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Alfred Bekker & Ann Murdoch | Ahnungen um Mitternacht: Zwei Romantic Thriller

Copyright

Das Geheimnis um Wilmington Castle | von Ann Murdoch

Mary

Alfred Bekker | Kreuzfahrt ins Jenseits | Unheimlicher Roman

Alfred Bekker & Ann Murdoch

Ahnungen um Mitternacht: Zwei Romantic Thriller

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Zwei  dramatische Romantic Thriller in einem Band: Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Darum geht in den packenden romantischen Spannungsromanen von Alfred Bekker und Ann Murdoch.

Inhalt:

Ann Murdoch: Das Geheimnis um Wilmington Castle

Alfred Bekker: Kreuzfahrt ins Jenseits

Copyright

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Authors

© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Texte: Alfred Bekker

Bildmaterialien: Steve Mayer und Alfred Bekker (innen)

Cover: Firuz Askin

Alle Rechte vorbehalten.

Das Geheimnis um Wilmington Castle

von Ann Murdoch

––––––––

© 2012 Digitalausgabe AlfredBekker/CassiopeiaPress.

© 2015 Printausgabe Alfred Bekker /CassiopeiePress

Alle Rechte vorbehalten.

Www.AlfredBekker.de

Mary

Mary war ganz einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

Sie war nachts aufgestanden, um sich ein Glas Milch zu holen. Um nicht den großen Lüster in der Halle anzumachen, trug sie in der Hand eine kleine Taschenlampe und fand ihren Weg so mühelos. Doch plötzlich hörte sie ein Geräusch, das nicht in dieses Haus und nicht in die Nacht gehörte. Ein Geräusch aus der Bibliothek. Da sich dort um diese Zeit eigentlich niemand aufhalten konnte, wollte sie der Sache auf den Grund gehen. Nun, vielleicht hatte jemand, Target, den großen Kater des Schlosses, dort aus Versehen eingesperrt. Oder es war einer der Gäste im Schloss, der vielleicht nicht schlafen konnte. Auf Wilmington Castle erwartete man dieser Tage eine Menge Besuch, und einige Gäste waren frühzeitig angereist.

Mary öffnete die Tür, doch was sie sah, war nur ein ins riesenhaft vergrößerter Schatten. Und der stammte nicht von einem Kater. Unwillkürlich schrie sie auf. Dann sah sie im Licht ihrer Taschenlampe das Gesicht, das zu der Person mit dem Schatten gehörte. Und dieser Umstand besiegelte ihr Schicksal.

Der Schatten näherte sich, und dann versank Mary im Dunkel, um nie wieder aufzuwachen.

Am nächsten Morgen fand der Butler ein Kündigungsschreiben von ihr vor, ihre Sachen waren verschwunden. Sie musste mitten in der Nacht gegangen sein, Merkwürdig, aber niemand vermisste die junge Frau.

Und niemand fragte nach.

*

Die Reifen des schweren Bentleys knirschten auf dem weißen Kies, als der Wagen vor der Treppe von Wilmington Castle zum Stehen kam. Der Fahrer stieg aus, reckte sich für einen Moment nach der langen Fahrt und warf dann einen Blick die Treppe hinauf, die zum Portal des Schlosses führte.

Ein Bediensteter kam rasch herunter, während der Hausherr Kenneth Reginald Wilmington, 16. Earl of Pendlebury, ebenfalls erschien.

Ein Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Ankömmlings, dann lief er rasch die Treppe hinauf und streckte die Hand aus.

Der Earl strahlte. „Jarod, endlich bist du da! Ich habe schon auf dich gewartet. Du hast dich doch nicht etwa verfahren? Wie war deine Reise?“ Er zog den Mann einfach in die Arme und begrüßte ihn auf diese Weise als guten Freund.

Doktor Jarod Russel, ein bekannter Londoner Psychologe, lachte auf. „Eins nach dem anderen, Kenneth. Zunächst bin ich wirklich froh, hier zu sein. Es tut mir leid, dass ich mich etwas verspätet habe, aber auf der Autobahn war ein Unfall, und ich habe Erste Hilfe geleistet. Zum Glück war es keine schlimme Verletzung. Ich hoffe allerdings, der Whisky ist in dieser Zeit nicht zu warm geworden.“ Russel gab dem Butler, der wie ein Geist aus dem Nichts aufgetaucht war, seinen Autoschlüssel, und drückte dann seinem Freund und Studienkollegen noch einmal die Hand.

Um das Gepäck in seinem Kofferraum kümmerte er sich nicht, er war sicher, später alles in seinem Zimmer wiederzufinden.

Wilmington führte seinen Gast in sein Arbeitszimmer, hieß ihn Platz nehmen und goss für beide ein Glas Whisky ein. Er wirkte zurückhaltend und sogar etwas nervös, was er jedoch gut überspielte. Doch Jarod merkte es natürlich, es war sein Beruf, so etwas zu bemerken – und darüber zu schweigen, solange der andere nicht darüber reden wollte.

Er schnupperte jetzt genießerisch an seinem Glas, schaute dann zu, wie Kenneth sich in seinen Stuhl fallen ließ, und prostete ihm zu. „Auf dich, alter Freund, vielen Dank, dass du für das Seminar dein Schloss zur Verfügung stellst.“ Wilmington winkte ab. „Nicht der Rede wert, Jarod. Sir Albert Hensfield, ein alter Freund meines Vaters, machte im Club den Vorschlag, und ich fand es hochinteressant, vor allem, weil ich als Zaungast dabei sein darf. Dass ausgerechnet du geladen bist, um einen Vortrag zu halten, ist ein erfreulicher Nebeneffekt.“

In den nächsten Tagen würde Wilmington Castle Austragungsort eines international besetzten Seminars von hochrangigen Polizeikräften sein. Und statt, wie sonst üblich, ein teures Hotel zu benutzen, hatte Sir Albert Hensfield, der oberste Chef von Scotland Yard als Ausrichter, Kenneth gefragt, ob er sein Anwesen zur Verfügung stellen würde. Wilmington Castle bot eine Menge Vorteile. Es gab dort fast nur langjähriges, eingespieltes Personal, die Presse konnte mühelos ausgeschlossen werden, das Schloss lag abseits der üblichen Routen in landschaftlich schöner Umgebung, und die ausländischen Besucher lernten auf diese Art Landschaft und Gastfreundschaft der Schotten kennen.

Eigentlich hätte auch alles in bester Ordnung sein können.

Aber der Earl war bedrückt. Ausgerechnet am Tag vorher hatte er in seiner Post einen anonymen Brief mit einer Drohung gefunden. Es war nicht der erste Drohbrief, den Kenneth je erhalten hatte, doch früher war es um Geld gegangen, und die Polizei hatte dem ganzen Unsinn schnell ein Ende bereitet. Jetzt aber sah die Sache irgendwie anders aus.

„Geben Sie heraus, was mir gehört, sonst wird sich der Fluch der Vergangenheit an Ihnen erfüllen, wie an vielen anderen vorher. Dann werden Sie Ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Und hüten Sie sich davor, die Polizei einzuschalten, sie kann Ihnen sowieso nicht helfen. Ich will nur, was rechtmäßig mein ist.“ Dieser Brief stellte Kenneth vor ein Rätsel. Wer schrieb ihm da und kannte sich in der Geschichte des Schlosses so gut aus, dass er mit dem alten, fast vergessenen Fluch drohte? Und was wollte diese Person? Was gehörte ihr?

Kenneth dachte darüber nach, ob er in seinem Leben jemanden betrogen hatte, in welcher Form auch immer, aber ihm fiel nichts ein.

Ein unbestimmtes Gefühl hielt den Mann jedoch davon ab, dieses Schreiben einfach in den Papierkorb zu werfen und zu vergessen. Etwas war da plötzlich in seinem Hinterkopf, ein Gedanke, der mit dem zusammenhing, was in dem Brief gefordert wurde. Doch noch fand Kenneth das Bindeglied nicht, so sehr er auch darüber nachgrübelte. Nun, vielleicht würde es ihm bald einfallen, oder dieser anonyme Schreiber meldete sich noch einmal und präzisierte seine Forderung. Dann konnte man endlich darüber reden, hoffte er.

Jetzt, in Gegenwart seines alten Freundes, trank er nachdenklich einen Schluck aus seinem Glas und bemühte sich, seine Sorgen auf seinem Gesicht nicht allzu auffällig werden zu lassen. Allerdings wusste er, dass er Jarod so schnell nichts vormachen konnte, aber der würde schweigen, bis Kenneth selbst darauf zu sprechen kam.

„Sind die anderen schon eingetroffen?“, erkundigte sich der Wissenschaftler jetzt und ließ einen weiteren Schluck des vorzüglichen Whiskys auf der Zunge zergehen. Man musste es seinem Freund schon lassen, er hatte eine hervorragende Brennerei an der Hand, solche Qualität bekam man nur selten.

„Der Superintendent von Scotland Yard, David Brome, ist seit gestern schon hier. Zusammen mit Chief-Inspector Anne Culter. Sie ist übrigens eine ausgesprochen hübsche Frau.“

Jarod lächelte, sein Freund war ein alter Schwerenöter, der bis heute die richtige Frau immer noch nicht gefunden hatte. Vielleicht waren seine Ansprüche zu hoch, oder er hatte wirklich die richtige noch nicht gefunden.

„Ich bin erstaunt, dass dir das aufgefallen ist“, bemerkte er etwas ironisch, aber Kenneth winkte ab.

„Nur, weil ich immer noch nicht die richtige gefunden habe, heißt das doch nicht, dass ich eine hübsche Frau nicht zu würdigen wüsste. Ich bin eben noch auf der Suche, und wer weiß...“, ging er auf den etwas leichtfertigen Ton ein.

„Na, dann besteht ja noch Hoffnung“, stellte Russel zufrieden fest.

„Nun, aber was Mr. Brome betrifft“, Kenneth verzog ein wenig das Gesicht, und Jarod lachte kurz auf.

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„Ich kenne ihn, leider, muss ich fast sagen. Er ist der Cousin von Lord Abernathy, und weil niemand mit ihm etwas Rechtes anfangen konnte, hat man ihn so hoch befördert, dass er nicht allzuviel Unheil anrichten kann. Ein Superintendent hat nicht viel zu sagen, wie du weißt. Aber eigentlich tut mir Chief-Inspector Culter leid, denn sie ist eine tatkräftige, energische Frau, die es eigentlich nicht verdient hat, mit einem solchen Vorgesetzten geschlagen zu sein.“

„Nun, ich denke“, sagte Kenneth langsam, „während dieses Seminars wird er nicht oft in Verlegenheit kommen, den Vorgesetzten herauskehren zu müssen. Es scheinen, von ihm abgesehen, alles kompetente, tüchtige Leute zu sein.

Jedenfalls, nach allem, was ich bisher gehört habe.“

„Darauf trinke ich.“ Jarod lächelt erneut.

Mittlerweile war es für ihn offensichtlich, dass sein Freund in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte, über die er bis jetzt noch nicht reden wollte, aber Freunde waren da, um einander beizustehen. Und so würde er beobachten, und ganz einfach nur da sein, wenn Kenneth ihn brauchte.

Es klopfte dezent an der Tür, und der Butler trat ein.

Seine Augen schweiften durch den Raum, blieben für einen Augenblick misstrauisch an Jarod hängen, der sich jedoch gleich darauf schalt, sich etwas eingebildet zu haben, denn warum sollte der Butler ausgerechnet ihn misstrauisch ansehen?

„Der Bus mit den übrigen Gästen ist eingetroffen, Sir“, verkündete er dann, als ginge es um den Weltuntergang.

Die beiden Männer erhoben sich. „Dann wollen wir sie mal begrüßen“, bemerkte Kenneth.

*

Acht Personen waren es, die da einigermaßen befangen ausstiegen und sich beeindruckt umschauten. Je zwei hohe Polizeibeamte aus Deutschland, Frankreich, Italien und Schweden, die sich hier zu diesem Seminar treffen sollten.

Der Earl als perfekter Gastgeber begrüßte jeden einzelnen, als habe er nur auf ihn gewartet, und Jarod anerkannte, dass es auch seine Vorteile hatte, als Erbe eines so großen Besitzes aufgewachsen und erzogen worden zu sein.

Die acht Besucher wurden auf ihre Zimmer geleitet, wo sie Gelegenheit hatten sich ein wenig frisch zu machen und auszuruhen, bevor man sich abends zum ersten gemeinsamen Essen traf.

Eigentlich hätte alles in schönster Ordnung sein sollen, doch noch während der Butler und zwei Zimmermädchen die Gäste nach oben geleiteten, erklang ein grässlicher Schrei, und wenig später stürmte eines der Küchenmädchen mit allen Anzeichen von Entsetzen die Kellertreppe hinauf, rannte in die große Empfangshalle und schrie erneut.

Der Earl blieb wie angewurzelt stehen, aber Jarod war da wesentlich geistesgegenwärtiger. Er fasste die junge Frau bei den Schultern und versuchte auf sie einzureden, doch sie war dermaßen hysterisch, dass kein Wort bis zu ihr durchdrang.

„Es tut mir sehr leid, aber ich muss es tun“, sagte Jarod bedauernd, holte dann aus und gab der Frau eine Ohrfeige.

Augenblicklich verstummte der Schrei.

„Merkwürdige wissenschaftliche Methoden hast du“, bemerkte Kenneth, froh darüber, dass sein Freund so rasch reagiert hatte. Dann wandte er sich der jungen Frau zu.

„Was ist denn los, Alice? Haben Sie sich vor Ihrem eigenen Schatten erschrocken?“, versuchte er der ganzen Situation noch eine weniger dramatische Wendung zu geben.

Doch das Entsetzen und die Panik in den Augen der Frau klärten ihn gleich darüber auf, dass es um eine ernstere Sache ging, als er im ersten Moment glauben wollte. Alice holte tief Luft, sie war sichtlich darum bemüht sich zu beherrschen, doch sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Atem ging noch immer stoßweise. Anklagend deutete sie mit dem ausgestreckten Arm auf die Kellertür.

„Da unten – ist – ist...“, begann sie mit erstickter Stimme, schnappte noch einmal nach Luft, bevor sie versuchte weiter zu reden. „Der Hund – Eurer Lordschaft – ist – dort...“ Jarod und Kenneth warfen sich einen raschen Blick zu, ließen dann die Frau stehen und eilten gemeinsam zur Kellertür. Die Gäste, die sich teilweise noch auf der Treppe nach oben befanden und jetzt natürlich neugierig herunterschauten, ignorierten die beiden Männer völlig, und der Butler, als geistesgegenwärtiger Mensch, wie man es von ihm erwarten konnte, forderte sie mit einer kurzen Bemerkung auf, ihm weiter zu folgen. Ein wenig kopfschüttelnd, aber nicht weiter beunruhigt, setzten sie ihren Weg fort.

Jarod hingegen folgte seinem Freund dichtauf, und dann sahen die beiden Männer gleichzeitig, was die junge Alice so verschreckt hatte.

Bestürzt und erschüttert blieben sie stehen und starrten dann erschreckt auf den schrecklichen Anblick, der sich ihnen bot.

Es war einer der Hunde aus der Meute des Earls, dem jemand die Kehle durchgeschnitten und dann quer über den schmalen Gang mit ausgestreckten Vorderpfoten regelrecht aufgespannt hatte. Das Blut war auf den Boden getropft und bildete eine große Lache, und die toten Augen des Tieres starrten die beiden Männer anklagend an.

Kenneth wandte sich ab und schlug dann hilflos und wütend mit der Faust gegen die Wand. Jarod murmelte einen Fluch.

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Dann aber erwies er Kenneth einen wirklichen Freundschaftsdienst, indem er sein Taschenmesser herauszog und das Tier abschnitt. In einem der Vorratsräume fand er eine Decke, die er dann gnädig über den Kadaver ausbreitete.

Kenneth hatte sich mittlerweile wieder etwas gefangen und nickte Jarod dankbar entgegen. Der befand es aber nun an der Zeit, nicht mehr schweigend zusehen zu wollen, doch noch bevor er eine Frage stellen konnte, wurden die beiden Männer gestört.

„Du meine Güte, das sieht aber gar nicht gut aus hier.“ Anne Culter, Chief-Inspector aus London, trat näher und betrachtete mit allen Anzeichen von Abscheu das Massaker.

„Mir scheint, Euer Lordschaft, da kann Sie jemand nicht besonders gut leiden“, stellte sie trocken fest.

*

Russel behielt in bewundernswerter Manier die Ruhe, obwohl auch in ihm ein Sturm tobte. Irgendetwas war hier im Schloss ganz und gar nicht in Ordnung, und er wollte von Kenneth erfahren, was es war. Doch zunächst einmal war es sicher vernünftig, die ganze Sache vor den übrigen Gästen zu vertuschen, um kein Gerede aufkommen zu lassen und die Tagung nicht zu stören.

„Chief-Inspector Culter, nehme ich an“, sagte er also ruhig und wandte sich der Frau zu. Kenneth hatte recht gehabt, sie war wirklich hübsch. Kastanienbraunes Haar fiel ihr in sanften Wellen auf die Schulter, das Gesicht war schmal, mit vollen roten Lippen und tiefdunkelbraunen Augen. Die schlanke, sportliche Figur steckte in einer gut geschnittenen, grauen Hose und einer braunen Seidenbluse, welche die Farbe ihrer Augen widerspiegelte. Kein Mensch wäre im ersten Augenblick darauf gekommen, dass es sich hier um eine der fähigsten Beamtinnen von Scotland Yard handelte. Jarod hatte sie einmal aus der Entfernung gesehen, kannte sie jedoch nicht persönlich. Und so nickte sie auf die Frage Russells und schaute ihn dann ihrerseits fragend an.

„Dr. Jarod Russell, nehme ich an“, gab sie im gleichen Tonfall zurück. „Das macht keinen besonders guten Eindruck hier, Euer Lordschaft. Haben Sie Feinde?“, bohrte sie noch einmal nach, doch ihr Ton war kühl und geschäftsmäßig. Jarod verfluchte sie in diesem Moment, sie würde doch jetzt nicht etwa einen Kriminalfall daraus machen?

Russell hoffte noch immer, dass sich das Ganze irgendwie aufklären würde, und dass es sich vielleicht um einen mehr als geschmacklosen Scherz eines früheren Angestellten von Kenneth handeln könnte. Anne Culter mochte eine gute Polizistin sein, aber hier und im Moment war sie mehr als unerwünscht.

„Ich möchte Sie bitten Stillschweigen zu bewahren“, bat er dann so ruhig wie möglich. „Wir wollen aus dieser peinlichen Angelegenheit nicht mehr machen, als es wirklich ist.“

Die Frau zog indigniert die Augenbrauen in die Höhe.

„Und was ist es wirklich?“, erkundigte sie sich dann süffisant.

„Im Augenblick wohl nicht mehr als eine Geschmacklosigkeit“, erklärte Russell mit fester Stimme.

„Eure Lordschaft, ist es auch Ihr Wunsch, dass wir diese ganze Sache – vertuschen?“, fragte sie jetzt Kenneth direkt.

Der drehte sich endlich von der Wand weg, und als Jarod in sein Gesicht sah, erschrak er. Der Earl wirkte wesentlich mehr erschüttert, als es der Tod eines Hundes erforderlich machte. Wieder beschlich den Wissenschaftler ein ungutes Gefühl, hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung.

Vielleicht war es doch besser, eine polizeiliche Untersuchung daraus zu machen?

Doch Kenneth hatte sich jetzt gefasst und bestätigte den ersten Eindruck Russells. „Mein Freund hat vollkommen recht, Chief-Inspector, ich möchte nicht, dass dies hier an die große Glocke gehängt wird. Es ist ein – ein – wirklich nur geschmackloser Scherz eines früheren Angestellten“, brachte er mühsam hervor. Jarod wunderte sich, dass sein Freund als Ausrede genau das benutzte, was er zunächst vermutet, jetzt aber endgültig beiseite gelegt hatte. Doch als Ausrede war es nicht ganz schlecht. Kenneth schluckte jetzt schwer. Anne glaubte ihm kein Wort, doch sie schwieg jetzt, denn sie sah die Erschütterung und wollte ihn nicht noch mehr verletzen, als er es augenscheinlich schon war.

„Ganz, wie Sie wünschen, Euer Lordschaft“, sagte sie nur steif und ging wieder nach oben. Sie würde sich ihre eigenen Gedanken machen, und die Worte des Earls sah sie als das, was sie waren, eine Erklärung, aus der Luft gegriffen und nicht plausibel.

Jarod legte seinem Freund jetzt eine Hand auf die Schulter und drehte ihn ein wenig herum, so dass er ihm ins Gesicht sehen konnte. „Ich will dich nicht drängen, Kenneth, aber kann es vielleicht sein, dass du jemanden brauchst, mit dem du reden kannst?“

Für einen Augenblick kämpften in dem Earl widerstreitende Gefühle, wie an seinem gequälten Gesichtsausdruck abzulesen war. Doch dann gab er sich einen Ruck. „Lass uns hier erst mal verschwinden“, murmelte er. „Ich werde Anweisung geben, dies hier sauberzumachen.“ Er machte eine umfassende Bewegung mit der Hand. „Jetzt glaube ich, brauche ich noch einen Whisky. Und dann sollten wir vielleicht wirklich reden.“

*

Das Abendessen verlief entgegen Russells Erwartungen in relativ lockerer Atmosphäre. Kenneth hatte ihm unter vier Augen in wenigen, dürren Worten von dem Drohbrief erzählt, und war auch darauf zu sprechen gekommen, welch ungutes Gefühl ihn dabei beschlichen hatte. Irgendetwas war da in der Vergangenheit, aber so sehr der Earl sich auch den Kopf zermarterte, es wollte ihm einfach nicht einfallen.

Dann aber hatte er gelächelt, wenn auch gequält, und hatte eine wegwerfende Handbewegung gemacht.

„Nun, ich denke einfach, irgendjemand wollte mir einen Denkzettel verpassen, und das ist ihm, bei Gott, gelungen.

Niemand in meiner Position kann es stets vermeiden, anderen auf die Füße zu treten. Selbst wenn ich mich nicht daran erinnere, wen ich verletzt habe, so muss das nicht heißen, dass ich es nicht doch getan habe. Aber ich denke, das war es dann auch. Die Befriedigung dürfte dem Täter gut getan haben, und wir wollen den Vorfall nicht dramatisieren.“

Sein gespielt munterer Ton täuschte nicht darüber hinweg, dass ihn diese Sache noch immer quälte. Doch als Jarod weiter nachhaken wollte, hatte Kenneth abgewehrt.

„Ich denke, wir sollten kein weiteres Wort darüber verlieren. Es tut mir nur leid um den Hund, er war ein großartiges Tier. Doch ich denke wirklich, dass es jetzt vorbei ist.“

Russell sah die Sache längst nicht so locker, wusste aber, dass es keinen Zweck hatte seinen Freund weiter zu drängen.

Wenn der einmal einen Entschluss gefasst hatte, blieb er auch bei seiner Entscheidung. Das wusste der Wissenschaftler aus langer Erfahrung, immerhin kannten die beiden Männer sich schon ein halbes Leben lang. Schon während des Studiums hatte sich Kenneth nicht anders verhalten, und bei einem Mann in seiner Position hieß das ganz einfach Führungsstärke.

Doch nun war der große Esstisch im Speisesaal festlich gedeckt, feine Damasttischtücher, Waterford Kristall, Porzellan aus dem irischen Fermanagh und wertvolles Silber strahlten mit den stilvollen Kerzen um die Wette. Das Essen selbst war von vorzüglicher Qualität, die Weine ausgesucht und edel, und das leichte Geplauder bei Tisch täuschte darüber hinweg, dass sich hier auf Wilmington Castle heute ein kleines Drama abgespielt hatte.

Jarod warf ab und zu einen Blick zu seinem Freund hinüber, aber der ließ sich überhaupt nichts davon anmerken, welcher Schock ihn an diesem Tag getroffen hatte. Im Gegenteil, er schien das seichte Geplauder zu genießen, und in seiner Nähe stockte die Unterhaltung kein einziges Mal.

Kenneth war der perfekte Gastgeber.

Nach dem köstlichen Dessert, einer Weinschaumsauce mit frischer Minze, stand der Earl auf und klopfte an sein Glas, um seiner Gastgeberrolle entsprechend eine kleine Rede zu halten.

„Meine Dame und meine Herren, liebe Polizisten“ –

Gelächter brandete auf – „es ist mir eine besondere Ehre, Sie alle hier auf Wilmington Castle willkommen zu heißen. Es freut mich wirklich, dass ich Ihnen meinen Besitz für Ihr Seminar zur Verfügung stellen darf, und ganz besonders freut es mich“ – hier glitt ein Lächeln über seine Züge –

„dass ich bei einigen dieser Veranstaltungen sozusagen als Kiebitz dabei sein darf. Schließlich will auch ich wissen, was mit meinen Steuergeldern geschieht.“ Wieder klang Gelächter auf. „Ich nehme an, Sie haben sich mittlerweile untereinander alle bekannt gemacht, soweit Sie sich noch nicht kannten. Und ich hoffe, dass Sie hier einige Tage in gelöster Atmosphäre und angenehmer Umgebung verbringen werden, und dass Ihre Tagung die gewünschten Ergebnisse zeitigt, damit Sie bald mit frischen Kräften und noch frischeren Ideen in Ihre Heimatländer und an Ihre Arbeit zurückkehren können. Ich danke Ihnen.“ Beifall klang auf, und zum Erstaunen der meisten Anwesenden fühlte sich nun David Brome aufgerufen, seinerseits einige Worte zum Besten zu geben.

„Ich stehe hier in Vertretung für Sir Albert Hensfield, dem Chef von Scotland Yard, und möchte mich in seinem, wie auch in unser aller Namen bei unserem Gastgeber, dem Earl of Pendlebury, bedanken, dass er uns in so großzügiger Weise sein Anwesen zur Verfügung stellt. Scotland Yard als Veranstalter dieser Tagung freut sich überdies ganz besonders als Vortragsdozenten Doktor Jarod Russell gewonnen zu haben, der uns einen sicherlich interessanten Vortrag halten wird über psychologische und auch parapsychologische Phänomene in der Kriminalität.“ Brome sah aus, als müsste er an diesen Worten ersticken, denn Russell war gegen seinen Willen von Sir Albert eingeladen worden. Der Superintendent hielt ganz und gar nichts davon, Kriminalfälle mit Psychologie zu untersuchen und womöglich übersinnliche Phänomene darin festzustellen.

Und doch sollte während dieser Tagung unter anderem darüber beraten werden, ob es sich lohnte europaweit eine ganz spezielle Abteilung einzurichten, die sich einzig und allein damit beschäftigen sollte, unerklärliche Vorgänge zu untersuchen. Es waren in der letzten Zeit mehr als einmal Fälle vorgekommen, die mit ganz realistischen Mitteln einfach nicht zu erklären und aufzuklären gewesen waren.

Auch David Brome gehörte zu den bedauernswerten Menschen, die nur das glaubten, was sie sehen, hören und anfassen konnten, und für die das Wort übersinnlich schon als Schimpfwort galt. Und wäre Jarod Russel nicht als ernstzunehmender Psychologe im ganzen Königreich eine regelrechte Berühmtheit gewesen, so hätte der Superintendent den Wissenschaftler vermutlich ignoriert und alles daran gesetzt, um seinen Vortrag selbst jetzt noch zu verhindern.

Unter den gegebenen Voraussetzungen jedoch machte Brome eine leichte, höfliche Verneigung in Richtung Russell und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich freue mich besonders, dass Sie es möglich machen konnten, hier zu erscheinen, Dr. Russell.“ Jarod lächelte nichtssagend und neigte der Höflichkeit halber ebenfalls seinen Kopf.

Anne Culter, die sehr genau wusste, an welcher Kröte ihr Chef gerade schluckte, grinste.

Brome hatte jetzt irgendwie den Faden verloren und starrte auf den Tisch, als suche er dort die Erleuchtung für seine nächsten Worte.

„Tja, das war es eigentlich, was ich sagen wollte“, murmelte er dann, und höflicher Beifall antwortete ihm.

„Welch ein Schwätzer“, flüsterte Jarod vor sich hin, aber Anne, die neben ihm saß, hatte diese Worte gehört, und stieß den Mann unter dem Tisch an.

„Nicht so laut, sonst erfährt es noch jeder“, raunte sie ihm zu.

Die Tischgesellschaft löste sich auf, als Kenneth zu Kaffee und Cognac in die Bibliothek bat. Und gleich darauf bildeten sich auch schon erste Gruppen, die heftig miteinander zu diskutieren begannen.

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„Glauben Sie eigentlich wirklich an übersinnliche Phänomene, oder ist das nur eine kreative Möglichkeit zu sagen, ich weiß es nicht?“

Russell brauchte einen Augenblick, bis er aus seiner Versunkenheit aufschrak, und die Frage registrierte, die Anne ihm jetzt ernsthaft gestellt hatte. Doch dann lächelte er die Polizistin an. Er war diese Skepsis gewöhnt, und auch das Misstrauen, das man ihm entgegenbrachte, hatte aber genügend Erfolge und Beweise zu verzeichnen, um seine Meinung ruhig und unbeirrt zu vertreten.

„Ja, natürlich glaube ich daran“, antwortete er also.

„Wenn Sie Wert darauf legen, bin ich gern bereit, Ihnen einige Fälle aus meiner Praxis zu schildern. Und dann mögen Sie selbst urteilen, ob es rationale Erklärungen dafür gibt.“

„Mir erscheint das Ganze einfach noch viel zu abstrakt, weil ich vielleicht, wie die meisten Menschen, unbewusst davor zurückschrecke, etwas als übersinnlich zu akzeptieren, für das es zur Zeit keine andere Erklärung gibt“, erklärte sie zögernd. „Euer Lordschaft, was sagen Sie dazu?“, wandte sie sich an Kenneth, der lächelnd die kleine Herausforderung verfolgt hatte.

„O bitte, nicht ganz so förmlich, Miss Culter“, bat er.

„Dies hier ist doch ein sehr eng begrenzter Kreis. Außerdem lege ich nicht so viel Wert auf Förmlichkeit wie andere meiner Art. Ich möchte Sie daher bitten, mich Kenneth zu nennen.“

Sie lächelte ihn fröhlich an, und für den Earl war es plötzlich, als ginge an diesem Abend nur für ihn die Sonne auf. „Dann muss ich darauf bestehen, dass Sie Anne zu mir sagen“, erwiderte sie mit warmer Stimme.

Russell grinste in sich hinein. Hier schien sich vorsichtig etwas anzubahnen, und er fand es ausgesprochen erheiternd, dass sein Freund, der mit Frauen bisher nicht viel Glück gehabt hatte, im Begriff war sich Hals über Kopf zu verlieben. Er hoffte nur, dass sich aus dieser anfänglichen Spielerei etwas mehr entwickeln würde als nur eine oberflächliche Bekanntschaft.

Und nun versuchte Kenneth gegenüber der Polizistin seinen Standpunkt klar zu machen.

„Ich halte es nicht für einfach und auch nicht für richtig, sogenannte übersinnliche Phänomene als unerklärliche Hirngespinste beiseite zu legen. Sehen Sie sich doch mal im Königreich um. Fast jedes der großen Schlösser hat seine eigene Spukgeschichte, und selbst Leute, die völlig nüchtern und rational denken, können beileibe nicht alles erklären. Sie neigen jedoch dazu, das Ganze dann einfach zu ignorieren, um ihre eigenen Anschauungen nicht ins Absurde führen zu müssen. Es könnte sie sonst wirklich berühren, was da vorgeht, oder was sie auch selbst erlebt haben. Womit ich allerdings nicht sagen will, dass ich ein Verfechter von Spukgeschichten bin. Ganz im Gegenteil, auch ich suche zuerst nach einer wissenschaftlichen Erklärung, wenn ich etwas nicht sofort einordnen kann, und bin nicht so einfach bereit, es als Spuk hinzunehmen, wenn in einem Haus Bilder von den Wänden fallen oder Ritterrüstungen sich in ihre Einzelteile auflösen.“

Anne lachte hell auf bei seiner Wortwahl. „Also haben Sie selbst noch nie einen Geist gesehen?“, forschte sie nach, und Kenneth schüttelte den Kopf.

„Nicht einmal hier auf Wilmington Castle, obwohl wir, der Sage nach, ein eigenes Hausgespenst haben sollen. Aber bitte, ich glaube, das kann Jarod viel besser erzählen, er hat sich nämlich schon damit beschäftigt.“ Aber Russell winkte ab. „Es ist dein Gespenst, dir gebührt die Ehre, es in Worten auferstehen zu lassen.“ Nun drängten auch die anderen heran, um sich ja kein Wort von einer Schauergeschichte entgehen zu lassen.

Besonders die Deutschen und die Schweden waren hoch interessiert, mehr darüber zu erfahren. Kenneth sah sich unversehens in die Rolle des Erzählers gedrängt, doch als er bemerkte, mit welcher Aufmerksamkeit Anne seinen Worten lauschte, machte es ihm gar nichts mehr aus. Im Gegenteil, es erschien ihm fast so, als würde er für die junge Frau allein sprechen, die anderen Anwesenden verblassten in seinem Kopf, und er sah nur noch Anne Culter.

„Es war einer meiner Vorfahren, der nach langen Jahren der Abwesenheit von den Kreuzzügen zurückkehrte, irgendwann im dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert“, begann Kenneth, und versuchte die ganze Geschichte möglichst genau aus seinem Gedächtnis zu kramen. „Wie Sie alle sich bestimmt vorstellen können, waren die Kommunikationsmittel zu jener Zeit mehr als beschränkt, und so hatte nach all diesen Jahren eigentlich niemand mehr die Hoffnung, dass der damalige Lord Wilmington überhaupt noch zurückehren würde. Seine Frau hatte angemessen mehr als ein Jahr nach der letzten Nachricht getrauert, doch es war in jener Zeit für eine Frau allein nicht sehr einfach, einen derart großen Besitz zu verwalten und gegen die damals häufigen Räuberbanden, aber auch gegen Verwandte, die wie Aasgeier ein Stück von dem Kuchen wollten, zu verteidigen. Und so war ihr nichts anderes übrig geblieben, als endlich dem Drängen eines Lords aus der näheren Umgebung nachzugeben und ihn letztlich zu heiraten. Aus dieser, wohlgemerkt von der Kirche sanktionierten Verbindung, waren mittlerweile zwei Kinder hervorgegangen, die Ländereien waren zweckmäßigerweise zusammengelegt worden, und der neue Lord erwies sich als guter Wirtschafter und liebevoller Ehemann und Vater.

Damals durchaus keine Selbstverständlichkeit.

Doch nun geschah das Unglück, dass nach mehr als zehn Jahren der totgeglaubte Lord Wilmington zurückkehrte. Und natürlich beharrte er auf seinen älteren Rechten, und vor allen Dingen auf seinem Besitz, obwohl seine Frau ihn anflehte, sie und die Kinder unbehelligt gehen zu lassen.

Man würde ihm all sein sonstiges Eigentum zurückerstatten.