Sven Felix Kellerhoff

»Mein Kampf«

Die Karriere eines deutschen Buches

Mit einem aktuellen Nachwort

Klett-Cotta

Hitlers Buch: Was steckt dahinter, wie wurde es aufgenommen, was löste es aus? Jeder kennt seinen Titel, doch kaum jemand seinen Inhalt. Sven Felix Kellerhoff informiert über die wichtigsten Aspekte von der Entstehungszeit im München der frühen 1920er-Jahre bis zu den Verbotsdebatten der Gegenwart. Hat Hitler ein Programm formuliert, das er nach der Machtergreifung Stück für Stück in die Tat umsetzte? Wie wirkte dieses Buch auf zeitgenössische Leser, und warum? Was sagte das Ausland? Und wie viel verdiente der NSDAP-Chef überhaupt daran? Weshalb erschien die Fortsetzung, Hitlers »Zweites Buch« niemals? Nebenbei räumt Kellerhoff mit den bekannten Mythen auf und entlarvt Hitler als Verfälscher seiner eigenen Biografie und gemeinen Steuerhinterzieher. Es gelingt ihm, dieses verminte Terrain zu durchqueren, um uns die wahre Geschichte der Karriere von »Mein Kampf« zu erzählen.

Sven Felix Kellerhoff, geboren 1971 in Stuttgart, studierte Zeitgeschichte, Alte Geschichte und Medienrecht. Nach verschiedenen journalistischen Stationen ist er heute Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der WELT. Er ist Autor zahlreicher zeithistorischer Sachbücher. 2012 erhielt er den Ehrenpreis der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Bei Klett-Cotta erschienen von ihm zuletzt »Die NSDAP« (2017), »Ein ganz normales Pogrom« (2018) und »Eine kurze Geschichte der RAF« (2019).

Impressum

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Klett-Cotta

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Umschlag: Rothfos und Gabler

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Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98382-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10839-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Vorwort

Wir werden gemeinsam herausfinden, ob das Buch so besonders ist, wie der Gesetzgeber es macht, denn Mein Kampf ist ein verbotenes Buch.

Serdar Somuncu, Kabarettist[1]

Verbote machen attraktiv. Was eine Autorität für schädlich, gar für gefährlich hält, wird beinahe zwangsläufig interessant. Sogar dann, wenn das Verbot in Wirklichkeit gar nicht existiert, wenn es sich nur um ein Missverständnis handelt. Adolf Hitlers Buch ist in der Bundesrepublik nicht verboten. Jeder darf es besitzen, darin lesen, sogar damit handeln – solange es sich um ein antiquarisches Exemplar handelt, können weder Staatsanwälte noch Polizisten etwas dagegen unternehmen. Und dennoch liegt Serdar Somuncu, deutscher Satiriker türkischer Herkunft, gar nicht falsch mit seiner Bemerkung, die zur Einleitung seines erfolgreichsten Programms gehört. In Nachlass eines Massenmörders hat er schon bei mehr als 1400 Auftritten zahlreiche Passagen aus Mein Kampf vorgetragen. Er hat dafür Preise bekommen und viel Beifall eingeheimst, weil er ein Tabubrecher sei; die Berliner Tageszeitung rief ihn deshalb sogar zum »Mann des Jahres 1996« aus. Seine teilweise szenischen Lesungen stießen wohl auch deshalb auf so viel Interesse, weil zwar der Titel von Hitlers Buch allgemein bekannt ist, aber kaum jemand etwas über den Inhalt der fast 800 Textseiten weiß. Wer sich für Zeitgeschichte interessiert, vermag vielleicht noch zu sagen, dass es sich um ein Konglomerat aus Autobiografie, antisemitischen Vorurteilen und Hassbotschaften handelt. Doch ob und wie brisant Mein Kampf wirklich ist, 70 Jahre nach dem Selbstmord seines Verfassers, kann kaum jemand aus eigener Lektüre beurteilen.

Der Grund ist schlicht: In der Bundesrepublik waren und sind sich mehrere Generationen von Ministerialbeamten, Richtern, Ministern, sogar ein leibhaftiger Ministerpräsident einig, dass möglichst niemand Mein Kampf lesen soll. Seit Jahrzehnten verhindern sie eine sachliche Auseinandersetzung mit Hitlers Buch. Mit den Mitteln des Urheberrechts wird eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Bandes verhindert, der zwar seit 1945 auf Deutsch nicht mehr gedruckt werden darf, aber immer noch das Originalwerk eines Autors deutscher Sprache mit der höchsten jemals verbreiteten Auflage ist. Und obwohl die juristische Grundlage dieses Vorgehens Ende 2015 ausläuft, soll es fortgesetzt werden. Ende Juni 2014 stellte die Justizministerkonferenz, oberstes Koordinierungsgremium der Rechtspolitik in Deutschland, das ganz offiziell fest. Das Buch sei »ein furchtbares Beispiel einer menschenverachtenden Schrift«, hieß es in dem Beschluss: »Die Justizministerinnen und Justizminister sind sich einig, dass eine unkommentierte Verbreitung von Hitlers Mein Kampf auch nach Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist zum 31. Dezember 2015 verhindert werden soll.« Die Politiker forderten die ihnen unterstellten Staatsanwälte auf, sich baldmöglichst mit den »strafrechtlichen Fragen der Thematik zu befassen und die Justizministerkonferenz über das Ergebnis zu unterrichten«.[2] Formal richtet sich diese Empfehlung zwar nur gegen »unkommentierte« Neuausgaben, die aber offiziell ohnehin niemand herausgeben will, und soll natürlich auch nur für die weisungsgebundenen Strafverfolgungsbehörden gelten, nicht die prinzipiell unabhängigen Gerichte binden. Indirekt jedoch würde die Umsetzung dieses Auftrages zweifelsfrei dafür sorgen, dass künftig Staatsanwälte zu entscheiden hätten, welche Kommentierung von Mein Kampf in welchem Umfang hinreichend wäre und welche nicht. Eine Aufgabe, die Juristen schon mangels Qualifikation überhaupt nicht bewältigen können.

Die Folge der bayerischen Obstruktion gegen die seriöse Geschichtswissenschaft: Mythen umranken Hitlers Buch; sie wachsen glänzend auf dem Nährboden der Unwissenheit. Anders als zu vielen anderen wichtigen Themen der jüngeren deutschen Vergangenheit gibt es zu Mein Kampf bis heute keinen gesellschaftlichen Konsens. Die Judenverfolgung, der Holocaust und der Vernichtungscharakter der Wehrmachtsfeldzüge in der Sowjetunion oder Jugoslawien, die grausame Besatzungsherrschaft in Griechenland oder Italien: All das wird außer von einem marginalen Anteil an Rechtsextremisten heute nicht mehr bestritten. An Stammtischen mögen noch populistische Sprüche geklopft werden, doch ernst nimmt das zu Recht niemand mehr. In keinem Land der Welt sind die Verbrechen einer untergegangenen Diktatur jemals ausdauernder aufgearbeitet worden als in der Bundesrepublik, wenn auch im Laufe der Zeit in stark unterschiedlicher Intensität; nirgendwo hat man mehr gerungen mit der Frage, wie »es« möglich war. Deutschland dürfte das einzige Land sein, in dem Bildungsbürger eine aggressive und erkennbar kurzschlüssige Schmähschrift gegen die eigenen Eltern und Großeltern zum Bestseller werden ließen – Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker verkaufte sich in mehr als 400 000 Exemplaren. Das Buch bot einfache Antworten auf die Frage, woher der Hass kam, der zum Mord an rund sechs Millionen jüdischen Menschen führte; dass Goldhagens Erklärungen weitgehend falsch waren, fiel dem breiten Publikum nicht oder erst mit Verspätung auf.

Das wäre kaum geschehen, wenn hierzulande eine kritische Auseinandersetzung mit Hitlers Buch gepflegt würde. Wenn es eine gesicherte Basis dafür gäbe, man nicht auf Gerüchte und Gerede über Mein Kampf angewiesen wäre. Zwar sind im Internet zahlreiche Textvarianten leicht per Suchmaschine zu finden, doch seriöse Kommentare gibt es kaum. In der unüberschaubaren Fülle von mehr als 80 eigenständigen Hitler-Biografien wird sein wichtigstes Werk zwar stets erwähnt und mehr oder weniger ausführlich zitiert, doch selten geht das über eine Aneinanderreihung hinaus. Eine angemessene Analyse des Buches bietet keine dieser Lebensbeschreibungen, auch wenn sie teilweise ein außerordentlich hohes Niveau erreichen. Einschlägige Bücher über Mein Kampf sind viel seltener; in den vergangenen knapp 50 Jahren hat es nur ein knappes halbes Dutzend in sehr unterschiedlicher Qualität gegeben: Der Publizist Werner Maser erreichte seit Mitte der 1960er-Jahre sechsstellige Auflagen mit seinen im Kern immer ähnlichen, inhaltlich fragwürdigen Büchern über Mein Kampf.[3] Die kurz kommentierte Auswahlausgabe von Christian Zentner, vorwiegend in indirekter Rede formuliert, ist seit mehr als 40 Jahren weitgehend unverändert lieferbar.[4] Zwei Bände der Politologin Barbara Zehnpfennig, eine ausführliche Interpretation und ein konzentrierterer Studienkommentar, sind sicher die bisher besten Analysen von Hitlers Buch. Doch auch sie klären nur über einzelne Aspekte auf, sind zudem zwar lobenswert meinungsstark, aber in vielen Deutungen mindestens diskussionswürdig.[5] Mein Kampf ist deshalb bis heute eine Art schwarzes Loch geblieben, um das die gesamte NS-Forschung und damit ein Großteil der deutschen Zeitgeschichte kreist. Daran konnte auch eine enorm materialreiche buchwissenschaftliche Studie von Othmar Plöckinger nichts ändern, denn sie konzentriert sich auf die äußere Geschichte des Werkes bis 1945.

So reden viele über ein Buch, von dem sie kaum mehr kennen als den Titel, höchstens noch ein paar Schlagwörter, die im Internet auf unzähligen, oft rechtsextremen Seiten zitiert werden: »Ich aber beschloss, Politiker zu werden« etwa, oder: »Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn«, natürlich auch: »Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.« Die größte Stärke von Mein Kampf liegt ohne Zweifel in seiner Zitierfähigkeit: Es ist kein Problem, in kürzester Zeit provokante Sätze zu finden. Noch leichter wird das, weil Dutzende Websites, auf Deutsch oder in Übersetzung, längere Passagen aus Mein Kampf zur schnellen Lektüre anbieten; meist ohne jeden Kommentar, manchmal mit wenig aussagekräftigen Vorbemerkungen. Beim Googeln findet man sie jenseits von Wikipedia problemlos. Sachlich aufbereitete Informationen über das in 12,4 Millionen Exemplaren gedruckte Buch gibt es dagegen so gut wie gar nicht, jedenfalls nicht auf aktuellem Stand der Forschung.

Nicht einmal über grundlegende Fragen gibt es einen gesellschaftlichen Konsens: Belegen Hitlers Ausführungen nun, dass er ein »systematischer Denker« war?[6] Oder stimmt genau das Gegenteil: Ist Mein Kampf eine »inhaltlich absolut wirre Darstellung«?[7] Andreas Wirsching, der Direktor des angesehenen Instituts für Zeitgeschichte in München, betont: »Insbesondere ist die häufig gehörte Meinung falsch und irreführend, der Text sei wirr und im Grunde unlesbar.«[8] Ist das Buch wirklich »zu gefährlich für die Öffentlichkeit«?[9] Oder wäre es eine »gewaltige Überreaktion«, die »öde und unverständliche Schmähschrift« weiterhin unter Verschluss zu halten?[10]

Der Verwirrung über Mein Kampf abzuhelfen ist der Zweck dieses Buches. Es zeichnet seine Karriere von der Idee bis zum aktuellen Streit um eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe nach, fasst die wesentlichen Inhalte zusammen, klärt die von Legenden überwucherte Entstehungsgeschichte und stellt die Frage nach Hitlers Quellen. Woher stammt sein Judenhass? Wie zuverlässig sind die autobiografischen Ausführungen? Wie reagierte die Öffentlichkeit auf Mein Kampf? Sehr wichtig für die Auseinandersetzung mit Hitlers Buch sind der Absatz, sein Verdienst und natürlich die Zahl der Leser: Handelte es sich wirklich um einen »ungelesenen Bestseller«, wie oft behauptet wurde? Oder ist vielmehr das Gegenteil richtig: Lasen viele Millionen Deutsche den Originalton ihres »Führers«? Hat Hitler ein konkretes politisches Programm niedergelegt? Welche Verbrechen des NS-Regimes gingen direkt auf Mein Kampf zurück? Konnte man schon aus der Lektüre des Buches wissen, welche Methode des Massenmordes in Auschwitz eingesetzt werden würde? Wie sah das Ausland Hitlers Schrift? Gab es Übersetzungen und in welcher Qualität? Wie entwickelte sich die Auseinandersetzung mit Mein Kampf nach 1945? Schließlich: Wie sieht die Zukunft aus? Auf all diese Fragen gibt das vorliegende Buch, gestützt auf vielfach bisher nicht oder mindestens ungenügend erschlossene Archivquellen, Antworten. Sie werden im Detail vielleicht nicht unumstritten bleiben, aber wenn dadurch die Debatte um die »Bibel des Nationalsozialismus« intensiviert und zugleich versachlicht wird, dann hat es seinen Zweck erreicht. Denn Hitlers Werk muss dringend entmythologisiert werden.

Berlin, 8. Mai 2015

Sven Felix Kellerhoff

Inhalt

Der Verleger des Buches, der sich offenbar einen Erlebnisbericht mit sensationellem Hintergrund versprochen hatte, war von der steifen und redseligen Langeweile des Manuskripts zunächst überaus enttäuscht.

Joachim Fest, Hitler-Biograf[1]

Wer ein Buch schreibt, will seine Leser entweder informieren oder unterhalten, vielleicht auch beides. In jedem Fall ist ein Spannungsbogen unverzichtbar, der die Lektüre interessant macht, am besten lohnend. Deshalb wird kein Autor sein Werk mit dem Ende beginnen, mit dem nachweislichen Scheitern des eigenen Vorhabens. Wer etwa über einen Putschversuch berichtet, wird vielmehr zuerst die Umstände schildern, unter denen der Plan zu dem Staatsstreich reifte, dann die Umsetzung schildern, den Mut der Beteiligten würdigen, die Niedertracht der Gegner geißeln, schließlich den verdienten Erfolg feiern oder das tragische Scheitern beklagen. Kaum ein Schriftsteller würde wohl einen anderen Weg einschlagen – niemand außer Adolf Hitler.

»Am 1. April 1924 hatte ich, aufgrund des Urteilsspruches des Münchner Volksgerichts von diesem Tage, meine Festungshaft zu Landsberg am Lech anzutreten«, lautet der erste Satz auf der ersten Textseite von Mein Kampf. Am Anfang seines zweibändigen Buches stand das Eingeständnis des Scheiterns, wenn auch kaschiert: »Damit bot sich mir nach Jahren ununterbrochener Arbeit zum ersten Male die Möglichkeit, an ein Werk heranzugehen, das von vielen gefordert und von mir selbst als zweckmäßig für die Bewegung empfunden wurde.« Also habe er sich entschlossen, »nicht nur die Ziele unserer Bewegung klarzulegen, sondern auch ein Bild der Entwicklung derselben zu zeichnen«. Auch ein Versprechen machte Hitler seinen Lesern gleich zu Anfang: »Aus ihr wird mehr zu lernen sein als aus jeder rein doktrinären Abhandlung.«

Dabei zielte er aber gar nicht darauf, Menschen von seinen Ideen zu überzeugen, die bislang dem Nationalsozialismus gegenüber gleichgültig oder gar skeptisch gewesen waren; Mein Kampf richtete sich vielmehr, dem Vorwort zufolge, »nicht an Fremde, sondern an diejenigen Anhänger der Bewegung, die mit dem Herzen ihr gehören und deren Verstand nun nach innigerer Aufklärung strebt«. Vor allem bei ihnen konnte Hitler darauf hoffen, mit der instinktiven Form von Demagogie anzukommen, die alle seine Reden prägte und ebenso sein Buch. Ähnlich widersprüchlich erklärte er die Wahl des Mediums. Einerseits betonte Hitler, dass »jede große Bewegung auf dieser Erde ihr Wachsen den großen Rednern und nicht den großen Schreibern« verdanke. Andererseits stellte er fest: »Dennoch muss zur gleichmäßigen und einheitlichen Vertretung einer Lehre das Grundsätzliche derselben niedergelegt werden für immer.«[2] Viele der damals fast ausnahmslos christlich geprägten Leser dürften bei diesen Sätzen Assoziationen an die Bibel gehabt haben: Eine Heilige Schrift kannten sie; ebenso, dass man ihren Text oder, genauer, die Botschaften, die Pfarrer unter Berufung darauf verkündeten, nicht in Frage zu stellen hatte.

Auch beim Weiterblättern kam wenig Spannung auf. Dick schwarz umrandet standen auf der nächsten Seite die Namen von 16 Männern, den »Blutzeugen« der NS-Bewegung. 14 von ihnen waren am 9. November 1923 mittags in der Münchner Residenzstraße von bayerischen Landpolizisten niedergeschossen worden, als sie mit etwa zweitausend Gesinnungsgenossen und Adolf Hitler an der Spitze ein irrwitziges Vorhaben in die Wirklichkeit umzusetzen versuchten: den »Marsch auf Berlin«. Ein Jahr nach dem Erfolg der italienischen Faschisten, denen ein symbolischer »Marsch auf Rom« die Ernennung ihres Parteichefs Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten eingebracht hatte, wollten die deutschen Nationalsozialisten auf demselben Weg die Macht in Deutschland ergreifen – gegen die demokratisch legitimierte Regierung in der Reichshauptstadt. Hitler hatte sich in jenem Herbst immer mehr in Fahrt geredet; er wollte dem Vorbild Mussolini unbedingt nacheifern. Am 5. September 1923 etwa sagte er: »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder marschiert Berlin und endet in München, oder München marschiert und endet in Berlin!«[3] Drei Wochen später erklärte er gegenüber einem Vertreter der amerikanischen Nachrichtenagentur United Press: »Wenn München im gegebenen Augenblick nicht auf Berlin marschiert, wird Berlin auf München marschieren.«[4] Diese Drohung wurde durchaus ernst genommen; nicht nur in München, sondern ebenso in Berlin. Sogar die Washington Post berichtete über den »bayerischen Nationalisten-Führer Adolph Hittler«.[5] Über die Schreibweise seines Namens herrschte noch Unklarheit.

Am 8. November 1923, dem Vorabend des fünften Jahrestages der Revolution in Deutschland und der Abdankung des Kaisers, wollte Hitler seinen Plan umsetzen. In völliger Fehleinschätzung der Situation stürmte er bewaffnet in eine Versammlung, die Anhänger des reaktionären bayerischen Kabinetts unter Generalstaatskommissar Gustav von Kahr im Bürgerbräukeller abhielten. Der NSDAP-Chef schoss in die Decke und rief die »deutsche Revolution« aus: Unter seiner Führung sei eine neue Regierung zu bilden, die von Bayern aus die Macht im ganzen Land übernehmen werde: »Die Aufgabe der provisorischen Deutschen National-Regierung ist, mit der ganzen Kraft Bayerns und der herbeigezogenen Kraft aller deutschen Gaue den Vormarsch anzutreten in das Sündenbabel Berlin.«[6] Hitler presste Kahr und seinen anwesenden Vertrauten »auf Ehrenwort« die Zusage ab, ihn zu unterstützen, ließ sie gehen und organisierte die Besetzung strategisch wichtiger Punkte in München, vor allem von Ministerien, Kasernen und Zeughäusern. Doch die meisten nicht-nationalsozialistischen Gruppen und Honoratioren der bayerischen Hauptstadt reagierten verhalten, ja abwartend. Kahr fühlte sich nicht an seine Zusage gebunden, die ihm unter Waffengewalt abgezwungen worden war, und organisierte die Gegenwehr: Regierungsloyale Polizei-Einheiten wurden mobilisiert, Mitarbeiter der Ministerien auf die Abwehr des Putsches eingeschworen.

Als Hitler am folgenden Morgen erkannte, dass sein Staatsstreichversuch misslingen würde, rief er seine Anhänger auf, in Richtung Feldherrnhalle zu marschieren – ein so verzweifelter wie aussichtsloser Versuch, das bereits unausweichliche Scheitern abzuwenden. Vom Bürgerbräukeller aus liefen die Putschisten bewaffnet durch die Innenstadt; in der Residenzstraße traten ihnen Uniformierte entgegen. Schüsse fielen, 14 der Aufrührer starben, außerdem vier Polizisten. Der Putsch war zu Ende. Hitler, der sich die Schulter ausgekugelt hatte, floh zunächst und tauchte bei seinem Gönner Ernst Hanfstaengl unter. Von seinem Scheitern tief getroffen, dachte er an Selbstmord, ließ sich dann aber widerstandslos festnehmen und einsperren. Ein sehr verständnisvolles Sondergericht verurteilte ihn zur Mindeststrafe für Hochverrat: Für seinen versuchten Staatsstreich bekam er fünf Jahre »ehrenvoller« Festungshaft mit Haftprüfung schon nach sechs Monaten.

Ohne Zweifel wären der gescheiterte Putsch, seine Vorgeschichte und seine Folgen ein reizvoller Stoff für ein Kolportagebuch gewesen. Dennoch ging Hitler darauf in Mein Kampf, abgesehen vom Vorwort und der Widmung sowie einigen wenigen Andeutungen, erst auf den allerletzten Seiten des zweiten Bandes wieder ein, mit einer klaren Entscheidung: »Ich will an dieser Stelle nicht eine Schilderung jener Ereignisse folgen lassen, die zum 8. November 1923 führten und die ihn beschlossen. Ich will es deshalb nicht, weil ich mir für die Zukunft nichts Nützliches davon verspreche, und weil es vor allem zwecklos ist, Wunden aufzureißen, die heute kaum vernarbt erscheinen; weil es überdies zwecklos ist, über Schuld zu reden bei Menschen, die vielleicht im tiefsten Grunde ihres Herzens doch alle mit gleicher Liebe an ihrem Volke hingen und die nur den gemeinsamen Weg verfehlten oder sich nicht auf ihn verstanden.« Er beließ es stattdessen bei einem Rückgriff auf die Widmung: »Diese 16 Helden, denen ich den ersten Band meines Werkes geweiht habe, will ich am Ende des zweiten den Anhängern und Verfechtern unserer Lehre als jene Helden vor Augen führen, die in klarstem Bewusstsein sich für uns alle geopfert haben. Sie müssen den Wankelmütigwerdenden und den Schwachen immer wieder zur Erfüllung seiner Pflicht zurückrufen, zu einer Pflicht, der sie selbst im besten Glauben und bis zur letzten Konsequenz genügten.«[7]

Statt seinem Publikum also eine spannungsgeladene Schilderung des misslungenen Putsches zu bieten, begann Hitler mit einer Schilderung seines Werdegangs; das erste Kapitel trug die Überschrift »Im Elternhaus«. Derlei für Leser interessant statt abschreckend zu gestalten ist durchaus schwierig. Doch mit seiner instinktiven rhetorischen Begabung formulierte er die ersten Absätze durchaus prägnant: »Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!« Nach einem Absatz, entsprechend einer Atempause in der öffentlichen Rede, fuhr er fort: »Deutschösterreich muss wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie schädlich wäre, sie müsste dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.«[8]

Eine ähnliche Idee hatte Hitler schon auf der ersten Typoskriptseite des frühesten Entwurfs von Mein Kampf festgehalten: »Es scheint mir eine glückliche Vorbedeutung zu haben, dass meine Wiege …«, hieß es auf dem Anfang Mai 1924 geschriebenen Blatt. Doch dann hatte er diese Worte wieder ausgestrichen und neu angesetzt: »Als eine glückliche Vorbedeutung muss ich es heute empfinden, dass meine Wiege in Braunau stand; ist doch dieses Städtchen gerade an der Grenze zweier deutscher Staaten gelegen, deren Wiedervereinigung uns Jüngeren als eine wahrhaft hehre Lebensaufgabe erscheint.« Fast wörtlich schloss sich der zweite Absatz an, wie er später auch gedruckt wurde, einschließlich der ersten zentralen These nach nicht einmal einer halben Seite Haupttext: »Gemeinsames Blut gehört in ein gemeinsames Reich.«[9]

Ausgehend von diesem durchaus geschickt konstruierten Einstieg schilderte Hitler seine Herkunft aus vermeintlich bescheidenen Verhältnissen, seine bereits in früher Kindheit geprägte deutsch-österreichische Identität und seine Ablehnung des »Erbfeindes Frankreich«. Schon auf der zweiten Seite folgte der erste, für das gesamte Buch typische Exkurs, in diesem Fall zu einem relativ aktuellen Ereignis, der Hinrichtung des nationalistischen Bombenlegers Leo Schlageter Ende Mai 1923 durch französische Soldaten im besetzten Rheinland. Damit knüpfte Hitler an den Erwartungshorizont seines Publikums an, dem die stark romantisierte Geschichte vom »Nationalhelden« Schlageter in zahlreichen Ausschmückungen nahegebracht worden war. Übergangslos kehrte er dann zurück zur Schilderung seines Elternhauses, seiner Kindheit an verschiedenen Dienstorten des Vaters Alois Hitler, der Jugend in Linz nach dessen Pensionierung und seinen Wünschen für die Zukunft des Sohnes: »Ich sollte studieren.«[10]

Doch weil das humanistische Gymnasium nicht den Begabungen des kleinen Adolf zu entsprechen schien, gab Alois ihn auf eine Oberrealschule, mit dem Ziel, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Doch das wollte sein Sohn, seiner Schilderung in Mein Kampf zufolge, auf keinen Fall: »Zum ersten Male in meinem Leben wurde ich, als damals noch kaum Elfjähriger, in Opposition gedrängt. So hart und entschlossen auch der Vater sein mochte in der Durchsetzung einmal ins Auge gefasster Pläne und Absichten, so verbohrt und widerspenstig war aber auch sein Junge in der Ablehnung eines ihm nicht oder nur wenig zusagenden Gedankens: Ich wollte nicht Beamter werden. Weder Zureden noch ›ernste‹ Vorstellungen vermochten an diesem Widerstande etwas zu ändern. Ich wollte nicht Beamter werden, nein und nochmals nein.« Adolf nämlich sah sich, so jedenfalls schilderte er es, als Künstler, genauer: als Maler. Ein Wunsch, der den Vater erzürnte: »Nein, solange ich lebe, niemals«, habe er gesagt, schrieb der Sohn rückblickend. Mit diesem Zielkonflikt erklärte Hitler seinen mangelnden Erfolg in der Linzer Oberrealschule. Er interessierte sich nur für zwei Fächer, Geografie und Weltgeschichte, in denen er freilich »der Klasse vorschoss«. Aus der Distanz bilanzierte er seine Schulzeit: »Wenn ich nun nach so viel Jahren mir das Ergebnis dieser Zeit prüfend vor Augen halte, so sehe ich zwei hervorstechende Tatsachen als besonders bedeutungsvoll an. Erstens: Ich wurde Nationalist. Zweitens: Ich lernte Geschichte ihrem Sinne nach verstehen und begreifen.«[11]

Es folgte der nächste Exkurs, über die Habsburger-Monarchie, das »alte Österreich«. Sein Aufwachsen in dem »Nationalitätenstaat« habe ihn gelehrt, zwischen »dynastischem Patriotismus« und »völkischem Nationalismus« zu unterscheiden: »Ich kannte damals schon nur mehr das letztere.« Hitler wurde, so jedenfalls stellte er es dar, durch diesen Gegensatz zum »jungen Revolutionär«. Aus seiner Einsicht, dass »die Sicherung des Deutschtums die Vernichtung Österreichs voraussetzte«, zog er eine einfache Konsequenz: »Heiße Liebe zu meiner deutschösterreichischen Heimat, tiefen Hass gegen den österreichischen Staat«.[12] Das hinderte Hitler freilich nicht daran, bald nach dem Tod seiner Mutter Ende 1907 – der Vater war bereits vier Jahre zuvor überraschend gestorben – nach Wien umzuziehen, in die Hauptstadt eben jenes österreichischen Staates, den er angeblich zu dieser Zeit schon so vehement ablehnte.

Die Jahre dort schilderte er im zweiten Kapitel, überschrieben »Wiener Lehr- und Leidensjahre«, seine »allgemeinen politischen Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit« im dritten. Zusammen machten diese beiden Abschnitte fast ein Drittel des ersten Bandes aus; Hitler legte dar, wie er zum »granitenen Fundament« seiner Weltanschauung kam, indem ihm die Augen geöffnet worden seien »für zwei Gefahren, die ich beide vordem kaum dem Namen nach kannte, auf keinen Fall aber in ihrer entsetzlichen Bedeutung für die Existenz des deutschen Volkes begriff: Marxismus und Judentum«.[13] In einer Mischung aus konkreten, zum Großteil aber erfundenen Beschreibungen seines Lebens in Wien, etwa über seine angebliche Zeit als Bauarbeiter, und allgemeinen Schlüssen entwickelte er in strenger Abgrenzung von bürgerlich-sozialem sowie sozialdemokratischem Engagement die Prinzipien des »nationalen Sozialismus«, auf denen später die NSDAP gründete. Untrennbar verband Hitler damit larmoyante Rückblicke auf seine Zeit als Postkartenmaler – die wahren Ursachen für sein selbstgewählt bescheidenes Leben aber verschwieg er. Wann immer sich beim Leser die Frage danach aufdrängen konnte, wich der Text in Beschimpfungen wahlweise des Bürgertums, »der Marxisten« oder, natürlich am häufigsten, »der Juden« aus. Mit langen Ausführungen über seine Wandlung zum radikalen Antisemiten schloss das zweite Kapitel. Der familiären kirchlichen Prägung entsprang die Schlusspointe dieses Abschnitts: »Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.«[14]

Das dritte Kapitel vertiefte, variierte aber vor allem die bereits geschilderten Überzeugungen. Ausführlich stellte er seine Ablehnung des Vielvölkerkonstrukts der Habsburger-Monarchie dar, karikierte den Wiener Parlamentsbetrieb und attackierte die »öffentliche Meinung«, die »schlimme Großmacht im Staate«, die bestimmte Meinungen erzeugte, »auch wenn es sich dabei um die vollständige Umfälschung sicher vorhandener innerer Wünsche und Anschauungen der Allgemeinheit« handelte. Geprägt worden sei diese »öffentliche Meinung« von der »brutalen, vor keiner Niedertracht zurückschreckenden, mit jedem Mittel der Verleumdung und einer wahrhaft balkenbiegenden Lügenvirtuosität arbeitenden Tagespresse«.[15]

Mehrere Seiten widmete Hitler den beiden österreichischen Antisemiten Karl Lueger und Georg Schönerer. Während Lueger durchaus Erfolg hatte, insgesamt 13 Jahre lang als Bürgermeister Wien regierte und modernisierte, konnte der nicht nur judenfeindliche, sondern auch noch alldeutsche Nationalist Schönerer kaum eine nennenswerte Anhängerschaft hinter sich scharen. Hitler attestierte dennoch dem einen wie dem anderen, gescheitert zu sein: »Was Dr. Lueger praktisch angriff, gelang in wundervoller Weise; was er sich davon erhoffte, blieb aus. Was Schönerer wollte, gelang ihm nicht, was er befürchtete, traf aber leider in furchtbarer Weise ein. So haben beide Männer ihr weiteres Ziel nicht erreicht. Lueger konnte Österreich nicht mehr retten und Schönerer das deutsche Volk nicht mehr vor dem Untergange bewahren.«[16] Aus dieser Feststellung leitete Hitler seinen Anspruch ab, in der Tradition Schönerers und Luegers völkisch-nationalistische Politik zu betreiben, aber im Gegensatz zu ihnen seiner Ansicht nach richtig.

Allerdings nicht in Österreich, sondern in Deutschland, genauer gesagt: in Bayern. Das vierte Kapitel trug die schlichte Überschrift »München« und schilderte sehr frei Hitlers Wechsel über die Grenze im Mai 1913 und die folgenden Monate bis zum Beginn des Weltkriegs. Über den wesentlichen Grund, seine Flucht vor dem Wehrdienst im österreichisch-ungarischen Heer, schwieg er sich aus; stattdessen sang er ein Loblied auf die »Metropole der deutschen Kunst«. Er jubelte, man habe »nicht nur Deutschland nicht gesehen, wenn man München nicht kennt, nein, man kennt vor allem die deutsche Kunst nicht, wenn man München nicht sah«. Seinem Buch zufolge habe er hier die bis dahin schönste Zeit seines Lebens erlebt: »Dass ich heute an dieser Stadt hänge, mehr als an irgendeinem anderen Fleck der Erde auf dieser Welt, liegt wohl mit begründet in der Tatsache, dass sie mit der Entwicklung meines eigenen Lebens unzertrennlich verbunden ist und bleibt.«[17]

Wie in den vorherigen Kapiteln dienten geraffte autobiografische Schilderungen als Rahmen für allgemein politische Ausführungen. Mit dem Wechsel nach Deutschland verschwand Österreich nur zum Teil aus Hitlers Blickfeld, denn nun ging es vor allem um die Außenpolitik des Hohenzollern-Reiches, speziell um seine »falschen« Bündnisse. Gemeint war damit in erster Linie die enge Bindung an den verhassten multinationalen Staat der Habsburger-Dynastie, die Hitler missfallen musste; zumal ihm als einzig verlässliche Partner in Österreich die dortigen Deutschen galten, im Gegensatz zu den Ungarn, den verschiedenen slawischen Völkern und natürlich »den Juden«. Richtig war daran, dass die Regierung Wilhelms II. vor 1914 auf die »Nibelungentreue« zu Österreich-Ungarn gesetzt hatte; allerdings gab es in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg dazu keine Alternative mehr – zu sehr hatten sich die Interessenkonflikte Deutschlands mit den anderen europäischen Großmächten verschärft. Mit dem »Erbfeind« Frankreich sowieso, aber auch zum Weltreich Großbritannien und zur rückständigen Kontinentalmacht Russland. Zwar musste die strategisch-politische Lage keineswegs zwangsläufig zu einem großen europäischen Krieg führen, doch eine militärische Auseinandersetzung mit einem dieser Staaten war sehr wahrscheinlich.

Von begrenzten militärischen Konflikten wie zu Bismarcks Zeiten hielt Hitler nichts; für ihn war ewiger Kampf der Normalzustand von Nationen. Politische Stabilisierung nach innen und Abgrenzung nach außen interessierten ihn nicht, sondern nur die »ewigen Gesetze des Forterhaltungswillens«, die ganz einfach seien: »Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen.« Die »Humanität der Einzelnen« zähle nichts, sondern nur die »Humanität der Natur«, die »Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu schenken«. Das war eine stark vereinfachte Form um die Jahrhundertwende populärer politischer Theorien, die biologische Erkenntnisse des Evolutionsforschers Charles Darwin auf menschliche Gesellschaften übertrugen. Doch Hitler spitzte diesen Sozialdarwinismus noch zu, indem er den Gewinn von Lebensraum als unabdingbar darstellte, als angeblich unausweichliche Konsequenz des Bevölkerungswachstums: »Deutschland hat eine jährliche Bevölkerungszunahme von nahezu 900 000 Seelen. Die Schwierigkeit der Ernährung dieser Armee von neuen Staatsbürgern muss von Jahr zu Jahr größer werden und einmal bei einer Katastrophe enden, falls eben nicht Mittel und Wege gefunden werden, noch rechtzeitig der Gefahr dieser Hungerverelendung vorzubeugen.« Um dieses Problem zu lösen, formulierte er in Mein Kampf vier mögliche »Wege deutscher Politik«.

Der erste sei staatliche Geburtenkontrolle, wie sie etwa Frankreich betreibe, also »die Zunahme der Geburten künstlich einschränken und damit einer Überbevölkerung begegnen«. Richtig an Hitlers Darstellung war, dass die statistische Geburtenrate französischer Frauen vor dem Ersten Weltkrieg, jedenfalls laut Stichproben, deutlich unter der in Deutschland lag, nämlich bei weniger als zwei Kindern. Und tatsächlich entwickelte sich die Demografie beider Länder auseinander: Während die deutsche Bevölkerung zwischen 1870 und 1911 um mehr als 50 Prozent zulegte, von 40,8 auf 65,4 Millionen, stieg die Zahl der Franzosen im gleichen Zeitraum lediglich von 38,2 auf 41,4 Millionen, also um nicht einmal ein Zehntel. Mit irgendeiner offiziellen Politik der Regierung in Paris hatte diese Entwicklung jedoch nichts zu tun; im Gegenteil: Das schwache Bevölkerungswachstum wurde als strategischer Nachteil gegenüber Deutschland wahrgenommen. Unabhängig davon erschien Hitler Geburtenkontrolle nicht als mögliche Lösung der angeblich drohenden Hungerkatastrophe: »Wer also dem deutschen Volke das Dasein sichern will auf dem Wege einer Selbstbeschränkung seiner Vermehrung, raubt ihm damit die Zukunft.«[18]

Ein zweiter Weg sei die »innere Kolonisation«. Darunter verstand Hitler, die verfügbaren landwirtschaftlichen Flächen effizienter zu nutzen und die Bevölkerung zu verdichten, also tendenziell das Wachstum von Städten. Für ihn war das keine Alternative, denn sie widersprach seinem sozialdarwinistischen Denken: »Für uns Deutsche aber ist die Parole der ›inneren Kolonisation‹ schon deshalb unselig, da sie bei uns sofort die Meinung verstärkt, ein Mittel gefunden zu haben, das der pazifistischen Gesinnung entsprechend gestattet, in sanftem Schlummerleben sich das Dasein ›erarbeiten‹ zu können.« Verbreiten würde »solche todgefährlichen Gedankengänge« der natürliche Feind alles Deutschen, »der Jude«. Wer sich darauf einlasse, begrabe die Möglichkeit einer »wirklich nützlichen Außenpolitik« und »mit ihr die Zukunft des deutschen Volkes überhaupt«.[19]

Diese ersten beiden »möglichen Wege deutscher Politik« kamen für Hitler also nicht in Frage. Es blieben zwei weitere: »Man konnte entweder neuen Boden erwerben, um die überschüssigen Millionen jährlich abzuschieben, und so die Nation auch weiter auf der Grundlage einer Selbsternährung erhalten, oder man ging dazu über, durch Industrie und Handel für fremden Bedarf zu schaffen, um vom Erlös das Leben zu bestreiten.« Diese beiden Lösungen des demografischen Problems nannte er »entweder Boden- oder Kolonial- und Handelspolitik«. Das Hohenzollernreich habe sich, so kehrte er zum eigentlichen Thema des Exkurses im München-Kapitel zurück, für letzteres entschieden; »der gesündere Weg« wäre »freilich der erstere gewesen«.[20] Doch eine »solche Bodenpolitik kann nicht etwa in Kamerun ihre Erfüllung finden, sondern heute fast ausschließlich nur mehr in Europa«. Kolonien in Afrika, Asien oder im Pazifik seien keine Lösung: »Für Deutschland lag demnach die einzige Möglichkeit zur Durchführung einer gesunden Bodenpolitik nur in der Erwerbung von neuem Lande in Europa selber« – auch um den Preis »eines schweren Kampfes«.[21]

Dafür aber bedürfe das Reich eines Bundesgenossen, und der könne vor allem Großbritannien sein, keinesfalls aber Österreich-Ungarn. Für einen solchen Zusammenschluss der führenden Seemacht und der mindestens zweitstärksten Landmacht Europas wäre Hitler bereit gewesen, vieles zu opfern, was vor dem Ersten Weltkrieg als Zeichen deutscher Ambitionen auf einen »Platz an der Sonne« galt: »Verzicht auf Welthandel und Kolonien; Verzicht auf eine deutsche Kriegsflotte. Konzentration der gesamten Machtmittel des Staates auf das Landheer.« Die Radikalität dieses Vorschlags war ihm bewusst: »Das Ergebnis wäre wohl eine augenblickliche Beschränkung gewesen, allein eine große und mächtige Zukunft.«[22] Eine solche Zweiteilung der Welt mit dem britischen Empire blieb Hitlers Wunschvorstellung; jedoch realisierte er niemals, dass sie mit der britischen Tradition des Gleichgewichts verschiedener, möglichst fünf bis sechs Mächte inkompatibel und deshalb nicht diskutabel war. Die Alternative zu einem Bündnis mit Großbritannien, eine Verständigung mit Russland gegen die englische Weltmacht, sei theoretisch zwar ebenfalls möglich gewesen, jedoch als Zusammenschluss zweier Landmächte weitaus schwieriger.

Nach diesen ausführlichen geostrategischen Überlegungen kehrte Hitler in seiner Betrachtung der deutschen Politik zurück ins Innere, speziell zu Bismarcks Sozialistengesetzgebung. Der »Kampf gegen den Marxismus«, das hatte er bereits im Wien-Kapitel festgestellt, sei entscheidend; nun variierte er diese Überzeugung: »Die Frage der Zukunft der deutschen Nation« sei »die Frage der Vernichtung des Marxismus«. Sogar die von der Regierung in Berlin umgesetzte Bündnispolitik gehörte Mein Kampf zufolge zu den indirekten Auswirkungen marxistischer Agitation, war demnach nicht mehr als »eine der durch die Zersetzungsarbeit dieser Lehre hervorgerufenen Folgeerscheinungen«. Diese angesichts der internationalistischen, gegen die unbedingte Treue zum Wiener Kaiserhaus gerichteten Politik der Vorkriegs-SPD überraschende Wahrnehmung begründete Hitler mit einem klassisch verschwörungstheoretischen Argument: »Das Fürchterliche war ja eben, dass dieses Gift fast unsichtbar sämtliche Grundlagen einer gesunden Wirtschafts- und Staatsauffassung zerstörte, ohne dass die davon Ergriffenen häufig auch nur selber ahnten, wie sehr ihr Handeln und Wollen bereits der Ausfluss dieser sonst auf das schärfste abgelehnten Weltanschauung war.«[23] Unvermittelt endete damit das Kapitel über »München«.

Mit dem fünften Kapitel, »Der Weltkrieg« überschrieben, kam Hitler in der unmittelbaren Erfahrungswelt der meisten seiner potenziellen Leser an. Obwohl die Jahre 1914 bis 1918 praktisch alle Zeitgenossen tief geprägt hatten, war dieser Abschnitt relativ kurz, gerade einmal 21 Seiten. Diese Knappheit hob Mein Kampf ab von der Flut von Kriegserinnerungen, die in den 1920er-Jahren den Buchmarkt dominierten. Hitler beschrieb die Vorgeschichte der Juli-Krise, die ausgerechnet durch das Attentat auf den »Slawenfreund« Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ausgelöst wurde, und seine Wahrnehmung des »August-Erlebnisses«, der schon nach wenigen Wochen zum Mythos geronnenen, vermeintlich uneingeschränkten Kriegsbegeisterung des deutschen Volkes im Sommer 1914: »Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor«, schrieb er unter der Seitenüberschrift »Der deutsche Freiheitskampf« und fuhr fort: »Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, dass er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.«[24]