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GÜNTER BRÖDL (1955–2000)

österreichischer Schriftsteller, Songtexter und Musikjournalist. Von 1985 bis zu seinem plötzlichen Tod am 10. Oktober 2000 schrieb er nicht nur sämtliche Songtexte für „Ostbahn Kurti & die Chefpartie“ und später für „Kurt Ostbahn & die Kombo“, sondern erfand auch alle Geschichten, die sich um die Figuren beider „Musikgruppen“ ranken.

Statt der ursprünglich geplanten Kurt-Ostbahn-Trilogie Blutrausch (1995), Hitzschlag (1996) und Platzangst (1997), verfasste Günter Brödl noch drei weitere Kurt-Ostbahn-Kriminalromane: Kopfschuss (1999) Peep-Show/Trainer & Trash ermitteln (gemeinsam mit Peter Hiess, 2000) und Schneeblind (2002, posthum veröffentlicht).

Auf den legendären „Mord und Musik“-Lesetourneen trug er gemeinsam mit „Kurt Ostbahn“ sowie unterstützt von der „Kombo“ im Kleinformat aus seinen Werken vor. 1997 schrieb er für die Blutrausch Verfilmung (Regie: Thomas Roth) das Drehbuch. Außerdem verfasste Brödl Theaterstücke, Musicals, Comics und weitere Bücher.

2001 wurde er posthum mit dem Amadeus Austrian Music Award für sein Lebenswerk geehrt.

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Nightlife ain’t no good life, but it’s my life.

Willie Nelson

Diese plötzliche Durchkreuzung meiner Pläne machte
mich plötzlich ganz konfus;
und ich betrat die Spielsäle mit einem höchst
widerwärtigen Gefühl
.

F. M. Dostojewski

Dieses Buch ist Doña Claudia gewidmet,
weil sie den Trainer so nimmt, wie er ist
.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

1

Draußen bläst ein Sandsturm, der sich gewaschen hat. Die Bananenstauden, die Palmen und das viele Grünzeug im Garten werden seit zwei Tagen ohne Unterlaß vom Wind gebeutelt und machen bereits einen ziemlich desperaten Eindruck. Zwei der zirka 25 Katzen, die täglich vor der Haustür oder auf der Terrasse um milde Gaben anstehen, haben sich kleinlaut in die windgeschützte Zone hinterm Griller verzogen. Und der Himmel trägt ein scheußliches, gelbstichiges Grau.

So oder ganz ähnlich muß der Weltuntergang aussehen.

Im Radio geben sie stündlich heiße Tips, wie man dieser ganz besonders fiesen Erfindung der Wettermacher, die – wenn ich mich nicht verhört hab – Calima heißt, begegnen soll. Was der spanische Sender empfiehlt, versteh ich nicht, und der Moderator der britischen Urlauberwelle ist anscheinend selbst ein bißl ratlos. Er weiß zwar, daß sich der heiße trockene Wüstenwind, der von der Sahara herüberweht, empfindlich auf die Atemwege schlägt, aber sein Vorschlag, daheim zu bleiben und sich ein heißes Bad einzulassen, bringt mich nicht wirklich weiter.

Denn zum einen geht der Flüssigproviant zur Neige, was eine baldige Expedition in den nächstgelegenen Supermarkt notwendig macht, und zweitens verfügt der Bungalow, in dem ich seit zwei Tagen festsitze, zwar über ein Bad mit Wanne, aber das Leitungswasser hatte mit Einsetzen des Sandsturms zuerst das satte Gelb einer Urinprobe und seit heute Morgen die ungesunde Farbe des Calima-Himmels.

Und außerdem schlägt sich das Sauwetter bei mir weniger auf die Atemwege als aufs Gemüt. Zerknirschung, könnte man sagen. Zerknirschung und Katzenjammer. Im Verbund mit den körperlichen Spätfolgen einer epochalen Silvesterglut.

Aber das ist ein anderes Kapitel.

Während draußen der Sturm heult, tobt da herinnen meine ganz private Apokalypse. Zehntausend Fragen drängen auf zumindest halbwegs vernünftige Antworten. Und ich scheitere bereits an der ersten: Wie konnte es nur passieren, daß du dich heute, am 6. Jänner, dem Dreikönigstag, nicht in Stockerau von der Herta verwöhnen läßt, mit ihrem sensationellen Stefani-Braten und Erdäpfelpüree, wie sich das so gehört am höchsten Festtag der Karasek-Familie, sondern quasi am anderen Ende der Welt auf deren Untergang wartest, allein und bei 35 Grad, mit einer letzten Dose Dorada im Kühlschrank?

Klar. Ich könnte sagen, was ich mir schon so oft gesagt habe in meinem Leben: der Bertl ist schuld.

Also der Brehm-Bertl. Herbert Brehm, mein einstiger Schulkollege und ewiger Sargnagel. Aber das ist nur so eine Vermutung. Obwohl: Wann immer sich unsere Wege kreuzten, und das geschah viel zu oft in den letzten 40 Jahren, endete das für mich in einer zumindest mittelgroßen Katastrophe.

Kartenleger, Sterndeuter oder die Frau Helga in der Krone haben dafür sicherlich eine schlüssige Erklärung. Wahrscheinlich sind der Bertl und ich eine astrologische Schicksalsgemeinschaft, aneinandergekettet bis in alle Ewigkeit. Vielleicht war ich dem Bertl in einem früheren Leben sogar eine Rabenmutter und muß das jetzt ausbaden, indem ich mich von ihm alle Jahre wieder einseifen, reinreiten und austricksen lasse.

Vielleicht ist es so. Ich weiß ja nicht. Vielleicht steht in den Sternen aber auch ganz was anderes: nämlich daß der Bertl schlicht und ergreifend ein Gfrast ist, eine Arschgeige und ein linker Agent, der sich immer dann an seinen Sitznachbarn in der Volksschule in der Keplergasse erinnert, wenn er eine seiner grenzgenialen Ideen hat, die ihm kein Risiko, aber die ganze Marie, seinem Partner hingegen nix als Zores einbringen.

Das mit dem Bertl ist, wie gesagt, nur so eine Vermutung. Ich habe seit gut zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört und gesehen, und er wurde zuletzt in Venezuela gesichtet, als – angeblich – Privatsekretär eines österreichischen Honorarkonsuls.

Und außerdem, was hätte der Bertl davon, daß ich, anstatt im Kreise der Familie Karasek die heiligen Blueskönige Freddie, Albert und B.B. zu ehren, mutterseelenallein in einem zugigen Bungalow auf Teneriffa sitze? Nix. Oder läßt sich aus der Tatsache, daß es mir beschissen geht, weil angesichts der Wetterlage und der mysteriösen Ereignisse der letzten Tage keine rechte Urlaubsstimmung aufkommen will, irgendwie Profit schlagen? Wohl kaum. Denn wen interessiert schon, wann und wo der Kurtl wirklich den Blues hat?

Zehntausend Fragen. Und niemand weit und breit, außer der letzten Dose Bier im Eis, der mir bei der Beantwortung zur Hand gehen könnte.

Warten unter Palmen. Während der gelbgraue Sand durch sämtliche Fugen und Ritzen des Hauses kriecht. Und mit den Zähnen knirschen. Viel lauter als daheim. So laut, als hätte ich einen Monstertruck in meinem Kopf, der nur mir zuliebe auf dem Rollsplit einer Schottergrube das Reversieren übt.

Unermüdlich. Immer wieder.

2

Dabei war da jemand, der garantiert Bescheid weiß.

Sie heißt Sarah, glaub ich, und ist ein höchst erfreulicher Anblick, mit ihrem Hochglanzlächeln, ihren naturblonden Locken und den großen grünen Augen. Der männliche Betrachter ist quasi geblendet von soviel wohlgeformter Anmut, und nur so kann ich mir erklären, daß mir ihr massives Problem im Umgang mit der Wahrheit erst aufgefallen ist, als es bereits zu spät war.

Da saßen wir schon im Flieger in den Süden, ich immer noch euphorisiert von den gemeinsamen dreitägigen Silvesteraktivitäten, und Sarah guter Dinge, weil sie im Rosi ausgerechnet über mich gestolpert war, noch dazu genau im richtigen Moment. Ihre Freundin und Reisegefährtin lag nämlich mit eitriger Angina im Bett, und ich war als Ersatz die Idealbesetzung – ein solider Mensch mittleren Alters, ziemlich ungebunden, derzeit ohne berufliche Verpflichtungen und einem zehntägigen Pauschalabenteuer auf Teneriffa nicht wirklich abgeneigt. Noch dazu an der Seite einer Silvesterbekanntschaft, die zwar jung an Jahren, aber bereits reich an Erfahrungen war, und die diese auch bereitwilligst mit mir teilte.

Eine Studentin der Sprachwissenschaften noch dazu, also ein Mensch, bei dem man auch geistig eine Ansprache hat; kunstsinnig und musikinteressiert, und von einer Trinkfestigkeit, die nicht nur mir höchsten Respekt abforderte.

»Sei vorsichtig, Kurtl«, sagte die Rosi, »die blonde Unschuld sauft dich noch untern Tisch.«

Das war irgendwann am Neujahrstag. Ich weiß nur noch, daß im Fernseher über der Schank gerade der zweite Durchgang des Neujahrspringens abgebrochen wurde, wegen des starken Schneegestöbers, und Sarah daraufhin noch eine Runde Baucherln bestellte. Die mahnenden Worte meiner Wirtin taten dem geselligen Trinken im Rosi und später dann in Sarahs auffallend unstudentischer Neubaubleibe nahe dem Wilhelminenspital aber keinen Abbruch. Und Rosis Warnung sollte erst bittere Wahrheit werden, als ich mich tags darauf nach ein paar Stunden komatösen Schlafs unter Sarahs Dusche wiederfand, mit dem dringenden Wunsch, jetzt auf der Stelle die Qualen meiner irdischen Existenz zu beenden und ins schmerzfreie Reich der Engel einzugehen, während Sarah milde lächelnd und splitternackt auf der Klobrille thronte und mir mit einem Gläschen Schaumwein zuprostete.

Das ist jetzt vier Tage her. Und meine anfängliche Begeisterung über das naturblonde Silvesterwunder mit den kampfsportmäßigen Trinkgewohnheiten ist deutlich abgekühlt.

Denn heute weiß ich: Sarah lügt wie gedruckt. Kein schöner Zug, aber damit könnte ich leben, zehn unbeschwerte Sonnentage lang. Was mir hingegen das Leben zur Hölle macht, ist die Tatsache, daß Sarah nicht mehr da ist.

Ganz einfach weg. Verschwunden. Seit gestern, 10 Uhr 20. Mit dem Mietwagen, den Rückflugtickets, ihren großen grünen Augen und zehntausend Antworten.

3

Es ist ganz und gar gegen meine Art, die Telefongespräche anderer Leute zu belauschen, aber die Filigranbauweise des Bungalows läßt einem ja keine andere Wahl. Und so geschah es, daß ich gestern früh von Sarahs Stimme geweckt wurde.

»Ist der Bertl da?« sagte sie unten im Wohnzimmer ins Telefon, und ich saß wie vom Blitz gestreift kerzengrad und putzmunter im Bett. Sarah wiederholte die Frage, die am anderen Ende der Leitung aber offensichtlich nicht verstanden wurde, und nahm schließlich einen dritten Anlauf. Diesmal auf spanisch. Jetzt verstand ich nix, außer die drei magischen Worte: Señor; Herbert und Brehm.

Eine kurze Pause, in der sich mir sämtliche Nackenhaare aufstellten, dann wieder Sarahs Stimme. Glockenhell.

»Hallo. Wer war das denn? Dein spanisches Dienstmädl?«

Lachen. Es gibt also tatsächlich Menschen, die mit dem Bertl lachen können. Ein Menschenschlag, den ich nie näher kennenlernen wollte. Und jetzt wohne ich mit einer solchen unter einem Dach, trinke mich mit ihr um den Verstand und schlafe mit ihr im selben Bett.

»Niemand? Ahja. Du brauchst mir nix erklären, Bertl. Ich wollt dich auch nicht stören. Ich wollt mich nur rühren. Gut gelandet. Alles okay. Bis aufs Wetter. Sag, kannst du da nix dagegen unternehmen? Bei deinen Beziehungen als großer Zampano!«

Kann nicht sein, daß der Brehm-Bertl, den ich an meinem ersten Schultag in einem Aufwaschen kennen und hassen gelernt habe, weil er seine schweinslederne Schultasche wortlos zwischen uns auf die Bank gestellt hat, um gleich einmal (und des Schreibens noch nicht einmal mächtig) klarzustellen, daß von ihm ganz bestimmt nie abgeschrieben wird, daß dieser UnBertl also plötzlich irgendwelche Beziehungen hat, die ihn zum großen Zampano machen. Ich weiß nur von seinen Beziehungen zu Frauen, und die waren ihm immer ein paar Nummern zu groß.

Nach längerem Schweigen wieder, glockenhell, Sarahs, Stimme:

»Klar hab ich den mitgebracht. Er ist oben. Und es geht ihm gut, schätz ich. Ich hab ihn noch nicht gefragt. Und er ist ja nicht besonders gesprächig. Aber das mußt du eh wissen. Du kennst ihn ja länger als ich.«

Dann war von einer Adresse die Rede, Avenida Soundso, die sich Sarah vorsichtshalber aufschreiben wollte, und davon, dass sie nur noch rasch unter die Dusche muß, ehe sie losfährt.

Und schlußendlich:

»Ich soll ihn dalassen? Warum? Ich hab geglaubt, er is so furchtbar wichtig für dich? Na gut. Bei mir is er eh gut aufgehoben. Also, bis später. Freu mich schon.«

Ein Seufzer. Dann Sarahs Schritte auf der Treppe. Ich lag schweißgebadet und den unruhigen Morgenschlaf vortäuschend im Bett, als sie ins Zimmer kam und nach kurzem Wühlen in ihrer Handtasche im Bad verschwand.

Und dann sah ich sie, aus halb geschlossenen Augen und den Kopf voll wüster Gedanken, ein letztes Mal.

Ein unvergeßlicher Anblick, wie sie nackt vor dem Spiegel stand und Ordnung in ihre nassen Locken brachte, mit einer geradezu atemberaubenden Langsamkeit in ein winziges Höschen und die von Designerhand zerschlissene Jeans stieg und schließlich kurzentschlossen in das schwarze T-Shirt mit dem irgendwie prophetischen Aufdruck Leiwand! Oder Oasch? schlüpfte, das ich mir für den Fall eines nächtlichen Kälteeinbruchs bereitgelegt hatte.

Mit Todfeinden ist das so eine Sache. Man vergönnt ihnen nix. Und deshalb war ich wahrscheinlich auch sofort aus dem Bett und auf den Beinen, kaum daß Sarah den Bungalow in Richtung Bertl verlassen hatte.

Zuerst rannte ich im Schlafzimmer im Kreis, dann die Treppe runter, um auf dem Küchentisch die nächste Überraschung vorzufinden. Eine handschriftliche Botschaft, geschrieben auf die Rückseite eines Werbezettels für eine typisch bayerische Wirtschaft, die dem Teneriffa-Reisenden Betörendes wie Weißwürste, Brezen und Schweinshaxe, serviert in gemütlichem Ambiente ganz wie zu Hause in Aussicht stellte.

Buenas dias, mein Lieber!

10 Uhr 20. Habe einen dringenden Weg und wollte Dich nicht wecken. Nehme den Wagen. Kaffee ist in der Thermoskanne. Wie wärs mit einer guten Tat? Dann besorge uns im Supermercado was Trinkbares. Und nicht vergessen: Bier heißt hier cerveza. und vino tinto ist der Rotwein. Freue mich auf später!

Sarah

Nachdem ich die Botschaft mehrmals studiert hatte, stellten sich nagende Zweifel ein: Vielleicht tust du Sarah Unrecht, und es handelt sich bei dem alarmierenden Telefonat um eine akustische Täuschung. Ja, vielleicht flüsterten mir die tausend Stimmen des Windes, im Verbund mit ein paar Traumresten und etwas Restalkohol dieses Gespräch ins noch schlaftrunkene Ohr. Und wahrscheinlich hat Sarah tatsächlich nur einen dringenden Weg und wollte mich nicht wecken.

Als sie gegen Abend aber immer noch nicht zurück war und ich die undankbare Aufgabe hatte, die Einkäufe aus dem Supermercado ganz allein auszutrinken, machte ich mir zuerst natürlich Sorgen, die dann aber bald in einen leisen Grant umschlugen und schließlich in jene massive Zerknirschung, die immer noch und unvermindert anhält.

Ich hatte ja ausgereichend Gelegenheit, Sarahs Schreiben auf verschlüsselte Botschaften zu überprüfen. Aber da weist absolut nichts darauf hin, daß sie – zum Beispiel – mit dem Bertl eine mehrtägige Inselrundfahrt unternehmen oder sich aus dem 23. Stock einer der umliegenden Hotelburgen stürzen wollte.

Also, was tun?

Zur Polizei gehen und mit Händen und Füßen erklären, was ich mir selbst nicht erklären kann? Oder auf eigene Faust nach Sarah suchen, in einer Stadt, die eigentlich keine Stadt ist, wie ich das gewöhnt bin, sondern eine gigantische Beherbergungs- und Vergnügungsanlage, die irgendwann neulich, zusammen mit dem überall sprießenden und blühenden Grün, in die Steinwüste zwischen Meeresstrand und den kahlen Bergesriesen gepflanzt wurde. Ich hätte in diesem Insel-Vegas mit seinen unzähligen Hotels, Bars, Spielhöllen, Einkaufszentren, Bungalowanlagen, Discos und Restaurants zirka eine Million Möglichkeiten, Sarah gerade ums Arschlecken zu verfehlen. Außerdem kann sie ihr dringender Weg auch in eine der vielen anderen Hotelstädte entlang der Küste geführt haben. Playa de las Americas ist bloß das Atlantic City der Insel, da gibts noch eine ganze Menge Renos, Vegas, Sodoms und Gomorrahs, in denen Gestalten wie der Bertl auf den Jackpot ihres Lebens warten.

In meiner Verzweiflung tat ich, was im Normalfall ebenso wenig meine Art ist wie das Abhören von Telefongesprächen anderer Leute: ich durchsuchte Sarahs Gepäck.

Der olivgrüne Lederkoffer brachte keinerlei Aufschlüsse, außer vielleicht, daß Sarahs Garderobe nur aus den teuersten Häusern von Mailand, Paris und New York stammt – diese reinseidene Schlampigkeit, die auf den ersten Blick aussieht wie Diebsgut aus dem Rotkreuz-Sackerl. Weitere hochkarätige Fetzen für teure Gelegenheiten hatte sie in den Wandschrank im Schlafzimmer gehängt. Aber in ihrer monströsen Badetasche, von der sie sich im Flugzeug nicht und nicht trennen wollte, weil da angeblich all ihre wichtigen persönlichen Dinge drin sind, stieß ich dann, eingewickelt in ein rosa Badetuch, auf diesen komischen Bladen mit dem lückenhaften Gebiß und dem stechenden Blick.

Der Dicke sieht uralt aus, und Figuren wie er stehen normalerweise im Museum. Ich kenn solche Typen ja mehr aus dem Kino: Die Pyramide des Sonnengottes zum Beispiel, mit Lex Barker, eine Karl-May-Verfilmung. Ein Lateinamerikaner also, aber aus der präkolumbianischen Zeit.

Dann gehört er aber, bitte sehr, nicht ins Urlaubsgepäck einer angehenden Sprachwissenschafterin und hat auch auf Teneriffa nix verloren, höchstens, und das ist der letzte Stand meiner Überlegungen: der Typ ist gar nicht so alt, wie er aussieht, also auch nicht echt. Eine Kopie, kunsthandwerklich sauber gearbeitet, aber an jedem Souvenirstandl zwischen Xochitecatl und Popocatepetl für eine Handvoll Pesos käuflich zu erwerben. Und dann ist es nicht so sehr der Blade, den Sarah wie ihren Augapfel gehütet hat, seit wir von Wien weggeflogen sind, sondern sein Mageninhalt.

Ich würde sagen, ihr Reisebegleiter ist gut 70 Zentimeter hoch und zehn Kilo schwer. Den schleppt man nicht mit seinem Badezeug in den Urlaub, um ihn dort im Hotelzimmer aufs Nachtkastl zu stellen. Aber: in seinem Bauch läßt sich allerhand unterbringen, das man nicht jedermann, im besonderen neugierigen Zollbeamten, zeigen will.

Drogen, zum Beispiel. Kokain. Oder diese neuartigen Designerpillen, die die modebewußte Jugend einwirft, um sich noch schneller um den Verstand zu tanzen. Demnach wäre Sarah ein Drogenkurier, und ich, mitgefangen/mitgehangen, ihr argloser Komplize. Mir liegen keine Berichte über die Zustände in den kanarischen Zuchthäusern vor, aber was ich über die Haftbedingungen in anderen Ländern der spanisch sprechenden Welt gelesen habe, stimmt mich alles andere als heiter.

Andrerseits wiederum: Wer schmuggelt schon Kokain von Wien nach Teneriffa? Der Drogen-Highway verläuft anderswo. Aber ich muß zugeben, die Zeiten ändern sich und ich bin diesbezüglich nicht wirklich am laufenden. Der Bertl mit seiner Venezuela-Connection hingegen könnte in der Branche natürlich Fuß gefaßt oder zumindest Lunte gerochen haben. Wobei ich dann aber weniger auf Drogen als auf Geld tippe. Also Drogengeld, das der Bertl im Auftrag irgendwelcher Kokainkaiser oder Extasybarone auf den kanarischen Inseln reinwaschen soll. Alles schon dagewesen. Und dem Bertl absolut zuzutrauen.

Wenn man, so wie ich, viel Zeit zum Nachdenken hat, kommt man auf allerhand Gedanken. Und einer macht mir ganz besonderes Kopfzerbrechen: Was ist, wenn der Blade in Sarahs Badetasche nicht mit Drogen angefüllt ist, sondern mit etwas ungleich Gefährlicherem, nämlich, sagen wir, mit Plutonium? Dann lebe ich seit drei Tagen mit einem strahlenden Azteken unter einem Dach und weiß nicht, wie mir geschieht, wenn mir in ein paar Monaten die Haare und die Zähne ausfallen und sich im Inneren meines ohnedies krisenanfälligen Körpers der schleichende Tod breitmacht.

Ich wäre dann das ahnungslose Opfer internationaler Gangstersyndikate, und der Bertl – natürlich im Sold der russischen Mafia, die ja, wie man weiß, vermehrt in den prosperierenden Markt des Waffen- und Technologieschmuggels drängt – wär schuld daran.

Und das alles nur, weil ich mich am Silvesterball des Espresso Rosi nicht ausreichend erkundigt habe, ob meine naturblonde Eroberung nicht vielleicht persönlich mit einem Herbert Brehm bekannt ist oder gar dessen Komplizin in einem ganz besonders heimtückischen Komplott, dessen Ziel mein langsamer qualvoller Strahlentod ist.

Denn natürlich will sich der Bertl an mir rächen. Dafür, daß ich ihm in ewigen Versen ein würdiges Denkmal gesetzt hab.

Der geneigte Leser, die anmutige Leserin, die nicht nur meine Schriften, sondern auch meine musikalische Arbeit kennen und zu schätzen wissen, erinnern sich vielleicht noch an Lieder wie 1 na von uns 2 (lacht ohne Zähnt heut Nacht), Du bist und bleibst a W oder Bertl Braun – alles Werke, die das Leben schrieb. Mein Leben mit Herbert Brehm.

Was die Strahlentod-Variante bei genauerer Überlegung jedoch ziemlich unwahrscheinlich macht, ist die Tatsache, daß die Statue ja in Sarahs Handgepäck unterwegs war, und ich dem Bertl zwar viel zutraue, aber nicht so viel Hinterlist (oder Blödheit), seine Komplizin (oder Gespielin?) mit in den Tod zu schicken.

Egal. Irgendwas ist mit dem Azteken in der Badetasche auf jeden Fall nicht in Ordnung, und wenns nur seine Zähne sind. Soviel läßt sich bereits mit Sicherheit sagen.

4

Der Supermarkt gleich unten an der Straße heißt Mister Nice Price. Angesichts des rekordhaften Ansteigens seines Getränkeumsatzes in den letzten zwei Tagen, müßte der Mann mit den netten Preisen bei meinem Eintreffen den roten Teppich ausrollen und die Belegschaft Spalier stehen. Aber der Chef ist nie da, und sein Team, ein Trio pummeliger spanischer Teenager trainiert zu kreischender Salsamusik aus dem Radio zwischen den Regalreihen lieber die neuesten Tanzschritte.

Also fülle ich völIig unbeachtet meinen Drahtkorb mit einem Vorrat an Dorada-Sixpacks, einem lokalen Roten, einer Flasche Carlos III – laut Sarah der feinste Brandy, der für wenig Geld zu haben ist – und der Neujahrsausgabe einer deutschsprachigen Inselzeitung, denn schließlich will man wissen, wo man eigentlich gelandet ist.

Ich bin im Grunde ein geduldiger Mensch. Aber als nach zehn Minuten noch immer niemand aus der Salsatruppe Anstalten macht, das Training zu unterbrechen und die Registrierkasse anzuwerfen, klappere ich demonstrativ gegentaktig mit meinen Dosen und Flaschen, was mir einen vernichtenden Blick der Vortänzerin einbringt. Salsa hat man im Blut, oder man läßt die Finger davon. Aber ich darf bezahlen. Schon während sie meine Einkäufe demonstrativ in Zeitlupe in den Nice-Price-Computer tippt und dabei mit den anderen Ballettösen scherzt und schnattert, beschleicht mich der Verdach, mein letzter zerknitterter 1000-Peseten-Schein könnte eventuell nicht reichen. Der grün aufleuchtende Gesamtbetrag bestätigt dann nachhaltig, daß ich mit der hiesigen Währung noch nicht wirklich auf du bin.

»A blede Gschicht«, sage ich und krame meine Bankomatkarte hervor.

Ein strenger Blick auf die Karte, die offensichtlich nicht kreditwürdig genug ausschaut. Dann ein stummes Kopfschütteln.

»Bankomato?« frage ich.

Jetzt sieht mich die Vortänzerin ungläubig an und zeigt hinaus in den Weltuntergang. Dann räumt sie alles bis auf die Sechserpackung Dorada und die Inselzeitung aus dem Plastiksack zurück in den Einkaufskorb, kassiert mein letztes Bares und verläßt grußlos ihren Arbeitsplatz, um sich wieder dem Tanzsport zu widmen.

Die Straße ist menschenleer. Wer keinen dringenden Weg hat, der befolgt anscheinend den Rat meines ratlosen Radiomannes. Die Luken dicht, ein heißes Bad. Ich könnte mich zusätzlich, als Schlechtwetter-Bonus sozusagen, für ein Glas Brandy erwärmen, sagen wir Carlos III, der beste, der für wenig Geld zu haben ist. Und der zu zweit genossen erst so richtig zur Höchstform aufläuft. Garantiert. Aber wir werden es nie erfahren. Ohne Sarah, und ohne Bargeld.

Also schlage ich den imaginären Kragen meines daheimgebliebenen Lederjankers auf und kämpfe mich durch den Sandsturm in Richtung Veronica, jenem Stück Straße, auf dem man in mehreren Etagen alles kaufen kann. Tanzvergnügen und beinah goldene Uhren, fettige Pizzaschnitten und ganz junge Mädchen mit ganz alten Augen.

Und weil so viel Vergnügen auch seinen Preis hat, steht hier an jeder Ecke ein Geldautomat.

Aber nicht für mich.

Er schluckt zwar meine Karte und schreibt, auf entsprechenden Knopfdruck auch in Deutsch, daß er sich freut, mit mir ins Geschäft zu kommen, aber kaum daß ich ihm meinen Code eingetippt habe, überlegt er sichs anders.

Die Gültigkeit Ihrer Karte ist mit 31.12. abgelaufen, holen Sie sich von Ihrem Bankinstitut gefälligst eine neue, dann reden wir weiter. Wiederschaun.

Wer mich kennt, der weiß, daß ich in bescheidenen Verhältnissen groß geworden bin und gelernt habe, auf kleinem Fuß zu leben. Daheim, in der Reindorfgasse, funktioniert das auch heute noch. Tadellos. Ein halbwegs gut sortierter Kühlschrank, und es gibt auf Tage keinen wirklichen Grund, das Geld aus dem Haus zu tragen.

Hier ist das, fürchte ich, anders. Allein mit sechs Dosen Bier, der Inselzeitung und keinem Zugriff auf das daheim Angesparte bläst plötzlich ein noch ganz anderer Wind.

»Großartig«, sag ich.

5

An Dreikönigstagen wie diesem ist es beruhigend zu wissen, daß man irgendwo auf der Welt wahre Freunde hat. Allerdings sollte man auch so umsichtig sein, stets deren Telefonnummern bei sich zu tragen. Für den Notfall, wie er zum Beispiel hier und jetzt eingetreten ist.

Da meine Fernreise jedoch nicht wirklich sorgfältig vorbereitet war, man könnte sogar von einem überstürzten Aufbruch ins Ungewisse sprechen, liegt mein kleines schwarzes Büchlein mit allen wichtigen Nummern irgendwo in der Reindorfgasse. Und im Kopf hab ich nur eine, nämlich die des Trainers.

Der Trainer ist einer der führenden Mitarbeiter jenes Rock-und-Roll-Mittelbetriebes, in dem ich den Posten des Zirkuspferdes bekleide, und der derzeit wegen Wintersperre geschlossen hat. Wir sind sozusagen Saisonarbeiter. Im Dienste der Volksgesundheit und Musiknahversorgung tätig von Ende März bis Anfang Oktober, also in der warmen Jahreszeit, denn man ist schließlich nimmer der Jüngste und muß schön langsam auch auf die eigene Gesundheit schauen. Und das Tourneeleben hat so seine Tücken: zugige Bandbusse, zugige Garderoben, zugige Konzertsäle, zugige Hotelbars (mit ungebührlich langen Öffnungszeiten).

Und der Mann, der Trainer heißt, einfach nur Trainer, so wie Sting, Dion oder (früher) Prince, ist während unserer langen Monate auf der Walz für das seelische und geistige Wohl der Musikkapelle zuständig. Während die Musiker auf der Bühne dann seelisch fit und geistig wach ihre Arbeit tun, trinkt er viel Bier und denkt dabei viel nach, vor allem über Fragen des Stils und guten Geschmacks, und ist mit seinen kompetenten (aber mitunter auch etwas ausufernden) Analysen ein strenger, aber gerechter Kritiker.

Die spielfreie Zeit verbringt er dann damit, mit seinen eigenen Problemen nicht zu Rande zu kommen. So lebt er auf permanentem Kriegsfuß mit der Finanz und den Banken, läßt sich von den Launen seines Computers das Leben zur Hölle machen und steht im Ruf, der schlechteste Autofahrer Österreichs (häufige Beifahrer behaupten sogar: des ganzen Universums) zu sein, was die traurige Bilanz von 27 Blechschäden allein im letzten Kalenderjahr in harten Zahlen belegt.

Seit der Trainer vor gut einem halben Jahr Frau, Kinder und Katzen verlassen hat, weil er pünktlich mit Erreichen der statistischen Lebensmitte von der Erkenntnis heimgesucht wurde, im Grunde seines Herzens kein Familienmensch zu sein, denkt und schreibt er mehr oder weniger rund um die Uhr, raucht dabei zirka einhundertfünfzig Zigaretten und trinkt dazu zirka ebenso viele Biere.

Ansonsten ist er ein friedliebender, grüblerischer Mensch, der sich nicht viel anmerken läßt. Immer freundlich, hilfsbereit, zuvorkommend.

Aber heute ist nicht sein Tag.

»Servas, Trainer«, sage ich, als er nach hundertmal Läuten endlich abhebt.

»Bist deppet? Wo bistn?« sagt der Trainer.

»Las Americas«, sage ich.

»Ich rat dir nur eins«, sagt der Trainer. »Zahl, schmeiß dich ins nächste Taxi und fahr am schnellsten Weg zum Karasek! Der King dreht schon halbert durch!«

Ich versuche dem Trainer in knappen Worten zu erklären, daß die traditionelle Dreikönigsfeier im Hause Karasek heuer aus verkehrs- und distanztechnischen Gründen in Abwesenheit meiner Wenigkeit stattfinden muß und ich derzeit ganz andere Sorgen habe als der King, aber keinen Stefanibraten mit Püree, der mir Magen und Seele wärmt.

Aber der Trainer kennt keine Einsicht. Heute ist er stur.

»Okay«, sagt er nach einem Stoßseufzer. »Wir machen folgendes: Du bleibst, wo du bist, ich hol dich ab und bring dich nach Stockerau. Das kannst du dem King einfach nicht antun, Kurtl. Das bricht dem Alten das Herz. Ein Dreikönigsfressen, und du bist nicht dabei. Was ist das überhaupt für eine Hütten, in der du da abgestürzt bist? Ein neuer Mexikaner? Und was machen die da für einen Wirbel? Ist das Tekkno, oder was?«

»Das ist der Calima«, sage ich müde.

»Kenn ich nicht. Kann auch so bleiben. Aber seit wann hörst du dir freiwillig so was an?«

»Das ist ein Sandsturm, Trainer, und der rüttelt an den Türen und Fenstern von einem Bungalow auf Teneriffa, in den es mich durch eine Verkettung unglückseliger Umstände, für die ich alle nix kann, verschlagen hat. Und du bist momentan der einzige Mensch auf Gottes Erdboden, der mir helfen kann. Also bitte red nix, sondern hör mir zu. Ruf zuerst den Diplom-Ingenieur an und sag ihm, er soll die Dings anrufen, die Bärbel, und sie fragen, ob sich gestern oder heute die Sarah bei ihr gemeldet hat, weil die ist seit gestern früh verschwunden …«

»Moment«, fallt mir der Trainer ins Wort. »Wer ist die Bärbel? Und wer ist die Sarah? Und wie kommst du, bitte, nach Teneriffa? Das is doch weit weg.«

Manchmal ist es wirklich schwer mit dem Trainer. Aber in Notsituationen wie dieser kann man sich seine Helfer nicht aussuchen. Da muß man nehmen, was man kriegt. Also nehme ich mich am Zügel und berichte dem Trainer langsam zum Mitschreiben und in wohlgesetzten Worten, was mir seit der Silvesternacht im Rosi so alles zugestoßen ist.

Daß zuerst der Diplom-Ingenieur, also mein vormaliger Schlagwerker, Herr Eduard »Romeo« Jedelsky, »bei einer ziemlich spektakulären Gachblonden gebraten hat wie ein Blöder« (O-Ton Trainer), dann aber wegen einer alkoholbedingten Lähmung des Sprachzentrums sozusagen fliegend an mich übergeben mußte, daran kann sich der Trainer noch gut erinnern. Sehr gut sogar. Weil man im Rosi