Nourig Apfeld

Ich bin Zeugin

des Ehrenmords an meiner Schwester

Mit einem Vorwort von Günter Wallraff

Die Namen der im Buch erwähnten Personen wurden geändert.

«Life is not a matter

of holding good cards,

but of playing

a poor hand well.»

ROBERT LOUIS STEVENSON

 

«Im Leben geht es nicht darum,

gute Karten in der Hand zu halten,

sondern mit schlechtem Blatt

gut zu spielen.»

Vorwort von Günter Wallraff

Über Gewalt wird noch immer mehr geschwiegen als offen gesprochen und angeklagt. Jedenfalls dann, wenn es um die Opfer geht. Und erst recht, wenn es Opfer familiärer Gewalt sind. Über Kindesmissbrauch und über Vergewaltigung in Beziehungen reden auch die Menschen im «aufgeklärten» Westen nicht oder viel zu selten – nicht nur die Täter, auch die Opfer und Zeugen schweigen in der Mehrzahl der Fälle. Die Dunkelziffer bei diesen Gewalttaten ist nach wie vor erheblich.

Nourig Apfeld hat mit diesem Buch ein Schweigegebot gebrochen, das in vielen Kulturen über familiärer Gewalt zu liegen scheint und dem sie sich selber viele Jahre lang unterworfen hat. Sie hat das Schweigen über den Mord an ihrer Schwester gebrochen, der als «Ehrenmord» gerechtfertigt wurde, und sie hat das Schweigen über ihre Zeugenschaft an diesem Mord gebrochen.

Nourig Apfeld arbeitet in ihrem Buch die Vorgeschichte dieses Mordes auf; sie lässt uns die sich immer auswegloser entwickelnde Dynamik nachempfinden, die auf die Tat zutreibt, sie lässt uns die Tragik nachempfinden, die im Mord an einer jungen Frau gipfelt. Sie tut das zornig und analysierend, von Trauer erfüllt und bedachtsam, entsetzt und gefasst. Sie tut das sogar mit Mitgefühl für ihre Eltern, die Täter und Opfer in einer sich immer gewalttätiger gestaltenden Familiensituation wurden. Nourig Apfeld richtet nicht. Sie berichtet nicht aus einem Gefühl der Rache. Sie will nicht weiter zerstören, wo schon viel zu viel zerstört wurde.

Erkennbar wächst in der Auseinandersetzung mit dem Mord an ihrer Schwester eine junge Frau über ihre Zeugenschaft hinaus – Nourig Apfeld ist Anklägerin, gewiss, aber auch Mahnerin, die uns Hoffnung macht, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen könne menschlicher werden, wenn wir über familiäre Gewalt mit all ihrer Vernichtungskraft offen sprechen.

Kinder und Frauen sind bis heute in allen Ländern der Erde bevorzugte Opfer von gewalttätigen Männern.

In den meisten Staaten und Regionen sind Gewalttaten gegen Kinder tabuisiert, jedenfalls, wenn sie das Maß der physischen Vernichtung erreichen und die Tat offenkundig wird. Erst dann werden sie vom Gesetz bekämpft, von der öffentlichen Meinung verurteilt und von den Tätern und Täterinnen in aller Regel wenigstens nachträglich bedauert.

Die Gewalt, über die Nourig Apfeld in diesem Buch schreibt, gehört einer anderen Kategorie an. Die im Mord an ihrer Schwester gipfelnde Gewalt wird in ihrer Familie nicht etwa nachträglich verdammt, sondern moralisch gedeckt und gebilligt. Das gilt ebenso für die vielen Grausamkeiten, die Schläge, die Demütigungen, die Sanktionen, die Zwangsverheiratung, die die Schamschwelle der Täter so weit herabgesetzt haben, dass diese letzte Tat möglich war. Die Autorin ist Zeugin eines «Ehrenmordes» geworden, und sie legt selbstkritisch Zeugnis über ihr langes Ringen ab, an dessen Ende sie das Schweigen über diese Tat endlich bricht.

Gewalt und schließlich Mord im Namen eines fehlgeleiteten und pervertierten Ehrbegriffs stellt den unverbrüchlichen Besitz von Männern an Frauen über deren Lebensrecht. Alltägliche Gewalt und Zwangsheirat töten schleichend, der «Ehrenmord» unmittelbar. Beides ist Mord im Brustton patriarchaler Überzeugung. Die UNO schätzt, dass jährlich 5000 «Ehrenmorde» begangen werden, in China, in Indien und Pakistan, in Ländern des Nahen Ostens, in Südamerika, in Afrika. In der Türkei fallen nach Polizeiangaben über 1000 Menschen (Frauen und Männer) jährlich dieser Tat zum Opfer. Ungeklärte Todesfälle, «Selbstmorde», um dem «Ehrenmord» zuvorzukommen, und Verschollene nicht eingerechnet. Hauptregion sind die kurdischen Gebiete im Osten und Südosten des Landes.

Der «Ehrenmord» ist aber auch in Europa angekommen – als Einfuhrartikel von Migranten, die ihre frauen- und kinderfeindliche Haltung aus ihrer alten in ihre neue Heimat importiert haben. In den letzten drei Jahren sind die in Deutschland angezeigten Taten um das Zehnfache gestiegen – sicherlich auch der allmählich zunehmenden Bereitschaft von Mitwissern und Zeugen zu verdanken, sich aus dem erzwungenen Schweigegelübde zu lösen. Mutige Autorinnen, die erst die öffentlichen und kontrovers geführten Debatten auslösten, haben dazu beigetragen.

Auch der Streit um die Ursachen ist in Europa angekommen. Ist der Islam schuld? Sind es überkommene Stammesstrukturen, die plötzlich erneut festigende Kraft für Migranten gewinnen, wenn sie in der modernen, für sie oft unüberschaubaren Welt des Westens nicht zurechtkommen? Ist es der ungebrochene Machismo traditioneller Gesellschaften, der auf weibliche Eigenständigkeit auch hierzulande nur mit Gewalt reagieren kann? Ist es begünstigt durch Demütigungen und ungerechte Lebensumstände von Migranten, die sich ein Ventil in Gewalttaten gegen Schwache aus den eigenen Reihen suchen?

 

Nourig Apfeld nimmt uns die notwendige Auseinandersetzung um all diese Fragen nicht ab. Sie berichtet. Sie wertet auch. Aber sie will kein letztes Wort sprechen. Sie liefert uns erschütternde Eindrücke und Ansichten über die von ihr erlebte Gewalt, zu der zuerst ihre Mutter greift, der sich nach und nach der Vater anschließt und die am Ende von ihren Cousins auf den Gipfel des Schreckens getrieben wird. Der Haupttäter schmückt seine Brutalität mit religiösen Phrasen. Aber ein regelmäßiger Moscheegänger ist er nicht, und auch die vorgeschriebenen fünf Gebete hält er nicht ein. Wäre er als eifernder «echter Muslim» weniger gefährlich geworden? Oder noch gefährlicher?

 

«Ehre ist», erklären auf einem Plakat zwei junge Männer, die alle Vorurteile über türkischstämmige Machos aufs wunderbarste bedienen – von der Frisur über das Kettchen bis zum grimmigen Blick –, «Ehre ist, für die Freiheit meiner Schwester zu kämpfen.» Ein beeindruckendes Projekt aus Berlin, das vor einigen Jahren für Aufmerksamkeit sorgte: «Ihre Freiheit – seine Ehre». Geblieben ist von der Kampagne nicht sehr viel, aber immerhin wird die Aufklärung gegen die Zwangsheirat fortgeführt, eine Methode der Frauenunterdrückung aus den genannten Regionen, die sicherlich weitaus häufiger vorkommt als der «Ehrenmord» und häufig in der schleichenden Vernichtung der betroffenen Frau endet. In Nourig Apfelds Familie war die Zwangsverheiratung die Vorstufe zum «Ehrenmord» an ihrer Schwester – so nah hängen beide Brutalitäten zusammen.

Kampagnen gegen Zwangsheirat gibt es heute in mehreren Bundesländern, Aufklärungsaktionen an Schulen finden statt, und ein Gesetzentwurf gegen die Zwangsheirat ist in Arbeit: Ein Anfang ist gemacht. Gesetzgeber und Zivilgesellschaft müssen gegen diese Gewalt weiterhin gemeinsam und öffentlichkeitswirksamer als bisher vorgehen. Das war auch in einem anderen Fall erfolgreich, das zeigt ein kurzer Blick zurück: Vergewaltigung – erst recht in der Ehe – war im Westen jahrhundertelang ein «Kavaliersdelikt». Die Erkenntnis, dass sie ein Verbrechen ist, hat in Deutschland erst seit den siebziger Jahren um sich gegriffen und wahrscheinlich noch immer nicht jeden Stammtisch erreicht.

 

Gewalt gegen Frauen und Kinder, Gewalt ganz generell im Umgang zwischen Menschen, muss gesellschaftlich tabuisiert werden. Dafür braucht die Gesellschaft authentische Berichte der Opfer. Nur so kann die heimliche oder offene Kumpanei mit den Tätern ein Ende finden. Statt ihrer müssen die Opfer in den Blick genommen werden, sie dürfen nicht länger beschwiegen werden. Beschöniger, Rechtfertiger und Gleichgültige müssen als das dastehen, was sie sind: Mittäter.

 

Und was ist mit dem Islam? Es gibt ihn nicht, jedenfalls nicht als einheitlich ausgelegte und ausgeübte Religion. Es gibt Muslime, die Gewalttaten gegen vermeintlich oder tatsächlich Schwächere verabscheuen. Es gibt Muslime, die solche Gewalt rechtfertigen, weil Muhammed angeblich dieses oder jenes in diesem Sinne von Allah eingeflüstert und offenbart wurde. Absurd! Es wäre ein schlechter Gott, der seine weiblichen und seine kindlichen Geschöpfe auf dem Altar männlicher Machtansprüche schlachten lässt. Der Gott, der Mord und Totschlag befiehlt und bejubelt, hat ausgedient. Er ist ohnehin nur ein Götze der Macht gewesen, mehr nicht. Das sollten auch Imame klarstellen, das sollte in Moscheen zum Thema werden, das muss in einem Islamunterricht gelehrt werden, der die hier geltenden Grund- und Menschenrechte nicht nur verbal und aus reiner Taktik heraus anerkennt.

 

Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen hat herausgefunden, dass die Korrelation bei jungen muslimischen Männern zwischen Gewaltbereitschaft, Machogehabe und Religiosität sehr hoch ist. «Je religiöser, umso gewaltrechtfertigender und -bereiter», so die Quintessenz der repräsentativen Umfrage.

«Die muslimische Religion», schlussfolgert der Direktor des Instituts Christian Pfeiffer, «fördert die Akzeptanz der Machokultur.» Religiosität als ideologische Rechtfertigung von Machtansprüchen und Männergewalt war auch hierzulande lange üblich. Die Aufklärung, die Gleichberechtigung und die noch längst nicht vollständig durchgesetzte individuelle Gleichheit mussten gegen diese religiös überhöhten Herrschaftsinteressen erkämpft werden. Dass diese Gesellschaft hinter diese historischen Erfolge nicht zurückgehen wird, müssen wir auch unseren muslimischen Mitbürgern klarmachen.

 

Nourig Apfeld hat ein mutiges Buch geschrieben. Sie beschönigt nichts, rechtfertigt nichts, geht mit sich selbst hart ins Gericht und schont auch die Einwanderungsgesellschaft und ihre Institutionen nicht. Was sie uns über den rassistischen Rektor erzählt, durch dessen Schule sie und ihre Geschwister gehen mussten, und was sie uns über eine Jugendamtsmitarbeiterin berichtet, die die Not der Familie und besonders der Kinder leugnete, im Namen der elterlichen Ehre und Macht – das verweist uns auf die «Bringschuld» dieser Gesellschaft Migranten gegenüber. Von Gleichstellung und gleichen sozialen Rechten können Ausländer ja nach wie vor oft bestenfalls nur träumen. Wo aber Gleichheit und Achtung fehlen, durchseuchen Ungleichheit und Verachtung alle Lebensbereiche, seien sie mitgebracht oder erst hier entstanden.

 

Es ist zu hoffen, dass Nourig Apfelds Buch weite Verbreitung findet: in der Zivilgesellschaft, insbesondere auch der «mit Migrationshintergrund», und in den Reihen von Politikern und Behörden, die gefordert sind, gemeinsam mit allen, die guten Willens sind, diesen ehrlosen Taten den Boden zu entziehen.

Die Königin von Saba

Ein auffälliger, eleganter, großer und von außen nicht sichtbar gepanzerter Wagen, dicht gefolgt von einem Polizeiwagen, passiert eines Nachmittags die Ortseinfahrt eines Tausendseelendorfs in der Nähe der ehemaligen Hauptstadt Bonn. Außer den Beamten des Personenschutzes der Polizei befindet sich darin eine junge, schwarzhaarige Frau. Nach ein paar weiteren hundert Metern erreicht sie ihr vorläufiges Ziel. Es liegt in einer Sackgasse, in der bereits die Polizei in einem Streifenwagen die Situation vor Ort in Augenschein genommen hat, um die Sicherheit der Schutzperson zu gewährleisten. Da vor Ort alles ruhig ist, darf mit der Schutzperson vorgefahren werden.

Die Polizeibeamten stehen einsatzbereit vor dem Haus, die beiden Bodyguards steigen aus und sondieren noch einmal kurz die Situation vor Ort, dann öffnen sie der jungen Frau die schwer gepanzerte Autotür. Der Fahrer des Wagens bleibt im Fahrzeug, für den Fall, dass eine Notsituation eintreten sollte und eine sofortige Flucht erforderlich wäre. Die Spannung ist bei allen Beteiligten wie immer sehr hoch, da alles Neue schwer kalkulierbar ist und mit allen Eventualitäten gerechnet werden muss. Die junge Frau steigt aus, bemerkt sofort die neugierigen Blicke der Nachbarn, die entweder schon in ihren Vorgärten stehen oder gerade noch schnell genug aus ihren Häusern stürmen, um Zeugen der Ereignisse zu werden. Allein der Polizeistreifenwagen ist in diesem Dorf eine Seltenheit und hat so seit seinem Eintreffen schon für einigen Gesprächsstoff gesorgt, nur weil er in der Sackgasse parkte. In den kleinen Ortschaften werden Polizisten eigentlich immer angesprochen. Sie werden dann regelrecht über eventuelle Gefahren ausgefragt; so auch hier.

 

Die junge Frau begrüßt hastig die Polizeibeamten, die sich überall aufgestellt hatten, um ihren Schutz zu gewährleisten.

Dann sieht sie ihre neue Gastgeberin Sabine, die sie wohlwollend und freudig anschaut. Sie haben sich schon vor vier Jahren am Arbeitsplatz flüchtig kennengelernt. Keine der beiden Frauen hat sich eine derartige Situation jemals vorstellen können. Nun begrüßen sie sich sehr herzlich und vertraut, denn sie wissen mittlerweile viel voneinander und haben großen Respekt vor dem Mut der anderen.

Sabine, 50 Jahre jung, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, berufstätig und glücklich verheiratet in zweiter Ehe mit Michael. Fröhlich, ausgeglichen und bodenständig wirkt sie auf Nourig, die selbst gehetzt, erschöpft und unendlich traurig ist.

Die junge Frau bringt mit Hilfe ihrer Bodyguards zügig ihre beiden großen Koffer und ihre Laptoptasche in die Einliegerwohnung. Dann weisen die Beamten beide Frauen noch in die gängigen Sicherheitsmaßnahmen ein. Während sie sich im Haus umschauen, merken sie sich alle «Notausgänge» und klären die beiden Frauen über korrektes Verhalten im Notfall auf. Sie sollen nachts die Türen und Fenster sichern, fremde, auffällige Personen melden, mit niemandem über Nourigs Situation sprechen. Dann werden die Telefonnummern und Geheimcodes bekanntgegeben, unter denen sofort Hilfe geholt werden kann.

Die Personenschützer verabschieden sich und halten sich noch eine Weile vor dem Haus auf, was von den neugierigen Nachbarn für eine Fragestunde genutzt wird. Sie erfahren jedoch nichts von den Beamten und ziehen sich schließlich enttäuscht in ihre Häuser zurück.

 

In den folgenden Tagen macht die Nachricht von der Ankunft der geheimnisvollen Ausländerin und ihren Begleitern im ganzen Dorf und darüber hinaus die Runde und sorgt fast für eine Art Aufruhr. Das hohe Polizeiaufkommen und die täglichen Fahrten der jungen Frau mit ihren Personenschützern in den großen Limousinen sprengen das Vertraute und beschäftigen die Dorfbewohner.

Die Gastgeber werden mit Fragen bombardiert, doch sie haben die Anweisung, über ihren Gast zu schweigen – anstrengend, zumal der Hausherr Michael eine Gastwirtschaft betreibt und manche Dorfbewohner auch seine Gäste sind.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht über die neue Untermieterin ausgefragt wird. Souverän geht er mit dem Drängeln seiner Gäste um und schweigt beharrlich. Indes steht auch die junge Frau unter ständiger Beobachtung der Nachbarn aus den umliegenden Häusern. Sie versuchen, die junge Frau in Gespräche zu verwickeln, und ein Nachbar, selbst mit einer arabischstämmigen Frau verheiratet, behauptet gar, schon über sie und ihre Geschichte Bescheid zu wissen.

 

Kurz darauf sind abends in der Gastwirtschaft die üblichen Stammgäste zugegen. Michael wird immer mehr von seinem Nachbarn, einem 78-jährigen Dirigenten im Ruhestand, bedrängt: «Hör mal, euer letzter Mieter war ja ein sehr netter Mann, aber wer ist denn die sympathische junge Frau, die jetzt in eurer Einliegerwohnung wohnt?»

«Kann ich keine Angaben zu machen.»

«Sie muss ja schon sehr wichtig sein, mit all dem Rummel.»

Michael ist entnervt, weil seine Gäste schon seit geraumer Zeit kein anderes Gesprächsthema mehr kennen. So sagt er schließlich:

«Also, ganz unter uns. Nun, das ist die Königin von Saba. Aber bitte behalte das für dich!»

«Ja, was macht denn die Königin von Saba bei euch? Nee, das gibt es doch nicht. Die kann sich doch bestimmt ein Hotelzimmer leisten.»

«Ach, die kann sich ein ganzes Hotel kaufen, wenn sie will!»

Der Dirigent schüttelt ungläubig den Kopf: «Warum sollte sie dann aber bei euch wohnen wollen?»

«Weil sie sich bei Freunden wohler fühlt als in einem Hotel.»

«Aber wo ist ihr Personal? Jemand wie sie ist es doch bestimmt gewohnt, dass ihr jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird …»

Kurz gerät der Wirt ins Stocken. «Die Königin möchte ihre Deutschkenntnisse verbessern. Außerdem ist sie es leid, ständig eine Extrawurst gebraten zu bekommen.»

«Ja, darauf wäre ich nie gekommen! Das erklärt auch, warum sie neulich mit dem Staubsauger in der Hand zugange war. Ein richtiger Bücherwurm ist sie und verbringt viel Zeit am Schreibtisch. Unglaublich, eine Königin hier bei uns …»

«Na siehste, da hast du ja schon allerhand beobachtet. Pass mir gut auf sie auf, unsere Königin soll sich wohlfühlen», erwidert Michael erleichtert.

Noch immer verwirrt, erinnert sich der Dirigent an den Anblick der Unbekannten, die so elegant gekleidet durch den Garten geschritten war, und er glaubt auch, majestätisch gegrüßt worden zu sein. Jetzt scheint alles einen Sinn zu haben: ihre Zurückgezogenheit und die ständigen Begleiter.

Zufrieden und mit stolzgeschwellter Brust verabschiedet sich der Dirigent und eilt nach Hause, um die Neuigkeiten seiner Frau zu erzählen.

 

Nach Feierabend sitzen der Wirt, seine Frau und ihr Gast zusammen, und er beichtet seine Ausrede von der Königin von Saba. Alle drei lachen Tränen. So sehr hat die junge Frau schon eine Ewigkeit nicht mehr gelacht; die Geschichte ist einfach zu schön. Und dass sie aus dem Munde des ernsten und verschwiegenen Michael kommt, macht die Sache noch besser.

Mit leeren Händen

Bonn-Muffendorf, 1979. Unser Taxi fuhr durch die kühle Septembernacht. Meine Mutter, meine kleine Schwester Waffa und ich drängten uns auf der Rückbank. Ich klemmte meine klammen Finger zwischen meine Oberschenkel und kämpfte dagegen an, dass mir immer wieder die Augen zufielen. Doch ich gestattete mir nicht zu schlafen, aus Angst, wir könnten den Weg zu meinem Vater nicht finden. Ich hatte ihn seit Beginn des Jahres, als er von Syrien wegging, nicht mehr gesehen.

Mit hohem Tempo raste der Wagen durch die Fremde, meine Mutter war angespannt und genauso erschöpft wie wir Kinder. Immerhin hatte sie, eine Analphabetin, uns ohne jegliche Fremdsprachenkenntnisse von Aleppo über Damaskus nach Deutschland gebracht. Am Köln-Bonner Flughafen hatte sie einem Taxifahrer einen Brief mit der Anschrift meines Vaters in die Hand gedrückt und ihm bedeutet loszufahren. Während der Fahrt wuchs meine Angst. Was würde passieren, wenn mein Vater nicht mehr in Bonn wohnte und wir alles umsonst hinter uns gelassen hatten? Was würden wir in diesem Land, dessen Sprache wir nicht sprachen, und ohne deutsches Geld tun? Wir wären verloren, wenn er nicht mehr in Bonn lebte. Würden uns die Menschen hier genauso schlecht behandeln, wie es die syrische Verwandtschaft meines Vaters in Aleppo getan hatte?

Wie gern hätte ich mich an meine Mutter gekuschelt und bei ihr Halt gesucht, aber das durfte ich nicht. «Dazu bist du mit deinen sieben Jahren schon zu groß», hatte sie mir vor einiger Zeit klargemacht. Denn bei uns endete die Kindheit mit ihren Rechten auf Trost und Anlehnung in diesem Alter. Das wusste ich und nahm mich also zusammen. Deshalb saß ich, wie schon im Flugzeug, so gut ich konnte aufrecht und still neben ihr. Es war der erste Flug in meinem Leben gewesen, und über den Wolken mischten sich in mir Aufregung, Neugier und Angst. Meiner Mutter und Waffa erging es nicht anders. Wir versuchten uns abzulenken, indem wir uns gegenseitig auf Dinge hinwiesen, die wir noch nicht kannten. Unsere Mutter ermahnte uns wie immer, uns anständig zu benehmen und ruhig zu sein. Es war uns ohnehin untersagt, viel zu reden – und so stellten wir generell nur selten Fragen. Ich war ein sehr stilles Kind, und für mich war Schweigen einfacher als für meine Schwester.

Meiner Mutter war der Abschied von ihrer Familie schwergefallen. Sie liebte sie und hatte viel geweint, als ob sie bei unserem Weggang schon geahnt hätte, dass sie sich in diesem Leben nie wiedersehen werden. Wir Kinder waren verwirrt, da wir nicht wussten, was um uns herum geschah. Niemand hatte uns erklärt, welche Veränderungen auf uns zukommen werden.

 

Nach einer mir endlos erscheinenden Reise hatten wir Bonn-Bad Godesberg erreicht. Es war schon kurz vor Mitternacht, als der Taxifahrer im Stadtteil Muffendorf in eine Hofeinfahrt einbog und den Wagen zum Stehen brachte. Er versuchte sich mit meiner Mutter zu verständigen – ohne Erfolg –, dann stieg er aus und ging zur Haustür des gepflegten Einfamilienhauses vor uns. Dies war die Adresse, die als Absender auf allen Briefen gestanden hatte, die wir in Syrien erhalten hatten. Wir waren immer davon ausgegangen, dass mein Vater in diesem Haus eine Wohnung angemietet hatte. Der Taxifahrer klingelte, bis im Haus mehrere Lichter angingen. Eine ältere Dame und eine junge Frau öffneten die Tür. Unser Chauffeur zeigte ihnen den Briefumschlag, und sie schienen sofort zu wissen, worum es ging. Wenige Minuten später kehrte er in Begleitung der jungen Frau zum Wagen zurück. Sie sah uns durch das heruntergelassene Wagenfenster an, zeigte auf sich selbst und sagte: «Iris.» Es gelang ihr mit Gesten, uns zu verstehen zu geben, dass sie die Nachbarin meines Vaters ist. Sie öffnete die Wagentür und bedeutete uns, auszusteigen und ihr zu folgen. Während wir aus dem Auto kletterten, beglich die ältere Dame die Taxirechnung. Wir besaßen kein deutsches Geld. Der Fahrer stellte die zahlreichen Gepäckstücke auf die Straße und fuhr davon.

Iris erklärte uns, mein Vater wohne nicht in diesem Haus. Mit Gesten und in Zeichensprache machte sie dann deutlich, dass er gerade nicht da ist, sondern bei einem Weinfest mit Freunden. Sie nahm einen Schlüssel und ging durch die Nacht uns voraus über den Hof. An einer steilen Außentreppe hielt sie inne und deutete auf eine Tür am Ende der Treppe. Die dunklen Backsteinbauten und die Fachwerkhäuser in dieser Anlage machten mir Angst, aber ich folgte den Erwachsenen die Treppe hinauf bis in das Zimmer, das wir in den folgenden vier Jahren bewohnen sollten. Es hatte nur zwei kleine Dachluken und war eng und dunkel. Die Dielen knarrten unter unseren Schritten, und die dunklen Holzmöbel ließen den Raum noch düsterer erscheinen.

Meine Mutter traute ihren eigenen Augen nicht. Eine solche Enge hatte sie nicht erwartet. Sie legte die schlafende Waffa in eines der beiden Betten, dann gingen wir wieder hinunter und holten unser Gepäck nach. Iris zeigte uns bei der Gelegenheit die Toilette im Erdgeschoss unterhalb des Treppenaufgangs. Ich war sehr froh, dass sie sich freundlich und hilfsbereit um uns kümmerte, und mochte sie auf Anhieb, auch wenn ich ihre Sprache nicht verstand. Alles um mich herum war mir fremd. Kohleofen, Herd und Kühlschrank schienen wie von einer anderen Welt. Ich wagte nicht, mich hinzusetzen, geschweige denn, wie meine Schwester zu schlafen. Zwar war ich todmüde, doch insgeheim freute ich mich schon so auf die Rückkehr meines Vaters, dass ich vor Aufregung und Vorfreude beschloss, einfach stehen zu bleiben.

Auf einmal wurde die Tür ganz vorsichtig von außen geöffnet. Zwei Männer standen in der Tür, und ich bekam es mit der Angst. Einige Sekunden verharrten wir alle reglos voreinander – die beiden Männer hatten wohl mit Einbrechern gerechnet, als sie Licht in ihrem Zimmer sahen. Sie waren auf alles gefasst gewesen, nur nicht auf uns. «O mein Gott, ihr seid es!», brach es aus dem Älteren heraus, und Tränen schossen ihm in die Augen. Erst jetzt erkannte ich ihn: Es war mein Vater. Überwältigt umarmte er meine Mutter und mich, während Waffa weiterschlief. Er freute sich so sehr, dass er fast vergaß, uns seinem Freund und Mitbewohner vorzustellen, den er dann umgehend bat, zu einem anderen Freund zu ziehen.

 

Meine Eltern waren glücklich, wieder vereint zu sein. Ich fremdelte noch und hielt Distanz zu meinem Vater. «Verzeiht, dass ich euch nicht in Empfang nehmen konnte, aber ich hatte nicht so früh mit euch gerechnet», entschuldigte er sich. Meine Mutter hatte ihm aus Syrien nicht den genauen Termin unserer Reise nennen können, denn es war lange nicht klar gewesen, wann wir ein Visum für Deutschland bekommen werden. Als wir endlich die Ausreisegenehmigung in Händen hielten, musste alles sehr schnell gehen. Und da mein Vater kein Telefon besaß, konnten wir ihn nicht kurzfristig informieren. So hatte er keine Gelegenheit, sich auf unsere Ankunft vorzubereiten.

Meine Eltern hatten während der Trennung meist über Hörkassetten miteinander kommuniziert. Meine Mutter konnte weder lesen noch schreiben, und dies war eine gängige Methode für Analphabeten, miteinander in Verbindung zu bleiben. Sie schickte später ihrer Familie in Syrien im Laufe der Jahre oft selbst besprochene Bänder; darauf erzählte sie nur wenig von ihrem neuen Leben, meist stellte sie Fragen nach ihrer Familie in der alten Heimat. Von dort erhielten wir ausführliche Tonberichte zurück. In den ersten Jahren freute ich mich über diese Post, aber mit der Zeit langweilte sie mich. Meine Mutter spielte die Kassetten oft ab, sie sehnte sich sehr nach ihrer Familie und litt anfangs genau wie wir unter der Isolation hier.

 

Mein Vater bereitete nun eilig eine Kleinigkeit für uns zu – syrischen Bauernsalat, Oliven, Melone, Schafskäse und Hackfleisch mit Rührei in Joghurtcreme. Erst jetzt merkten wir, wie hungrig wir waren. Wir setzten uns um einen kleinen Tisch, und meine Eltern erzählten sich viele Neuigkeiten. Und ich mochte das Essen nicht, alles duftete und schmeckte anders als zu Hause.

Mein Vater war stolz auf seine Frau und zeigte sich beeindruckt von ihr, weil sie ohne Deutschkenntnisse den Weg zu ihm gefunden hatte. Ich spürte, wie erleichtert er war, dass wir das Jahr ohne ihn gut überstanden und die Reise unbeschadet bewältigt hatten, denn er wusste genau, wie schwierig es für ihn war, sich in einem fremden Land zurechtzufinden.