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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2016

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63141-2 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-56291-2

www.rowohlt.de

 

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ISBN 978-3-644-56291-2

In Dankbarkeit gewidmet meinem Vater Willi Brem und meinem Lehrer Ludwig Ackermann

Vorspiel

«Berliner Philharmoniker. Folgende Stellen sind zu besetzen: Drei Violinen Tutti. Pflichtstücke: Ein Mozart-Violinkonzert nach Wahl (Nr. 1–5) und ein großes Violinkonzert nach Wahl …» So steht es im September 2015 in der Zeitschrift «Das Orchester», dem Pflichtblatt für Profiorchestermusiker und solche, die es werden wollen. Eine dieser drei Stellen, die ausgeschrieben sind, ist meine – es wird der Nachfolger für mich gesucht. Fast genauso lautete der Text der Ausschreibung, auf die ich mich damals bei den Philharmonikern bewarb. Es handelte sich allerdings nur um eine Stelle. Das war 1969, und ich war achtzehn Jahre alt. Jetzt bin ich fünfundsechzig und schaue auf sechsundvierzig Jahre zurück, in denen ich Geige in einem der besten Orchester der Welt spielte.

Ich durfte unter den größten Dirigenten arbeiten und habe wundervolle, herausragende Solisten erlebt. Ich habe die reine Glückseligkeit empfunden, wenn es zu diesen ganz speziellen Momenten der Perfektion kam, wo alles zusammenwirkte: ein Orchester, das sich selbst übertraf, ein Dirigent, der bis dahin unbekannte Räume eröffnete, und die Menschen im Saal, deren Spannung, ja Atemlosigkeit für uns fühlbar war und die vermittelten, dass auch sie ganz in den Bann des musikalischen Augenblicks gezogen waren.

Das sind natürlich die absoluten Sternstunden, seltene Momente. Genau deshalb sind sie so kostbar. Der Alltag eines Geigers besteht aus den zahllosen anderen, oftmals auch sehr guten Konzerten, aus den Proben, den Begegnungen mit Kollegen, den Konzertreisen, dem Üben, der Arbeit in einem Kammermusikensemble und vielen, vielen anderen Dingen. All das spielt sich in der Regel ohne Publikum ab, nicht weil es geheim wäre, sondern weil wir uns der Öffentlichkeit in der Regel ab zwanzig Uhr präsentieren, für zwei oder drei Stunden. Was davor oder danach passiert, wissen die meisten Menschen nicht. Sie können sich kaum vorstellen, wie ein Orchesterapparat funktioniert und was wir machen, bevor wir den Frack anziehen. Und wie man es überhaupt schafft, bis zum eigenen Frack zu kommen, wenn ich das so sagen darf.

Ein wenig davon erzähle ich in diesem Buch: keine Geschichte des Orchesters, aber eine Geschichte mit Orchester. Es ist auch keine Autobiographie, in der ich sämtliche Stationen meines musikalischen Lebens chronologisch abhandle. Es sind eher hingetupfte Intermezzi, Gedanken über Musik, Anekdoten über die Menschen, die sie machen, über die Leidenschaften, die sie antreiben. Und auch über die geschäftliche und mediale Seite, ohne die der ganze Betrieb gar nicht existieren würde. Das alles betrachte ich natürlich aus meiner ganz persönlichen Perspektive, einer von vielen möglichen.

Mein Buch richtet sich daher nicht in erster Linie an Spezialisten, die alle Stücke, die die Berliner Philharmoniker jemals gespielt haben, mitpfeifen könnten. Es ist vielmehr – auf jeder nur denkbaren Ebene – für Freunde der Musik gedacht. Mein Buch richtet sich an Menschen, die Musik lieben, selbst wenn sie keine einzige Note kennen und nie ein Instrument in der Hand gehalten haben. Es sind Geschichten für alle, die gern einen Blick hinter die Bühne werfen und ein paar von den vielen Stimmen hören möchten, die sich am Ende zu einem Stück fügen. Subjektiv von mir erzählt, so wie ich sie erlebt habe – als erster Geiger bei den Berliner Philharmonikern.

Teil 1 Auftakt

Kapitel 1 Entdeckungen

«Peeeeeter, Peeeeeter!» Immer wenn ich diesen Ruf meiner Mutter hörte, mit fünf «e» in der Mitte, dann wusste ich: Es ist fünfzehn Uhr. Und fünfzehn Uhr hieß: Geige üben. Von meinem sechsten Lebensjahr an war das so. Zunächst vielleicht eine Stunde am Tag, aber seit ich neun Jahre alt war, bedeutete es täglich drei Stunden üben, von fünfzehn bis achtzehn Uhr, jeden Tag, sonntags von zehn bis dreizehn Uhr. Mein Vater saß fast immer dabei, jahrelang, siebenmal in der Woche. Es war ihm ein Herzensanliegen, dass ich wirklich dranblieb, denn er wusste genau: Geige lernt man nur durch Üben, genauer gesagt durch fleißiges und richtiges Üben.

Mein Vater war erster Solotrompeter in der Bayerischen Staatsoper in München. Er hatte mein Talent entdeckt, da ging ich noch in den Kindergarten. Meine Mutter brachte mich jeden Morgen hin und holte mich auch wieder ab. Jedes Mal fragte sie die «Tante Maria», so nannte ich die Erzieherin, ob ich brav gewesen sei oder es etwas Besonderes zu berichten gab. Lobte Tante Maria mich, dann durfte ich zu Hause an die Geige und darauf «spielen». Es gab bei uns nämlich eine kleine Geige, die mir gehörte. Sie war ein Geschenk von Onkel Otto. In Wahrheit war er nicht mein Onkel, sondern Otto Ebner, einer der vielen Musikerfreunde meiner Eltern, die bei uns ein und aus gingen. Onkel Otto war recht bekannt und hatte ein eigenes Orchester, er war so eine Art James Last der Volksmusik. Er spielte Klarinette, war der «Bandleader», und ab und zu wirkte auch mein Vater als Trompeter in seinem Orchester mit.

Als Kindergartenkind auf dem Arm meiner Mutter, 1955/56. Wenn die Erzieherin berichtete, dass ich brav gewesen war, durfte ich zu Hause auf einer geschenkten Geige «spielen». Es war der Beginn meiner Laufbahn.

Onkel Otto brachte mir also irgendwann diese kleine Geige mit. Ich war hingerissen! Und kratzte zum Steinerweichen darauf herum. Qruachhhhhhh, ieeeeeks … Es war schauerlich, tat meiner Begeisterung aber keinen Abbruch. Ich war im Kindergarten so brav wie möglich, damit ich zu Hause sofort den Kasten aufmachen und auf der Geige herumfuhrwerken durfte.

Eines Tages im Sommer, kurz bevor ich eingeschult wurde, rief mich mein Vater zu sich. Ich habe die Szene noch ganz genau vor Augen, sehe mich selbst, wie ich in der Badehose in unserem kleinen Garten spielte und den Vater hörte: «Peter, komm doch mal rein.» Wir gingen ins Wohnzimmer, er nahm die Geige aus dem Kasten und sagte: «Schau mal, so legst du sie richtig an. Nicht so weit nach vorn kippen lassen, hier anfassen, Finger locker, nicht pressen. Und jetzt noch den Bogen dazu, in die andere Hand. Nicht so fest drücken, nur leicht auflegen, langsam und gleichmäßig ziehen …» Ein Jahr lang hatte ich einfach so auf dem Instrument geschrammelt, doch nun erlebte ich meine allererste Geigenstunde. Wahrscheinlich dauerte sie fünf oder zehn Minuten. Was dieser Moment in meinem Leben bedeuten würde, begriff ich natürlich nicht. Schnell flitzte ich in meiner Badehose wieder raus zum Spielen.

Geigenspiel zu Weihnachten, Ende der fünfziger Jahre: meine Großeltern, meine Schwester Sylvia, mein Vater und ich.

Diese paar Minuten im Sommer 1957 waren der Anfang von dem, womit ich schließlich mein ganzes Leben verbracht habe: dem Geigespielen. Genau kann ich mich nicht mehr erinnern, aber wahrscheinlich hat mich mein Vater dann an den folgenden Tagen wieder und wieder gerufen und mir immer neue Dinge gezeigt, die schon gelernten wiederholt und auf diese Weise ganz langsam eine Beziehung zwischen dem Instrument und mir aufgebaut.

Als Musiker erkannte mein Vater früh, dass ich eine gewisse Begabung für das Geigespielen besaß, über ein gutes Gehör und ein Gefühl für Rhythmus verfügte. So schickte er mich, als ich in der ersten Klasse war, zu einem Kollegen, der mich von da an unterrichtete. Das Üben überwachte er aber weiterhin, jeden Nachmittag.

Nach einem Jahr nahm dieser Lehrer meinen Vater beiseite und sagte: «Willi, der Kerl ist so begabt, ich möchte die Verantwortung für ihn nicht übernehmen. Der soll lieber zu jemandem, der ein richtig erfahrener Lehrer ist.» Meinen Vater hat das gefreut. Denn wenn einer sagt: «Für den bin ich nicht gut genug», dann musste in mir doch ein ganz ordentliches Talent schlummern. Er überlegte eine Weile, wer in Frage käme, dann wandte er sich an seinen Kollegen aus dem Orchester, Ludwig Ackermann, Solobratscher und ein ausgezeichneter Lehrer. Ackermann hatte ein besonderes Talent, Kinder und Jugendliche zu unterrichten – und gerade beim Geigenspiel kommt es ja darauf an, dass man früh beginnt, in einem Alter, in dem einem vielleicht der Sinn nach ganz anderen Dingen steht, als fleißig Geige zu üben. Aber Ackermann hatte eine Begabung dafür, auch die Jüngsten bei der Stange zu halten, und viele seiner Schüler haben es zu etwas gebracht.

Ackermann unterrichtete mich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr. Ich habe ihm unendlich viel zu verdanken. Am meisten jedoch letztlich meinem Vater. Wäre er nicht gewesen und hätte er mich nicht mit so viel Liebe und auch Disziplin unterstützt, dann wäre alles ganz anders gekommen.

Kapitel 2 Wegweiser

Mein Vater stammt aus Bodenmais im Bayerischen Wald, einer kleinen Marktgemeinde im Landkreis Regen, ziemlich nah an der tschechischen Grenze, damals eine der ärmsten Ecken Deutschlands. Es war eine große Familie, insgesamt dreizehn Kinder, da blieb für den Einzelnen nicht viel: Mein Vater bekam das erste Paar Schuhe, da war er schon vierzehn Jahre alt. Bis dahin lief er immer in Holzpantinen und dicken Strümpfen herum. Mein Großvater arbeitete im Silberbergwerk, und meine Großmutter hatte mit den vielen Kindern alle Hände voll zu tun. Ich nehme an, sie hatten auch eine kleine Landwirtschaft oder zumindest einen Garten, aus dem sie sich versorgten.

Eine musikalische Ausbildung gab es unter diesen Umständen natürlich nicht, schon gar keine systematische, die eine Laufbahn als Berufsmusiker wahrscheinlich gemacht hätte. Dennoch lernten damals, also Anfang des letzten Jahrhunderts, auf dem Land sehr viele Menschen, ein Instrument zu spielen. Es gab ja kein Radio und keine Disko oder so etwas. Wenn Musik gespielt werden sollte, musste man sie selbst machen, bei den Schützen- und Kirchweihfesten, auf Hochzeiten und auf Tanzveranstaltungen – die echte alte Volksmusik eben. Mein Vater hat dementsprechend Trompete gelernt, einer seiner Brüder Kontrabass, von den anderen Geschwistern ist mir nichts bekannt. Aber Blasmusik mit Kontrabass, das ist die Grundausstattung für Volksmusik.

Mein Vater in Uniform in den vierziger Jahren. Er spielte im Musikzug seiner Kompanie.

Wann meinem Vater klarwurde, dass er musikalisch etwas Besonderes war, dass er sein Instrument besser beherrschte als die anderen, weiß ich nicht. Aber irgendwann scheint er überzeugt gewesen zu sein, dass er darauf seinen Beruf gründen wollte. Das muss man sich mal vorstellen: Eine fünfzehnköpfige Familie in ärmlichen Verhältnissen, und eins der Kinder sagt, dass es gern Musiker werden möchte. Und nicht nur einfach so, sondern mit Studium!

Ich habe keine Ahnung, wie mein Vater es geschafft hat, aber er wurde zum Studium zugelassen, und zwar an der Hochschule in Lüdenscheid im Sauerland, meilenweit weg von zu Hause. Mir ist schleierhaft, wie er das Geld dafür aufgetrieben hat, wahrscheinlich hat er immer nebenbei gearbeitet. Sein Hauptfach war Trompete, die Nebenfächer Klavier und Geige.

Heute muss ich sagen: Er war wirklich ein sehr guter Musiker, bezogen auf das Wissen und das Können. Als ich anfing, musikalisch erwachsen zu werden, mit sechzehn oder siebzehn Jahren, da war seine große Zeit schon vorbei. Vierzig Jahre lang war er Trompeter in der Münchner Staatsoper. Er hat sogar unter Richard Strauss einige Opern mit uraufgeführt. Mein Vater gehörte zu einer Generation, die für uns wie ein Geschichtsbuch ist. Oft erzählte er mir etwa von Bruno Walter und Clemens Krauss, die wir nicht mehr live erlebt haben, sondern nur noch aus Büchern oder alten Aufnahmen kennen. Für ihn waren sie die wichtigsten Dirigenten seines Lebens, sie hatten für ihn dieselbe Bedeutung wie für mich Herbert von Karajan. Ein paar Aufnahmen mit meinem Vater sind erhalten geblieben, und ich muss sagen: Toll! Die schweren Trompetensoli im «Rosenkavalier» beispielsweise, da ziehe ich noch heute den Hut vor ihm.

Das sind natürlich Dinge, die mich erst jetzt interessieren. Damals, als kleiner Junge, ging es mir um ganz andere Sachen. Zum Beispiel um die Opernbesuche. Schon mit fünf oder sechs Jahren durfte ich mit in die Oper gehen, wenn mein Vater spielte. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen, auch wenn ich vom Inhalt kaum etwas verstanden habe. Aber die Musiker mit dem Dirigenten unten im Orchestergraben, die Sänger oben auf der Bühne in ihren Kostümen, die hin und her liefen und furios oder zum Dahinschmelzen sangen – das war für mich das Größte.

Begonnen haben wir mit dem Klassiker, «Hänsel und Gretel», dann folgte die «Zauberflöte», und nach und nach steigerten wir uns bis zu den italienischen Opern, zu Mozart und Strauss. 1965, das weiß ich noch genau, da war ich vierzehn Jahre alt, wurde im neu erbauten Nationaltheater «Die Frau ohne Schatten» von Richard Strauss aufgeführt, mit dem Tenor James King. Dieser Sänger mit seiner Klangfülle beeindruckte mich enorm, und die Aufführung ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. In den ersten Jahren saß ich unten im Graben, in Sichtweite meines Vaters. Das war vollkommen normal, ich war halt der «Kleine» vom Willi Brem. Andere Musiker brachten auch ab und zu ihre Kinder mit. Wir mussten uns benehmen, das war alles. Und dafür durften wir diesen herrlichen Aufführungen beiwohnen.

Ich erinnere mich an einen Vorfall, da war ich sieben oder acht Jahre alt. Ich besuchte «Hänsel und Gretel», und Evi, die Tochter meines Geigenlehrers Ludwig Ackermann, der Solobratscher in der Oper war, saß neben mir. Evi war ein oder zwei Jahre jünger als ich. Für Kinder ist selbstredend die Hexe die Sensation in dem Stück, eine magische Figur. Sie tritt aber erst im zweiten Teil auf, nach der Pause. Evi wurde ein bisschen ungeduldig und fragte schon bald mit energischer, kräftiger Stimme: «Papa, wann kommt denn endlich die Hexe?» Riesengelächter im Orchester, und die ersten Reihen im Publikum werden es auch mitbekommen haben. Nach der Pause verdichtete sich dann die Handlung, gleich würde die Hexe auftreten, das Hexenhäuschen war zu sehen, Hänsel und Gretel waren eingesperrt. Kurzum: Die Spannung stieg, es wurde ernst. Und mitten hinein tönte Evis laute Stimme: «Papaaaaa, ich muss jetzt aufs Klo.» Vorher hatte sie es nicht erwarten können, aber nun, da der Auftritt der Hexe unmittelbar bevorstand, bekam sie es mit der Angst zu tun. Ich nehme an, dass auch das Publikum sich darüber amüsiert hat. Aber das war ein Ausnahmefall, normalerweise verhielten sich die Musikerkinder so still, dass das Publikum von ihrer Anwesenheit nichts mitbekam. Wir durften also weiterhin bei vielen Aufführungen dabei sein.

Mein Vater war das musikalische Zentrum der Familie. Meine Mutter kümmerte sich um die Versorgung der Familie und alles, was das Haus betraf. In den Disziplinen Hausfrau, Ehefrau, Mutter war sie, wie man in Berlin gern sagt: vom Feinsten. Sie versteht zwar rein formal nicht viel von Musik, aber sie liebt sie sehr, ging in Opern und Konzerte und hat uns Kindern immer begeistert beim Üben zugehört. Auch als ich schon studierte. Meine jüngere Schwester Sylvia bekam ebenfalls Musikunterricht, sie lernte Klavier. Aber der Funke ist nie so richtig übergesprungen. Vielleicht lag es an ihrer Lehrerin, die weniger die Musik vermittelte, als einfach ein bestimmtes Standardrepertoire einpauken wollte. So ist meine Schwester Lehrerin geworden und heute Rektorin einer Grundschule, sehr zufrieden und erfolgreich.

Die ganze Familie vor unserem kleinen Häuschen in München, 1967.

Für mich war mein Vater – in Verbindung mit Ludwig Ackermann – der beste Lehrer, den ich mir vorstellen konnte. Ob wir spazieren gingen oder im Garten werkelten, immer sprach er auf eine sehr beiläufige und dennoch ernstzunehmende Art über Musik, Gestaltungsprinzipien, historische Entwicklungen, Komponisten und was er sonst noch für wichtig hielt. Ich wuchs auf diese Weise mit der Musik auf, theoretisch und praktisch. Vielleicht kann man auch sagen: Ich wuchs in sie hinein, sehr selbstverständlich – doch nicht ohne Anstrengung.

Kapitel 3 «Entweder der Junge lernt Geige oder …»

Ab meinem achten Lebensjahr, seitdem ich richtigen Geigenunterricht hatte, war mein Tag sehr genau geregelt. Ich hatte Schule bis mittags, war um halb zwei zu Hause, wo bereits meine Mutter mit dem Mittagessen für die ganze Familie wartete. Danach begann ich, die Hausaufgaben zu erledigen, während mein Vater sich hinlegte. Das machte er immer. Jeden Mittag ruhte er auf dem Sofa im Musikzimmer, das auch gleichzeitig das Esszimmer war, so viele Räume gab es in unserem kleinen Häuschen nicht. Wenn er gegessen hatte, sank er – quasi ohne vorher aufstehen zu müssen – nach hinten auf das Sofa und schlief sofort ein. Je nach Jahreszeit breitete meine Mutter noch eine Decke über ihn.

Wie er es anstellte, weiß ich nicht, jedenfalls wachte er immer um exakt vierzehn Uhr fünfundfünfzig auf. Wahrscheinlich war es das professionelle Gefühl für Zeit und Rhythmus, das er in sich trug. Um fünf vor drei erhob er sich, ging ins Bad und machte sich ein wenig frisch. Und Punkt drei rief dann meine Mutter durchs Haus: «Peeeeeter.» Ob ich mit den Hausaufgaben schon fertig oder mitten im Satz war, interessierte niemanden: Um drei Uhr begann das Üben. Und mein Vater saß daneben, jeden Tag. Zehn Jahre lang.

Manchmal fand ich es schrecklich, das schon, ich war ja ein Kind. Aber richtig aufgemuckt habe ich nie. Das war damals einfach so. Man machte, was die Eltern sagten. Inwendig dachte ich das ein oder andere Mal: «Verflucht», oder: «Muss das wirklich sein?» Ab und zu gab es auch Ärger.

Wenn ich mit dem Üben fertig war, machte ich die Hausaufgaben zu Ende. Um halb acht wurde zu Abend gegessen und um zwanzig Uhr begann die Tagesschau, das war ein Pflichttermin. Mein Vater war dann in der Regel nicht mehr im Haus, sondern schon in der Vorstellung, die üblicherweise um neunzehn Uhr oder neunzehn Uhr dreißig begann. Als ich älter war, ging ich nach der Tagesschau noch ab und zu ins Freizeitheim und traf mich mit ein paar Kumpeln zum Tischtennisspielen. Wir haben gespielt wie verrückt, stundenlang, und ich war ziemlich gut. Einmal brachte ich es sogar zum Münchner Jugendmeister.

Ein strammes Programm. Es fühlt sich schon beim Lesen an wie eine Sechzig-Stunden-Woche. Oder vielleicht wie ein Leben im Gefängnis. Aber so war es nun mal. Wer ernsthaft Musik macht, lebt so oder so ähnlich, auch als Kind oder Jugendlicher. Noch im Konservatorium hat unser Geigenlehrer Ackermann jedem von uns Studenten einen Übeplan geschrieben. Minutiös und individuell. Bei mir hieß es beispielsweise: «8 Uhr bis 8.20 Töne aushalten, 8.20 bis 9 Uhr Ševčík-Übungen, also Finger- und Bogentechnik, 9 Uhr bis 9.30 Uhr Flesch-Tonleitern, 15 Minuten Pause: Apfel essen.» So ging das weiter bis nachmittags. Der Weg ist eben hart, und eine andere Methode funktioniert nicht.

Es gibt natürlich auch Ausnahmen, sehr seltene. Ein ehemaliger Kollege von mir kommt aus dem Ruhrgebiet, wo seine Eltern eine Dachdeckerfirma betrieben. Vater, Mutter, Bruder – jeder arbeitete in dem kleinen Betrieb. Nur eben mein Kollege nicht. Mit dreiundzwanzig Jahren wurde er bei uns erster Geiger. Für mich grenzt es an ein Wunder, wie jemand aus einer totalen Nicht-Musikerfamilie, ganz aus eigener Kraft, den gleichen Weg bewältigen konnte, wie ich ihn hinter mir habe, aber unter völlig anderen Bedingungen. Er war über zwei Meter groß und wirkte immer ein bisschen wie ein Clown, weil das Instrument im Verhältnis zu ihm so klein erschien. Nachdem er schon zehn Jahre bei uns war, nahm er einmal eine Bratsche in die Hand, die ja größer als eine Geige ist – und dann erst passte es so richtig für ihn. Er bewarb sich in München beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf die Solobratscherstelle und spielt dort nun seit 1997. Das alles ohne die Grundausstattung und Unterstützung, wie ich sie erhielt. Es ist mir ein Rätsel, wie er das geschafft hat. Chapeau, Herr Kollege Menninghaus!

Mein Vater war nicht nur dabei, wenn ich übte, sondern auch in den Stunden bei Ludwig Ackermann. Ich glaube nicht, dass er irgendetwas kontrollieren wollte. Es war eher so, dass er sich mit Haut und Haaren der Aufgabe verschrieben hatte, mir die bestmögliche Ausbildung zuteilwerden zu lassen, deshalb passte er immer genau auf. Wahrscheinlich lernte er selbst noch eine ganze Menge in den Stunden, da er Geige nur im Nebenfach studiert hatte. Oft sprachen die beiden Herren im Anschluss noch über mich: «Du musst darauf achten, dass Peter dies und das …» Und dann achtete mein Vater beim Üben darauf.

Ihm verdanke ich beinahe ebenso viel wie meinem Vater: mein Lehrer Ludwig Ackermann, der mich mehr als zehn Jahre unterrichtete.

Eines Tages, ich war neun Jahre alt und in der vierten Klasse, sagte mein Vater zu Ackermann: «Du, Luck», das war die Kurzform für Ludwig, «wir müssen uns mal über Peter unterhalten. Nach dem Schuljahr wäre der Wechsel ins Gymnasium dran.» Einen Moment lang herrschte totale Stille im Raum. Diese Stille habe ich noch heute im Ohr. Dann sprach mein Lehrer den entscheidenden Satz, einen der wichtigsten Sätze in meinem ganzen Leben: «Du, Willi, schau mal, das ist ganz einfach: Entweder geht der Peter aufs Gymnasium, oder er lernt bei mir das Geigespielen.» Ich weiß es noch ganz genau, selbst knapp sechzig Jahre später. Obwohl der Satz damals auch irgendwie an mir vorbeirauschte. Ich hörte ihn, und mir war klar, dass es um mich ging, aber niemals hätte ich mich eingemischt oder selbst eine Meinung dazu geäußert. Die werden schon wissen, was richtig ist, dachte ich mir.

Mein Vater bohrte bei Ackermann nicht weiter nach, und ich wurde sowieso nicht gefragt, ob mir das gefiel oder ich eine andere Idee dazu hätte. Vielleicht haben meine Eltern abends noch mal im stillen Kämmerlein darüber gesprochen, aber eine Debatte wird es nicht gewesen sein. So fiel die Entscheidung, dass ich nicht aufs Gymnasium gehen sollte, aufgrund eines einzigen Satzes meines Lehrers. Das war es dann!

Dabei wäre das Gymnasium schon etwas für mich gewesen, in meinem Zeugnis standen viele Einsen und Zweien. Aber ich hatte auch bereits das Glücksgefühl gespürt, wenn ich mit meiner Geige in den Sportclub, auf eine Weihnachtsfeier oder fürs Schulabschlussfest bestellt wurde: Nach mir, Peter Brem, fragte man. Ich wurde dann irgendwo hingestellt und spielte Geige. Und die Leute fanden es gut. Für meinen Einsatz auf der Weihnachtsfeier unseres Fußballvereins erhielt ich sogar ein Honorar, sage und schreibe zwanzig Mark. Das war ungefähr so, als wenn ich heute zweitausend Euro für einen Abend bekäme. Das gefiel mir natürlich, Applaus zu bekommen und außerdem noch zwanzig Mark.

Trotzdem liegt mir dieser Satz meines Lehrers noch heute im Magen. Es hätte ja auch schief gehen können. Ich war neun Jahre alt und sicherlich begabt, aber kein Mensch kann mit Sicherheit vorhersagen, dass man es bis zum Profi schafft. Dazu gehören schließlich außer der Begabung noch ganz andere Dinge: Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen zum Beispiel. Und viel Glück. Ich hätte mir nur mal einen Finger brechen müssen, dann hätten sich vielleicht schon alle Wünsche und Pläne in Luft aufgelöst. Selbst heute, da ich als Profi jahrzehntelang auf einer festen Stelle gearbeitet habe, bin ich sehr froh, dass ich über all die Jahre gesund geblieben bin. Wer sich sein Leben lang einer im Grunde so einseitigen körperlichen Anstrengung unterzieht, bekommt unweigerlich Probleme mit Muskeln und Sehnen. Das kann bis zur völligen Berufsunfähigkeit führen. Der Musikbetrieb kennt solche Schicksale, und beileibe nicht wenige.

Aber damals fiel die Entscheidung so, und ich habe sie natürlich akzeptiert, war weiterhin fleißig und erklomm eine Stufe nach der anderen. Nach acht Jahren war ich mit der Volksschule fertig. Normalerweise folgte dann eine Lehre. Für Musiker gab es so etwas zwar nicht, aber immerhin eine Berufsschule. Da saß ich dann bei einem Dr. Trenner in der Klasse, als einer von sage und schreibe drei Schülern. Einer von ihnen war angehender Schlagzeugstudent, der später stellvertretender Pauker bei den Münchner Philharmonikern wurde. Der andere schaffte den Sprung zum professionellen Musiker nicht.

Nun hatten wir also Instrumentenkunde, Gehörbildung, Harmonielehre und vieles mehr. Das kannte ich jedoch alles schon. Denn wann immer ich mit meinem Vater beisammen war – auf unseren Spaziergängen, wenn wir Pilze sammelten oder einfach nur im Garten saßen –, hatte er mir diese Dinge beigebracht. Auf dem Weg in die Oper, wenn ich mal wieder zuhören durfte, erklärte er mir den Inhalt, die Besonderheiten der Komposition, die Schwierigkeiten der Partitur, und er wies mich auf dieses oder jenes hin, worauf ich achten sollte. Er führte mich auf eine sehr liebevolle Art an alles heran, was ihm in der Musik wichtig erschien. So streng er beim Üben war – bei diesen musikalischen «Vorträgen» war er immer sehr locker, sprach bildreich und erzählte sehr unterhaltsam. Ich hatte nie das Gefühl, dass er mir etwas aufzwingen wollte. Und der Effekt war, dass ich schon in jungen Jahren aus der Oper kam und zu ihm sagte: «Papa, da hat’s in der Soundso-Szene einen falschen Ton gegeben», oder: «Da stimmte am Ende des zweiten Aktes der Rhythmus nicht ganz.»

Und so hat damals auch Dr. Trenner schnell bemerkt, dass er mir nicht viel beibringen konnte. Er schrieb einen Brief ans Schulamt, in dem er kurz und bündig bestätigte, dass ich mir seinen Unterricht sparen könne, weil der Stoff bereits gelernt sei. Stattdessen kam ich ins Abendgymnasium. Mein Vater hatte wohl doch erkannt, dass die Volksschule für einen angehenden Musiker nicht ganz ausreichte. Also ging ich ab meinem fünfzehnten Lebensjahr morgens als Jungstudent ins Richard-Strauss-Konservatorium zum Musikstudium und abends ins Gymnasium.

Das war schon eine sehr lernintensive Zeit. Auf dem Konservatorium musste ich jede Menge Fächer belegen, unter anderem Klavier als Nebenfach. Alle, die ein Melodieinstrument als Hauptfach hatten, mussten ein Harmonieinstrument als Nebenfach wählen und umgekehrt. Es gibt einen Witz über das Wesen des Musikstudiums, der zumindest für Instrumentalisten charakteristisch ist: Ein Mann steht an der Bushaltestelle. Der Bus kommt, und der Mann fragt den Fahrer: «Wie komme ich zur Philharmonie?» Antwortet der Fahrer: «Üben, üben, üben.»

Genau so sah auch mein Stundenplan aus. Töne aushalten, damit der Arm ruhig wird, Harmonielehre, Kontrapunkt, Musikgeschichte, Instrumentenkunde, Formenlehre. Und immer wieder Technik, Technik, Technik. Wenn ich das hinter mich gebracht hatte, dann übte ich am Nachmittag Etüden oder eine Sonate oder ein Violinkonzert. Den Studenten in den anderen Fächern ging es genauso, alle hatten einen vollen Stundenplan. Wir trafen uns, wenn wir Kammermusik, Stücke mit Klavier oder Kammerorchester spielten, aber sonst hatten wir keine privaten Kontakte.

Es ist gar nicht so einfach, bei solch einem Leben Freundschaften zu schließen. Abends ging ich ins Gymnasium, wo ich natürlich auch Leute kennenlernte, die nichts mit Musik zu tun hatten. Einige waren allerdings deutlich älter als ich und arbeiteten bereits. Und was die anderen anging: Es ist nicht gerade ein interessantes Gesprächsthema, wenn man sich den ganzen Tag mit hochspeziellen Dingen wie Bogentechnik oder Tonleiternüben beschäftigt. Es gibt deutlich Spannenderes, doch damit konnte ich eben nicht dienen.

Auch mit den Kommilitonen am Konservatorium ergaben sich nur wenig engere Kontakte. Jeder war in einem anderen Semester, jeder hatte seine speziellen Theoriefächer, und man traf sich vielleicht einmal in der Woche beim Orchesterspiel. Hinterher ging man dann eventuell noch zu einer Brotzeit, aber so richtig dicke Freundschaften entstanden daraus selten. Wenn man bedenkt, dass ich im Vergleich zu den anderen fast noch ein Kind war, ist das auch nicht weiter verwunderlich. Mein ganzes Leben habe ich immer mit älteren Menschen verbracht, auch als ich bei den Berliner Philharmonikern anfing, war ich jahrelang der Jüngste.

Etwas näher kam ich den Kollegen aus meinem Streichtrio, das ein Bratscher, eine Cellistin und ich 1967 gegründet hatten. 1969 nahmen wir sogar am Kammermusikwettbewerb in Colmar teil und gewannen tatsächlich den Grand Prix. Durch die Probenarbeit verbrachten wir viel Zeit miteinander. Der Bratscher, Mathes Seidl, ist heute noch ein guter Freund von mir. Lange Zeit spielte er im Orchester in Zürich, dann warf er alles hin, studierte in Hamburg Musikwissenschaft und wurde zum Musikpsychologen promoviert. Er arbeitet in seiner eigenen psychotherapeutischen Praxis und bietet vor allem Unterstützung für Musiker an. So hat er zwar seine Karriere als Bratscher aufgegeben, obwohl er schon so weit war, ist aber der Musik und den Musikern auf seine Weise treu geblieben.

Das Brem-Trio in Aktion: links ich mit Geige, in der Mitte Mathes Seidl und am Cello Annemarie Dengler. Wir studierten alle drei am Richard-Strauss-Konservatorium.

Ein Musikstudium ist in erster Linie harte und vor allem einsame Arbeit. Man ist darin letztlich ein Einzelkämpfer. Was nicht heißt, dass man sich nicht auch amüsieren würde. Mein Lehrer Ackermann zum Beispiel veranstaltete viele Jahre lang Faschingskonzerte, in denen wir verkleidet auftraten und lustige Stücke spielten. Aber dennoch: Es ist eine schwierige Arbeit, gerade weil man so jung ist. Ein normaler Student der Wirtschaftswissenschaften beispielsweise ist achtzehn Jahre oder älter, ein Musiker dagegen beginnt viel früher. Speziell bei uns Streichern entdeckt man nicht erst im Studium, ob man geeignet ist oder nicht, sondern es kommt darauf an, was man als Kind lernt. Im Grunde entscheidet es sich schon, bevor man zehn Jahre alt ist. Je älter man wird, umso weniger wahrscheinlich ist, dass man noch das hohe professionelle Niveau erreicht. Es braucht viel Zeit, bis man überhaupt auf einer Geige spielen kann, deshalb muss man auch sehr früh damit anfangen. Alle meine Kollegen waren bereits im Kindesalter ziemlich weit und hatten sehr gute Lehrer. Das ist extrem wichtig. Denn wenn einem jemand eine schlechte Haltung beibringt, kann man das später nur schwer korrigieren, oder es behindert einen. Mit vierzig Jahren ist man dann irreversibel geschädigt oder bekommt chronische Rückenschmerzen.

Wie wichtig meinem Vater und Ludwig Ackermann ein guter Unterricht war, wurde mir auf beinahe bedrohliche Weise klar, als ich einmal hörte, wie in ihren Gesprächen das Wort «Russland» fiel. Ich war sechzehn Jahre alt, und die beiden erwogen allen Ernstes, wie sehr ich geigerisch davon profitieren würde, wenn ich für ein bis zwei Jahre zum Studium nach Moskau ginge. Die russische Geigenschule genoss Weltruhm, und der Unterricht dort, da waren sich die beiden einig, würde mich mit Sicherheit noch ein ganzes Stück weiterbringen. Nun muss man sich erinnern, dass 1967 die Entspannungspolitik der Bundesregierung gerade gescheitert war, und kann sich vorstellen, dass Leonid Breschnew mit seinem riesigen sowjetischen Reich auf einen jungen Westdeutschen, besser gesagt Bayern wie mich, nicht gerade einladend wirkte.

Daher geschah nun etwas sehr Seltenes: Ich widersetzte mich! Karriere hin oder her, in die Sowjetunion würde ich auf gar keinen Fall gehen. Grau und groß und grausam – das waren die unmittelbaren Assoziationen, die sich mir in Blitzgeschwindigkeit aufdrängten. Ich war nun wirklich kein Kommunist, hatte in München einen guten Lehrer und eine liebe Familie – was in aller Welt sollte ich in Russland? Mal ganz abgesehen von Problemen wie der fremden Sprache und den allgemeinen Lebensumständen.

Ich setzte alles auf eine Karte: «Das kommt nicht in Frage. Ich gehe auf keinen Fall nach Moskau. Eher höre ich mit dem Geigespielen auf. Und zwar sofort! Ich mache auf der Stelle Schluss damit, das könnt ihr mir glauben!» Darauf folgte: allgemeine Verblüffung. So etwas war man von mir einfach nicht gewohnt. Schließlich leistete ich sonst quasi nie Widerstand, wenn die beiden Respektspersonen Vater und Lehrer etwas für mich planten. Aber die Einmaligkeit dieses Ereignisses machte ihnen klar, dass ich es absolut ernst meinte. Also begruben sie ihre zweifellos gutgemeinte Idee.

Meiner Mutter fiel ein Stein vom Herzen. Sie war unendlich erleichtert, dass ich selbst entschieden und mich diesem Projekt verweigert hatte. Sie hatte sich bis dahin noch nicht geäußert, weil sie sich nach mir gerichtet hätte. Wenn ich gern nach Moskau gegangen wäre, hätte sie das unterstützt. Aber so war es ihr tausendmal lieber. Wahrscheinlich hätte sie sich vor Kummer und Sorgen ganz zermartert, wenn ich für Monate in die Sowjetunion gegangen wäre. Zu einer Zeit, in der es noch keine Handys gab und das Reisen nach Osteuropa deutlich beschwerlicher war als heute.

Diese Episode ändert jedoch nichts daran, dass ich meinem Vater unendlich dankbar bin. Weil ich die Früchte ernten konnte, die er gesät hat. Mir wurde damals gesagt: Sei fleißig, üb schön, mach, was Ackermann dir sagt, sodass du es schaffst, in eins der drei großen Münchner Orchester zu kommen. Das waren das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Staatsoper oder die Philharmoniker, alle auf demselben Niveau. Ich habe es sogar zu den Berliner Philharmonikern geschafft.

Wir Musiker sind nicht reich, aber es geht uns gut. Was ich in meinem Berufsleben erleben durfte und was ich aufgrund der vielen Reisen gesehen habe, das kann sich ein Privatmensch, ein Normalverdiener gar nicht leisten. Ich war wahrscheinlich in hundert Museen und durfte die Kunst der ganzen Welt genießen. Andere fliegen einmal in ihrem Leben für fünf Tage nach New York und freuen sich über die Ausnahmegelegenheit. Ich war etliche Male dort wegen unserer Konzerte, bin den ganzen Tag durch den Central Park gelaufen und durch das Metropolitan Museum oder Museum of Modern Art geschlendert. Oder habe abends nach der besten Jazzkneipe oder dem besten Musicaltheater gesucht – und dem besten Steak in Amerika.

Das alles hat mich hundertfach entschädigt für die Tausende von Stunden, die ich geübt habe, die ich nicht mit meinen Schulkameraden verbringen konnte, wenn sie nachmittags bei uns klingelten und fragten: «Kommt der Peter mit zum Fußballspielen?», und meine Mutter dann antwortete: «Der Peter kann nicht mitkommen. Der muss üüüübennnn.» Ich habe sie natürlich gehört, und die Zeit wurde mir lang.

Aber heute sage ich mir: Es ist überstanden, und es hat sich gelohnt, ohne jeden Zweifel und ohne jede Einschränkung. Der Tag, an dem ich die Stelle bei den Berliner Philharmonikern bekommen habe, war der glücklichste in meinem beruflichen Leben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hätte ja nur ein bisschen zu nervös sein müssen, oder jemandem hätte vielleicht meine Nase nicht gefallen, oder irgendwas anderes hätte verhindern können, dass ich das Probespiel bei den Philharmonikern bestände. Der Kompass des Lebens braucht nur um einen Grad nach rechts oder links abzuweichen, und schon verläuft der Weg total anders. Wer weiß, wo ich dann gelandet wäre …

Kapitel 4 Hoch hinaus

Kurz vor dem Ende meiner Zeit im Richard-Strauss-Konservatorium, da war ich achtzehn Jahre alt, ereignete sich die größte Katastrophe, die ich mir nur vorstellen konnte: Mein Lehrer Ludwig Ackermann starb. Ohne vorherige Krankheit, ohne ersichtliche Warnsignale. Morgens um acht Uhr hatte ich Geigenunterricht bei ihm. Dann ging er nach Hause, weil ihm nicht ganz wohl war, und um vierzehn Uhr war er tot. Herzinfarkt.

Es war ein Schock: für mich, für meinen Vater und für alle Studenten seiner Klasse. Wir waren ungefähr zwölf bis fünfzehn Schüler, die bei ihm zum Teil über Jahre Einzelunterricht hatten, die er betreute, die er antrieb und denen er vorlebte, was Musik ist und wie man auf einer Geige oder Bratsche Musik machte. Ich war der jüngste Schüler, die anderen waren schon um die zwanzig Jahre alt oder darüber hinaus. Und mit einem Mal war er tot. Jeden Schüler trifft es, wenn ein Lehrer stirbt, den er mag. Aber in den allgemeinen Schulen oder Universitäten baut man selten so eine intensive Beziehung auf, wie es ein Musikstudent zu seinem Lehrer tut. Beim Studium der Musik geht es ja nicht nur um das Lernen eines bestimmten Stoffes, sondern um den Zugang zu einer Welt, die zwar nach bestimmten Regeln funktioniert – Noten, Harmonien, Tempi etc. –, deren Wesen aber allein dadurch nicht auszudrücken ist. Dieses Tor öffnet sich nur über den Lehrer, über seine Art, die Musik zu verstehen, zu denken und zu fühlen. Man ist extrem abhängig von ihm, im Positiven wie im Negativen. Wenn er kein guter Lehrer ist, bleibt man hinter seinen eigenen Möglichkeiten zurück, man verpasst den Punkt, um den es geht. Wenn er ein guter Lehrer ist, erschließt sich einem ein ganzes Universum, von dessen Existenz man ohne ihn nicht einmal eine Ahnung bekommen hätte.