Buchcover

Herausgegeben von
Tilman Mayer

Bismarck:
Der Monolith

Reflexionen am Beginn
des 21. Jahrhunderts

 

 

Saga

Geleitwort

Peter Altmaiera

Vor 200 Jahren wurde Otto von Bismarck geboren, und noch immer arbeitet sich die politische Debatte an ihm ab: Bewunderer und Kritiker sind gleichermaßen beteiligt. Kein anderer deutscher Staatsmann stand oder steht seit so langer Zeit im Zentrum der politischen und historischen Kontroverse, über niemanden wurden mehr Bücher und Aufsätze geschrieben als über Otto von Bismarck.

Das mag an seiner Persönlichkeit liegen, die auch heute noch imponiert. Seine physische, seine intellektuelle und seine konzeptionelle Kraft ließen ihn weit herausragen über regierende Fürsten und Politiker seiner Zeit. Egomanie und Egozentrik sondergleichen waren gepaart mit einem Bewusstsein staatspolitischer Verantwortung, wie man es ansatzweise erst wieder bei Konrad Adenauer findet. Es liegt ganz sicher auch daran, dass Otto von Bismarck zeitlebens den Meinungskampf suchte, dass er das Land, das er mit so viel Mühe geeint hatte, hernach fast zwei Jahrzehnte lang lustvoll polarisierte, wie kein anderer vor oder nach ihm.

Es liegt aber auch, und ganz besonders, an seiner ungebrochenen Aktualität: Otto von Bismarck ist ein Mann von heute, nicht von gestern. Auf Schritt und Tritt, wo immer wir gehen oder stehen, wir befinden uns in der Kontinuität seiner Weichenstellungen und Entscheidungen, viel mehr, als den meisten von uns überhaupt bewusst ist. Die moderne Staatlichkeit Deutschlands, seine föderale Verfasstheit, seine Institutionen und politischen Strukturen, seine Wirtschafts- und Sozialverfassung sind im Wesentlichen das Werk Otto von Bismarcks. Die Kraftlinien, die von diesem Werk ausgehen, sind ungebrochen, über alle Wechselfälle der Geschichte hinweg. Die großen Fragen, die ihn bewegt haben, bewegen uns noch heute: von der Außenpolitik über den Freihandel bis hin zum Verhältnis von Staat und Kirche.

Sicher: Manche dieser Fragen sind älter als Otto von Bismarck. Die Fragen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind seit der Aufklärung gestellt, durch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Französische Revolution wurden sie im modernen Sinne beantwortet. Die deutsche Freiheits-, Einheits- und Demokratiebewegung gab es seit den Befreiungskriegen, sie hat nicht auf Bismarck gewartet. Aber es war Otto von Bismarck, der die damit zusammenhängenden Fragen innerhalb Deutschlands gebündelt und einer dauerhaften Entscheidung zugeführt hat.

Zustandekommen, Grenzen, Form und Inhalt eines Deutschen Nationalstaates waren ungewiss und offen, bis Otto von Bismarck das Amt des preußischen Ministerpräsidenten übernahm und schrittweise, aber unbeirrbar vollendete Tatsachen schuf. Der von ihm geschaffene Staat und die daran gebundene nationale Identität haben die verheerende Niederlage von 1918, das Ende der Monarchie und das Desaster von Weimar, die Zivilisationskatastrophe von 1933 bis 1945 und die Deutsche Teilung überlebt. Selbst 1923, inmitten von höchster Inflation, Staatskrise und Agonie kam es weder zur Separation des Rheinlandes noch zur Abspaltung Bayerns oder Sachsens. Und obwohl es nach 1945 während 40 langer Jahre so aussah, als sei seine Schöpfung gescheitert, fügten sich die getrennten Teile von Bismarcks Deutschlands nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges auf wundersame Weise wieder zusammen: In genau der Form und Struktur, die Bismarck 120 Jahre zuvor ersonnen hatte und in keiner anderen. Natürlich als Republik und nicht als Mo narchie wie seinerzeit. Aber um die Monarchie ging es ihm nicht an erster Stelle und zuletzt immer weniger. Mit der fast schon prophetischen Aussage »Germany is not doomed even if monarchy should be so« hatte er es gegenüber seinem Sohn Herbert bereits 1893 auf den Punkt gebracht.1 Und gegenüber der Baronin Spitzemberg soll er geäußert haben: »Es kann ja sein, dass Gott für Deutschland noch eine zweite Zeit des Zerfalls und darauf eine neue Ruhmeszeit vorhat, auf einer neuen Basis der Republik, das aber berührt uns nicht mehr.«2

Otto von Bismarck hatte sich seinerzeit nach reiflicher Überlegung für den Föderalismus und gegen den Zentralstaat entschieden. Er ist das beherrschende Prinzip der deutschen Staatsorganisation bis heute. Damals wie heute waren die Gliedstaaten von höchst unterschiedlicher Größe, Finanz- und Gestaltungskraft: Mecklenburg-Strelitz und Preußen, das Saarland und Nordrhein-Westfalen. Damals wie heute gab es Vorschläge zuhauf, welche Aufgaben sehr viel besser auf bundesstaatlicher Ebene als auf Länderebene zu lösen seien. Bismarck jedoch war sich sicher, dass die föderale Ordnung mit klarer Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern jeder zentralistischen Lösung in puncto Dauerhaftigkeit, Stabilität und Identität überlegen sei. In den Tagen der Reichsgründung von 1871 war er zum Erstaunen vieler Zeitgenossen wieder und wieder bereit, partikulare Länderforderungen (nicht nur Bayerns) zu akzeptieren, weil er sich davon nicht nur Zustimmung zu seinem Projekt, sondern auch einen langfristigen politischen Mehrwert versprach.

Ob Bundestag oder Bundesrat, Bundeskanzleramt, Ressortprinzip oder Richtlinienkompetenz. Sie alle finden sich in Bismarcks Staatskonstruktion, die er 1866 auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft fernab von Berlin in Putbus auf Rügen mit wuchtigen, gleichzeitig fein ziselierten Federstrichen entwarf. Wir haben in Weimar, während des Nationalsozialismus und in der DDR vielfach daran herumgedoktert und geändert, aber wir kamen im Kern immer wieder auf seine Lösungen zurück. Gründlich geändert haben wir nur die Konstruktion des Bundes- beziehungsweise Reichskanzlers, der nach Bismarcks Vorstellung absolut und nur vom Vertrauen des Kaisers abhängig war: Der Reichstag war auf Gesetzgebung und Budgetrecht beschränkt. Doch selbst hier findet sich eine verborgene untergründige Kontinuität in der Verfassungswirklichkeit der Nachkriegsrepublik, die in dem bekannten Wahlkampfslogan von 1969 »Auf den Kanzler kommt es an« ihren Ausdruck fand und bis heute das kollektive Staatsbewusstsein prägt. Bismarck hätte seine helle Freude daran gehabt. Und am Rande: Auch wenn der Bundeskanzler längst nicht mehr Vorsitzender des Bundesrates in Personalunion ist, wie zu Bismarcks Zeiten – die jährlichen Treffen von Regierungschefs der Länder und Kanzler im Bundeskanzleramt sind ein kleiner Beleg für historische Kontinuität auch in dieser Hinsicht.

Neben Föderalismus und Kanzlerdemokratie verdanken wir Bismarck die Grundzüge unseres Staats-, und Beamtenrechts. Der erste Chef des Kanzleramtes, Rudolf Delbrück, hat im Auftrag seines Herrn in kürzester Zeit die bis heute tragenden Säulen des Handelsrechts und der Wirtschaftsverfassung geschaffen, es folgten Straf-, Zivil- und Prozessrecht, alles innerhalb weniger Jahrzehnte und mit Geltung bis heute. Bismarck mag vielen als konservativ oder gar reaktionär gelten, aber er hat die Zivilehe und die staatliche Schulaufsicht gegen enormen Widerstand eingeführt und letztendlich auch durchgesetzt. Unser heutiges Parteiensystem wurde von ihm zwar nicht geschaffen, aber es ist innerhalb dreier Jahrzehnte in Reaktion auf seine Politik entstanden. Das gilt für Zentrum und Sozialdemokratie, aber es gilt auch für den deutschen Liberalismus, der zwar älter ist als Bismarck, dessen Niedergang aber bereits damals mit mehreren Spaltungen begann, die allesamt mit Bismarcks Politik eng verknüpft waren.

Bismarck ist der Schöpfer des deutschen Sozialstaates. Gegen heftigsten Widerstand von Arbeitgebern und Konservativen hat er seinerzeit die Idee und die Grundzüge des bis heute geltenden Sozialversicherungssystems durchgesetzt und verwirklicht. Europaweit tragen Versicherungssysteme, die an die Ausübung einer Beschäftigung anknüpfen, noch immer die Bezeichnung »Bismarck-Schemes«. Auch wenn er nicht der Vater des Gedankens war, hat er früh – wohl schon in den Gesprächen mit Ferdinand Lassalle – seine Berechtigung erkannt und ihn später mit großer Entschlossenheit realisiert – als erster leitender Staatsmann weltweit. Es war eine Jahrtausend-Innovation, deren Bedeutung man daran erkennt, wie sehr ein modernes Land wie die USA noch heute mit der Frage des Ob und des Wie einer gesetzlichen Krankenversicherung kämpft und hadert.

Dass Bismarck keine großen Kolonien und keine große Flotte wollte, ist bekannt. Er führte drei Kriege, lehnte Präventivkriege aber entschieden ab und bestand entschieden auf dem Primat der Politik gegenüber dem Militär. Die Zeitgenossen ließen es ihm 20 Jahre lang durchgehen, verstanden haben sie ihn leider nicht. Vielleicht lag es an der Camouflage mit Pickelhaube und Uniform, die er gern und ausdauernd betrieb und die sein Bild für die Nachwelt bis heute prägt. Gegner und Anhänger Bismarcks haben sich schon früh, noch zu seinen Lebzeiten, auf ein gemeinsames Bismarckbild geeinigt: Bismarck der kriegerische und reaktionäre Gewalt- und Machtmensch, der Super-Preuße, Antidemokrat und Präceptor Germaniae: Die einen fanden das gut, die anderen fanden es schlecht. An der Würdigung der modernen und aufgeklärten Aspekte von Bismarcks Persönlichkeit und Schaffen hatten weder Linke noch Rechte ein Interesse. Sie bauten lieber gemeinsam einen Popanz, der bis heute wie ein grober Klotz in der Landschaft steht.

Bismarck war der erste wirklich moderne Staatsmann Deutschlands. Auch in seinen politischen Vorstellungen, die stärker von Aufklärung und Französischer Revolution geprägt waren, als seine ersten politischen Reden und Handlungen vermuten ließen. Er galt lange als Reaktionär und benahm sich auch so. Aber 1866, nach dem Sieg bei Königgrätz, hat er den Parlamentarismus in Preußen nicht vernichtet, wie seine damaligen Freunde es erwarteten, sondern den Staat, die Monarchie und sich selbst mit ihm versöhnt. Er hat im Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich das gleiche Wahlrecht durchgesetzt, als es in vielen anderen Ländern noch längst nicht gang und gäbe war. Das brachte ihm die Feindschaft der deutschen Konservativen ein und ein Bündnis mit dem deutschen Liberalismus, das über ein Jahrzehnt fruchtbringend war. Seine parlamentarischen Abende mit Abgeordneten waren seinerzeit legendär, seine Gespräche mit Journalisten und Publizisten sind bis heute ein Genuss. Otto von Bismarck erkannte als einer der ersten die Macht der Presse und der Medien und bediente sich ihrer virtuos, weit über seinen Abgang als Reichskanzler hinaus. Noch als Achtzigjähriger war sein Urteil schärfer und manchmal auch moderner als das der meisten Epigonen.

Ein Sympathiebolzen war Otto von Bismarck trotz allem nicht. Er hatte Fehler und Schwächen wie jeder große Staatsmann, war herrsch- und rachsüchtig und stellte die eigene Person und ihre Interessen über vieles andere. Der Umgang mit dem besiegten Frank reich von 1871 und die Annexion von Elsass-Lothringen waren kapitale Fehler, deren Tragweite Bismarck sich wohl bewusst war, und die er dennoch nicht verhinderte. Dass er sich dabei im Einklang mit König, Militär und breitester Öffentlichkeit befand, ist keine Entschuldigung für einen Staatsmann seines Kalibers.

Aber immerhin sollte es nach seinem Tod ein halbes Jahrhundert dauern, bis die deutsche Politik einen Gedanken entwickelte, der über Bismarcks Horizont und Konzeptionskraft hinausging. Die europäische Einigung und die dauerhafte Freundschaft mit Frankreich sind die genuin neue Errungenschaft der Bonner Nachkriegsrepublik und ihr größtes Verdienst bis heute. Möglich wurden sie leider erst nach zwei verheerenden Kriegen und Hekatomben von Opfern. Wäre Bismarck damals von sich aus darauf gekommen, die deutsche und europäische Geschichte wäre wohl anders und wahrscheinlich auch glücklicher verlaufen. Aber wir können die Leistungen Otto von Bismarcks und seiner Zeitgenossen nicht beurteilen nach den Maßstäben von heute und nach dem, was wir heute aus leidvoller Erfahrung gelernt haben.

Wenn wir uns heute erneut mit Bismarck auseinandersetzen, so ist dies nicht nur wichtig für die historische Erkenntnis und unsere eigene geschichtliche Identität, die die gesamte Spanne der letzten 200 Jahre umfasst und umfassen muss. Sie ist auch wichtig und unentbehrlich für die Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen der Gegenwart. Wann immer wir meinen, auf festem Grund zu stehen, stehen wir meist auf Bismarcks Schultern, auch wenn sie tief im historischen Treibsand vergraben sind. Seine Wirkmächtigkeit über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg machen die Auseinandersetzung mit Bismarck auch heute noch zu einem lohnenden Unterfangen. Dazu leistet das vorliegende Buch einen wichtigen Beitrag.