Der Autor

Victor Kocher, geboren 1952 in Baden/Schweiz, war Mitarbeiter der „Neuen Zürcher Zeitung“. Er widmete sich 28 Jahre lang zunächst als Redakteur, dann als Korrespondent dem Nahen Osten und der islamischen Welt. Zurzeit arbeitet er in Genf, um als diplomatischer Korrespondent die Welt der internationalen Organisationen, die Welt-Gouvernanz und die islamischen Staaten zu beobachten. Von ihm ist zuletzt erschienen: „Der neue Nahe Osten. Die arabische Welt im Friedensprozess“ (1996). Am 17. März 2011, kurz nach Drucklegung dieses Buches, verstarb Victor Kocher völlig überraschend bei einem Spaziergang in seiner Schweizer Heimat.

Manfred Nowak, der das Vorwort zu diesem Buch verfasst hat, ist Professor für Internationales Recht an der Universität Wien und war bis November 2010 Uno-Sonderberichterstatter über Folter.

Die heimtückischen Schäden des Terrors

Vorwort von Manfred Nowak

Dieses Buch handelt von den Langzeitschäden des Mega-Terrorismus von Usama Bin Ladens Kaida. Das Bild von einer Krebserkrankung mag das veranschaulichen: Vielleicht findet man zuerst eine ungewohnte Schwellung unter der Haut, die sich zu einem wüsten Geschwür auswächst. Darauf verwendet man intensive Pflege mit Salben und Medikamenten, später vielleicht mit dem Skalpell und wiederherstellender Chirurgie. Doch unterdessen wuchert die Krankheit unbemerkt im Innern des Körpers, Metastasen fressen sich durch Darm, Leber, Nieren und andere Organe, und sie zersetzen allmählich Teile des Skeletts, bis der Körper plötzlich lebenswichtiger Funktionen beraubt ist und stirbt.

Ähnlich ist es beim Terror. Die abscheulichen Anschläge auf Busstationen, Bahnhöfe und Vorortszüge, auf Wahrzeichen des Wohlstands, Botschaften, Großbanken, Polizeikasernen, auf Vertreter der Aufklärung und der Demokratie sind nur die oberflächlichen Keulenschläge, die viel Schmerzen verursachen und Blut fließen lassen. Sie hinterlassen weitherum verstreute, zerfetzte Leichenteile und rauchende Trümmerhaufen. Doch die Tiefenwirkung kommt erst Tage und Wochen, vielleicht viele Monate später, wenn der allgemeine Aufschrei der Empörung verklungen ist. Nämlich wenn die Behörden sich ans Werk machen, um die Sicherheit des Staates und der Gesellschaft zu schützen.

Die Verantwortungsträger entscheiden unweigerlich, dass als Erstes der Staat zu schützen ist, bevor die Bürger drankommen. Wenn es keinen Staat mehr gibt, kann keiner mehr die Gesellschaft schützen. Der Staat braucht Entscheidungsfreiheit und Flexibilität, wie sie gegenüber einem derart zynischen Feind erforderlich sind, der mit immer neuen Methoden die Grundwerte der westlichen Gesellschaft unterläuft und mit Vorliebe die humanen Schwachstellen für seine Angriffe ausnutzt. Der Staat will schlagkräftige und wendige Sicherheitskräfte, die die Terroristen jagen, in die Enge treiben und dingfest machen können. Und sie müssen die gefangenen Übeltäter mit der nötigen Härte anpacken, um ihnen die Geheimnisse der Organisation und Planung der Terrorzellen zu entreißen. So werden Sondererlaubnisse und Schnellverfahren eingeführt, die eine rasche Reaktion auf die terroristische Bedrohung möglich machen und auch einigermaßen schnelle Erfolge in Form von spektakulären Verhaftungen sicherstellen. Die Volksvertreter nehmen das alles hin – insofern sie überhaupt gefragt werden –, weil sie es als einen vorübergehenden Ausnahmezustand ansehen. Erst mit der Zeit stellt sich heraus, dass die gefangenen Terroristen nicht unbedingt dicke Fische sind. Doch konnten ihre Fälle gar nie kritisch beleuchtet werden, weil sie gänzlich innerhalb der undurchsichtigen Schnellprozeduren behandelt wurden.

Die Hüter des Staates haben, wie nur langsam ersichtlich wird, die Säulen der Rechtsstaatlichkeit nachhaltig unterhöhlt und demokratische Kontrollen außer Kraft gesetzt. Mithin hat der Westen unter dem Anstoß der obskurantistischen Kaida-Terroristen das Nötige unternommen, um sich selbst – unter dem Vorwand des Schutzes der eigenen Werte – auf den Weg zum Aufbau oligarchischer Systeme zu bringen. Er schlägt damit die gleiche Richtung ein wie die Obskurantisten, vor denen er uns doch schützen wollte.

Victor Kocher sucht nach den Umständen und Kräften, die diese Entwicklung ermöglicht und befördert haben. Er rekonstruiert jenes politische und intellektuelle Klima in den westlichen Hauptstädten, das die Entschlüsse zu solchen Übergriffen gegen die eigene Rechtsordnung hervorbrachte.

Die ersten Namen, die fast automatisch aufscheinen, sind Usama Bin Laden, Dick Cheney und Guantanamo. Der Kaida-Chef Bin Laden frohlockte geraume Zeit nach den Anschlägen in Manhattan und Washington, mit jedem Dollar, den er in die Operation investiert habe, habe er an den Mahnmalen der westlichen Arroganz einen tausendfachen Schaden verursacht. Das Haftlager Guantanamo für alle, die im Dunstkreis der Kaida und der Taliban von westlichen Kräften aufgegriffen wurden, geriet zum Schreckbild für eine ganze Generation junger Araber und Muslime – eine Art außerweltliche Anstalt, wo junge Muslime, egal ob mit weißer oder blutbefleckter Weste, auf unbestimmte Zeit verschwanden und einer Behandlung zur Erniedrigung und Entpersönlichung unterzogen wurden, ähnlich wie seinerzeit im Gulag die Sowjetbürger.

Doch wer kennt schon „1267“? Diese Zahl steht für eine Resolution des Uno-Sicherheitsrates vom Jahre 1999 und für einen ehrbaren diplomatischen Ausschuss dieses Rates. Wenige wissen, was in diesem Gremium vorgeht. Und wer etwas davon weiß, der stellt sich zunächst einen Klub von altverdienten Geheimdienstoffizieren vor, die in ihrer letzten Dienstphase kurz vor der Pensionierung noch mit der Erfüllung ihrer Wunschträume verwöhnt werden: Es dreht sich um eine weltweit wirksame Präventivmaßnahme, um möglichst viele potenzielle Terroristen und ihre Mitläufer noch vor der Tat lahmzulegen. Mit einem Federstrich kann der 1267er Ausschuss jeden Verdächtigen international unter den Bann stellen, und jeder Uno-Mitgliedsstaat ist völkerrechtlich verpflichtet, gegen die Gebrandmarkten vorzugehen. Die Maßnahme erfordert keinen Schuldbeweis und bietet den Betroffenen keine Gelegenheit zur Verteidigung. Der 1267er Ausschuss setzt die Namen der Verdächtigen aus dem Umkreis der Kaida und der Taliban auf eine Terrorliste. Und alle Staaten müssen sämtliche Guthaben, Konten und Kreditkarten der Verdächtigen festsetzen, Finanzbeziehungen mit ihnen verhindern und sie am Überschreiten der Landesgrenzen hindern. Für die gute Form müssen sie ihnen auch den Kauf von Waffen versagen. Dieses Fangnetz der Einschränkungen bedeutet das Ende des zivilen Lebens für jeden, der sich in einem einigermaßen geordneten Gemeinwesen aufhält. Und die Rechtfertigung dafür beruht einzig auf der souveränen Handlungsfreiheit des höchsten Gremiums der Weltorganisation. Welche Taten und Umstände spezifisch den Anlass für den Bannstrahl gegen den Verdächtigen gaben, bleibt geheim.

Das Schema erinnert – wie Victor Kocher es beschreibt – an Kafkas „Prozess“. Ein schneller Beschluss in einer fernen Kommission macht aus einem Menschen, sei er nun arglos oder ein Verbrecher, einen Angeklagten, der sich unversehens fieberhaft um einen Beweis seiner Unschuld bemühen muss, ohne überhaupt zu wissen, worum es geht. Doch 1267 ist nicht Literatur aus dem letzten Jahrhundert, sondern die harte Realität des beginnenden dritten Jahrtausends. Es sind Smart Sanctions, es ist der salonfähige Krieg gegen den Terrorismus.

Mit diesem Buch wird in überzeugender Weise aufgezeigt, dass überschießende Maßnahmen gegen den Terror, die die Grundprinzipien des Rechtsstaates und der Menschenrechte verletzen, letztlich den Terroristen in die Hände spielen. Deswegen ist es höchste Zeit, dass der Kampf gegen den Terrorismus wieder auf das Fundament des Völkerrechts und der universell anerkannten Menschenrechte zurückfindet.

Die gnadenlose Schlinge

Eine ganz kurze Einführung

Ein Ehepaar in Belgien baut ein Hilfswerk für Afghanistan-Flüchtlinge auf und arbeitet dafür mit Freunden aus den Tagen des antisowjetischen Kampfes der Mujahedin zusammen. Im Jahr 2003 finden sich die beiden Wohltäter, deren amerikanischer Partner Global Relief Foundation zum Terrorsponsor gestempelt wurde, unversehens auf einer Schwarzen Liste zusammen mit dem Kaida-Führer Usama Bin Laden und Mullah Omar von den Taliban.

Der Uno-Sicherheitsrat hat nach dem September-Terrorismus unter dem massiven moralischen und politischen Druck Amerikas eine Spielart der „gezielten Sanktionen“ eingerichtet, die solches ermöglicht. Jede Regierung der Welt wird gezwungen, die Guthaben der Leute auf der Liste einzufrieren und ihnen das Reisen zu verwehren. Geheimdienstagenten können seither ihren Verdacht gegen irgendjemanden aus der Grauzone militanter Jihad-Bewegungen mit Hilfe der Uno in einen internationalen Bann umsetzen.

Weil es der Uno-Sicherheitsrat ist, das mächtigste Gremium der Weltorganisation, der den Bann gegen verdächtige Personen und Vereinigungen ausspricht, gibt es keine Berufung dagegen. Und weil sich die Waffe so genau gegen die Verdächtigen richten lässt, sieht der Sicherheitsrat darin heute das wichtigste Werkzeug zur Sicherung des Weltfriedens.

Schicksalsgenossen des belgischen Ehepaars gibt es mittlerweile viele. In der islamischen Welt spendete man traditionell einigermaßen blind für „unterdrückte Muslime“, ohne nach den Eigenheiten der Hilfsaktionen zu fragen. Die Liste umfasst nahezu 500 Personen und Vereinigungen. Und die Uno verhängt auch gezielte Sanktionen gegen Regimegänger in Nordkorea und Burma, gegen militärische Atomwissenschaftler und Kommandanten der Revolutionsgarden in Iran und gegen Geheimdienstchefs in Syrien. Leute wie Bin Laden kümmert das alles wenig, sie halten sich ohnehin irgendwo am Hindukusch in einem Schlupfwinkel versteckt.

Aber andere, die eben niemals Terroristen werden oder diese unterstützen wollten, hängen in der gleichen Schlinge. Einträge in die Terrorliste wurden bisher mindestens 48 Mal vor Gericht angefochten. Die Richter haben manchen Recht gegeben, doch nur wenige wurden von dem Bann befreit wie das belgische Ehepaar im Juni 2009. Die Behörden glauben fest an die Notwendigkeit, den Terrorismus mit außerordentlichen und möglichst präventiven Mitteln zu bekämpfen. Zudem stehen sie unter der Verpflichtung, die Uno-Sanktionen fraglos umzusetzen. So finden sie immer neue Mittel und Wege für die Kampfmaßnahmen. Die Gerichte haben die gröbsten Missbräuche bloßgestellt. In der Uno treibt mittlerweile eine Ombudsfrau die kritische Auseinandersetzung über die Handhabung der Terrorsanktionen an.

Doch das Bestreben nach Einführung rechtlichen Schutzes für die Verdächtigen, die per Listeneintrag zu Terroristen gestempelt werden, stößt an die Mauer einer vorbeugenden Maßnahme, die mit der klassischen gerichtlichen Methode eines Tatbeweises und einem Rekursverfahren nichts anfangen kann. In dieser Kluft zwischen präventivem Schutz der Gesellschaft und angemessenem rechtsstaatlichem Vorgehen ist die Debatte seither gefangen. Die zu Unrecht Betroffenen haben nur die vage Hoffnung, dass ihr zäher Kampf um den Beweis ihrer Unschuld vielleicht einen aufgeklärten Despoten im Uno-Sicherheitsrat anrührt.

Wenn die Grundrechte vor Furcht erzittern

Schwarze Listen und Schwarze Peter

Terrorismus zielt auf die Grundfesten der Bürgergesellschaft. Der Terrorist setzt seine eigenen, egoistischen Ziele höher als die Werte der reinen Menschlichkeit: Er ist bereit, möglichst viele möglichst Unschuldige umzubringen, um seine schuldigen Begehren rücksichtslos gegen die Menschheit durchzusetzen. So ungefähr lautet der Konsens einer moralisch eingefärbten Beurteilung der Gewalttäter jenseits der Grenzen des Zulässigen, der Ausgegrenzten und kategorisch Auszugrenzenden. Und da wir sie unbedingt an ihrem Tun hindern müssen, soll uns (fast) jedes Mittel dazu recht sein.

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben es unter dem unerhörten Schock des September-Terrorismus fertiggebracht, weltweit wirksame Präventivmaßnahmen gegen die Kaida-Terroristen und ihre Taliban-Gönner einzurichten. Der Mechanismus zielt leidlich gut ab auf die Finanzen und die Bewegungsfreiheit der Militanten; Ende 2010 waren 485 Personen oder Einrichtungen von entsprechenden Uno-Sanktionen betroffen. Doch er ist behaftet mit einer Willkür der Anwendung, die der Willkür der Terroristen in der Auswahl ihrer Ziele ähnlich ist. Der Uno-Sicherheitsrat bezeichnet auf seiner Sanktionenliste, stellvertretend für die ganze Staatengemeinschaft, die Feinde der Menschheit. Und es obliegt den Behörden der Uno-Mitgliedsstaaten, diese Leute zu verfolgen. Das hat seine Richtigkeit, solange es sich um echte Terroristen handelt. Doch wer sich unversehens auf einer Liste mit den großen Übeltätern findet, von der eigenen Unschuld jedoch überzeugt sein darf, der wird sich vor Gericht gegen die Zwangsmaßnahmen wehren. Viele Uno-Mitglieder haben das Völkerrecht und die Verfügungen der Uno in ihre Gesetze aufgenommen, mithin kann man die Behörden wegen ihrer Umsetzung der Bestimmungen lokal einklagen. Dies geschieht auch vor dem Gerichtshof der Europäischen Union.

Spätestens hier zeichnen sich kaum zu bewältigende Schwierigkeiten ab: Der zu Unrecht sanktionierte Verdächtige verlangt erstens präzise Anklagepunkte und zweitens Schuldbeweise, damit er den fundierten Beweis seiner Unschuld vor Gericht antreten kann. Doch die nationalen Behörden verfügen gar nicht über das belastende Material, zumal es das Sanktionskomitee der Uno ist, das den Eintrag auf die Schwarze Liste behandelt hat. Der „Listing“-Prozess stützt sich auf Geheimdienstmaterial einzelner Mitglieder des Sicherheitsrates, die diese Geheimunterlagen größtenteils nicht einmal mit den anderen Staaten im Rat teilen. Nach einem jahrelangen, überaus zähen Ringen einigte man sich auf die „Narrative Summaries“, allgemeine Zusammenfassungen der Schlüsse aus den geheimen Unterlagen für die einzelnen Fälle. Eine solche Zusammenfassung brachte beispielsweise die EU-Kommission vor dem EU-Gerichtshof gegen Yassin Kadi ein. Die Richter wiesen diese Begründung als völlig unzureichend für eine substanzielle und gründliche Beurteilung der Schuld des Klägers zurück. Damit war klar, was Besonnene schon zu Beginn der „Targeted Sanctions“ des Sicherheitsrates anmahnten: Diese Zwangsmaßnahmen lassen sich nicht gerichtsfähig begründen, sie rauben deshalb den betroffenen Personen und Einrichtungen ihre Grundrechte auf Verteidigung und auf wirksames gerichtliches Gehör. Sie sind ein Verstoß gegen die Menschenrechte und mithin gegen die Uno-Charta, die auch den Handlungsspielraum des Sicherheitsrates bestimmt.

Die Gerichtsverfahren brachten die Einsicht, dass die rechtliche Überprüfung des Listeneintrags auf der gleichen Ebene stattfinden muss wie der Entscheid zum Eintrag, nämlich in der Uno. Das ergibt sich schon allein daraus, dass der Sicherheitsrat sich einer nationalen Gerichtsbarkeit in keiner Weise unterstellt, also auch ihre Urteile nicht umzusetzen gedenkt. Doch ein Tribunal zur Beaufsichtigung des Sicherheitsrates gibt es nicht – und soll es nach Ansicht vieler Uno-Mitgliedsstaaten auch nicht geben. Deshalb wird aus den Schwarzen Listen der Schwarze Peter: Die Uno schiebt die gerichtliche Verantwortung an die Umsetzer der Sanktionen ab, also an die Mitgliedsstaaten. Diese können schließlich nicht umhin, wieder den Uno-Sicherheitsrat zur Rechenschaft zu ziehen. Wer unterdessen zu Unrecht auf der Liste steht, der hat auf lange, lange Jahre das Nachsehen. Yassin Abdallah al-Kadi hat schon reihenweise Prozesse gegen die ausführenden Behörden der Sanktionen gewonnen, aber er steht völlig unverändert als Nummer QI.Q.22.01 auf der 1267er Liste.

Nur wenige Politiker und Diplomaten im Umkreis des Sicherheitsrates vertreten die Auffassung, man müsste die gezielten Sanktionen abschaffen. Umgekehrt glauben viele daran, dass weltweit eine breite Zustimmung zum Gebrauch dieses politischen Zwangsinstruments vorherrscht und dass es das Werkzeug der Zukunft ist. Der Terrorismus gilt allgemein als große Bedrohung des Weltfriedens und der Sicherheit, so groß, dass man ihm mit außerordentlichen Maßnahmen beikommen muss. Wenn diese im Widerspruch zu gewissen Personenrechten stehen, so ist man bereit, das für diesen Sonderbereich zu tolerieren: Gegen eine außerordentliche Gefahr sind außerordentliche Mittel am Platz.

Doch die riesigen Rauchwolken über Manhattan haben sich schon vor geraumer Zeit verzogen, auch die blutigen Bombenanschläge von Madrid und London sind nun schon mehrere Jahre her. Der Ausnahmezustand der Terrorbekämpfung herrscht jedoch noch immer vor.

Mithin schleicht sich die damals völlig unzulässige Frage ein: Wie bedrohlich ist der Terrorismus überhaupt? Ist die Gefahr wirklich derart groß, dass sie das Opfer aufwiegt, das wir an den so lange bewährten Grundrechten erbracht haben? Offenbar sind heute selbst die Aktivisten im Sicherheitsrat ihrer selbst nicht mehr so sicher; sie haben schon angefangen, mit Reformschritten ein Surrogat rechtlicher Garantien gegen die Sanktionen zu erfinden. Doch auch die Einrichtung einer Ombudsperson vom Sommer 2010 wurde von den Richtern des EU-Gerichts postwendend als ungenügend verworfen. Der leitende Experte des Uno-Monitoring Teams im Sanktionskomitee, Richard Barrett, und der EU-Koordinator für Terrorbekämpfung, Gilles de Kerchove, sagen im Grunde das Gleiche: Die Mittel einer präventiven Terrorbekämpfung einerseits und die ordentlichen Gerichtsprozeduren einer strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechern andererseits sind wie Wasser und Öl: Sie lassen sich nicht vermischen.

Wie groß ist die Gefahr, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen? Natürlich kann man sich sehr lange darüber sorgen, was alles hätte geschehen können und was künftig alles denkbar wäre, etwa im Bereich der „schmutzigen Bomben“. Doch rein rückblickend und in Zahlen gefasst, kommt man zum Schluss, dass der Terrorismus immer noch der Krieg der Mittellosen ist, zwar viel Lärm verursacht, aber verhältnismäßig wenige Opfer fordert. Der Politologe John Mueller von der Rochester University berechnete, dass „im Durchschnitt jährlich viel mehr Amerikaner an Blitzschlag, bei Unfällen mit Wildtieren oder an Erdnüsschen-Allergien sterben als durch Terroranschläge“. Die statistische Häufigkeit, im Laufe eines Menschenlebens weltweit durch Terrorismus umzukommen, setzt er ungefähr derjenigen von Opfern bei Meteoriteneinschlägen gleich. Daher sein scharfer Schluss: Was die wahren Schäden des Terrors verursacht, sind nicht die Anschläge selbst, sondern die Folgekosten der behördlichen Reaktionen und Sicherheitsvorkehrungen. Mueller führt Usama Bin Ladens berüchtigte Überschlagsrechnung an, wonach die Operation von 9/11 rund eine halbe Million Dollar gekostet hat, die Folgekosten für die USA sich jedoch auf gut 500 Milliarden Dollar beliefen. Und dabei hatte der Chefterrorist wohl noch gar nicht an die tief greifende Umwälzung des zivilen Flugverkehrs gedacht, mit den Myriaden von neuen Sicherheitsbeamten, all den Body-Scannern, Röntgenkanälen, Leibesvisitationen und vor allem endlosen Warteschlangen.

Hier soll nicht gesagt werden, die Bekämpfung des Terrorismus sei unnötig, sondern im Gegenteil. Der Kampf soll jedoch ganz gezielt geführt werden, nicht mit einer Strategie der verbrannten Erde im ganzen islamischen Umfeld der Terroristen. Der statistische Vergleich ordnet die Terrorsorge unter den anderen, mindestens so grundlegenden Anliegen einer Regierung ein: Nahrungsmittelsicherheit, Energieversorgung, Volksgesundheit, Sicherheit im Straßenverkehr, um nur wenige zu nennen. Und es wird klar ersichtlich, dass der ungeheure Aufwand für die Terrorbekämpfung einem willentlichen politischen Entschluss entspringt, nicht einfach einer schicksalhaften Notwendigkeit. Die radikale Wende zu George W. Bushs weltweitem Krieg gegen den Terror war nur möglich, weil beim Terrorismus, besonders bei den Mega-Attentaten der Kaida, der Beweis einer Schädlichkeit strategischen Ausmaßes nicht erbracht werden musste. Man konnte ihn in guten Treuen voraussetzen. Deshalb gab es auch keinen nennenswerten Widerstand gegen die Einschränkung der Freiheiten und gegen die Beugung der Grundrechte. Die Stimmung im Spätherbst 2001 war durch eine weltweite Mobilisierung bestimmt. Und wer unbequeme Fragen stellte, wurde rasch zum Verräter gestempelt. Dass die Amerikaner die treibende Kraft der Kaida- und Taliban-Sanktionen waren, bezeugen zahlreiche Insider. Mithin kann man zehn Jahre später feststellen, dass die überaus heftige Reaktion auf den Terror nicht eine weltweite natürliche Reaktion war, sondern es war ein gutes Stück der politische Entscheid der amerikanischen Regierung, der der ganzen Welt diese Hysterie mit all ihren Folgeschäden im Völkerrecht aufgedrängt hat. War es richtig, den Schutz der Personenrechte über Bord zu werfen, um ein paar Hundert neu erkannte, mutmaßlich gemeingefährliche Verbrecher im Zeichen des pervertierten Islams lahm zu legen? Präsident Obama machte nach seinem Amtsantritt zur Regel, dass der Kampf gegen die Kaida nur noch mit legalen Mitteln zu führen sei. Das war die Weisheit, die die Gerichte und die Zivilgesellschaft in Europa schon länger vertraten – vielleicht etwas stur und blind für die Dimensionen der Herausforderung, aber auf lange Sicht auch nicht falsch.

Lässt sich also der Methodenstreit beim Schutz der Bürger auflösen? Kann der Schutz der Rechte und Freiheiten ganz mit der Repression der Feinde der Gesellschaft harmonieren? Solange wir die Freiheiten nicht antasten und ihre Nutzung nicht kontrollieren, müssen wir das Risiko in Kauf nehmen, dass gewisse Leute sie für üble Zwecke missbrauchen. Das alte Dilemma: Je mehr Sicherheit wir wünschen, desto mehr Freiheit müssen wir drangeben.

Die Frage wurde jedoch über Jahrhunderte debattiert und abgewogen. Je andere Gesellschaften in anderen Weltgegenden haben einen Kompromiss mehr auf der einen oder anderen Seite gefunden. Und die modernen Verfassungen mit ihren Rechtsgarantien sind die reifen Früchte dieser Auseinandersetzungen. Vielleicht läge es nur daran, die These einer neuartigen Bedrohung in Form des Jihad-Terrorismus zurückzuweisen, die auch neue Kampfmaßnahmen verlangt. Dann könnte man sich wieder etwas mehr auf bewährte rechtliche Instrumente besinnen, mit denen die Menschheit frühere Krisen so schlecht und recht überstanden hat.

Diese Art der Fragen soll im Sinne einer gesunden Skepsis in diesem Buch angeregt werden. Denn der Entscheid über die Kampfmaßnahmen gegen den Terrorismus, die das Gesellschaftsgefüge massiv erschüttern, ist viel zu lange zweierlei Insidern überlassen worden: den Geheimdiensten und Sicherheitskräften, die nie genug künftige Bedrohungen an die Wand malen und Vorkehrungen fordern können, sowie den politisch-diplomatischen Handwerkern der Exekutivbehörden und im Uno-Sicherheitsrat, die mit einem viel zu technisch bestimmten kurzfristigen Horizont die Problematik verwalten.

Was wir jedoch brauchen, ist eine nüchterne Debatte mit dem Rüstzeug unbestechlicher Bürgerverantwortung und historisch fundiertem Weitblick. Nur so kommen wir zu einer angemessenen und nachhaltigen Abwehr gegen die Terroristen.

Die Erfindung der Uno-Terrorlisten

In diesem Kapitel erfährt man, dass es nicht allen Erfindern der Smart Sanctions um eine möglichst genau gezielte Maßnahme ging, sondern viele wollten vor allem eine möglichst wirksame.

Vielleicht lässt sich behaupten, dass der Gedanke in Interlaken im Victoria-Jungfrau Grand Hotel geboren wurde, in einer etwas verstaubten Touristenherberge aus dem 19. Jahrhundert mit majestätischem Blick auf die drei schönsten Schweizer Alpengipfel: Eiger, Mönch und Jungfrau. In jenem Hotel organisierte das Schweizer Außenministerium Ende der 1990er Jahre zwei Konferenzen mit dem Ziel, Uno-Sanktionen „smart“ zu machen, d. h. sie möglichst nur auf die Urheber der Bedrohung des Weltfriedens und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zielen. Die Schweizer riefen eine Gruppe gleich gesinnter Staaten zusammen, die die Lehren aus den unseligen Irak-Sanktionen während der Ära Saddam Hussein ziehen wollten.

Am Anfang, im Jahre 1990, waren sich alle einig gewesen, dass man den irakischen Diktator und Aggressor für seinen staatlichen Plünderzug und die Besetzung im Nachbaremirat Kuwait bestrafen und ihn zum Abzug zwingen musste. Resolution 661 des Uno-Sicherheitsrates verhängte umfassende Finanz- und Handelssanktionen gegen den Irak. Das Embargo diente als Zwangsjacke, in der man das Saddam-Regime während der dramatischen Verhandlungen über einen friedlichen Abzug der Besetzertruppen zum Schwitzen bringen wollte.

Doch Saddam ließ sich nicht heiß machen und erfand jenes Junktim, mit dessen Hilfe er gleich noch die Lösung des Palästina-Problems mit zu erzwingen gedachte. Die irakische Besetzerarmee wurde schließlich 1991 durch eine internationale Koalition unter der Führung Amerikas aus Kuwait vertrieben und auf dem Abzug gnadenlos dezimiert. Die Sanktionen blieben jedoch erhalten, um Saddam Hussein zur Abrüstung gemäß den Auflagen der Sieger zu zwingen.

Saddams Mittelstreckenraketen, die Scuds, hatten sich während des Krieges als eine wirksame Terrorwaffe mit regionaler Wirkung bis nach Israel erwiesen. Das konnte legitim als eine Bedrohung des Weltfriedens charakterisiert und entsprechend mit Sanktionen belegt werden. Doch bald erkannte der Westen, dass im Irak ziemlich viele unter der Wirkung der Strafmaßnahmen litten – außer Saddam Hussein selbst, seiner Familie und den Mitläufern des Regimes, die das eigene Volk mit eiserner Hand durch immer magerere Jahre führten. Das irakische Regime unterstützte zusätzlich nach Kräften die alarmistische Berichterstattung der westlichen Medien, die wachsende Symptome der Unterernährung bei der armen Landbevölkerung aufzeigte.

Der Uno-Sicherheitsrat suchte die Empörung in der westlichen Bevölkerung im Jahre 1991 mit einer Entschließung über beschränkte Erdölverkäufe des Iraks für humanitäre Zwecke aufzufangen. Weil Bagdad die Unterwerfung unter Regeln der Uno verweigerte, geschah vorerst fünf Jahre lang nichts. Und die Empörung über die „von Menschenhand gemachte Sanktionenkatastrophe im Zweistromland“ wuchs weiter an. Erst 1996, und nach der Einrichtung des Programms „Öl für Lebensmittel“ mit Resolution 986, unterzeichnete das Saddam-Regime eine Übereinkunft, wonach kontrollierte irakische Ölexporte beginnen konnten. Nach diesem Schema floss der Erlös der Ausfuhren dann auf ein Sperrkonto unter Kontrolle der Uno. Mit diesen Mitteln konnten „humanitäre Einfuhren“ von Grundbedarfsgütern wie Nahrungsmittel und Medikamente finanziert werden.

Ziemlich bald hatten die Iraker auch diese Einrichtung weitgehend unterlaufen. Sie brachen das Embargo routinemäßig durch bedeutende Öllieferungen an die Nachbarländer. Vor allem Jordanien war seit vielen Jahren mit verbilligtem irakischem Öl versorgt worden, und die Stabilität seiner Staatsfinanzen hing wesentlich von dieser Energie zu Vorzugspreisen ab. Entsprechend sicherte sich Saddam eine freundschaftliche Haltung Jordaniens, dazu kam ein willkommenes Fenster zur Außenwelt über die Wüstenautobahn nach Amman und dessen internationalem Flughafen sowie den Hafen Akaba. Die Iraker teilten auch anderen „befreundeten“ Staaten und besonders zugeneigten westlichen Politikern oder auch korrupten Uno-Beamten Sonderkontingente von Erdöl zu, die diese zur Finanzierung ihrer Parteien oder einfach auf eigene Rechnung verkaufen konnten.

Verschiedene Untersuchungen zeitigten lange Listen von Nutznießern, worauf als prominenteste Verdächtige der frühere französische Innenminister Charles Pasqua und der britische Abgeordnete George Galloway fungierten; beide beteuerten systematisch ihre Unschuld. In Amerika wurden Gerichtsverfahren wegen Korruption in Millionenhöhe gegen den koreanischen Geschäftsmann Tongsun Park und den zypriotischen Uno-Beamten Benon Sevan, den langjährigen Leiter des Oil for Food-Programms, angestrengt. Zusammen mit zahlreichen internationalen Firmen, etwa in Russland und Australien, kam auch die in der Schweiz registrierte Rohwaren-Handelsgesellschaft Glencore ins Zwielicht. Ein Bericht im Auftrag der US-Regierung, verfasst vom früheren Uno-Waffeninspektor Charles Duelfer, kam 2004 zu dem Schluss:

Die Einführung des Oil for Food-Programms Ende 1996 war für das Saddam-Regime ein strategischer Wendepunkt. Das Programm rettete die irakische Wirtschaft vor einem endgültigen Zusammenbruch infolge der Uno-Sanktionen. Das Regime kam rasch zur Einsicht, dass das Schema sich unterlaufen ließ, sodass Bagdad zusätzliche Hartwährungsreserven erwerben konnte. Mit deren Hilfe vermochte es die Sanktionen weiter zu umgehen und sich die Mittel zu verschaffen, um potenziell militärisch nutzbare Infrastrukturen sowie die Möglichkeit zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu stärken.

Die irakische Exilopposition machte auch darauf aufmerksam, dass Saddam Husseins Sohn Uday und andere Handlanger in Bagdad einen schwunghaften Handel mit eingeschmuggelten Konsum- und Luxusgütern betrieben. Die Erfahrung war deshalb reichlich ernüchternd: Die Smart Sanctions trugen im Irak nur bedingt zur Linderung der Leiden der breiten Bevölkerung bei. Hingegen dienten sie eindeutig dazu, das Regime zu bereichern und seine Kontrolle über das Land und die Gesellschaft zu festigen – also das genaue Gegenteil des Angestrebten.

So begannen die Diplomaten in New York an noch besser gezielten Zwangsmaßnahmen zu arbeiten, die wirklich nur die Verbrecher, die direkt für die Verstöße Verantwortlichen treffen sollten. Die erste Wahl fiel auf die Festsetzung der Guthaben und die Einschränkung der Bewegungs- und Reisefreiheit, dazu kamen spezifische Importverbote für Waffen und militärische Güter. Anfänglich gehörten auch Flugverbote für die entsprechenden Airlines dazu. Die Schweizer boten hier ihre guten Dienste an und organisierten 1998 und 1999 die Konferenzen in Interlaken.

„Nach den jüngsten schockierenden Terroranschlägen sind Maßnahmen, um Terrorgelder aufzuspüren und einzufrieren, erneut ins Rampenlicht des Interesses gerückt“, schreibt der Schweizer Außenminister Joseph Deiß Ende 2001 in der Einleitung zu einem „Handbuch für Smart Sanctions“, das die Ergebnisse der Konferenzen in Interlaken sowie folgender Expertentreffen in New York systematisch zusammenfasste. Der Grundgedanke war, dass sich der historische Ansatz des Aushungerns nicht mehr mit dem Völkerrecht vereinbaren ließ. Es ging nicht an, ganzen Völkern mittels eines Handelsboykotts die Zufuhr von Nahrungsmitteln und Medikamenten zu verwehren. Vielmehr musste man direkt Zugriff auf die Machtmittel der Herrschenden und der militärischen Kommandanten gewinnen: Wirksam wäre das Einfrieren aller Guthaben der Machthaber im Ausland und ein Verbot sämtlicher Transaktionen mit ihnen. Weiter konnte man die politischen und militärischen Führer in ihrem eigenen Land festsetzen und ihnen den Zugang zur Außenwelt verschließen. Und die bittere Lektion aus der Hochrüstung von Saddams Heerscharen, die mit hoch entwickelten Waffensystemen aus westlichen Industrieländern zu einer die Region bedrohenden Vernichtungsmaschinerie pervertiert worden waren, legte unbedingt ein Rüstungsembargo nahe. Mit diesen Maßnahmen wären Regimes mit bedrohlichen Gelüsten die Hände gebunden.

Das Handbuch für Smart Sanctions enthielt bereits eine humanitäre Lehre, die noch ein Jahrzehnt lang nur unbefriedigend in die Praxis umgesetzt wurde:

Weil verdächtige Personen auch irrtümlich als Terroristen abgestempelt werden könnten, sollte der Uno-Sicherheitsrat Mechanismen in die Prozedur einbauen, welche es Individuen auf der Liste erlauben, um ihre Streichung nachzusuchen.

Im Entwurf für eine Modell-Resolution zur Einführung von Smart Sanctions steht die Bestimmung:

Jede Person und jede Gruppierung auf der Terrorliste … kann dem Vorsitzenden des Sanktionsausschusses … ein Gesuch vorlegen.

Doch bei der zweiten Konferenz von Interlaken trat auch ein Abteilungsleiter im amerikanischen Finanzministerium auf, R. Richard Newcomb vom Office of Foreign Assets Control (Ofac). Dieser erläuterte die Auffassung der USA, und nach dieser bedeutet „smart“ weniger eine schonende und wohl gezielte Zwangsmaßnahme, sondern vielmehr eine möglichst wirksame.

Newcomb führte zugleich die Arbeitsweise des Ofac aus, einer lange Zeit schattenhaften Behörde in Washington, die aber im Zuge des ausgreifenden Antiterrorkrieges in Ländern des Nahen Ostens für viele zu einer omnipräsenten Obsession wurde: Es ist eine Art Geheimdienst, der in Echtzeit den weltweiten Geldverkehr ausspioniert und die Finanztransaktionen überwacht. Newcomb erklärte, wie das Ofac im Namen Amerikas gewisse Personen als Terrorverdächtige abstempelt. Dabei ist nicht entscheidend, ob ihnen irgendein Verbrechen nachgewiesen werden kann, sondern allein schon, dass sie in Beziehung zu einer als terroristisch bezeichneten Gruppierung stehen. Das amerikanische Außenministerium führt eine verbindliche Liste von Terrororganisationen auf der ganzen Welt. Und das Ofac jagt alle Personen, für die „dispositive evidence“ „vernünftigen Anlass zur Überzeugung gibt“, dass sie in einer Beziehung zu einer der Terrorgruppen stehen. Wer immer von einer Terrorgruppe kontrolliert wird, wer im Namen oder im Interesse eine solchen Gruppe handelt oder wer materiell oder finanziell eine solche Gruppe oder Person unterstützt, landet auf der Ofac-Liste.

Newcomb führte eigens aus, dass die Beweislast für eine solche Designierung ganz anders ist als bei einem Verfahren vor Strafgericht. Hingegen macht sich jeder Amerikaner strafbar, der auf irgendeine Art mit designierten Terroristen auf der Liste des Ofac oder des Staatsdepartements Geschäfte macht. Das Ofac bemüht sich, das ganze wirtschaftliche und finanzielle Verbindungsnetz einer Zielgruppe oder Zielperson im Voraus auszuloten. Schlüsselpersonen in diesem Netzwerk werden mit erhöhter Dringlichkeit verfolgt, damit man möglichen Fluchtmanövern beim Verhängen der Sanktionen zuvorkommen kann. Entsprechend müssen auch Verdächtige verfolgt werden, die ihre Identität wechseln und ihre Guthaben verschieben, um einer Festsetzung zu entkommen.

Newcomb führte weiter aus, dass das Ofac alle größeren Banken in Amerika dazu verpflichten konnte, in ihren internen Systemen ein Ofac-Programm zum sofortigen Aufspüren verdächtiger Transaktionen einzurichten. Auch andere Unternehmen haben ähnliche Programme installiert, um internationale Transaktionen bei Käufen und Verkäufen auf verdächtige Adressen zu überprüfen. Falls in einer Bank ein Name von der Schwarzen Liste auftaucht und Alarm auslöst, wird der entsprechende Transfer in eine Warteschlaufe geleitet, sodass ein Angestellter eine Überprüfung vornehmen und allenfalls die ganze Aktion blockieren kann. Mit solchen Vorschriften zwangen die amerikanischen Behörden all ihren Bürgern und sämtlichen Unternehmen im Lande auf, ihnen bei der Bekämpfung der Terroristen zuzudienen. Das betraf auch alle Amerikaner im Ausland. So war der nächste Schritt nicht mehr weit. Bald verbreitete die US-Diplomatie die Warnung an alle internationalen Banken und Unternehmungen, dass sie sich an das US-Embargo gegen Terroristen halten mussten, wenn sie nicht ihr ganzes Amerika-Geschäft verlieren wollten.

Die USA hatten ihren Sanktionsmechanismus schon nach den Anschlägen der ersten Kaida-Zellen in Ostafrika auf Usama Bin Ladens Verbündete ausgerichtet. Daraus resultierte im Jahre 1999 die Entschließung 1267 des Uno-Sicherheitsrates gegen die afghanischen Taliban, weil diese der Anordnung der Staatengemeinschaft nicht nachkamen, Bin Laden auszuliefern. Mit jener Resolution schuf der Sicherheitsrat einen Sanktionsausschuss, in dem alle 15 Mitglieder des Rates vertreten waren. Er hatte zunächst die Aufgabe, die Umsetzung der Sanktionen in den Mitgliedsstaaten zu überwachen und mögliche Terrorgelder zu identifizieren. Später wurde daraus der Auftrag, alle verdächtigen Personen und Einrichtungen benennen zu helfen und die entsprechende Schwarze Liste mit aufzustellen.

Diese Praxis war schon 1997 in den Sanktionen gegen die „Unita“ in Angola erprobt worden. Mit Resolution 1333 vom Dezember 2000 wurden diese Zwangsmaßnahmen direkt auf die Kaida und Usama Bin Laden ausgedehnt. Das 1267er Komitee erhielt den Auftrag, „eine Liste designierter Mitglieder der Kaida und der Taliban“ aufzusetzen. Sie sollte sowohl Einzelpersonen als auch Körperschaften umfassen. Informationen würden dem Ausschuss von Regierungen und regionalen Organisationen zukommen. Die Anregungen aus dem Handbuch für Smart Sanctions wurden dankend aufgenommen – vor allem was die breite Unterstützung der Konferenzteilnehmer von Interlaken für das Konzept wirksamer Zwangsmaßnahmen betraf. Die selbstkritischen Anregungen fielen allerdings unter den Tisch der Terroristenjäger. Es fehlte jeder Hinweis auf die Möglichkeit eines Irrtums beim Aufsetzen der Liste, und der Vorschlag für die Einrichtung eines Beschwerdewegs blieb ungehört.

Der Sicherheitsrat stützte sich unter dem Antrieb der Amerikaner auf seine langen Erfahrungen mit Zwangsmaßnahmen gegen Staaten, wo die einzige Sorge der Wirksamkeit des Embargos galt. Regierungen hatten schließlich an der Uno ausreichend Möglichkeit, über diplomatische Kanäle ihre Bedenken und Klagen einzubringen. Doch die 1267er Sanktionen richteten sich ausdrücklich gegen nichtstaatliche Akteure und gegen Einzelpersonen. So kam ein Sanktionsmechanismus zustande, der den einzelnen Betroffenen überhaupt keine Möglichkeit des rechtlichen Gehörs, geschweige denn einer Beschwerde einräumte. Der Uno-Sicherheitsrat nahm sich die Kompetenz heraus, endgültig darüber zu befinden, wer ein Terrorist sei und wer nicht, und gleich die entsprechenden Sanktionen mit dem Charakter einer gerichtlichen Strafe zu verhängen. Damit verstieß er nach Ansicht vieler Völkerrechtsexperten klar gegen die Uno-Charta. Denn diese gibt dem Sicherheitsrat nebst der Wahrung des Weltfriedens unmissverständlich den Auftrag, die Werte der Charta und insbesondere die Menschenrechte hochzuhalten.

Erst zehn Jahre später, im Oktober 2010, wagte es ein hoher Vertreter der Uno, dem Sicherheitsrat in aller Form einen Übergriff vorzuwerfen. Es war der Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Bereich der Terrorbekämpfung, der finnische Völkerrechtsexperte Martin Scheinin. Er legte der Uno-Generalversammlung einen Bericht vor, wonach gegen Personen gerichtete Strafmaßnahmen der Weltorganisation, die gerichtlichen Verfügungen gleichkommen und ohne zeitliche oder räumliche Beschränkung gültig sind, dem Völkerrecht widersprechen. Wenn der Sicherheitsrat unter Kapitel 7 der Uno-Charta eine Sanktionsverpflichtung für alle Uno-Mitglieder ausspricht, so muss sich diese auf einen spezifischen und räumlich umschriebenen Konflikt beschränken. Dies ist nach dem Verdikt Scheinins beim Krieg gegen den Terrorismus nach einer Dauer von mehreren Jahren nicht mehr gegeben.

Doch solche Sorgen waren nach dem ungeheuren Schock des Mega-Terrorismus im World Trade Center, mitten im pulsierenden Herzen der wirtschaftlichen Supermacht Amerika, völlig in den Hintergrund gedrängt worden. Die USA waren aus heiterem Himmel auf eigenem Boden sehr empfindlich getroffen worden. Der Feind war „der Terrorismus“, und Präsident Bush erklärte diesem den weltweiten Krieg. Amerika verlangte die Hilfe seiner Verbündeten in diesem Kampf.

Die strategischen Planer der Administration Bush, unter Führung des Falken der Neocons, Vizepräsident Dick Cheney, setzten nach der Überwindung des ersten Schreckens die Ziele möglichst umfassend. Als Erstes wurde ein intellektuelles Klima des totalen Krieges gegen die Terroristen geschaffen, das alle Diskussionen um die nötigen Kampfmaßnahmen beherrschte. Amerika setzte energisch den Tenor, und jede kritische Frage stieß sofort auf die von Bush persönlich in die Welt gesetzte Dichotomie: Entweder seid ihr mit uns im Krieg gegen die Terroristen, oder ihr seid mit ihnen und gegen uns. Allein Ansätze zur Erforschung der Ursachen des Terrorismus wurden als Sympathie für die Gewalttäter ausgelegt, oder mindestens als Suche nach Verständnis oder sogar Rechtfertigung der Gewalt. Der Bericht des US-Kongresses über den September-Terrorismus, der „9/11 Commission Report“ vom Juli 2004, bringt diese Denkweise deutlich zum Ausdruck: Über 500 Seiten setzten sich die Experten mit den Methoden und Wirkungen des amerikanischen Antiterrorkrieges auseinander. Doch kein einziges Mal stellt einer die Frage, ob eine Lösung des Palästina-Problems nicht die ideologische Spannung in der Region massiv vermindern und mithin die Anziehungskraft der Extremisten vermindern müsste. Dass jemand das jahrzehntelange Ausbleiben einer gerechten Regelung in Palästina auch den Amerikanern ankreiden könnte, der größten Schutzmacht Israels – diese Betrachtung scheint nirgends in dem Bericht auf. Es geht einzig darum, wie die Schlagkraft Amerikas gegen die Verbrecher und das Netzwerk ihrer Sympathisanten noch zu erhöhen wäre.

Die Verfügungen des 1267er Komitees waren in den ersten Jahren unwiderruflich, und sie galten schon damals ohne jede zeitliche Einschränkung. Die Amerikaner hatten es fertiggebracht, ihr Sanktionsmodell mit dem Vehikel der Uno auf die ganze Welt auszudehnen. Jeder Mitgliedsstaat der Uno war verpflichtet, die Zwangsmaßnahmen gegen die Personen und Gruppen auf der Terrorliste umzusetzen. Die Terrorverdächtigen mussten zwar nicht verhaftet, sondern nur in ihrer Aktivität lahm gelegt werden. Eine Strafverfolgung wegen Terrorakten ist ohnehin im Rechtssystem aller Staaten verankert. Aber es bedeutete, dass zusätzlich die Verstöße gegen die Uno-Verfügung nach nationalem Recht unter Strafe zu stellen waren. Da es streng genommen jedweder Person untersagt wurde, mit Leuten oder Gruppen auf der Schwarzen Liste irgendein Geschäft zu machen, war letzten Endes die gesamte Weltbevölkerung der Regel unterworfen. Wenn also, grob gesprochen, ein amerikanischer Geheimagent zu dem Schluss kam, irgendein militanter Afghane oder Palästinenser gehöre auf die 1267er Liste, so konnte er das im 1267er Komitee durchsetzen und in der Folge jeden Erdenbürger dazu zwingen, die Sanktionen umzusetzen.

Yussef Nada, ein Gentleman-Terrorsponsor?

Hier lernt man, wie man einen Bankier mit einem Federstrich ruiniert und wie lange es dauert, bis einer aus dem Verdachtsnetz der Uno entkommt.

Im Spätherbst 2002 kehrte der Italien-Ägypter und internationale Bankier Yussef Nada abends in sein Hotel in London zurück. Er war etwas erschöpft durch eine aufregende Studiodebatte beim Jazira-Fernsehen, wo er seine Erfahrungen als Buhmann der amerikanischen Behörden, als US-designierter Terror-Financier, dem arabischsprachigen Publikum dargelegt hatte. Zu seinem Erstaunen ließ sich seine Zimmertür mit der elektronischen Zugangskarte nicht öffnen. Der Concierge im Hilton glaubte an einen Fehler des Systems und stellte ihm eine neue Karte aus. Doch als er wieder im fünften Stockwerk aus dem Aufzug trat, stürzten sich fünf Männer auf ihn und stellten ihn unter Arrest. Sie gaben sich als Agenten von Scotland Yard zu erkennen. Dann brachten sie Nada in sein Hotelzimmer, das sie durchsuchten. Sie beschieden ihm, er halte sich illegal in Großbritannien auf, und er müsse nach Italien deportiert werden. Als Inhaber eines Europa-Passes protestierte Nada gebührend, doch die Polizisten behandelten ihn wie einen gefährlichen Verdächtigen.

Nada fiel aus allen Wolken. In dem Jahr nach dem September-Terror hatte er zahlreiche Geschäftsreisen unternommen, unter anderem nach Kuala Lumpur, Jakarta und Sydney. Er war auch schon mehrmals für Jazira-Sendungen in London gewesen. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon war der amerikanische Präsident Bush am 7. November vor die Kameras getreten und hatte in dramatischen Worten erklärt: Wir werden die al-Takwa-Bank aushungern, weil sie zu den wichtigsten Finanzquellen der Terroristen gehört. Al-Takwa war Yussef Nadas Bank. Die Schweizer Justiz hatte in den Niederlassungen der Nada Management Organisation in Lugano, einer Tochterfirma der al-Takwa, ganze Lastwagen voller Akten beschlagnahmt und abtransportiert. Doch Yussef Nada selbst war nach einigen Verhören nicht mehr behelligt worden. Nun behaupteten diese britischen Geheimpolizisten plötzlich, der Uno-Sicherheitsrat habe ein weltweites Reiseverbot gegen Nada ausgesprochen. Er müsse auf dem direkten Weg nach Hause, nach Campione d’Italia zurückkehren. Und es sei ihm verboten, irgendein anderes Land zu besuchen, und wäre es nur auf der Durchreise. Yussef Nada fand sich in übelster Gesellschaft auf der Schwarzen Liste des Uno-Sanktionskomitees, zusammen mit einigen Hundert Personen oder Unternehmen, denen man Verbindungen zu den Taliban oder zur Kaida unterstellte. Erst später sollte er feststellen, dass er annähernd ruiniert war.

Nada verrichtete als gläubiger Muslim zuerst seine Gebete, mit denen man es im Fastenmonat Ramadan besonders ernst nimmt. Dann eskortierten ihn die Polizisten auf den nächsten Posten. Doch schon beim Check-out im Hotel erlebte er seine zweite böse Überraschung: Seine Kreditkarte stellte sich als gesperrt heraus. Das erklärten die Agenten als eine weitere Maßnahme des Sanktionskomitees, nämlich die Festsetzung sämtlicher Finanzmittel für die Leute auf der Schwarzen Liste.

So gelangte der über 70-jährige Gentleman-Bankier wie ein Verbrecher per Schub nach Mailand. Zum Glück hatte er wenigstens schon das Rückflugticket besessen. Von der Hauptstadt der Poebene fuhr er im Wagen nach Campione, wobei er gezwungenermaßen Schweizer Territorium berührte. Niemand erhob einen Einwand dagegen, und die Erfahrung von London erschien ihm wie ein übler Traum. Doch zu Hause angelangt, ließ er seinen Anwalt die Sache untersuchen. Der Bescheid war zutiefst entmutigend: Der geachtete Bankier und Unternehmer Yussef Nada saß auf Verfügung des Uno-Sanktionskomitees gewissermaßen im Hausarrest in der winzigen Enklave Campione fest – anderthalb Quadratkilometer Lebensraum, und zwar auf völlig unbestimmte Zeit. Und es gab auch keinen Weg des rechtlichen Rekurses dagegen. „Bis dahin hatten wir im Luxus und mit sieben Hausangestellten gelebt“, sagt er bitter. „Nun blieben in der ganzen Villa Nada nur noch meine Gattin und ich.“