich so wichtig.»

«Ja.» Jammu zwinkerte im Rauch der Nelkenzigarette. «Gähn mich nicht an. Er ist der Primus inter Pares beim Wachstumsverein, und wenn wir wollen, dass das Kapital in die Innenstadt fließt, sind das die Leute, die wir bearbeiten müssen. Er ist parteilos und in seiner Unbestechlichkeit wie Jesus. Er ist ein Symbol. Ist dir aufgefallen, wie sehr diese Stadt in Symbole verliebt ist?»

«Du meinst den Arch?»

«Den Arch, den Verschleierten Propheten, den ganzen ‹Spirit of St. Louis›-Mythos. Und Probst offenbar auch. Wir brauchen ihn, und sei es nur der Stimmen wegen, die er bringen wird.»

«Wann hast du das alles entschieden?»

Jammu zuckte die Schultern. «Ich hatte mich nicht weiter mit ihm befasst, bis ich letzte Woche mit Baxti sprach. Gerade hatte er Probsts Hund aus dem Weg geschafft, ein erster Schritt, Probst in die Krise –»

«Ach ja, die Krise.»

«Obwohl es bis dahin nichts als ein bloßer Terrorakt war. Immerhin, eine hübsche Aktion.»

«Ja?» Singh zupfte einen Fetzen Zigarettenpapier von der Zungenspitze, betrachtete es und schnipste es fort.

«Probst hat seinen Hund spazieren geführt. Baxti fuhr im Lieferwagen vorbei, und der Hund rannte ihm nach. Bei einer Firma für Medizinbedarf hatte Baxti eine Geruchsessenz aufgetrieben. Den Geruch läufiger Hündinnen. Dann einen Lappen damit getränkt und den Lappen vor der Hinterachse befestigt.»

«Hat Probst keinen Verdacht geschöpft?»

«Anscheinend nicht.»

«Was hindert ihn daran, einen neuen Hund zu kaufen?»

«Vermutlich hätte sich Baxti auch um den gekümmert. An dem Punkt musst du die Taktik überdenken. Dass Probst auf den Unfall offenbar nicht reagiert hat, ist für mich Grund genug, dass du ihn übernehmen sollst.»

Das Telefon klingelte. Es war Randy Fitch, der Vorsitzende des städtischen Haushaltsausschusses. Er teilte Jammu mit, er habe verschlafen und könne daher den Achtuhrtermin nicht einhalten. Freundlich und geduldig versicherte ihm Jammu, das sei nicht weiter schlimm. Sie legte auf. «Musst du diese Dinger hier drinnen rauchen?», fragte sie.

Singh öffnete das Fenster und warf den Stummel hinaus. Ein schwaches Flussaroma wehte mit dem Luftzug herein. Unten auf dem Tucker Boulevard fuhr ein Bus mit Gedröhn auf die Spruce-Street-Kreuzung zu. Die Morgensonne tauchte Singh in orangefarbenes Licht. Er sah aus, als würde er, ungerührt, eine gigantische Explosion verfolgen. «Weißt du», sagte er, «die Arbeit mit Buzzy und Bevy hat mir schon fast Spaß gemacht.»

«Da bin ich mir sicher.»

«Buzz bezeichnet Probst und dessen Frau als gute Freunde.»

«Wirklich?»

«Die Probsts finden sich ab mit Bev. Ich habe den Eindruck, dass es ‹nette› Leute sind. Zuverlässige.»

«Gut. Eine schöne Aufgabe für dich.» Jammu legte ihm den Ordner in die Hände. «Aber keine Mätzchen, verstanden?»

Singh nickte. «Verstanden.»