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INHALT

GRUNDLAGEN

KOMPLEXITÄTSTHEORIE

Das Gehirn als Netzwerk

Carl Zimmer

Der Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Geistes steckt in den Erregungsmustern der Hirnzellen. Deren Analyse offenbart verblüffende Parallelen zu anderen komplexen Systemen – beispielsweise Aktienmärkten.

OPTOGENETIK

Lichtschalter im Gehirn

Karl Deisseroth

Mit Hilfe lichtempfindlicher Proteine können Forscher in ungeahnter Detailgenauigkeit untersuchen, wie unser Denkorgan funktioniert. Die neue Technik beflügelt ganze Forschungsgebiete – bis hin zur Psychiatrie.

SPRINGENDE GENE

Was jedes Gehirn einzigartig macht

Fred H. Gage und Alysson R. Muotri

Warum entwickeln eineiige Zwillinge trotz gleichen Erbguts unterschiedliche Persönlichkeiten? Ein Grund sind springende Gene, die sich zufällig irgendwo ins Genom einfügen und so die Funktion der Hirnneurone abwandeln.

HIRNLEISTUNG

Grenzen der Intelligenz

Douglas Fox

Lässt sich unsere Intelligenz noch wesentlich steigern? Physikalische Gesetze stehen dem entgegen. Unser Denkorgan ist bereits in jeder Hinsicht opimiert. Verbesserungen an einer Stelle führen zu Verschlechterungen anderswo.

FEHLFUNKTIONEN

GESTRESSTES GEHIRN

Biologie des Blackouts

Amy Arnsten, Rajita Sinha und Carolyn Mazure

Hirnneurone, die der Selbstkontrolle dienen, reagieren auf psychische Belastung mitunter hochempfindlich. Wenn sie ausfallen setzen Denkblockaden ein, und impulsives Verhalten bricht durch.

PSYCHIATRIE

Gestörte Schaltkreise

Thomas R. Insel

In den letzten Jahren haben Neurowissenschaftler immer öfter fehlerhafte Verbindungen im Gehirn als Ursache psychischer Störungen identifiziert. Dies weist den Weg zu besserer Früherkennung und Therapie.

SCHIZOPHRENIE

Vorboten des Ich-Verlusts

David Dobbs

Nach dem Ausbruch einer Schizophrenie lassen sich im Rückblick oft gewisse Vorzeichen erkennen. Ist es daher sinnvoll, mögliche Vorstadien zu diagnostizieren und vorbeugend zu behandeln? Darüber streiten die Experten noch.

EINBLICKE UND EINGRIFFE

BILDGEBUNG

Der Traum vom Gedankenlesen

John-Dylan Haynes

Mit Hilfe ausgeklügelter Computerprogramme lassen sich Hirnscans inzwischen erstaunlich viele Informationen darüber entlocken, was die jeweilige Person zum Zeitpunkt der Aufnahme dachte.

NEUROSCHNITTSTELLEN

Direkter Zugang zum Gehirn

Henning Scheich und Frank W. Ohl

Cochlea-Implantate lassen Ertaubte wieder hören. Das beweist, dass es möglich ist, Informationen mit technischen Mitteln in unser Denkorgan einzuspeisen. Lernende Neuroprothesen könnten künftig Funktionsstörungen des Gehirns korrigieren und Gedächtnisleistungen verbessern.

TIEFE HIRNSTIMULATION

Neuronaler Schrittmacher

Volker Sturm

Überaktive Nervenzellen, die im Gleichtakt feuern, verursachen Morbus Parkinson sowie andere motorische und psychiatrische Störungen. Wo Medikamente nicht greifen, können tief ins Gehirn eingeführte Elektroden helfen.

SIMULATION

NACHBAU

Neurone & Co. – Imitieren mit Silizium

Karlheinz Meier

Um Computern das Denken beizubringen und obendrein das Gehirn besser zu verstehen, bauen Forscher es mit Elektronik nach.

COMPUTERMODELL

Auf dem Weg zum künstlichen Gehirn

Henry Markram

Ein ambitioniertes Projekt zielt darauf ab, bis in zehn Jahren ein virtuelles Gegenstück des menschlichen Gehirns zu erschaffen.

Editorial · Impressum

Titelmotiv: dreamstime / Skypixel

EDITORIAL

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Gerhard Trageser
Redaktionsleiter Sonderhefte

Vom Analysieren zum Nachbauen

Über kein anderes menschliches Organ haben Forscher so viel Wissen angesammelt wie über das Gehirn. Wir kennen seine Anatomie bis ins Detail und können sagen, wo einzelne Funktionen wie Sehen, Gehen oder das Abspeichern von Erinnerungen im Langzeitgedächtnis lokalisiert sind. Auch die Signalverarbeitung und -weiterleitung durch die Nervenzellen ist genauestens ergründet. Seit einiger Zeit lässt sich mit der funktionellen Magnetresonanztomografie zudem ermitteln, welche Hirnregionen aktiv werden, wenn wir eine bestimmte Tätigkeit ausüben oder eine Aufgabe erledigen. Inzwischen gelingt es sogar, in die Gedankenwelt eines Menschen einzudringen und etwa zu erkennen, ob er sich gerade ein bestimmtes Tier vorstellt oder ein einfaches geometrisches Muster betrachtet.

Überdies haben Forscher Zusammenhänge zwischen Anomalien im Gehirn und seelischen Erkrankungen entdeckt. Das lässt sich teils schon dazu nutzen, psychische Störungen vor dem ersten Auftreten von Symptomen zu diagnostizieren. Auch Neuroprothesen, die verloren gegangene Fähigkeiten wiederherstellen, sind in den Bereich des Machbaren gerückt und in Einzelfällen bereits realisiert. Dazu gehören etwa Hirnschrittmacher gegen die Lähmungserscheinungen bei Parkinsonpatienten.

Angesichts solcher Fortschritte könnte es scheinen, dass das Gehirn großenteils enträtselt ist. Doch in Wahrheit sind wir noch weit davon entfernt, wirklich zu verstehen, wie es funktioniert. Mit seinen rund 100 Milliarden Nervenzellen, die über mehr als 100 Billionen Verbindungen vernetzt sind, ist es nämlich nicht nur das bestuntersuchte Organ, sondern auch das weitaus komplexeste. Bei vielen Forschern macht sich deshalb die Überzeugung breit, dass die bisherige Methode, Teilbereiche des Gehirns – seien es einzelne Neurone, Neuronengruppen oder Areale – zu betrachten und zu analysieren, uns nicht mehr weiterbringt.

Als neuen Ansatz propagieren sie, das Gehirn als Netzwerk zu begreifen. In dessen Verschaltung liege der Schlüssel zu seinem Verständnis. Daher gelte es, die Gesamtheit der Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn – das so genannte Konnektom – zu ermitteln. Dieses Ziel verfolgt das 2010 in den USA ins Leben gerufene Human Connectome Project. Es nutzt vor allem eine neue Variante der Magnetresonanztomografie, die Diffusions-Tensor-Bildgebung, die den Verlauf der großen Nervenfaserbündel im Gehirn sichtbar macht. Aufschluss über Nervenverbindungen und -schaltkreise gibt aber auch eine andere neue Untersuchungsmethode: die Optogenetik. Dabei lassen sich mit Licht einerseits ganz gezielt einzelne Neurone anregen. Andererseits ist es möglich, die Aktivierung nachgeschalteter Nervenzellen daran zu erkennen, dass sie aufleuchten.

Ganz kühne Forscher wagen sich sogar noch einen Schritt weiter und wollen die Funktionsweise des Gehirns ergründen, indem sie es mit elektronischen Schaltungen nachbauen oder am Computer simulieren. Die Simulation eines 0,5 Millimeter breiten und 1,5 Millimeter hohen Stücks aus der Hirnrinde, einer »kortikalen Säule« aus rund 10000 Nervenzellen, ist bereits gelungen. Bis 2020 soll das Computermodell im Rahmen des Human Brain Project, das an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne angesiedelt ist, auf ein komplettes menschliches Gehirn erweitert werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das Vorhaben als einer der beiden Gewinner aus dem Wettbewerb der Europäischen Flaggschiffinitiative hervorgeht und so Fördergelder in Höhe von einer Milliarde Euro erhält.

Das vorliegende Spezialheft gibt einen Überblick über all diese faszinierenden neuen Erkenntnisse und Entwicklungen. Es zeigt, wie die Hirnforschung auf dem besten Weg ist, endlich auch Antworten auf uralte Menschheitsfragen zu liefern – etwa die nach der Entstehung von Bewusstsein.

Herzlichst

Ihr

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KOMPLEXITÄTSTHEORIE

Das Gehirn als Netzwerk

Wenn Milliarden von Gehirnzellen miteinander kommunizieren, erzeugen sie Erregungsmuster, die ein Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Geistes sein könnten. Ihre Analyse offenbart verblüffende Parallelen zwischen unserem Denkorgan und anderen komplexen Systemen – beispielsweise Aktienmärkten!

VON CARL ZIMMER

AUF EINEN BLICK

100 BILLIARDEN VERKNÜPFUNGEN

1 Ein einzelnes Neuron hat für sich genommen kaum eine sinnvolle Funktion. Vernetzt man jedoch einige hundert, entsteht ein einfaches Nervensystem, das bereits ausreicht, um die Lebensfunktionen eines Wurms zu steuern.

2 Höhere Organismen benötigen mehr Neurone. Eines der großen ungelösten Rätsel der Neurobiologie ist die Frage, wie das menschliche Gehirn mit seinen rund 100 Milliarden Neuronen und deren 100 Billionen Verknüpfungen den Geist hervorbringt.

3 Einige Neurowissenschaftler fassen unser Denkorgan primär als Netzwerk auf, das aus interagierenden Systemen miteinander verschalteter Nervenzellen besteht. Seine Konfiguration ist auf maximale Effizienz zugeschnitten: schnellstmögliche Informationsverarbeitung bei minimalem Aufwand.

4 In Aufbau und Funktion ähnelt das Gehirn anderen komplexen kybernetischen Systemen. Deshalb haben Mathematiker begonnen, es mit dem Instrumentarium der Komplexitätstheorie zu analysieren. Dabei entdeckten sie unter anderem überraschende Ähnlichkeiten mit Aktienmärkten.

5 Eine tieferes Verständnis der Netzwerkstruktur des menschlichen Gehirns hätte auch praktische Bedeutung. So könnte es dazu beitragen, die körperlichen Ursachen neuropsychiatrischer Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depression zu finden.

Ein einsames Neuron in einer Petrischale ist ziemlich nutzlos. Von Zeit zu Zeit erzeugt es spontan einen elektrischen Spannungspuls, der an seinem Axon, einem langen, faserartigen Fortsatz, entlangläuft. Reizt man seinen Zellkörper mit schwachen Stromstößen, feuert es Salven solcher Pulse ab. Durch Zugabe verschiedener Neurotransmitter lassen sich Stärke und Häufigkeit der elektrischen Signale verändern. Doch das ist auch schon alles. Sonst kann die Nervenzelle nicht viel tun und vor allem keine sinnvolle Funktion ausüben.

Ganz anders die Situation, wenn man Neurone miteinander kombiniert. Nur 302 Nervenzellen, geeignet verschaltet, ergeben bereits das vollständige Nervensystem des Fadenwurms Caenorhabditis elegans. Und das kann schon eine ganze Menge: Es registriert Umweltreize, trifft Entscheidungen und steuert die Körperfunktionen des Nematoden. 100 Milliarden Nervenzellen, vernetzt über 100 Billionen Verknüpfungen, bilden schließlich das menschliche Gehirn, dessen Leistungsfähigkeit schier unermesslich scheint.

Wie dieses hochkomplexe Gewebe von Neuronen unseren Geist hervorbringt, ist freilich immer noch ein großes Rätsel. Bei dessen Lösung sind die Neurowissenschaftler, ungeachtet ihrer sonstigen Erfolge, bisher nicht weit gekommen. Vielleicht liegt das ja an ihrem begrenzten Blickwinkel. Einige von ihnen schauen ganz genau hin und widmen ihr gesamtes Forscherleben der Funktionsweise einiger weniger Nervenzellen. Andere wählen einen etwas größeren Ausschnitt und erforschen zum Beispiel, wie der Hippocampus, eine Ansammlung aus mehreren Millionen Neuronen, Gedächtnisinhalte abspeichert. Wieder andere gehen noch eine Ebene höher: Sie untersuchen, welche Hirnregionen bei bestimmten Funktionen aktiv werden – sei es beim Lesen oder Sichfürchten.

Bisher haben jedoch nur wenige Forscher gewagt, der Gehirnfunktion auf mehreren Ebenen gleichzeitig nachzuspüren. Das ist verständlich, bedenkt man das schiere Ausmaß der Aufgabe. Schon die Interaktionen weniger Nervenzellen erzeugen ein kaum überschaubares Geflecht von Rückkopplungen. Bei 100 Milliarden Neuronen wird das Unterfangen zu einem Problem von albtraumhafter Komplexität.

Dennoch halten einige Neurowissenschaftler die Zeit für gekommen, diese Herausforderung anzunehmen. Ihrer Ansicht nach werden wir nie verstehen, wie das Gehirn den menschlichen Geist hervorbringt, solange wir seine Komponenten auf verschiedenen Größenmaßstäben separat untersuchen. Diese Vorgehensweise gleiche dem Versuch, herauszufinden, was beim Gefrieren von Wasser geschieht, indem man entweder nur einzelne Wassermoleküle unter die Lupe nimmt oder aber die Flüssigkeit als Ganzes betrachtet. Beide Blickwinkel sind zu eingeschränkt, um den entscheidenden Vorgang zu erfassen: wie sich Wassermoleküle durch Wechselwirkung miteinander zu Kristallen zusammenlagern.

Beim ganzheitlichen Blick auf das Gehirn können sich Neurowissenschaftler von anderen Fachgebieten inspirieren lassen. Seit Jahrzehnten schon untersuchen Forscher die unterschiedlichsten komplexen Systeme – von Aktienmärkten über Verschaltungen im Computer bis hin zu den interagierenden Genen und Proteinen einzelner Zellen. Neurone und Aktien scheinen zunächst nicht viel gemeinsam zu haben. Dennoch haben Wissenschaftler in allen untersuchten komplexen Systemen grundlegende Parallelen entdeckt und zu ihrer Analyse ein mathematisches Instrumentarium entwickelt, das sich auch dazu nutzen lässt, die extrem komplizierte Funktionsweise unseres Denkorgans aufzuklären.

Das virtuelle Gehirn

Olaf Sporns und seine Kollegen von der Indiana University in Bloomington haben ein einfaches Computermodell des Gehirns entwickelt, indem sie 1600 virtuelle Neurone auf einer Kugeloberfläche anordneten und probeweise auf drei verschiedene Arten miteinander vernetzten. In der Simulation senden manche Nervenzellen spontan elektrische Impulse aus und regen andere damit zum Feuern an (gelb), während der Rest inaktiv bleibt (schwarz). Die Forscher untersuchten, wie die Konfiguration des Neuronennetzes die räumlich-zeitlichen Muster der neuronalen Aktivität im Modellgehirn beeinflusst.

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© OLAF SPORNS, INDIANA UNIVERSITY

Experimente mit Minigehirnen im Computer

Noch stehen die Hirnforscher dabei am Anfang, doch können sie schon erste viel versprechende Ergebnisse vorweisen. So haben sie die Regeln erkannt, nach denen sich Milliarden Neurone in Teilnetzen zusammenschließen, die zu jenem Ganzen verknüpft sind, das wir Gehirn nennen. Wie sich zeigte, ist die Organisation dieses riesigen Netzwerks entscheidend für unsere Fähigkeit, angemessen auf immer neue Situationen in einer sich stets wandelnden Welt zu reagieren. Störungen in seinem inneren Gefüge könnten neuropsychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Demenz verursachen.

Neurone bilden Netzwerke, indem sie über ihren langen Ausläufer, das Axon, Kontakt miteinander aufnehmen. So vermögen sie Signale an andere Nervenzellen zu senden und diese zu erregen oder zu hemmen. Da jedes einzelne Neuron mit bis zu mehreren tausend weiteren verknüpft ist – sowohl in der unmittelbaren Umgebung als auch in weiter entfernt gelegenen Hirnregionen –, können die Neuronennetze eine unüberschaubare Anzahl verschiedener Konfigurationen annehmen. Ihr Organisationsmuster in einem individuellen Gehirn hat großen Einfluss auf dessen Leistungsfähigkeit.

Wie lassen sich solche hochkomplexen Netzwerke näher untersuchen? Mit welchen Methoden könnten Wissenschaftler die Milliarden von Verbindungen darin ausfindig machen und ihre jeweilige Rolle im Funktionsgefüge aufklären? Ein radikaler Ansatz ist, einfach ein Miniaturmodell des Gehirns zu konstruieren. Damit lässt sich untersuchen, wie Nervennetze reagieren, deren Neurone auf verschiedene Weise verknüpft sind. Olaf Sporns und seine Kollegen von der Indiana University in Bloomington haben ein solches Modell im Computer entwickelt. Sie verteilten 1600 simulierte Nervenzellen auf der Oberfläche einer virtuellen Kugel. Dann vernetzten sie jedes mit einigen anderen.

Neurone neigen dazu, spontan elektrische Impulse auszusenden. Dadurch können sie manchmal weitere Neurone, zu denen sie Kontakt haben, ebenfalls zum Feuern anregen. Sporns und seine Kollegen variierten das Verknüpfungsmuster zwischen den Nervenzellen und beobachteten, wie sich das auf die Aktivität ihres Modellgehirns auswirkte. Zunächst verbanden sie die Neurone jeweils nur mit den unmittelbaren Nachbarn. Ein derart vernetztes »Gehirn« zeigte ein schwaches, zufällig verteiltes Flackern. Ein spontan feuerndes Neuron regte zwar manchmal in der Umgebung eine Aktivitätswelle an, doch die breitete sich nicht besonders weit aus. Als Nächstes verknüpften Sporns und sein Team sämtliche Nervenzellen im gesamten Modell direkt miteinander. Nun entstand ein ganz anderes Erregungsmuster: Das Gehirn schaltete sich in regelmäßigen Abständen komplett ein und aus.

Schließlich sorgten die Forscher für eine heterogene Netzwerkstruktur, in der teils benachbarte und teils weit voneinander entfernt liegende Neurone miteinander verbunden waren. Unter diesen Umständen entstanden plötzlich komplexe Aktivitätsmuster. Sobald Nervenzellen zu feuern begannen, bildeten sich großflächige Aktivitätszonen, die das Netz wellenartig durchfluteten. Einige trafen aufeinander und verschmolzen, andere waberten ungehindert in kreisförmigen Bewegungen durch das simulierte Gehirn.

Simulation neuronaler Lawinen

Diese Resultate machen deutlich, dass die Architektur eines Netzwerks sein Aktivitätsmuster bestimmt. Damit geben sie wichtige Hinweise auf die Entstehung neuronaler Komplexität. Weitergehende Erkenntnisse lassen sich jedoch nur gewinnen, wenn es gelingt, die Muster im Modell mit denen in echten Gehirnen zu vergleichen. Leider ist es noch nicht möglich, jedes der 100 Milliarden Neurone unseres Denkorgans einzeln zu erfassen. Daher nutzen Wissenschaftler ausgeklügelte Verfahren, um die Aktivität relativ weniger Nervenzellen detailliert zu messen, und versuchen, aus den erhaltenen Mustern Rückschlüsse auf das Gesamtsystem zu ziehen.

Einer von ihnen ist Dietmar Plenz, Neurowissenschaftler am National Institute of Mental Health in Bethesda (Maryland). Um die Architektur des Gehirns zu entschlüsseln, kultivieren er und seine Kollegen Hirngewebestückchen in der Größe von Sesamkörnern in Petrischalen. Mit 64 Elektroden, die sie in die Gewebeproben hineinstechen, registrieren sie dann das spontane Feuern der Neurone. Was sie dabei aufzeichnen, sind so genannte neuronale Lawinen: Salven schnell aufeinander folgender elektrischer Entladungen.

Auf den ersten Blick scheint es so, als handle es sich um ein Zufallsmuster. In diesem Fall müssten jedoch winzige und weiträumige neuronale Lawinen gleich häufig auftreten. Das ist aber nicht der Fall. Plenz und seine Kollegen beobachteten kleine Exemplare viel öfter als große. Zeichnet man die Größenverteilung der Lawinen in einem Diagramm auf, ergibt sich eine glatte, abfallende Kurve.

Wissenschaftler kennen diesen Kurvenverlauf aus anderen Zusammenhängen. Zum Beispiel sind die Abstände zwischen den Herzschlägen nicht gleich, sondern streuen um einen Mittelwert. Dabei kommen kleine Abweichungen von der durchschnittlichen Dauer – ein wenig kürzer oder länger – öfter vor als große. Erdbeben folgen dem gleichen Muster: Schwache Erschütterungen treten viel häufiger auf als starke. Auch bei einer Epidemie treten auf dem Höhepunkt weitaus die meisten Neuerkrankungen auf. Die Fallzahlen davor und danach verringern sich mit der zeitlichen Distanz. Das ergibt eine Verteilung in Form einer Glockenkurve, die beiderseits des Mittelwerts exponentiell abfällt. Dasselbe gilt für die Abstände zwischen den Herzschlägen – und für Erdbeben, wobei hier allerdings nur eine der beiden symmetrischen Kurvenhälften vorliegt.

Dieser allgemeine Kurvenverlauf, dem ein mathematisches Potenzgesetz zu Grunde liegt, ist ein Merkmal komplexer Netzwerke, die Verbindungen über kurze und weite Distanzen enthalten. Die konkrete Form der Verteilungskurve erlaubt dabei Rückschlüsse auf das genaue Verknüpfungsmuster.

Plenz und seine Kollegen testeten verschieden konfigurierte Modellnetze im Computer, um herauszufinden, welche davon eine ähnliche Verteilung neuronaler Lawinen erzeugte wie lebendes Hirngewebe. Die beste Übereinstimmung ergab eine Architektur mit 60 Neuronengruppen, deren Mitglieder alle direkten Kontakt zueinander hatten. Jeder solche »Cluster« war im Durchschnitt mit zehn weiteren verknüpft. Doch dieser Wert schwankte stark: Einige Cluster waren mit vielen anderen verbunden, die meisten aber nur mit sehr wenigen. Wissenschaftler bezeichnen das als Kleine-Welt-Netzwerk. Seine Architektur hat zur Folge, dass eine Erregungswelle zwar überwiegend auf den Ursprungscluster beschränkt bleibt, aber über wenige Zwischenstationen auf jeden beliebigen anderen überschwappen kann.

Wie sich herausstellte, versetzt genau diese Konfiguration unser Gehirn in die Lage, auf Signale unterschiedlichster Stärke mit der angemessenen Empfindlichkeit anzusprechen – ähnlich wie ein leistungsfähiges Mikrofon fast unhörbar leise und extrem laute Töne gleichermaßen gut erfasst. Plenz und sein Team verabreichten ihren Gewebeproben Stromstöße verschiedener Stärke und beobachteten die Reaktion der Neurone. Das Ergebnis: Schwache elektrische Reize ließen nur wenige Nervenzellen feuern, starke erregten dagegen einen großen Teil von ihnen.

Um zu sehen, wie die Eigenschaften des Netzwerks die Reaktion beeinflussten, behandelten Plenz und seine Kollegen die Gewebeproben anschließend mit einem Wirkstoff, der die Aktivierbarkeit der Neurone herabsetzte. Das beeinträchtigte die Verbindung zwischen ihnen. Unter diesen Umständen reagierten die Neuronennetze nicht mehr auf schwache Reize. Gaben die Wissenschaftler jedoch einen Wirkstoff zu, der die Feuerbereitschaft der Nervenzellen erhöhte, so lösten selbst leichte Stromstöße dieselbe heftige Reaktion aus wie starke. Diese Experimente verdeutlichen, wie genau Neuronennetze eingestellt sein müssen; erst diese Feinabstimmung befähigt sie, Signale adäquat zu verarbeiten. Bei nur geringfügig anderer Konfiguration wäre die Reaktion der Neurone inkohärent und damit sinnlos.

Doch spiegeln die Vorgänge in der Gewebekultur auch die Arbeitsweise des realen Gehirns wider? Tatsächlich treten dort Muster spontaner Aktivität ähnlich denen auf, die Plenz in seinen »Minihirnen« beobachtete. Marcus E. Raichle von der Washington University in St. Louis (Missouri) und seine Mitarbeiter fanden heraus, dass sich auch dann, wenn wir uns gerade entspannt zurücklehnen und an nichts Besonderes denken, Wellen elektrochemischer Aktivität in komplexen Arrangements über das gesamte Gehirn ausbreiten. Neueren Untersuchungen zufolge spielt diese Spontanaktivität eine wesentliche Rolle für unsere geistige Gesundheit. Vielleicht ermöglicht sie dem ruhenden Geist, sich mit sich selbst zu beschäftigen, Erinnerungen zu verarbeiten und sein neuronales Gleichgewicht zu bewahren.

Im Visier: der Schaltplan des Gehirns

Um mehr über diese Spontanaktivität zu erfahren, verfolgen Neurowissenschaftler inzwischen das Ziel, die Verbindungen zwischen Neuronen im gesamten Gehirn zu kartieren. Das ist eine enorme Herausforderung, wenn man bedenkt, welchen Aufwand Plenz und seine Kollegen schon bei der Untersuchung winzig kleiner Gewebestückchen treiben mussten. Olaf Sporns leitet eines der ambitioniertesten Projekte zur Kartierung des Gehirns. Gemeinsam mit Patric Hagmann und dessen Neuroimaging-Gruppe an der Université de Lausanne (Schweiz) analysierte er Anfang des vergangenen Jahrzehnts Daten, die mittels Diffusions-Tensor-Bildgebung an den Gehirnen von fünf Probanden gewonnen wurden. Mit dieser Methode, einer anspruchsvollen Variante der Magnetresonanztomografie (MRT), lässt sich der Verlauf der neuronalen Axone im Gehirn sichtbar machen (Spektrum der Wissenschaft 12/2010, S. 13). Diese sind meist zu Fasern gebündelt, die verschiedene Regionen der Hirnrinde (Kortex) miteinander verbinden. Von einer dünnen, fettstoffreichen Myelinschicht umhüllt, bilden sie die so genannte weiße Substanz des Gehirns. Die Wissenschaftler wählten annähernd 1000 Kortexregionen aus und kartierten sämtliche Faserstränge zwischen ihnen.

Dann bildeten sie diese 1000 Regionen mit all ihren Verbindungen im Computer nach und begannen damit zu experimentierten, um zu sehen, welche Aktivitätsmuster entstanden. Jedes Areal erzeugte Signale, die sich in Regionen fortpflanzten, die mit ihm verknüpft waren, so dass die Neurone dort ebenfalls feuerten. Das virtuelle Modell zeigte, wenn man es länger laufen ließ, eine wellenförmig fluktuierende Aktivität, die den Mustern glich, welche Raichle und andere Forscher bei ruhenden Menschen beobachtet hatten.

Was Sporns und seine Kollegen im kompletten Gehirn kartierten, ähnelt in seiner Konfiguration dem Kleine-Welt-Netzwerk, das Plenz in seinen Gewebestückchen entdeckt hatte. Es entspricht aber auch der schon seit Langem bekannten Organisation des menschlichen Kortex, die in der berühmten Homunkulus-Darstellung zum Ausdruck kommt. Demnach ist die Hirnrinde in Regionen unterteilt, die jeweils die Verarbeitung von Reizen aus einem bestimmten Körperteil oder Sinnesorgan übernehmen. Ihre Neurone müssen dazu intensiv miteinander kommunizieren, wobei räumliche Nähe ein großer Vorteil ist: Sie sorgt für einen raschen, reibungslosen Informationsfluss über kurze, direkte Verbindungen. Das Ergebnis der Verarbeitung gelangt dann über lange Leitungen, die für eine hohe Übertragungsgeschwindigkeit entsprechend dicker sein müssen, an andere Regionen zur Weiterverarbeitung.

Insofern verhilft die Architektur mit wenigen stark vernetzten Hauptknotenpunkten unserem Gehirn also zu größtmöglicher Effizienz, das heißt maximaler Arbeitsgeschwindigkeit bei geringstem Aufwand. Das gilt gleichermaßen für den Platz- wie den Energiebedarf. Wären alle Neurone auch über weite Entfernungen direkt miteinander vernetzt, würde das Gehirn ein viel größeres Volumen beanspruchen. Außerdem verbrauchen Aufbau und Erhalt der Axonverbindungen eine Menge Energie. Für die Konfiguration mit wenigen hochvernetzten Verteilerzentren wird dagegen nicht allzu viel weiße Substanz benötigt. Und da die Signale bei der Übermittlung von einer Hirnregion zur anderen nur wenige Zwischenstationen durchlaufen müssen, ist die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung zugleich sehr hoch.

Das mit 30 Millionen Dollar dotierte Human Connectome Project, welches die National Institutes of Health 2010 ins Leben riefen, dürfte Neurowissenschaftlern dabei helfen, die zerebralen Netzwerke noch viel besser zu verstehen. Das Ziel besteht darin, eine Karte sämtlicher Verbindungen im Gehirn eines erwachsenen Menschen zu entwickeln. Doch selbst dieses ehrgeizige Vorhaben wird die Komplexität unseres Denkorgans nicht in vollem Umfang erfassen. Denn die Neurone im Gehirn nutzen zur Kommunikation miteinander zu einem gegebenen Zeitpunkt immer nur einen Teil der verfügbaren Verbindungen. Von einem Moment zum nächsten ändert das Netzwerk also seine Konfiguration, weil das Muster der Verbindungen ständig wechselt.

Um diese dynamische Architektur zu modellieren, haben Daniel N. Rockmore und Scott D. Pauls, zwei Mathematiker vom Dartmouth College in Hanover (New Hampshire), das Gehirn mit Aktienmärkten verglichen. Beide Systeme bestehen schließlich aus kleinen aktiven Einheiten – Neuronen beziehungsweise Wertpapierhändlern –, die in riesige Netzwerke eingebunden sind. Die Trader beeinflussen sich gegenseitig durch ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Diese zunächst kleinräumigen Wechselwirkungen können sich aufschaukeln und das Gesamtsystem erfassen, so dass die Aktienpreise steigen oder fallen. Umgekehrt wirkt sich der Zustand des Netzwerks auch auf die untersten Hierarchieebenen aus: Wenn die Aktienpreise steigen, springen viele Händler auf den fahrenden Zug auf und verstärken so den bestehenden Trend.

Rockmore, Pauls und ihre Kollegen entwickelten eine Reihe von mathematischen Werkzeugen zur Analyse der Struktur des Netzwerks, das der New Yorker Börse zu Grunde liegt. Sie trugen die Schlusskurse von 2547 Aktien an 1251 Tagen zusammen und suchten nach Ähnlichkeiten in der Preisentwicklung verschiedener Papiere – etwa der Tendenz, zu ähnlichen Zeitpunkten zu fallen oder zu steigen.

Die Untersuchung ergab 49 Cluster von Aktien mit jeweils ähnlichem Verhalten. Größtenteils gehörten sie zum selben Wirtschaftszweig (etwa Softwarehersteller oder Restaurantketten) oder stammten alle aus einer bestimmten geografischen Region (wie Lateinamerika oder Indien). Dass diese Kategorien allein aus der Analyse der Kurse hervorgingen, werten die Wissenschaftler als Zeichen für die Aussagekraft ihrer Methode. Schließlich ist es ja plausibel, dass die Kursverläufe der Aktien aus einer Branche deutliche Parallelen zeigen; denn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind für sie alle gleich.

Wie Rockmore und Pauls außerdem feststellten, lassen sich die 49 Aktiencluster zu sieben Superclustern gruppieren. Die meisten davon umfassen voneinander abhängige Industriezweige. So bewegen sich die Aktienkurse von Einzelhandelsketten und Bauunternehmen tendenziell in die gleiche Richtung. Schließlich erkannten die beiden Forscher, dass die Kursentwicklung der sieben Supercluster einem schleifenartigen Hyperzyklus folgt, was vermutlich auf die Praxis der Sektorrotation im Investmentbanking zurückzuführen ist. Dabei verlagern die Investoren den Schwerpunkt ihrer Anlagen im Verlauf einiger Jahre zyklisch von einem Wirtschaftszweig zum anderen.

Inzwischen nutzen Rockmore und Pauls die gleiche Methodik, um ein mathematisches Modell des Gehirns zu entwerfen. Statt Geldanlagen, die von einem Wirtschaftszweig zum anderen wandern, betrachten sie nun Signale, die sich aus einem Hirnareal in ein anderes fortpflanzen. Und so wie sich das Netzwerk der Finanzmärkte stetig wandelt, konfiguriert auch das Gehirn sein Neuronennetz beständig um.

Maximale Effizienz durch Kleine-Welt-Netzwerke

Auch wenn wir ruhen, bleibt das Gehirn aktiv. Die Erregungsmuster der Neurone in diesem Zustand könnten Hinweise auf die Funktionsweise unseres Denkorgans geben. Deshalb stehen sie im Brennpunkt des Interesses einiger Neurowissenschaftler. Patric Hagmann, inzwischen am Massachusetts General Hospital in Boston, und Olaf Sporns haben mit Hilfe der Diffusions-Tensor-Bildgebung, einer Variante der Magnetresonanztomografie, neuronale Verknüpfungen innerhalb der menschlichen Hirnrinde kartiert. Dabei zeigte sich, dass das Dickicht der Verbindungen nicht gleichmäßig ist. Es gibt darin einige besonders stark vernetzte Relaisstationen (rote Punkte), über die ein Großteil der Signale läuft (unten). Solche Kleine-Welt-Netzwerke sorgen für eine schnelle Informationsverarbeitung bei relativ geringem Aufwand für Aufbau und Betrieb der nötigen Infrastruktur.

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© BEIDE GRAFIKEN: JEN CHRISTIANSEN, NACH: HAGMANN, P., SPORNS, O. ET AL.: MAPPING THE STRUCTURAL CORE OF HUMAN CEREBRAL CORTEX. IN: PLOS BIOLOGY 6, S. 1479–1493, 2008, FIG. 3C MITTE (GROßES NETZWERK) UND FIG. 6 (KLEINES NETZWERK)