Hiltrud Leenders

Michael Bay

Artur Leenders

Augenzeugen

Roman

 

Der Zebrastreifen 

Er spürt das Auto, bevor er es sieht.

Aber sie schiebt den Kinderwagen beschwingt auf die Straße, ihren lächelnden Blick auf das kleine Gesicht geheftet.

Kein Bremsenquietschen, keine gellenden Schreie. In Totenstille wird der Kinderwagen vom Kühler erfasst und hochgeschleudert.

Sie lässt ihn nicht los, klammert sich fest.

Das Baby, ihr Baby, wirbelt durch die Luft wie toll. Totenstille. Nur ihre aufgerissenen Augen, als sie auf die Straße schlägt und der schwarze Reifen über ihren Kopf rollt.

Der Wagen verschwindet um die Ecke, kein Bremsenquietschen, keine gellenden Schreie.

Vor seinen Füßen ein blutiges Bündel ohne Gesicht – sein Kind.

Eins

«Sie wissen doch bestimmt, wer das ist», meinte Look, der Kollege von der Schutzpolizei, mit gewitztem Blick.

Helmut Toppe, Leiter der Klever Mordkommission, nickte – er hatte das Opfer gleich erkannt. Langsam ging er neben dem Toten in die Hocke und legte ihm die Fingerspitzen an den Hals – warm.

«Ja, lang ist der noch nicht hinüber», sagte Look. «Der Doktor hat es noch versucht, aber da war wohl nix mehr drin. Der war übrigens eher hier wie wir, der Doktor, und er wartet da vorne.»

Toppe kam wieder auf die Beine und sah auf die Uhr: 16 Uhr 25. Der Notarzt stand beim Brückenpfeiler und sprach mit den beiden Rettungssanitätern.

«Hat der Arzt ihn aus dem Auto geholt?»

«Nee, nee, der lag schon hier, sagt der Doktor, ziemlich genau da, wo er jetzt liegt.»

Toppe betrachtete das Autowrack, neben dessen offener Fahrertür der Tote im Staub lag.

Der Wagen war offensichtlich mit hoher Geschwindigkeit frontal gegen ein massives Absperrgitter geprallt.

Obwohl Toppe sicher Hunderte von Malen über die Emmericher Rheinbrücke gefahren war, hatte er diesen schmalen Weg aus groben Betonplatten nie bemerkt. Er verlief in einem leichten Bogen parallel zum Oraniendeich unter der Brückenauffahrt hindurch am Flussufer entlang, das jetzt, wo der Rhein Niedrigwasser hatte, mehr als hundert Meter entfernt war. Kurz bevor der Weg wieder zum Deich hinaufführte, bog ein kleiner Pfad scharf ab und lief geradeaus auf den Fluss zu. Der Pfad war gesperrt, und genau diese Absperrung hatte der Fahrer erwischt, obwohl sich rechts und links davon meilenweit flache, unbegrenzte Wiesen hinzogen.

Toppe runzelte die Stirn. «Wozu dient dieser Weg eigentlich?»

«Die Leute sagen Pontonstraße dazu», erklärte Look eifrig. «Ist eigentlich nur für Militär, dass die Pioniere hier eine Notbrücke bauen können, im Fall des Falles. Wird aber auch gern von Kennern benutzt, die keinen Bock haben, stundenlang oben an der Kreuzung zu stehen. Ah, gut», Look beschattete die Augen mit der Hand, «da sind ja auch endlich die Spurensicherung und Freund Norbert.»

Toppes Kollege Norbert van Appeldorn kam den Weg heruntergeschlakst, wie immer ohne Eile, hinter ihm der Mann vom Erkennungsdienst, Klaus van Gemmern, mit seinen beiden schwarzen Koffern.

Van Appeldorn und Toppe wechselten einen kurzen Blick. «Geldek», sagte Toppe und wies mit dem Kinn auf den Toten.

Norbert van Appeldorn bleckte die Zähne. «Na, guck mal an!» Er schaute sich gründlich um und schüttelte dann den Kopf. «Warum hast du uns eigentlich anrollen lassen?»

Eine zarte Röte kroch Look vom Hals hinauf in die Wangen. «Gibt keine Zeugen, was hier passiert ist», haspelte er, wurde aber schnell wieder ruhig. «Ich weiß, es sieht wie ein Unfall aus. Hab ich ja auch erst gedacht. Obwohl, dann wär es doch wohl eher Selbstmord gewesen. Der ist von Griethausen her gekommen und musste ganz scharf nach links, wenn er das Gatter erwischen wollte, und groß gebremst hat er auch nicht. Aber dann hab ich was gefunden. Kommt mal mit.» Er führte sie acht, neun Meter vom Toten weg und zeigte ihnen eine dunkle Bremsspur. «Die ist eindeutig von einem anderen Auto, wenn man sich die Profile anguckt, und für mich sieht die frisch aus. Und dieser Wagen kam aus der Gegenrichtung, da oben vom Coprayer Hof runter.»

«Na ja», meinte van Appeldorn gedehnt, und auch Toppe schaute skeptisch. Look war kein schlechter Polizist, aber er war nicht unbedingt der hellste.

Dessen Blick wurde trotzig. «Und der Doktor hat auch noch was entdeckt.»

Der Notarzt war nicht mehr ganz jung und angenehm kompetent. «Um 15 Uhr 37 hat uns ein Passant benachrichtigt – Unfall auf der Pontonstraße –, und wir waren fünf, sechs Minuten später hier. Wir hatten’s ja nicht weit. Der Mann lag neben der Fahrertür auf der Seite und hatte bereits keine Vitalfunktionen mehr. Wir haben trotzdem reanimiert, leider erfolglos.»

«Können Sie sagen, woran er gestorben ist?», wollte Toppe wissen, als sie sich beide über den Toten beugten.

«Nein, nicht mit Sicherheit. Der Mann hat zahlreiche Verletzungen, aber möglicherweise ist er einem Schädelhirntrauma erlegen. Sehen Sie hier.» Der Arzt deutete auf eine tiefe Wunde oberhalb der linken Schläfe des Toten. «Natürlich kann er sich diese Verletzung beim Aufprall zugezogen haben, vielleicht ist er aus dem Fahrzeug geschleudert worden. Da ist nur eine Sache …»

Behutsam drehte er die linke Hand des Toten so, dass man die Außenfläche sehen konnte. Über alle vier Finger und den Handrücken zogen sich tiefe, blaurote Zahnabdrücke.

Van Appeldorn gab einen leisen Pfiff von sich. «Alle Achtung!»

Der Arzt lächelte ein bisschen verlegen. «Es kann natürlich sein, dass der Mann sich vor Schreck oder in Panik selbst in die Hand gebissen hat, aber das will mir nicht so recht in den Kopf.»

Toppes Kommentar dazu ging in lautem Bremsenquietschen unter, das von der Brücke her kam. Auch auf dem Deich hatten inzwischen Autos angehalten, und Neugierige versuchten, sich einen Reim zu machen auf das Bild, das sich ihnen bot.

«Wie wär’s denn mal mit Absperren, Jungs?», rief van Appeldorn, aber Look telefonierte schon um Verstärkung.

Klaus van Gemmern, der die ganze Zeit unauffällig mit der Spurensicherung beschäftigt gewesen war, hatte offenbar gute Ohren. Er war jetzt dabei, dem Toten Plastiktüten über die Hände zu ziehen, damit keine möglichen Spuren verwischt wurden. Dann nahm er seine Kamera und machte, langsam die Leiche umrundend, weitere Aufnahmen. Sie sahen, wie er plötzlich innehielt und sich über die hintere Stoßstange des Unfallwagens beugte.

«Ist was?», rief van Appeldorn.

Van Gemmern drehte sich widerwillig um – er hasste es, wenn man ihn bei der Arbeit störte. «Weiß ich noch nicht. Lasst den Wagen einschleppen. Da gibt’s was abzuklären. Ach ja, und sagt denen in der Pathologie, bevor die die Leiche waschen, erst die Hände! Man weiß ja nie, wer Dienst hat.»

Toppe nickte. «Ich wette, der legt wieder eine Nachtschicht ein», meinte er leise.

Van Appeldorn zuckte die Achseln. «Wenn man sonst nichts hat im Leben … Ich wäre ihm aber durchaus dankbar, wenn er uns schnell was liefern würde, denn im Augenblick passt hier nichts so recht zusammen.» Der Wind wehte ihm das lange schwarze Haar in die Augen.

Helmut Toppe zündete sich eine Zigarette an. «Lass uns mal den ganzen Weg abgehen.»

Aber auch als sie eine halbe Stunde später wieder neben Toppes Auto standen, waren sie nicht schlauer geworden. Toppe gab die Kurzwahl für die Prosektur in Emmerich in sein Handy ein. «Ich rufe erst mal Arend an und frage, wann er die Sektion machen kann.»

Mit Arend Bonhoeffer, dem Chef der Pathologie, war er seit vielen Jahren befreundet, aber in den letzten Monaten hatten sie sich kaum gesehen. Bonhoeffer freute sich. «Dass du dich mal meldest! Ach so, beruflich. Nein, kein Problem, den kann ich mir gern noch heute vornehmen. Ich habe jetzt gleich allerdings noch einen Termin, hm, sagen wir gegen halb acht? Und komm doch selbst dazu. Vielleicht können wir hinterher noch ein Glas Wein zusammen trinken. Wann gebt ihr eigentlich endlich eine Einweihungsparty?»

«Wir sind doch noch gar nicht richtig zu Hause», antwortete Toppe säuerlich.

Van Appeldorn hatte währenddessen mit dem Bestatter telefoniert, der den Leichnam in die Prosektur bringen sollte. «Willst du bei der Obduktion dabei sein, oder soll ich dir das abnehmen?», fragte er und grinste frech – sie kannten ihre jeweiligen Schwächen.

Aber Toppe überraschte ihn. «Ich mach das schon. Du kannst inzwischen Geldeks Witwe benachrichtigen und rauskriegen, warum der hier unterwegs war.»

Van Appeldorn zog die Augenbrauen hoch. «Ich bin davon ausgegangen, dass du das übernimmst. Du kennst die Dame schließlich, ich nicht.»

«Eben drum.» Jetzt grinste Toppe. «Sollte Arend was Wichtiges finden, ruf ich dich an», sagte er und stieg ins Auto. «Ich denke, ich fahr nochmal kurz nach Hause.»

 

Im Schritttempo rollte er den Betonweg entlang und betrachtete den unruhigen Himmel, der nicht zu wissen schien, was er wollte – dunkelgraue und schneeweiße Wolkengetüme, dazwischen blaue Flecken mit dahineilenden Federwölkchen. Es war viel zu kühl für Anfang August, und den ganzen Tag waren kurze Schauer niedergegangen. Noch vor einer Woche waren es an die dreißig Grad gewesen, aber er hatte darüber nur geflucht und schwitzend mit Teppichrollen, Farbeimern und Möbelstücken gekämpft. Fast ihr ganzer Jahresurlaub war für den Umzug draufgegangen, Astrids und seiner.

An der Kreuzung hielt Toppe an und kurbelte das Fenster herunter. Der Rhein roch frisch, angenehm vertraut.

Sein wievielter Umzug war das nun gewesen? Er dachte an die verschiedenen Stationen seines Lebens und rechnete – der neunte –, und so, wie es aussah, der einzige, auf den er wirklich gern verzichtet hätte. Ob er sich in dem Reihenhaus in der spießigen Schröderstraße jemals zu Hause fühlen würde?

Endlich konnte er sich in den dichten Verkehr Richtung Kleve einfädeln.

Er dachte an ihre Wohngemeinschaft auf dem Bauernhof zurück, die sie hatten aufgeben müssen, und spürte einen Anflug von Wehmut. Die WG, die ihn in dieser Kleinstadt so in Verruf gebracht hatte: er zusammen mit seiner Geliebten Astrid Steendijk, mit seiner Ex-Frau Gabi und den beiden Söhnen. Helmut Toppe, der Casanova, der gleich zwei Frauen hatte. Tja 

Als Gabi und er sich getrennt hatten, war er schon eine ganze Weile mit Astrid zusammen gewesen, die als Küken ins KK 11 gekommen war. Dass die beiden Frauen hinter seinem Rücken Freundinnen geworden waren, hatte ihn schockiert und verunsichert. Er hatte sich verraten gefühlt. Und als sie ihm dann auch noch stolz den Bauernhof präsentierten, den man günstig kaufen konnte, und mit der Wohngemeinschaftsidee gekommen waren – weil es doch viel besser war für die Kinder und überhaupt ein großes Abenteuer –, hatte er alle Stacheln aufgestellt. Und dann war es die beste Zeit seines Lebens geworden. Auch als Henry dazugekommen war, Gabis neuer Freund, und natürlich Katharina, die Tochter, die Astrid und er nur halb geplant in die Welt gesetzt hatten.

Nach der Kurve hinter Warbeyen tauchten plötzlich die vertrauten Silhouetten der Schwanenburg und der Stiftskirche vor ihm auf, hoch oben auf dem Berg, der sich, wenn man vom Rhein her auf die Stadt zufuhr, ganz unvermittelt aus der Niederung erhob.

Seit fast dreißig Jahren lebte er jetzt in Kleve. Entwickelte er so langsam Heimatgefühle?

Er hatte ihren Bauernhof gemocht, das Haus, den alten Obsthof, den Gemüsegarten, die Schafe, die Hühner und besonders sein Zimmer mit dem großen Kamin und all seinen Büchern. Die Küche, in der jeder mal für alle gekocht hatte, in der man zusammenkam. Das Provisorische, das Unberechenbare. Christian und Oliver, seine beiden Jungen, waren nacheinander aus dem Haus gegangen, aber das hatte nicht allzu viel verändert. Vor fünf Monaten hatte man Henry eine Stelle in Wien angeboten, die er nicht ausschlagen wollte, und Gabi war ihm mit Freuden gefolgt. Von nichts auf gleich hatten sie den Hof verkauft, und von dem, was nach dem Abzahlen der Schulden für ihn und Astrid übrig geblieben war, hatten sie sich so gerade eben das kleine Reihenhaus leisten können.

Als er in die Schröderstraße einbog, wurde ihm die Kehle eng: fünfundfünfzig Jahre alt, und er war wieder genau dort, wo er vor mehr als zwanzig Jahren schon einmal gewesen war, Vater, Mutter, Kind, vier Zimmer, Küche, Diele, Bad und Gästeklo.

Er ließ den Wagen neben dem winzigen Vorgarten ausrollen, der mit seiner Konifere und den drei verhungerten Dahlienstauden noch deutlich die Handschrift des Vorbesitzers trug.

Als er ausstieg, schallte ihm Astrids gereizte Stimme vom offenen Badezimmerfenster oben entgegen: «Jetzt bleib bitte da sitzen und rühr dich nicht!»

Dann seine fröhliche Tochter: «Fein gemacht?»

«Nein, das hast du gar nicht fein gemacht, verdammt nochmal!»

Toppe seufzte stumm und schloss die Haustür auf – braunes Alu mit Strukturglas.

«Helmut? Komm rauf und hilf mir! Katharina hat das ganze Bad unter Wasser gesetzt. Und bring noch einen Aufnehmer mit.»

Astrid hockte auf dem Boden, klatschte den Aufnehmer in die Überschwemmung und wrang ihn über dem roten Eimer aus. Sie trug nur ein T-Shirt und einen knappen Slip, ihr langes, dunkles Haar war zerzaust, und er spürte, wie Begehren in ihm aufflackerte.

Katharina saß, rosig und feucht, eingemummelt in ein Badetuch, auf dem Klodeckel und baumelte mit den Beinen. «Mama is sauer», stellte sie sachlich fest.

«Das kann man wohl sagen!» Astrid funkelte Toppe so wütend an, dass dieser schnell sein Jackett auszog, es über das Treppengeländer warf und den zweiten Aufnehmer zückte.

«Wie ist das denn passiert?»

«Na, wie schon? Ich setze sie in die Wanne, und natürlich klingelt das Telefon. Ich war höchstens drei Minuten draußen, aber in der Zeit hat deine Tochter beschlossen, die Wanne müsse mal ordentlich geputzt werden, und zwar von außen, mit der Brause!»

«Warum hast du denn mit dem Baden nicht gewartet, bis ich komme? Wir gehen doch gern zusammen in die Wanne.» Toppe verkniff es sich, seiner Tochter zuzuzwinkern.

Astrid strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihn an. «Ich hatte heute einfach keine Lust auf ein langes Gesicht. Du kannst es doch nicht leiden, wenn sie nach Pferd riecht.»

«Ach, deine Eltern mal wieder», meinte er nur und leerte den Eimer über der Badewanne aus.

Seit ein paar Monaten holten Astrids Eltern ihre Enkelin nachmittags ein-, zweimal in der Woche von der Tagesstätte ab, um mit ihr zu einem Ponyhof zu fahren. Astrids Eltern, erfolgreiche Fabrikanten, Klever Hochadel, die es nie akzeptiert hatten, dass ihre Tochter mit einem sechzehn Jahre älteren Habenichts zusammenlebte, immer noch ohne Trauschein. Die es nicht nachvollziehen konnten, dass ihr einziges Kind gern bei der Kripo war und auch mit Baby von Anfang an Vollzeit arbeiten wollte. Wenn sie auch Toppe geflissentlich aus dem Weg gingen, ihre Enkelin hatten sie immer geliebt, und je älter Katharina wurde, umso mehr bemühten sie sich um engen Kontakt.

«Ja.» Astrid stand auf und sah ihn bedrückt an. «Ich sag’s dir besser gleich. Sie haben ihr heute ein eigenes Pony gekauft.»

Katharina gluckste zufrieden. «Niko!»

Toppe stellte den Eimer ab und drehte sich weg. «Wir sollten bald essen. Ich muss gleich nochmal los.»

Zwei

Norbert van Appeldorn hatte es nicht eilig. Er rauchte noch eine Zigarette, fachsimpelte eine Weile mit Look über die Fusion der beiden traditionsreichsten Klever Fußballclubs, ein Ereignis, das in der Stadt immer noch hohe Wellen schlug, rauchte noch eine, half van Gemmern beim Zusammenpacken. Erst als der Bestatter kam, um den Toten abzuholen, machte er sich auf den Weg zu Geldeks Witwe.

Vor elf Jahren war Geldek mit dem Gesetz in Konflikt geraten, aber da hatte van Appeldorn gerade Erziehungsurlaub gehabt und nicht an dem Fall mitgearbeitet, doch kannte er die Geschichte, und er kannte Geldek. Jeder in Kleve kannte Eugen Geldek. Vom argwöhnisch beäugten, wenn auch schwerreichen, so doch halbseidenen Baulöwen und Spielhöllenbetreiber aus dem Ruhrgebiet hatte er es über die letzten Jahre – durch verschiedene Investitionen und wohltätige Spenden – am Niederrhein zu einigem Ansehen gebracht und war sogar Kulturpreisträger der Stadt geworden. Geldeks Frau hatte van Appeldorn nie getroffen. Obwohl sie, wie er sich zu erinnern glaubte, maßgeblich an Geldeks Unternehmen beteiligt war, hielt sie sich im Hintergrund und mied die Öffentlichkeit.

Van Appeldorn bremste auf der Deichkrone in Brienen ab.

An der Schleuse lungerten ein paar Halbwüchsige herum, rauchten vor sich hin. Einer von ihnen schwang sich aufs Geländer, kippelte kurz, breitete dann die Arme aus und tänzelte zur anderen Seite hinüber. Seine Kumpel spendeten müden Beifall.

Van Appeldorn zuckte die Achseln – bestimmt machten die das nicht zum ersten Mal – und bog in den Privatweg ein, der zu Geldeks weißem, reetgedeckten Landhaus führte. Das Grundstück war von einer efeubewachsenen, gut zwei Meter hohen Mauer umgeben. Man munkelte, dass es Tennisplätze gab, einen Pferdestall und natürlich einen Pool, aber von dem schmiedeeisernen Tor aus, an dem er den Wagen anhielt, konnte man davon nichts sehen.

Neben dem Torpfosten war eine Gegensprechanlage eingebaut. Van Appeldorn legte den Finger auf den Klingelknopf, und augenblicklich stürmten zwei junge Rottweiler heran und sprangen gegen die Gitterstäbe. Sie machten ein derartiges Spektakel, dass man die matte Stimme, die aus dem Lautsprecher kam, kaum hörte.

«Van Appeldorn, Kripo Kleve», setzte er an, wurde aber sofort unterbrochen:

«Augenblick!»

Sekunden später ertönte ein greller Pfiff, die Hunde verschwanden, und mit einem leisen Summen öffnete sich das Tor.

Die Frau blickte ihm von der offenen Haustür unbewegt entgegen, während er den Plattenweg heraufkam. Sie trug weite, schwarze Hosen und ein kurzes, kastenförmiges Oberteil mit übergroßem Hahnentrittmuster in Schwarz und Weiß. Ihr stahlgraues Haar war zentimeterkurz, ihr Gesicht mager und tief gebräunt. Es war nicht leicht, ihr Alter zu schätzen, Mitte fünfzig vielleicht.

«Martina Geldek?» Van Appeldorn ließ sich mustern.

«Ganz recht.»

Wieder die matte Stimme, aber ihre hellgrauen Augen blickten kühl und berechnend. Er fühlte Erleichterung. Es kostete immer Überwindung, jemandem eine Todesnachricht zu überbringen, aber diese Eiskönigin würde wenigstens nicht zusammenklappen.

«Wenn Sie zu meinem Mann wollen, haben Sie Pech. Er ist heute bei einem Geschäftspartner in Duisburg.»

«Nein, Frau Geldek, das ist er nicht.»

Van Appeldorn hatte sich getäuscht. Kaum dass er seine wohl überlegten Sätze gesprochen hatte, fand er sich neben der ohnmächtigen Frau am Boden hockend wieder und telefonierte hektisch nach dem Notarzt. Ein paar Minuten später hatte er sie zumindest so weit, dass er sie auf eines der weißen Ledersofas im Wohnraum legen und ihr ein Glas Wasser einflößen konnte. Sie wand sich am ganzen Körper, hatte ihre knochigen Hände mit den weißlackierten Fingernägeln aufs Gesicht gepresst und wimmerte. Heute würde van Appeldorn nichts über Eugen Geldek erfahren.

 

Jetzt am Abend hatte es sich endgültig eingeregnet. Es war schon nach acht, als Toppe Emmerich erreichte. Er war müde, und er sehnte sich nach Sonne und Meer, einer einsamen Bucht und leichten Gedanken. Der Rotwein zum Abendessen hatte ihm nicht gut getan, aber Astrid war es offenbar wichtig gewesen, das hastig gekochte Nudelgericht damit aufzuwerten, und so hatte er ihn widerwillig getrunken.

Bonhoeffer hatte mit der Sektion nicht auf ihn gewartet. Er hatte den Körper bereits geöffnet und war gerade mit dem Schädel beschäftigt. Die Anwesenheit eines Kripomannes war zwar vorgeschrieben, wenn sie eine Leichenöffnung angeordnet hatten, aber unter Freunden nahm man es nicht so genau. Bonhoeffer fragte auch nicht nach dem Grund für Toppes Verspätung, worüber dieser froh war, denn er hätte keine vernünftige Antwort gehabt. Nach dem Abendbrot hatte er angefangen, seine Bücherkisten auszuräumen, und dabei nicht auf die Zeit geachtet.

Bonhoeffer sah nur kurz auf. «Zieh dir Handschuhe an, du kannst mir ein bisschen helfen.»

«Bist du verrückt geworden?» Toppe machte ein paar hastige Schritte zurück.

«Hab dich nicht so.» Der Pathologe schmunzelte nachsichtig. «Du sollst mir ja nur mal das ein oder andere Instrument angeben. Ich konnte keinen hier überreden, länger zu bleiben.»

Toppe griff sich ein Paar Gummihandschuhe und trat an den Tisch. «Was hast du bis jetzt?»

«Einiges. Erst einmal, aber das siehst du ja selbst, haben wir ein Hämatom, das von der linken Schulter schräg über den Thorax bis zu den rechten vorderen Rippen verläuft.»

«Gurtverletzung», nickte Toppe.

«Er ist mit dem Wagen frontal gegen ein Gitter geprallt, sagst du. Das würde die Einblutung in die Halsmuskulatur erklären. Sie weist auf eine HWS-Distorsion zweiten Grades hin, Schleudertrauma. Ich nehme an, die Kopfstütze war zu niedrig. Van Gemmern sollte das nachprüfen. War übrigens der Motorblock ins Wageninnere gedrückt worden?»

«Nein.»

«Dann würde ich sagen, unser Freund hier hat einen kräftigen Tritt in die Eier gekriegt. Siehst du das Hämatom dort am Skrotum?»

«Einen Tritt in die Eier?», wiederholte Toppe verblüfft.

«Ja, es weist so einiges darauf hin, dass er eine Schlägerei hatte, wie zum Beispiel der gebrochene Unterkiefer links.»

«Und das Veilchen am linken Auge», bemerkte Toppe.

«Richtig! Wobei das unter Umständen auch auf einen Schädelbasisbruch deuten könnte. Aber das werden wir gleich noch überprüfen.»

Toppe hatte mittlerweile seine ärgste Abneigung überwunden und stand jetzt dicht am blitzenden Metalltisch. «Was ist mit seiner rechten Hand?»

«Gut beobachtet. Distale Radiusfraktur, Typ Smith, nach agonalem Sturz auf den Handrücken.»

Toppe stutzte und versuchte sich das vorzustellen. «Wie stürzt man denn auf den Handrücken?»

«Agonal», grinste Bonhoeffer.

«Meinst du, er war nicht bei Bewusstsein, als er hinfiel?»

«Möglich, ziemlich wahrscheinlich sogar. Auf alle Fälle ist er auf die rechte Seite gestürzt und hat dabei keinerlei Abwehrbewegung gemacht. So, und jetzt kommen wir zu der Wunde hier vorn oberhalb des linken Schläfenlappens.» Bonhoeffer setzte seine Lupenbrille auf und beugte sich über die Verletzung. «Interessant! Gib mir mal die kleine Pinzette und ein paar Objektträger – drüben auf dem Schrank … ja, danke.»

Die kleinen Partikel, die er aus der Wunde entfernte und auf die Glasplättchen brachte, konnte Toppe mit bloßem Auge kaum ausmachen, ein etwas größeres sah aus wie ein Stückchen Grashalm.

«Das gucken wir uns später an», murmelte Bonhoeffer. «Dann wollen wir mal sehen: unten und hinten unterminierter Wundrand, oben und vorn sind die Wundränder geschürft. In der Wunde befinden sich gesunde Hautbrücken und – Pinzette nochmal – danke, ja, intakte Haare. Folglich liegt keine scharfe Gewalteinwirkung vor. Einblutung in den Schläfenmuskel.» Er richtete sich auf und nahm die Lupenbrille ab. «Ich muss jetzt die Kopfschwarte entfernen. Du kannst in der Zwischenzeit schon mal die Sachen hier zum Mikroskop rüberbringen.»

Toppe war dankbar. Den Anblick, wenn die Kopfhaut über das Gesicht geklappt wurde, fand er immer noch unerträglich. Er ließ sich Zeit bei seinem Weg durch das Labor.

«Ein Globusbruch», rief Bonhoeffer. «Sieh hin: Die Bruchlinien verlaufen radiär, vom Zentrum, das heißt meridional und zirkulär periphär, also äquatorial.»

Toppe warf einen raschen Blick auf den Schädel. «Globus, der Begriff leuchtet ein. Und was bedeutet das?»

«Stumpfe Gewalteinwirkung.»

«Vielleicht ist er beim Aufprall mit dem Kopf gegen den Holm des Frontfensters geschlagen», überlegte Toppe.

«Tja, gleich wissen wir hoffentlich mehr. Gib mir mal die Säge dort. Wir müssen die Kalotte öffnen.»

«Du musst, ich hole uns in der Zwischenzeit einen Calvados aus deinem Büro.»

Bonhoeffer lächelte. «Gern.»

Toppe ging durch den funzelig beleuchteten Keller zu Bonhoeffers Kammer am Ende des Ganges. Bis auf das Brummen der Heizungsrohre und das feine Sirren der Knochensäge war es still. Kein besonders anheimelnder Ort, nicht einmal tagsüber. Er fand eine fast volle Calvadosflasche am gewohnten Platz im Schreibtisch, nahm zwei Wassergläser vom Bord und machte sich auf den Rückweg. Erst als die Säge verstummt war, öffnete er die Tür. «Bist du soweit?»

Aber Bonhoeffer ließ sich nicht stören. Er hatte das Hirn des Toten auf die Waage gelegt, schrieb etwas auf, dann brachte er das Organ zu der kleinen Ablage am Sektionstisch und nahm eine Sonde zur Hand. «Wie ich’s mir gedacht habe: Coup-Mechanismus bei fixiertem Kopf», brummelte er. Dann sah er auf. «Der Mann ist nicht auf den Kopf gestürzt oder irgendwo aufgeprallt, er hat einen heftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand bekommen.»

«Scheiße», sagte Toppe aus tiefstem Herzen.

«Komm her», meinte Bonhoeffer, «ich erkläre es dir. Die Hirnblutung befindet sich direkt unter der Fraktur, Coup-Mechanismus nennt man das. Typisch für einen Schlag. Bei einem Sturz hingegen kommt es zu einem Contrecoup-Mechanismus, das heißt, die Blutung entsteht an der Seite des Gehirns, die der Fraktur gegenüberliegt.»

Toppe erinnerte sich: «Du hast gesagt, bei fixiertem Kopf. Bedeutet das, man hat ihn festgehalten?»

«Nein, nein, dazu reicht die ganz normale Halsmuskulatur, wenn man steht oder sitzt und bei Bewusstsein ist.»

«Du willst also sagen, er ist erschlagen worden?»

«Sieht ganz so aus. Und eine Schädelbasisfraktur hat er auch nicht. Das blaue Auge stammt also …»

«Schon klar, eine Schlägerei. Und die Verletzungen sind frisch?»

«Absolut.»

«Scheiße», sagte Toppe noch einmal nachdrücklich.

Bonhoeffer zog die Handschuhe aus. «Was ist denn los? Keine Lust auf Arbeit?»

«Weißt du, wer das ist?», gab Toppe düster zurück.

«Sicher, steht doch dran.»

«Dann kannst du dir ja vielleicht vorstellen, was auf uns zukommt.»

«Gieß uns was ein», entgegnete Bonhoeffer nur.

Toppe reichte ihm sein Glas. «Was ist mit den Bisswunden an der Hand?»

«Hab ich gesichert.» Bonhoeffer nahm einen kleinen Schluck und schloss genüsslich die Augen. «Was willst du wissen? Es handelt sich um die Zahnabdrücke eines erwachsenen Menschen, so viel ist klar.»

«Kann es sein, dass er sich selbst in die Hand gebissen hat?»

«Mit absoluter Gewissheit kann ich dir das erst morgen sagen, wenn ich unserem Freund hier den Gebissabdruck genommen habe, aber nein, ich glaube es eigentlich nicht.» Er nahm die linke Hand des Toten hoch. «Die Zahnabdrücke auf den Handknochen an der Außenseite stammen von einem Unterkiefer, die auf den Fingerknochen vom Oberkiefer. Versuch mal, dir selbst auf diese Art in die Hand zu beißen.»

Toppe probierte es. «Es geht, aber man muss sich dabei ganz schön verrenken.»

«Eben, und das erscheint mir unwahrscheinlich. Wann würde man sich, wenn überhaupt, in die Hand beißen? Aus Angst, Wut, Panik. Da würde man aber so zubeißen, oder so.» Er demonstrierte ein paar Möglichkeiten. «Ich habe auf alle Fälle Speichel aus der Biss-Spur gesichert, falls ihr irgendwann eine DNA-Probe braucht, und die anderen Routinegeschichten habe ich auch gemacht, Fotos, Abdrücke durchgezeichnet, du weißt schon.»

«Eigentlich nicht, wenn ich ehrlich bin, aber eine Biss-Spur ist mir bisher auch noch nicht untergekommen.» Toppe schaute auf seine Schuhspitzen und überlegte. «Wenn ihn also ein anderer gebissen hat, dann muss Geldek sich gegen seinen Angreifer zur Wehr gesetzt haben, und zwar effektiv, denn ein Biss als Abwehr hat etwas ziemlich Verzweifeltes.»

«Wenn du auf Gewebespuren unter den Fingernägeln hinauswillst, ich habe sie genommen.»

Toppe sah auf. «Danke, das ist gut, aber das meinte ich gar nicht. Ich versuche einfach nur, mir ein Bild zu machen.»

Bonhoeffer stellte sein Glas ab. «Gott sei Dank ist das nicht meine Aufgabe. Aber lass uns das hier zu Ende bringen. Du siehst ziemlich fertig aus.»

Toppe ging nicht darauf ein. Er folgte seinem Freund zum Mikroskop und ließ ihn hantieren.

«Ein Stein», meinte Bonhoeffer schließlich. «Die Tatwaffe könnte ein Stein sein. Das passt zum Frakturmuster und zu dem, was wir hier in der Wunde gefunden haben: Sandkörner, Pollen, Gras.»

«Verdammter Mist! Und ich habe den Tatort nicht bewachen lassen, keine Absperrung über Nacht, nichts!»

«Heißt das, du musst jetzt noch arbeiten?»

«Sieht ganz danach aus.»

 

Astrid schob die Decke zur Seite. Als sie ins Bett gegangen war, hatte sie gefroren und sich deshalb ein langes T-Shirt angezogen, aber jetzt war ihr heiß.

Viertel nach eins.

Toppe hatte angerufen, er käme später, Geldek sei offenbar erschlagen worden. Das war vor drei Stunden gewesen. Egal, er würde sie nicht wecken, heute würde er sicher in seinem eigenen Zimmer schlafen.

Sein Zimmer, ihr Zimmer, beide für gegenseitige Besuche mit ausreichend breiten Betten ausgestattet. Auf dem Hof damals, mit ihnen allen, war ihr das ganz normal erschienen, jedenfalls bis Katharina kam. Aber hier in diesem kleinen Einfamilienhaus kamen ihr die getrennten Schlafzimmer absurd vor.

Alle Häuser die sie sich angesehen hatten, waren Familienhäuser gewesen, und verdammt nochmal, warum auch nicht?

Sie fröstelte und zog sich die Decke wieder über die Schulter. Was sie aus diesem, ihrem, Zimmer machen sollte, wusste sie noch nicht. Ihr Bett stand jetzt drin, ein Kleiderkoffer, alle anderen Sachen steckten noch in den Umzugskartons im Keller.

Sie musste endlich schlafen. Um zehn vor sechs würde der Wecker klingeln, wie jeden Tag, und an den freien Wochenenden stand spätestens um halb sieben Katharina vor ihrem Bett und verlangte vollen Einsatz.

Sie drehte sich auf den Bauch. Katharinas Pony – sie musste sich morgen darum kümmern, dass jemand vom Reiterhof die Pflege übernahm. Billig war das bestimmt nicht, aber wahrscheinlich würde Papa sich das sowieso nicht nehmen lassen. Am Wochenende allerdings 

Warum sollte sie eigentlich nicht selbst wieder reiten? Zehn war sie gewesen, als sie damit angefangen hatte, und für die nächsten fünf Jahre waren Pferde ihre Welt gewesen. Durften Dreijährige eigentlich schon reiten? Sie hatte doch mal was darüber gelesen, oder? Morgen, irgendwann zwischendurch, würde sie den Kinderarzt anrufen und ihn fragen, beruhigte sie sich.

Und jetzt musste sie wirklich schlafen. Ab morgen würde sie vermutlich vor Arbeit nicht mehr wissen, wo ihr der Kopf stand. Geldek war ermordet worden. Eugen Geldek, der hatte damals auch einen Ponyhof aufmachen wollen.

Ihr allererster Fall beim KI war das gewesen, und sie hatte fast nur mit Helmut zusammengearbeitet, wochenlanges Puzzlen und Improvisieren, alles neu. Und sie hatte sich ziemlich schnell verliebt in ihren sensiblen, ernsten und sehr einsamen Chef und ihn gewollt wie nichts zuvor.

Vielleicht würde ein Glas Wasser helfen. Sie tastete nach dem Lichtschalter und verhedderte sich dabei in ihren Haaren. Es ziepte. Durch den dunklen Flur stolperte sie ins Bad, schaltete die Lampe über dem Spiegel ein und betrachtete sich nüchtern. Wenn sie morgen beim Friseur anrief, bekam sie vielleicht noch einen Termin am Samstag.

Das Wasser kam lauwarm aus der Leitung. Sie wartete ein Weilchen, füllte dann den Zahnputzbecher und setzte sich damit auf den Wannenrand. Der so sauber geputzt war. Sie lächelte. Ein Auto hielt vorm Haus, Schlüsselklirren. Leise huschte sie in ihr Zimmer zurück, schloss die Tür und legte sich wieder ins Bett.