1 Vorwort

Das Konzept der Bezugsbetreuung lernte ich zum ersten Mal während meines Praxissemesters auf einer kinderpsychiatrischen Station kennen. Dort bildete es das zentrale Konzept der pädagogischen Arbeit mit schwer traumatisierten und zumeist bindungsgestörten Kindern.

Die Kinder hatten zum größten Teil in ihrem bisherigen Leben nicht die Chance, zu erfahren, was es bedeutet, in einem Umfeld zu leben, in dem Beziehungen zu Erwachsenen Halt geben und verlässlich sind. Für sie war es eine neue und oft verwirrende Erfahrung, kindgemäße, positive Zuwendung zu erhalten, ohne dass dafür eine Gegenleistung gefordert wurde. Sie waren erstaunt darüber, vor Betreuern sie selbst sein zu dürfen, ohne körperlich schmerzhafte Konsequenzen dafür erwarten zu müssen.

Während der täglichen Arbeit mit den Kindern erlebte ich, wie bedürftig sie auf der einen Seite nach eben solchen Halt gebenden, kontinuierlichen Beziehungen waren und wie schwierig es auf der anderen Seite für sie war, sich darauf einzulassen. Die Bezugsbetreuung erleichterte ihnen dies dadurch, dass jedem Kind im Rahmen der Bezugsbetreuung ein fester „persönlicher“ Betreuer zugeteilt wurde, der sich dem Kind in besonderer Weise zuwandte und ihm die Sicherheit, Klarheit und Geborgenheit vermittelte, derer er bedurfte. Jedem Kind bedeutete die Beziehung zu seinem Bezugsbetreuer etwas Besonderes - und ich konnte sehen, dass die Kinder gerade durch sie lernten, Vertrauen zu fassen sowie in und an ihr Fortschritte in ihrer Beziehungsfähigkeit zu machen. Die Atmosphäre, die durch die Bezugsbetreuung und die intensive Beziehungsgestaltung auf der Station herrschte, erlebte ich für die Kinder als sehr heilsam und für die Betreuer als zwar fordernd aber auch persönlich und fachlich sehr bereichernd.

Aufgrund dieser positiven Erfahrungen mit der Bezugsbetreuung begann ich, mich näher mit ihr auseinander zu setzen. Dabei fiel mir auf, dass sie zwar in vielen Einrichtungen zum Einsatz kommt (und dann auch im individuellen Einrichtungskonzept beschrieben ist), dass jedoch keine allgemeingültigen und konzeptionell niedergelegten Überlegungen hierzu existieren. Damit fehlt der Bezugsbetreuung die theoretische Grundlage, ohne die sie nach Außen nur schwer legitimierbar sein dürfte.

Da die Bezugsbetreuung jedoch m. E. ein äußerst effektives pädagogisches Konzept darstellt, beschloss ich, im Rahmen dieser Arbeit den Versuch zu wagen, auf der Grundlage meiner Erfahrungen ein allgemeingültiges Konzept zu entwerfen – und ihr so eine erste theoretisch und wissenschaftlich fundierte Grundlage zu verschaffe.

2 Einleitung

In den letzten Jahren stieg in der Entwicklungspsychologie, in der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie in der Sozial- und Heilpädagogik das Interesse an bindungstheoretischen Begriffen und Konzepten stetig an. Auslöser war die Beobachtung, dass immer mehr Kinder im Alter von ein bis zwölf Jahren auffällige pathologische Verhaltensweisen zeigen, die auf eine gestörte Bindungs- und Beziehungsfähigkeit zurückgeführt werden können (vgl. Ettrich 2004, 85). Dies macht es notwendig, in der therapeutischen sowie pädagogischen Behandlung und Förderung den Fokus immer stärker auf die Beziehungsarbeit zu richten. Doch worin haben diese Bindungsstörungen ihren Ursprung?

Eine Erklärung bieten die in der heutigen wirtschaftlich und kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft etablierten und postulierten Lebensweisen. Wir leben in einer Zeit, in der Fähigkeiten wie Flexibilität und Mobilität gefordert werden. Diese sind nicht nur geographisch zu verstehen, sondern beziehen sich vielmehr auf die gesamte Lebensgestaltung. Emotionale und soziale Bindungen wirken dabei eher hinderlich als förderlich. „Der Einzelne muss eine Fähigkeit zur flexiblen Selbstorganisation und zur Selbsteinbettung in die Gesellschaft entfalten, um in ihr erfolgreich zu sein“ (Finger-Trescher; Krebs 2003, 9).

Feste Beziehungen entsprechen derzeit keineswegs dem gängigen Bild des „Menschen von heute.“ Beziehungen gehen weniger in die Tiefe als vielmehr in die Breite: Es ist ökonomisch sinnvoller, viele Kontakte zu pflegen, als wenige zu intensivieren. Es geht um die Vermeidung des Festgelegtwerdens (vgl. Keupp 2003, 15). Diese Werte werden auch an die Kinder vermittelt, die vermehrt in unsteten Familienstrukturen aufwachsen.

Dieser Lebenstil läuft allerdings entgegen der menschlichen Natur, gegen das Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität, Strukturen und emotionaler Zuwendung und kann deshalb Ängste vor dem Alleinsein und Verlorengehen sowie Gefühle der Unsicherheit hervorrufen. Dies erklärt, warum in Pädagogik und Psychologie die Beziehungsarbeit einen immer größeren Stellenwert einnimmt. In diesem Umfeld, in dem die Ambivalenz in Bindungen und Beziehungen zunimmt, erleben auch immer mehr Kinder unbeständige Beziehungen, in denen ihr Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und emotionalen Bindungen nicht angemessen befriedigt wird. Resultat ist das vermehrte Auftreten von gestörtem Bindungsverhalten, das deutliche Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Lebensbewältigung und auf die Gesundheit hat.

Bindungen in der Kindheit stellen für den Menschen die Ausgangsbasis dar, von der aus er in seinem gesamten Leben soziale Beziehungen und damit sein Leben gestaltet. Umso wichtiger ist es, dass bindungsgestörte Kinder diesbezüglich Hilfe von pädagogischen und therapeutischen Fachkräften erhalten, die zielgerichtet und professionell regulierende und positive Bindungserfahrungen vermitteln können.

In den letzen zehn Jahren etablierte sich in der heilpädagogisch-therapeutischen Praxis ein pädagogisches Konzept, das eben jene professionelle Beziehungsgestaltung als grundlegende Methode anwendet: Die Bezugsbetreuung. Doch obwohl sie in vielen Einrichtungen ähnlich gehandhabt wird (was ihre Wirksamkeit offensichtlich bestätigt), unterliegt sie einem Phänomen, das leider in konzeptionsgeleiteten sozialen Einrichtungen immer wieder anzutreffen ist: Trotz der Orientierung der praktischen Arbeit an den Methoden und Leitlinien der Bezugsbetreuung existiert kein ausgearbeitetes und niedergeschriebenes Konzept, in dem diese umfassend definiert und strukturiert ist. Es hat den Anschein, als scheuten sich die Mitarbeiter vieler sozialer Einrichtungen geradezu davor, ihre Arbeit konzeptionell niederzulegen.

Dies könnte verschiedene Ursachen haben. Zum einen ist es möglich, dass man befürchtet, in dem Moment, in dem die praktische Arbeit schriftlich fixiert wird, diese angreifbar zu machen. Ein Konzept soll eine Einrichtung nach Außen repräsentieren, wodurch sie kritikfähig wird und Rechtfertigungen nötig werden könnten. Auch erfordert eine Konzepterstellung Zeit und Initiative der Mitarbeiter. Ein oft gehörtes Argument besteht darin, dass gesagt wird, diese Zeit und Energie solle man besser für die Klienten nutzen. Zum anderen sind die Soziale Arbeit und Pädagogik praktische Disziplinen. Es wird gesagt, dass die Praxis durch die Theorie nur verzerrt und verfälscht wiedergegeben werden könne.

Mit diesen etwas harschen Vermutungen soll den sozialen Einrichtungen auf keinen Fall die Kompetenz, Professionalität und Wirksamkeit ihrer pädagogischen Arbeit abgesprochen werden. Dennoch ist es verwunderlich, dass ein in der Praxis so anerkanntes und verbreitetes Verfahren wie die Bezugsbetreuung bisher keine konzeptionelle Legitimierung erfährt. Aus diesem Grunde widmet sich diese Arbeit der Bezugsbetreuung und deren Bedeutung für bindungsgestörte Kinder.

Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit der Definition und Abgrenzung des Begriffs der Bezugsbetreuung. Er wird zunächst definiert und im Folgenden dann vom Begriff der rechtlichen Betreuung abgegrenzt. Daraufhin wird ein Überblick über die verschiedenen Formen der Bezugsbetreuung in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und deren jeweilige geschichtliche Entwicklungen gegeben. Abschließend wird die Bedeutung der Bezugsbetreuung für die heutige Praxis beleuchtet und aktuelle Entwicklungen aufgezeigt, wobei der besondere Fokus auf die Bezugsbetreuung in heilpädagogisch-therapeutischen Einrichtungen gerichtet ist.

Der zweite Teil der Arbeit widmet sich Kindern mit Bindungsstörungen und deren Bedürfnissen. Als Grundlage hierfür wird einführend der Begriff der Beziehung aus mehreren Sichtweisen erläutert. Wegen der Vielfalt der existierenden unterschiedlichen Definitionen können im Rahmen dieser Arbeit nur einige für das Thema relevante Sichtweisen dargestellt werden.

Als nächstes werden Ursachen und Erklärungsansätze für Bindung und Bindungsstörungen aus dem Verstehenszugang der Bindungstheorie, Psychoanalyse und Lernpsychologie vorgestellt und die bekannten Formen der Bindungsstörung aufgeführt und erläutert. Im Anschluss daran werden vertieft die Bedürftigkeiten von bindungs- und beziehungsgestörten Kindern behandelt, wobei die Beziehungsgestaltung im Rahmen der Bezugsbetreuung eine zentrale Rolle spielt. Obwohl die Bezugsbetreuung nicht nur für Kinder mit Bindungsstörungen wirksam eingesetzt wird, konzentriert sich diese Arbeit auf diese spezielle Zielgruppe.

Diesem Kapitel folgt die Darstellung eines in der heilpädagogisch-therapeutischen Praxis erhobenen Fallbeispiels. Sie schildert die vierwöchige Beobachtung von Jonas, der aufgrund einer diagnostizierten Bindungsstörung auf einer sozialpädiatrischen Kinderstation nach dem Bezugsbetreuermodell begleitet wurde. Um den Praxisbezug herzustellen, wird der Junge zunächst durch die Erläuterung der Familienanamnese sowie der Aufnahmeindikation und Diagnose vorgestellt. Daraufhin werden die Beobachtungen von Jonas' Interaktionen mit verschiedenen Betreuern, der Bezugsbetreuerin und den Eltern vergleichend dargestellt und ausgewertet. Außerdem wird die Beziehungsgestaltung mit dem Kind näher beleuchtet und - zum vollständigen Verständnis - die erschwerenden Rahmenbedingungen dargestellt. Abschließend wird die Wirksamkeit der Bezugsbetreuung prüfend zusammengefasst sowie die Gesamtheit des Fallbeispieles kritisch beleuchtet.

Im vierten Abschnitt geht es um die abschließende Entwicklung eines Konzeptentwurfes der Bezugsbetreuung für die heilpädagogisch-therapeutische Praxis auf der Grundlage der vorher erarbeiteten Erkenntnisse. Dieser Konzeptentwurf erhebt nicht den Anspruch, das Bezugsbetreuersystem neu zu erfinden. Es soll vielmehr dem bereits in der heilpädagogisch-therapeutischen Arbeit mit bindungsgestörten Kindern praktisch angewendeten Modell eine niedergeschriebene, theoretische, strukturierte und objektiv nachvollziehbare Fundierung geben - abgeleitet aus eigenen Praxiserfahrungen, Auszügen aus Konzepten verschiedener Einrichtungen sowie der Auswertung vorhandener Fachliteratur.

Abschließend werden der Konzeptentwurf kritisch diskutiert, die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und offen gebliebene Fragen thematisiert.

Anmerkung:
In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Eine Diskriminierung des weiblichen Geschlechts ist damit nicht beabsichtigt.

3 Bezugsbetreuung: Definition und Abgrenzung

3.1 Definition des Begriffes „Bezugsbetreuung“

Bereits seit einigen Jahren wird die Bezugsbetreuung in der sozialen Arbeit praktiziert. Man trifft auf dieses Betreuungsmodell in den verschiedensten sozialen Berufsfeldern, schwerpunktmäßig jedoch in Einrichtungen, in denen Klienten über einen längeren Zeitraum außerfamiliär untergebracht sind. Insbesondere in der heilpädagogischen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung, in der stationären und tagesklinischen Erwachsenen- sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis und auch in der Heimarbeit, bildet das System die konzeptionelle Basis für die Arbeit mit und das Zugehen auf die jeweilige Klientengruppe.

Obwohl die meisten Einrichtungen der genannten Bereiche mit dem System arbeiten, findet sich kaum Fachliteratur über die Bezugsbetreuung. Aus diesem Grund wurde die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition des Begriffes aus dem Vergleich verschiedener Konzepte einzelner Einrichtungen gewonnen. Hierbei lag der Fokus der Aufmerksamkeit auf den Ähnlichkeiten in der Ausgestaltung der Bezugsbetreuung in Institutionen des heilpädagogischen Wohnbereiches, der kinder- und jugendpsychiatrischen Stationen sowie von Heimen. Ziel war eine tragendes Grundgerüst für eine allgemeingültige, die Arbeitsfelder übergreifende Basisdefinition der Bezugsbetreuung. Eine solche existierte bisher nicht, weil sich die Bezugsbetreuung in den unterschiedlichen Praxisfeldern unabhängig voneinander entwickelt hat.

Nähert man sich der Definition eines Begriffes, so führt der erste Schritt zur Klärung der grundlegenden Frage nach seinem allgemeinen Verständnis. Im Falle der Bezugsbetreuung sind dies die beiden Wortteile „Bezug“ und „Betreuung“. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Betreuung eine körperliche oder geistige Hilfe, die eine Unterstützung für jemanden darstellt. Dies kann über einen längeren Zeitraum geschehen und eine komplexe Aufgabe sein oder sich auf eine einzelne unterstützende Tätigkeit beschränken (vgl. Bünting 1996, 171). In der sozialen Arbeit ist vor allem der Begriff „ganzheitliche Betreuung“ gängig. Dies bedeutet, dass die professionellen Betreuungspersonen für die Zeit des Aufenthaltes der Klienten in einer der oben genannten Einrichtungen die Verantwortung für deren physisches und psychisches Wohl übernehmen. Sie begleiten die Klienten unterstützend und zielgerichtet in ihrem Alltag innerhalb der Institution und lassen ihnen ganzheitliche Hilfe, Fürsorge oder Förderung zukommen.

Der Bezug in der Bezugsbetreuung wird nun dadurch hergestellt, dass nicht jeder Betreuer für jeden Klienten zuständig ist. Einem Betreuer wird nicht eine bestimmte Tätigkeit innerhalb des Betreuungssystems - wie z. B. Freizeitgestaltung oder pflegerische Tätigkeiten – zugeordnet, sondern Bezugsbetreuung bedeutet, dass ein Betreuer für den Zeitraum, in dem sich ein Klient in der Einrichtung befindet, die Verantwortung für diesen übernimmt und er ihm als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Der Klient steht dadurch nicht einem ganzen komplexen, unpersönlichen System gegenüber, sondern kann einen individuellen und persönlichen Bezug zu einer Vertrauensperson aufbauen (vgl. Schletting 1993, 150-168).

Die Bezugsbetreuung stellt ein Konzept dar, in dem den Mitarbeitern eine sehr große Eigenverantwortlichkeit und Entscheidungsbefugnis übertragen wird. Der Bezugsbetreuer trägt für „seinen“ Bezugsklienten die Verantwortung, unterstützt ihn, indem er innerhalb der professionellen Beziehung dessen individuelle Ressourcen und Bedürfnisse kennen lernt, berücksichtigt, fördert und ihn somit stärkt. Neben dieser persönlichen Interaktion trägt der Betreuer ebenfalls die Verantwortung für die Entwicklung des Erziehungs- Förderungs- oder Pflegeplanes, die Beobachtung des Klienten und das Verfassen von Berichten sowie die Vertretung des Klienten nach außen. Trotz dieser großen Eigenständigkeit, ist der Betreuer in das (multiprofessionelle) Team der Einrichtung eingebunden und steht in ständigem Austausch mit Kollegen (vgl. Konzept Dinslaken 1999, Konzept Köln 2000, Konzept Rheinland-Pfalz 2002).

Das Modell stellt zu allererst ein organisatorisches Konzept dar. Es fordert eine Dezentralisierung der Organisationsstrukturen, da jeder Mitarbeiter gleichwertige Aufgaben eigenverantwortlich übernimmt und nur wenig von einem Vorgesetzten delegiert wird. Bezugsbetreuung setzt neben persönlichen und fachlichen Fähigkeiten also ein großes Maß an Teamfähigkeit bei den Mitarbeitern voraus, weil die Eigenverantwortlichkeit in der Arbeit mit dem Klienten nach sich zieht, dass der Betreuer mit dem Team in permanentem Kontakt und Austausch steht - einerseits, um informiert zu werden und zu informieren, andererseits aber auch, um die eigene Beziehung zum Klienten und die getroffenen Entscheidungen zu reflektieren.

Darüber hinaus erfordert die Arbeit nach dem Bezugsbetreuermodell einen recht hohen Personalaufwand beziehungsweise eine kleinere Zahl an Klienten, damit die individuelle Betreuung jedes Klienten gewährleistet werden kann. Diesem Umstand muss eine Einrichtung gerecht werden, damit das Modell realisiert werden und effektiv wirken kann (vgl. Schletting 1993, 150-168).

Das Bezugsbetreuungsmodell stellt aber auch ein pädagogisches Konzept dar. Im Gegensatz zu anderen Betreuungsmodellen kommt dem Bezug eine besondere Bedeutung zu. Darunter ist die individuelle, professionelle pädagogische Beziehung zwischen Betreuer und Klient zu verstehen. Der Bezugsbetreuer geht in besonderer Weise auf seinen Bezugsklienten ein. Seine Aufgabe ist es, eine tragfähige Beziehung zu diesem aufzubauen. Diese soll dem Klienten in der Zeit, in der er Hilfe und Halt braucht, eine Sicherheit bieten. Er soll sich angenommen und akzeptiert fühlen, so dass die Beziehung die Basis bildet, auf der pädagogische und auch therapeutische Maßnahmen erst wirksam werden können. Meist bildet deshalb die Beziehungsarbeit selbst bereits einen wichtigen Teil der Unterstützung, die der Klient braucht.

Natürlich spielen diese Aspekte in jeder Beziehungsarbeit eine große Rolle, in der Bezugsbetreuung jedoch stellen sie die zentrale Methode dar: Der Klient soll einen Hauptansprechpartner haben, weil die geforderte Intensität und Qualität der Beziehung nur im Kontakt zu einer festen Bezugsperson erreicht werden kann. Die Beziehungsarbeit stellt damit auch für den Klienten eine große Aufgabe und meist auch Anstrengung dar. Der unbestreitbare Vorteil besteht aber darin, dass er nun nicht mehr nur oberflächliche Kontakte aufbauen kann und - z. B. bei Konflikten - keine Möglichkeit mehr hat, auf andere gleichwertige Bezugspersonen auszuweichen, was die Beziehungsarbeit gefährdet. Außerdem bietet eine Hauptbezugsperson einen überschaubareren und kontrollierbareren Raum, was für den Klienten zusätzliche Sicherheit bedeutet.

Zusammenfassend kann die Bezugsbetreuung - unter zu Hilfenahme von Begrifflichkeiten aus dem Arbeitspapier zur Bezugsbetreuung von Axel Buddenbaum (2003) - allgemeingültig für alle sozialen Arbeitsfelder, in denen sie angewendet wird, wie folgt definiert werden:

      Bezugsbetreuung stellt ein organisatorisches und pädagogisches Konzept dar, das die größtmögliche individuelle Betreuung und Versorgung von hilfebedürftigen Menschen im Kontext einer Hilfestruktur (Einrichtung, Organisation, o. ä.) durch die Bündelung von Zuständigkeit und Verantwortung sowie durch die Schaffung einer individuellen, professionellen und tragfähigen Beziehung ermöglicht.

Diese Definition soll das allgemeine Basisgerüst der Bezugsbetreuung bilden.

Aus dem Vergleich der Bezugsbetreuungsmodelle unterschiedlicher Einrichtungen geht deutlich hervor, dass verschiedene Bezeichnungen sinnverwandt oder synonym verwendet werden. Im Heimbereich sowie in einigen Kinder- und Jugendpsychiatrien wird neben der Bezugsbetreuung vom Bezugspersonensystem, Bezugspädagogenmodell und Bezugserziehersystem gesprochen. In der Erwachsenenpsychiatrie dagegen wird die Bezugspflege, Bezugspersonenpflege oder Beziehungspflege praktiziert. In der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung spricht man immer stärker vom Bezugsbegleiter (vgl. Needham 2000, 7).

Die Beispiele zeigen, dass die fachliche, inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs je nach Klientel und Auftrag der Institution variiert. Wie dies im Einzelnen aussieht und wie sich die einzelnen Systeme von dem als Bezugsbetreuung bezeichneten System unterscheiden soll im Folgenden näher erläutert werden.

3.2 Abgrenzung zum Begriff „rechtliche Betreuung“

Obwohl begrifflich ähnlich, darf die Bezugsbetreuung nicht mit der Betreuung im rechtlichen Sinne verwechselt werden, da sie vollkommen unterschiedliche Arbeitsinhalte, -felder und Methoden beschreibt.

Die rechtliche Betreuung ist die zentrale Institution des neuen Betreuungsrechtes, das seit dem 01.01.1992 das bis dahin geltende Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht für Erwachsene ersetzt. Die gesetzliche Grundlage der rechtlichen Betreuung ist im Bürgerlichen Gesetzbuch zu finden (§ 1896 - § 1908k). Im Mittelpunkt der rechtlichen Betreuung steht das Wohl des Klienten. Wenn ein Mensch auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten nicht regeln kann, so bekommt er einen Betreuer zur Seite gestellt (§ 1896 BGB). Dies bedeutet, dass die Klientel des betreuerischen Handelns Menschen sind, die aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, rechtliche, soziale und persönliche Angelegenheiten zu besorgen und auch nicht mehr selbstständig Zugang zu daseinssichernden sozialen, medizinischen und anderen Versorgungssystemen finden können.

Der Betreuer hat in diesem Fall die Aufgabe, diese Angelegenheiten für den Klienten rechtlich zu besorgen. Dabei handelt er ausschließlich innerhalb gerichtlich festgelegter Aufgabenkreise, z. B. Gesundheitsfürsorge, Vermögensangelegenheiten, Empfang und Öffnen von Post, Aufenthaltsbestimmung etc. Der Betreuer wird vom Amtsgericht bestellt, nachdem es auf Grund eines ärztlichen Gutachtens und eines Sozialberichts geprüft hat, ob eine Betreuung notwendig ist (vgl. Berufsbild für Berufsbetreuer). Zum Betreuer können nahe Angehörige, haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter eines Betreuungsvereins, sowie selbstständige Berufsbetreuer und die Betreuungsbehörde bestellt werden (§§ 1897, 1990 BGB). Sie müssen dafür geeignet sein, die Angelegenheiten eines Klienten in den vom Gericht bestimmten Aufgabenkreisen rechtlich zu besorgen und dabei den Klienten persönlich zu betreuen (§1897 Abs.1 BGB). Des Weiteren sind die Wünsche und Lebensweise des Klienten zu akzeptieren.

Der rechtliche Betreuer übernimmt für seinen Klienten die Aufgabe, ihn dabei zu unterstützen, sich innerhalb des Systems sozialer Sicherung und Versorgung rechtlich zu vertreten. Obwohl es bei der rechtlichen Betreuung auch darum geht, die persönliche Beziehung zur betreuten Person so zu gestalten, dass deren Bedürfnisse und Vorstellungen vom Leben weitestgehend berücksichtigt werden, so liegt doch der Schwerpunkt nicht im gleichen Maße auf dem Aspekt der Beziehungsgestaltung, wie es bei der Bezugsbetreuung der Fall ist. Der Begriff der „Betreuung“ wird vielmehr verstanden als „rechtliche Vertretung nach Außen“. Der Betreuer bekommt Aufgaben übertragen, die er stellvertretend für seinen Klienten in dessen Namen besorgen kann.

Der Bezugsbetreuer hingegen ist nicht für die rechtliche, sondern vielmehr für die persönliche Versorgung seines Klienten zuständig. Er handelt in der Hauptsache nicht als sein Vertreter, sondern als Dialog- und Beziehungspartner. Er ist bemüht, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, in welcher der Klient emotional Halt findet und sich auf einer sicheren Basis persönlich weiter entwickeln kann. Zwar ist auch er bestrebt, die Interessen seines Klienten nach außen zu vertreten, dabei handelt es sich jedoch nicht um rechtliche Belange im gesetzlichen Sinne, sondern vielmehr darum, den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Wünschen des Bezugsklienten Gehör zu verschaffen.

Die Ziele der beiden Betreuungsarten unterscheiden sich maßgeblich. Die Bezugsbetreuung verfolgt pädagogische und therapeutische Ziele, wohingegen es bei der rechtlichen Betreuung um den Schutz und die Wahrnehmung rechtlicher Interessen in der Gesellschaft geht. Somit wird deutlich, dass dem Begriff „Betreuung“ im Sinne des Betreuungsrechts eine grundsätzlich andere Bedeutung beigemessen wird, als dies im heilpädagogisch-therapeutischen Kontext der Fall ist.

3.3 Entstehung und Formen der Bezugsbetreuung

3.3.1 Bezugsbetreuung in der heilpädagogischen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung

Die bis vor wenigen Jahren dominierenden Handlungsansätze in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen lagen in den Bereichen Verwahrung und Förderung. Mittlerweile jedoch sind Forderungen laut geworden, dass Menschen mit Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen wollen und auch sollen. Dies stellt das frühere Verständnis von Behinderung in Frage. Das neue Verständnis allerdings ist weder neu, noch eine Revolution. Es ist vielmehr die direkte und konsequente Folge der bisherigen Entwicklung in der Behindertenhilfe.

Seit die Behindertenarbeit (nach 1945) in Deutschland wieder aufgenommen wurde, hat sie einen kontinuierlichen Prozess durchlebt. Zu Beginn fand die Versorgung in psychiatrischen Krankenhäusern und Anstalten mit zum Teil mehr als 1000 Betten statt. Bis zum Jahre 1975 wurden Menschen mit Behinderungen in Psychiatrien verwahrt. Die Behinderung wurde als unveränderbar feststehender Defekt angesehen, „der den betroffenen Personen jede Möglichkeit nimmt [sic!] ein normales menschliches Leben zu durchlaufen und sich selbst zu verwirklichen“ (Hähner u. a. 1997, 26). Die Versorgung der „Patienten“ war entsprechend dieser Einstellung rein pflegerisch ausgerichtet.

Ab 1975 begann die Entpsychiatrisierung, nachdem die Lebensbedingungen der „langzeithospitalisierten Menschen“ erstmals auch öffentlich als elend und menschenunwürdig beschrieben worden waren. Neben den größeren psychiatrischen Einrichtungen wurden eigenständige Heime geschaffen, in denen die Menschen mit Behinderung gesondert betreut und versorgt wurden. Die folgende Arbeit der Entpsychiatrisierung in den 80-er Jahren umfasste stärker inhaltliche Aspekte wie die Individualisierung der Betreuung der Bewohner, die Strukturierung des Alltags mit Ruhe und Entspannungsphasen sowie die Anregung zur Eigentätigkeit und Erweiterung des Lebensraumes (vgl. Niehoff 1993, 193).

Seit dieser Zeit findet kontinuierlich eine Umorientierung im Denken statt. Nicht mehr der behinderte Mensch steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch mit seiner Behinderung in unserer Lebenswelt. In der Wahrnehmung der Experten verändert er sich von einem Defizitwesen zu einem Dialogpartner. Das Individuum wird mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entdeckt. Es gilt nicht mehr, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Menschen mit Behinderung in einem Normalisierungsprozess Nichtbehinderten ähnlich werden sollen, sondern einen Dialog, eine Normalisierung der Beziehung, innerhalb der die Bedürfnisse des Gegenübers berücksichtigt und erfüllt werden (vgl. Hähner u. a. 1997, 25-32).

Diese grundsätzliche Einstellungsänderung spiegelt sich auch in der Form der Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung wider. Organisationen und die darin tätigen professionellen Helfer mussten umdenken, ihre Haltung gegenüber ihren Klienten verändern. Mittlerweile ist es in der Arbeit mit abhängigen Menschen eine Selbstverständlichkeit geworden, dass das Treffen von Entscheidungen für andere Vergangenheit ist.

In vielen Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung wird bereits seit einigen Jahren mit dem Konzept der Bezugsbetreuung gearbeitet, insbesondere in Wohneinrichtungen für Erwachsene wie heilpädagogische Wohnstätten, betreutes Wohnen aber auch in Wohnheimen. Dies spiegelt wider, dass Menschen mit geistiger Behinderung als Individuum wahrgenommen werden, die in Beziehung stehen und mit denen dialogisch kommuniziert werden kann.

Grundsätzlich ist die Realisierung der individuellen Entwicklungsförderung und Begleitung der Bewohner Angelegenheit des gesamten, in der entsprechenden Gruppe arbeitenden Teams. Die Hauptverantwortung für spezielle Aufgabenbereiche bei einem bestimmten Bewohner übernimmt jedoch eine Betreuungsperson. Im Idealfall ist dies die Person, die zu dem Bewohner den besten Bezug hat, so dass die zwischenmenschliche Beziehung auf beiden Seiten von Wohlwollen und Sympathie gekennzeichnet ist. Wenn diese ideale Konstellation nicht erreicht werden kann, so sollte ein Betreuer die Aufgabe übernehmen, der zumindest eine neutrale Einstellung zu dem Bewohner hat und sich die Begleitung -auch emotional - zutraut. Wenn jedoch alle Betreuer einem Bewohner negativ gegenüber stehen, so sind die Vorraussetzungen für jede pädagogische Arbeit ungünstig und es sollte im Interesse des Bewohners über einen Wechsel in eine neue Gruppe nachgedacht werden.

Die Hauptaufgabe des Bezugsbetreuers besteht darin, die für den zu betreuenden Bewohner vereinbarte pädagogische Förderung zu übernehmen. Dies geschieht vorwiegend dadurch, dass der Bewohner im gesamten Alltag begleitet wird. So sollen systematisch seine Kompetenzen gefördert, seine Ressourcen aktiviert und somit die Fähigkeit zur Selbstständigkeit im Rahmen der Möglichkeiten vergrößert werden (vgl. Konzept Norddeutschland 1998).

Der Bezugsbetreuer ist dafür verantwortlich, dass die im Team vereinbarten pädagogischen Schritte während seiner Abwesenheit von anderen Kollegen übernommen werden. Dies setzt einen permanenten Informationsfluss zwischen den Teammitgliedern voraus, in dem über den Ablauf der pädagogischen Bemühungen, die Fort- oder Rückschritte sowie die allgemeine aktuelle Situation des Bewohners berichtet wird. Außerdem ist der Bezugsbetreuer dazu angehalten, einen Vertreter zu bestellen, der ihn bei längerer Abwesenheit durch Dienstplangestaltung, Krankheit, Urlaub usw. vertreten kann. Weiterhin koordiniert er die Arbeit seiner Kollegen bei seinem Bewohner und achtet darauf, dass vereinbarte Zeiten sowie Inhalte der individuellen Förderung eingehalten werden.

In regelmäßig stattfindenden Teamgesprächen tauschen sich die Bezugsbetreuer über die Gestaltung der pädagogischen Arbeit bei ihrem jeweiligen Bewohner aus und erhalten auf diesem Wege Feedback und Anregungen für den weiteren Verlauf. Außerdem ist ihnen die Dokumentation der Entwicklung (Entwicklungsberichte, Falldarstellungen etc.) übertragen (vgl. Konzept Dinslaken 1999).

Die personengebundene Betreuungsform in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung bietet den Vorteil, dass ihnen ein fester Ansprechpartner geboten wird. Dies vermittelt Halt und Sicherheit sowie die Gewissheit, als Kommunikationspartner ernst genommen zu werden. Außerdem besteht durch die tragende Beziehung für den Betreuten die Möglichkeit, sich an der Persönlichkeit des Bezugsbetreuers zu orientieren. Dies beinhaltet die Chance, durch Identifikation und Modelllernen Lern- und Entwicklungsprozesse auszulösen.

Neben diesen positiven Aspekten der Bezugsbetreuung zeigen sich jedoch auch Schwierigkeiten, die insbesondere durch die Haltung des Betreuers auftreten können. Jeder Klient in einer Einrichtung der Behindertenhilfe befindet sich in einer Situation der Abhängigkeit. Im langen Prozess, immer unabhängiger von seiner Umgebung zu werden, hat er es jetzt mit einem Bezugsbetreuer zu tun, der selbst bereits unabhängig ist und viel Macht hat. In der Beziehung nun ist die Lernaufgabe des Klienten, für sich selbst eintreten zu lernen. Der Betreuer wiederum muss dafür loslassen können. Dies erfordert von ihm verantwortungsvolles und sensibles Beobachten und Hinterfragen der eigenen Handlungen. Wenn ein Klient noch nicht in der Lage ist, selbst zu wählen, so darf er ihn z. B. nicht von einem Tag auf den anderen selbst bestimmen lassen. Dies würde zu Unsicherheit und Ängsten führen. Andererseits besteht die Gefahr der „Überbehütung“, Bevormundung oder des Machtmissbrauchs (vgl. Kleine Schaars 2003, 27-31).

Willem Kleine Schaars war Leiter der Wohnstätte De Blokhorst in Zwolle, und entwickelte dort ein neuartiges Bezugsbetreuerkonzept, das er 1992 in seinem Buch „Groeien naar gelijkwaardigheid“ (Deutsch: Anleitung zur Selbstständigkeit) veröffentlichte. 1999 wurde das Buch ins Deutsche übersetzt, so dass die Methodik in Deutschland bekannt wurde. Dennoch gibt es bei uns bisher nur wenige Erfahrungen mit dem Modell, obwohl es sich in den Niederlanden und auch in Belgien bereits erfolgreich etabliert hat.

Die Idee hinter Kleine Schaars Konzept ist die, dass die Klienten weder verwahrt, noch gefördert oder pädagogisch betreut werden sollen, sondern dass sie vielmehr in ihrem Prozess auf dem Weg zur Selbstständigkeit begleitet und unterstützt werden. Dies geschieht unabhängig von ihrem intellektuellen Niveau. Der Begleiter soll ihnen als gleichwertige Dialogpartner gegenüber treten, mit Respekt und ohne sie überzubehüten oder zu überfordern. Der Klient muss auf allen Ebenen Mitspracherecht haben, wenn es darum geht, ihn dabei zu unterstützen, sein eigenes Leben zu führen, er „muss sozusagen die Achse sein, um die sich alles dreht, unterstützt durch direkte Begleiter“ (Kleine Schaars 2003, 12).

Im Mittelpunkt von Kleine Schaars Methodik steht der Klient, und dazu gehört die Begleitung durch jeweils einen Alltagsbegleiter und einen Prozessbegleiter, welche in allen wichtigen Fragen die Ansprechpartner des Klienten sind.

Abb.1

Bei der Beziehung zwischen Klient und Alltagsbegleiter (1) handelt es sich um die primäre Interaktion. Hier findet die Begleitung statt. Der Alltagsbegleiter unterstützt den Klienten in seinem Entwicklungsprozess zu ausgewogener Selbstbestimmung. Er strukturiert Aufgaben und berät ihn, um Überforderungen vorzubeugen. Er arbeitet dabei auf verschiedenen Gebieten: Er hilft bei Geldproblemen, bei der Wahl von Tagesoder Zukunftsplänen, beschäftigt sich mit den praktischen und sozialen Fähigkeiten des Klienten und unterstützt ihn im alltäglichen Ablauf. Er übernimmt Verantwortung gegenüber dem Klienten und er kann Grenzen bestimmen. Sein Ziel ist es, den Klienten ernst zu nehmen und zu unterstützen.

Ausgangspunkt der Interaktion zwischen dem Alltagsbegleiter und dem Klienten ist die Beratung. Der Alltagsbegleiter ist für das Wohlbefinden des Klienten verantwortlich. Dafür sind regelmäßige Kontakte unerlässlich, so dass er die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Überforderung aufmerksam beobachten kann. Zwischen den Eltern des Klienten sowie dem Alltagsbegleiter besteht ebenfalls ständiger Austausch. Sie delegieren alltägliche Verantwortlichkeiten, die der Klient nicht übersehen kann an den Begleiter und werden durch regelmäßige Beratungen in den für Eltern oft schwierigen Prozess des Selbstständig-Werdens ihres Kindes eingebunden (vgl. Kleine Schaars 2003, 88f.).

Das Konzept unterscheidet begrifflich zwischen Alltags- und Arbeitsbegleiter. Der Alltagsbegleiter begleitet den Klienten in seiner Wohnumgebung, während der Arbeitsbegleiter in Werkstätten für behinderte Menschen, bei Arbeitsplätzen auf dem freien Arbeitsmarkt oder in Tagesstätten arbeitet (vgl. Kleine Schaars 2003, 48f.).

Die Beziehung zwischen Klient und Alltagsbegleiter wird durch den Prozessbegleiter beobachtet (2). Er achtet darauf, dass sie verantwortlich verläuft und als Ausgangspunkt immer die Eigenverantwortlichkeit des Klienten hat. Ständig prüft er die Machtposition des Alltagsbegleiters in Bezug auf die Abhängigkeit des Klienten. Er gibt darüber Rückmeldung und fungiert bei eventuellen Konflikten als Moderator zwischen den beiden Parteien.

Die sekundäre Interaktion (3 a) besteht zischen Prozessbegleiter und Klient. Dieser wird in seiner Situation vom Prozessbegleiter verstanden, der, wenn es nötig ist, Feedback gibt, ohne sich jedoch mit dem aktuellen Problem zu befassen. Das wichtigste Merkmal besteht darin, dass er niemals ein Urteil über den Klienten fällt. Es ist seine Aufgabe, eine vertrauensvolle Beziehung zu entwickeln, in welcher der Klient lernen kann, sich selbst zu beobachten, um somit unabhängiger von seinem Umfeld zu werden. In dieser Beziehung muss er nicht kämpfen, er wird nicht zur Verantwortung gezogen. Dies ist Aufgabe des Alltagsbegleiters. Der Prozessbegleiter hört immer zu und stimmt seine Kommunikation auf die Möglichkeiten des Klienten zur Verständigung ab. Um eine Kontinuität in den Gesprächsablauf zu bekommen, werden Gesprächstermine in wöchentlicher Frequenz empfohlen. Eine notwendige Ausgangsposition ist, dass die Gespräche entspannt verlaufen und immer vom Klienten ausgehen. Dies setzt voraus, dass die Gesprächsinhalte vertraulich behandelt werden. Spricht der Klient von sich aus kein Problem an, so gibt es für den Prozessbegleiter auch keines. Wenn jedoch ein gravierendes Problem auftritt, so kann der Begleiter gezwungen sein, dem Klienten therapeutische Hilfe durch Dritte anzubieten. Er sollte sich nicht dazu verführen lassen, Aufgaben zu übernehmen, für die er nicht qualifiziert ist. Der Prozessbegleiter ist Berater, nicht Therapeut.

Eine weitere Aufgabe besteht darin, den Klienten in seiner Beziehung zu seinen Eltern zu unterstützen, die sich mit zunehmender Selbstständigkeit gravierend verändern kann. Dabei ergreift der Begleiter jedoch nicht für eine Seite Partei, sondern fungiert wiederum als Moderator und Vermittler (vgl. Kleine Schaars 2003, 83-85).

Eine weitere Sekundäre Interaktion findet zwischen dem Alltagsbegleiter und dem Prozessbegleiter statt (3 b). Dieser hört sich Auffassungen des Alltagsbegleiters an, ohne sich in das Problem einzumischen. Wenn nötig, gibt er Feedback.

Die Zusammenarbeit zwischen den Begleitern nimmt einen wichtigen Platz ein in der Unterstützung des Klienten. In der Praxis ergaben sich für Kleine Schaars vier zentrale Bereiche, in denen sich die Begleiter der Funktionen des jeweils anderen - zum Wohle des Klienten - bedienen können:

a) Wenn geprüft werden soll, ob Klient und Alltagsbegleiter einander verstehen.

b) Wenn geprüft werden soll, ob der Klient eventuell zu sehr vom Prozessbegleiter abhängig ist.

c) Wenn die Frage auftaucht, wer bei der Klärung von Konfliktsituationen das Gespräch beginnt.

d) Wenn der Prozessbegleiter bei Konflikten gezielt einbezogen werden soll (vgl. Kleine Schaars 2003, 56f.).

Große Bedeutung haben in diesem Konzept auch die Entwicklungsberichte über Klienten. Sie liefern Informationen für die Alltags- und Prozessbegleiter, damit diese das Team beraten und Aufgaben delegieren können. Daher müssen die Berichte so objektiv wie möglich, effizient und übersichtlich sein. Damit dies auch gewährleistet ist, kommen vier Arten von Berichten zum Einsatz: Der Bericht des Alltagsbegleiters, der Bericht des Prozessbegleiters, medizinische Berichte sowie Berichte des Teams. Die Hauptverantwortung liegt bei den Begleitern. Das Team nimmt die Position von Beobachtern ein, die auch von Ereignissen berichten können, die außerhalb der Kenntnis der Begleiter stattfinden (vgl. Kleine Schaars 2003, 53f.).

Auch im Bereich der Hilfeplanung weist dieses System eine Besonderheit auf. Der Hilfeplan (oder auch Betreuungsplan) wird in der Regel von den verantwortlichen Betreuern geschrieben. Sie berichten rückblickend, meist für den Zeitraum eines Jahres, welche Entwicklung ein Klient gemacht hat und worin auf der Basis dieser Evaluation eine neue Zielsetzung formuliert werden kann und muss. Bei Kleine Schaars Bezugsbegleitung werden jedoch zwei Hilfepläne geschrieben, um eine einseitige Sichtweise zu vermeiden. Der erste stammt vom Alltagsbegleiter und ein weiterer vom Klienten selbst, den dieser mit Hilfe des Prozessbegleiters schreibt. Wenn beide Berichte vorliegen, werden inhaltlich voneinander abweichende Punkte besprochen. Auf diesem Wege kommt die Stimme des Klienten deutlicher zum Zuge (vgl. Kleine Schaars 2003, 55).

3.3.2 Das Bezugserziehersystem in der Heimarbeit