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Wilfried A. Hary

G-B 005: Die Milliardenwelt

In der Buchausgabe sind immer mehrere Bände zu einem Buch zusammengefasst!





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

GG-B 005:

Die Milliardenwelt

Wilfried A. Hary

„Die Verschollenen – unfreiwillig auf der Eiswelt!

 

 

 

22. März 2453 = Den Verschollenen gelingt es, kurzzeitig PSI-Kontakt mit Clarks-Planet aufzunehmen und mitzuteilen, dass sie sich möglicherweise Tausende von Lichtjahre vom irdischen Machtbereich entfernt aufhalten, auf einer Dschungelwelt namens Vetusta (vorangegangener Band). Die Verbindung reißt jedoch ab, denn sie werden überwältigt und gefangen genommen vom Stationscomputer auf Vetusta...

 

Impressum


Copyright © neu 2015 by

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Sämtliche Rechte vorbehalten!

Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung von

HARY-PRODUCTION!

 

Titelbild: Gerhard Börnsen

Covergestaltung: Anistasius

 

Band 5 der Serie GAARSON-GATE

- basierend auf der gleichnamigen

Romanheft-Serie

(immer mehrere Bände in einem Buch zusammengefasst!)


 GAARSON-GATE ist die Schwesterserie von

STAR GATE – das Original

 

Einführung


2. April 2453

Eine unheilvolle Krise breitet sich auf der Erde aus, ohne dass die Bevölkerung etwas ahnt. Dreh- und Angelpunkt sind die so­genannten Puppen = Androiden als Kinder­ersatz.

Für eine Frau namens Judy Hamilton wird der schlimmste Alptraum wahr, den eine Frau in jener Zeit haben kann:

Sie erfährt, dass sie keine Kinder haben darf - und hoffentlich wählt sie nicht die "Alternative" namens Puppen, denn diese...


1


Judy Hamilton erschrak. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und bedauerte es, kleiner als der Durchschnitt zu sein. Vergeblich versuchte sie, durch die Masse der Menschen ringsum den Straßenrand zu erkennen. Auch als sie die vollbusige Dame direkt vor ihr auf dem Rollband zur Seite dirigieren wollte, hatte sie kein Glück.

Aber dann erhaschte sie einen kurzen Blick.

Tatsächlich, sie hatte den Absprung vom Band verpaßt!

Judy Hamilton spürte leise Verzweiflung in sich aufkeimen. Nein, sie war alles andere als eine hysterische Person, doch das, was sie heute zu tun beabsichtigte, belastete sie im höchsten Maße.

Die Vollbusige gehörte zu einer größeren Gruppe, die sich angeregt unterhielt. Niemand nahm Notiz von Judy und ihren Bemühungen, sich einen Weg zu bahnen.

»Könnten Sie ein wenig auseinanderrücken, damit ich durchkomme?« fragte die Verzweifelte schließlich.

Die Vollbusige schaute sie an, ohne sie wirklich zu sehen. Dann wandte sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zu.

Judy Hamilton ballte in ohnmächtiger Wut ihre zierlichen Hände zu Fäusten. Sie war wütend auf sich, auf die »Stadt« Mega-NY (vor Jahrhunderten: New York!), die im Grunde genommen nichts anderes war als ein einziges gigantisches Gebäude, auf die Leute, die nur ihre eigenen nichtigen Probleme kannten und blind waren gegenüber den Belangen des Nachbarn - kurz, sie war wütend auf den ganzen Planeten!

Und diese Wut ließ sie sozusagen über sich selbst hinauswachsen. Sie zwängte sich einfach hinter dem Rücken der Walküre vorbei und benutzte dabei fleißig ihre Ellenbogen. Dieses Vorgehen blieb nicht ohne Folgen.

»He, junge Frau, wohin so eilig?« rief eine männliche Stimme. Judy fühlte sich im nächsten Augenblick am Arm gepackt und aufgehalten.

Sie wollte sich aus dem eisernen Griff befreien, was ihr jedoch nicht gelang.

So war sie gezwungen, sich dem Fremden zuzuwenden.

Er war groß und muskulös, und Judy reichte ihm nicht einmal bis zu den Schultern.

»Lassen Sie mich gefälligst los!« rief sie.

Der Breitschultrige lachte nur.

Der Schmerz an ihrem Arm brachte Judy fast zur Raserei.

»Sie unverschämter Kerl, ich muß zur Medo­station. Ich beantrage dort ein Kind! Sofort lassen Sie mich los! Ich habe keine Zeit zu verlieren.«

»Zur Medostation?« echote der Mann. Er reckte den Hals und spähte zum Rand der Rollstraße hinüber.

»Ich kann keine Station sehen. Sind wir denn schon vorbei?«

Tränen rannen über Judys hektisch gerötete Wangen.

»Bitte, so helfen Sie mir doch! Die Zeit drängt. Um Gottes Willen, wenn ich zu spät komme! Ich muß unbedingt hin. Au, Sie tun mir weh! Lassen Sie meinen Arm los, sonst...«

»Sonst? Ah, es ist ein Greuel mit diesen hysterischen Frauen. Wenn Sie wirklich eine Chance haben wollen bei dem Ausleseverfahren, sollten Sie sich bemühen, ruhiger zu werden!«

Mit der freien Faust schlug Judy zu - mehrmals.

Doch nicht ein einziges Mal traf sie dieses Gesicht. Das Gedränge war zu groß. Judy spürte den Atem des Fremden auf ihrer Stirn. Panik ergriff sie, gewann an Macht und überflutete sie.

Die Leute ringsum wurden aufmerksam.

»Man sollte seine Ehezwistigkeiten nicht auf der Straße austragen«, tadelte jemand.

Judy bekam plötzlich mehr Luft.

»Ganz schön schlimm, die Frau«, grollte der Mann vor ihr und ließ endlich von Judy ab. »Hat mich doch tatsächlich schlagen wollen, obwohl ich gar nichts getan habe. Was ist das denn für ein Benehmen?«

Für einen Moment war Judy Hamilton Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.

Sie hörte Lachen ringsum, sah die Gesichter, die wie durch ein Brennglas wirkten, als makabre, monströse Masken, hinter denen nichts mehr stand als Erlebnissucht und Sinnlosigkeit.

Die Vielzahl der Stimmen vereinigte sich mit dem Summen des Bandes und dem fernen Rumpeln der Gleitrollen zu einem Geräusch wie Meeresbrandung an einer Steilküste. Das verworrene Konzert von Umweltlauten schwoll an. Ein durchdringender Schrei ertönte.

Es wurde Judy Hamilton nicht bewußt, daß sie selbst es war, die schrie.

Erschrocken machten die anderen Platz. Hier bahnte sich etwas an, womit sie nichts zu tun haben wollten.

Judy Hamilton warf den Kopf in den Nacken. Ihr Körper war hart wie ein Brett, verkrampft. Die Nervenkrise erreichte einen Höhepunkt.

Judy war klein, und die Köpfe der Umstehenden bildeten für sie einen Trichter, in dessen Mittelpunkt sie sich befand. Weit oberhalb der Trichteröffnung zog sich die lange Reihe von Beleuchtungskörpern entlang - wie eine glitzernde Perlenkette. An der Decke waren sie befestigt, diese Beleuchtungskörper, denn die Straße war eigentlich ein Tunnel, von zwei Wohn- und Geschäftsetagen zu beiden Seiten eingerahmt.

Plötzlich fing die Lichterkette an zu wackeln und zu tanzen. Der Trichter aus Köpfen und Leibern schien Judy verschlingen zu wollen. Der Rand rutschte nach oben hin weg und begann dabei, sich in Rotation zu versetzen.

Judy preßte die Hände gegen die Ohren und schrie erneut.

Man wich vor ihr zurück.

Auch der Fremde hatte anscheinend erkannt, daß er zu weit gegangen war, und tauchte einfach in der Menge unter.

Schwer schlug Judy auf dem Boden auf. Zum Glück war das Band elastisch genug, weshalb die junge Frau sich nicht verletzte.

Die Menschen starrten schweigend auf die Frau zu ihren Füßen. Begriffen sie in diesem Moment, was aus ihnen geworden war - was sie aus sich und ihrem Heimatplaneten Erde gemacht hatten?

Achtzehn Milliarden Menschen lebten offiziell auf der Weltenkugel (ohne die Namenlosen außerhalb der Ballungszentren, die Nichtregistrierten, Vogelfreien, die man hinter vorgehaltener Hand Neniantoj nannte und die es eben offiziell überhaupt nicht gab) - das, obwohl schon im zwanzigsten Jahrhundert von den damals nur sechs Milliarden etwa ein Drittel gehungert hatte! Und das war nun schon über vierhundertfünfzig Jahre her.

Nein, Hunger kannte man heute, im fünfundzwanzigsten Jahrhundert, nicht mehr. Er schien für alle Zeiten besiegt zu sein. Synthetische Nahrungsmittel hatten den erbitterten Kampf gewonnen. Nicht einmal zahlen mußte der normale Verbraucher dafür - der Civitano, was so gut wie Bürger hieß. Es wurde gerecht geteilt - ein jeder erhielt seine ausreichende Tagesration, die er zum Leben brauchte.

Armut und alles, was damit zusammenhing, gehörte längst der Vergangenheit an. Man mußte dafür in Kauf nehmen, daß man um jeden Quadratmeter Bewegungsfreiheit außerhalb der genormten Wohnungen kämpfen mußte.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da ging es wenigstens den Laboristoj, also der arbeitenden Klasse, besser, mit einem gewissen Luxus und dergleichen - und vor allem mit deutlich mehr Platz zum Beispiel in der Form von viel größeren Wohnungen.

Das hatte sich mit zunehmend verschärften Platzverhältnissen ebenfalls verschlechtert - zumindest für diejenigen, die innerhalb der gigantischen Wohnmaschinen geblieben waren. So zählte allein Mega-NY rund drei Milliarden Einwohner! Das größte Privileg, das der Minderheit namens Laboristoj geblieben war, hieß ARBEIT.

Es gab in einer solchen Welt nur eine Möglichkeit, der Enge zu entfliehen, wenn man es nicht schaffte, soweit privilegiert zu werden, daß man nach draußen in die Eigenheimstädte ziehen durfte: Flucht von der Erde, um in einer der Kolonien ein neues Leben zu beginnen. Aber seit der großen Katastrophe, die zu einer Veränderung der Naturgesetzlichkeiten geführt hatte, gab es keine technisch basierte Raumfahrt mehr und damit keine Fortführung der Kolonisierungen. Vorläufig wenigstens nicht, und ein Ende des Stopps war kaum abzusehen, so lange auf der Erde nicht bekannt war, was aus den ehemaligen Machthabern wurde, die rechtzeitig vor der Katastrophe der Erde den Rücken gekehrt hatten und vielleicht immer noch annahmen, die Erde würde es gar nicht mehr geben.

Es gab nur eine einzige Ausnahme, und die war nicht mehr als der berüchtigte Tropfen auf den heißen Stein: Clarks-Planet! Denn nach dort gab es eine Transmitterverbindung - per Gaarson-Gate, eine Technik, die erst seit der Veränderung der Naturgesetzlichkeiten möglich war. Aber eben nur zwischen der Erde und Clarks-Planet. Die anderen Kolonien konnten damit nicht erreicht werden. Da war man auf die neue Psychonauten-Raumfahrt angewiesen, die allerdings noch in den Kinderschuhen steckte. Außerdem mußte man vorsichtig sein, denn wenn die alten Machthaber erfuhren, daß die Erde überlebt hatte, würden sie sich bemühen, ihre alten Machtansprüche wieder geltend zu machen - ungeachtet dessen, daß sie ja eigentlich die Menschheit im Stich gelassen hatten...


2


In der Ferne klang das Heulen einer Sirene auf. Bald würde eine Patrouille den Schauplatz erreicht haben. Ob es um Judy Hamiltons Zusammenbruch ging?

Aber Judy Hamilton spürte ihre alten Kräfte neu erwachen. Sie schaffte es, den Anfall einigermaßen zu überwinden.

Was ihr widerfahren war, gehörte fast zum Alltag. Immer wieder erlag jemand dem Streß der Massengesellschaft.

Für Judy war es das erste Mal gewesen. Das schrieb sie den besonderen Umständen zu.

Und damit dachte sie wieder an ihre Vorladung. Es stand eine ganze Menge für sie auf dem Spiel - für sie und ihren Mann.

Seltsam leicht fühlte sie sich, als sie aufstand. Es tat gut, sich ausgiebig zu recken - und das zu einer solchen Zeit auf einer dichtbevölkerten Bandstraße.

Der stetige Lärm prallte nunmehr wirkungslos an ihr ab, als habe ihr eine höhere Macht inzwischen einen Schutzschirm verliehen.

Ein Schatten raste heran, begleitet vom schrillen Sirenengeheul. Er zischte über die Köpfe der Stadtbewohner hinweg, ohne seine Geschwindigkeit auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zu verzögern. Nein, der Auftrag der Patrouille hatte nichts mit Judy zu tun. Das war jetzt offensichtlich.

Judy Hamilton verschwendete auch gar keinen Gedanken daran.

Wie eine Marionette ging sie jetzt auf die sie umgebende Menschenwand zu, die sich nur zögernd öffnete. Judy fühlte sich noch ein wenig trunken und wie betäubt. Doch das Bewußtsein, möglicherweise den Termin tatsächlich zu verpassen, gab ihr neue Kraft.

Endlich hatte sie das Band verlassen. Sie verzichtete auf das Gegenband, um den Weg zur verpaßten Medostation zurückzulegen, und ging zu Fuß.

Judy ärgerte sich jetzt darüber, daß sie in einem solch peinlichen Maße die Fassung verloren hatte, obwohl die rasche Überwindung der Krise darauf hinwies, daß ihre Nerven im Grunde genommen doch noch recht stabil waren.

Natürlich litten die Menschen unter den Umständen - eigentlich alle. Das taten sie bereits seit den ersten Mietskasernen, und seit damals war alles nur noch schlimmer geworden.

Wo waren die himmelstürmenden Ideen längst vergangener Zeiten?

Und trotz allem ertrug der Gegenwartsmensch dies.

Daran war die Technik schuld. Dieselbe Technik, die zu diesem unerträglichen Zustand geführt hatte, bot Scheinauswege an, Fluchtmöglichkeiten, die eigentlich gar keine waren, sondern künstliche und somit Scheinbefriedigungen einer frustrierten Welt.

Judy Hamilton dachte an ihren Mann. Sie sehnte sich nach ihm. Ken war eine starke Persönlichkeit, und allein seine Anwesenheit gäbe ihr inneren Auftrieb.

Sie legte trotz ihrer Eile eine kleine Pause ein, drückte ihre heiße Stirn gegen die kühlende Plastikwand.

Sonst hatte sie stets alle Gedanken an das traurige Dasein verdrängt. Warum konnte sie es jetzt nicht ebenso tun? Warum quälte sie sich, indem sie sich alles ins Bewußtsein rief?

War es, weil die Einladung zur Tauglichkeitsuntersuchung in ihrer Tasche knisterte?

Anders konnte es nicht sein. Sie wollte unbedingt Mutter werden. Deshalb mußte sie sich jetzt zur Ruhe zwingen. Ausgeruht und gelöst mußte sie erscheinen, wenn sie sich den kritischen Sensoren der Diagnoseautomatik stellte. Sie mußte stark sein - so schwer dies auch fallen mochte. Nur die Starken hatten eine Chance.

Es gelang Judy sogar, jetzt etwas heiter zu erscheinen.

Sie warf einen Blick auf eine der überall aufgehängten Digitaluhren. Wenige Minuten nach fünfzehn Uhr. Die Hauptverkehrszeit flaute ein wenig ab. Auf diesem Stand würde der Verkehr für die nächsten beiden Stunden bleiben.

Der Zyklus war endlos, kannte weder Tag noch Nacht.

Allgemeine Arbeitszeiten waren gestaffelt - eben im Zweistundenrhythmus. Freie Tage gab es nicht für die Allgemeinheit, sondern im Wechsel nur für Einzelpersonen.

Bis zu wenige Stunden pro Tag mußte der Durchschnitts-Laboristo arbeiten. Manche nur wenige Stunden pro Woche. Die meisten waren allerdings arbeitslos und durften sich nicht mehr Laboristo (Einzahl) oder Laboristoj (Mehrzahl) nennen. Sie waren die Civiatanoj, und sie taten meist genauso beschäftigt wie die echten Laboristoj. Man konnte auf der Straße die eine Kaste nicht von der anderen unterscheiden. Aber das war durchaus so gewollt, um soziale Spannungen zwischen den beiden Hauptkasten klein zu halten.

Jede Stadt war ein fast autarkes Gebilde mit eigener Energieversorgung. Selbst von der Sonne hatte man sich weitgehend unabhängig gemacht. Denn Energieprobleme gab es nicht - seit das Genie Tipor Gaarson im Jahre 2052 seine Entdeckung publik gemacht hatte: den nach ihm benannten Gaarson-Effekt.

Öl und dergleichen war ungeheuer rar und kostbar und konnte aus diesem Grund nicht mehr zum Verbrennen benutzt werden. Als Rohstoffquelle durfte es bestenfalls in der Chemie dienen, denn es wurden dort eine Menge Substanzen benötigt, die sich nicht völlig künstlich herstellen ließen. Und der Import der meisten Stoffe von den Kolonien war von jeher zu aufwendig gewesen.

Nur wenige Wohnungen besaßen so etwas wie ein Fenster. Diese Wohnungen befanden sich in den beiden obersten Wohngeschossen, die für die höchstprivilegierten Laboristoj reserviert waren. Der Rest versteckte sich unterirdisch.

Der Begriff Tag und Nacht hatte nur für das Einzelwesen Bedeutung. Jeder richtete es sich in seiner Wohnung so ein, wie es sein Biorhythmus im Zusammenspiel mit seiner Arbeits- und Freizeit (die ja sowieso den Löwenanteil ausmachte) erlaubte.

Die einzelnen Stockwerke des zirka zweihundert Meter in der Höhe messenden Monuments wurden in Längs- und Querrichtungen von sogenannten Straßen unterbrochen. Daneben gab es viele Seitenverbindungen ohne Rollbänder, in denen nur Wohnungen lagen. Geschäfts- und Verwaltungsbezirke säumten die Hauptstraßen.

Versorgt wurden die einzelnen Wohnungen durch technisch sehr raffiniert ausgeklügelte Rohranlagen.

Endlich hatte Judy Hamilton die Medostation erreicht. Sie war für dieses Stockwerk zuständig, also Stockwerk zweihundertdreizehn Alpha und Beta. Die Zahl war eine Kodenummer und sagte nichts über die Anzahl der darunter oder darüber befindlichen Etagen aus.

Das breite Portal ließ Judy Hamilton eintreten.

Wenige Schritte hinter dem Haupteingang befand sich eine hermetische Sperre. Somit hielt sich Judy nun in einer Art Schleuse auf. Ohne weiteres konnte man die Sperre nicht passieren.

Das Portal schloß sich, und eine Automatenstimme fragte:

»Sie wünschen?«

Judy registrierte, daß ihre Hände feucht wurden. Die Rechte mit der Vorladung zitterte ein wenig. Die junge Frau entfaltete das Blatt.

In die sehr widerstandsfähige Folie waren ein paar Angaben eingestanzt, die speziell für den Automaten bestimmt waren und nur von diesem gelesen werden konnten.

Judy fühlte sich beobachtet und schaute zu den glotzenden Kameras hinauf, die jede ihrer Bewegungen festhielten. Angewidert steckte sie die Spezialfolie in den dafür vorgesehenen Schlitz.

Es dauerte nur Sekunden, da wurde die Folie wieder ausgespuckt.

Judy Hamilton griff danach. Gleichzeitig begann sich die Sperre zu heben.

Im selben Augenblick ertönte ein schrilles Alarmsignal. Judy wurde von schwachen Stromstößen getroffen, die nicht gefährlich, aber unangenehm waren, und zur Seite getrieben.

Erschrocken wirbelte sie herum.

Sie erkannte, was passiert war.


*


Es geschah etwa zur gleichen Zeit an einem anderen Punkt der Erde. Hier hatten sich zwei Männer getroffen, um Bedeutsames zu besprechen.

Und einer von den beiden würde das Treffen nicht überleben! Das hatte der andere so beschlossen, weil er es als einzigen Ausweg aus einem Dilemma ansah und weil er es sich durchaus leisten konnte, einen Menschen für immer verschwinden zu lassen, ohne daß es für ihn unbedingt Folgen haben mußte.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte der Gastgeber und betrachtete die finstere Miene seines Besuchers.

»Ich frage mich, was Sie vorhaben. Jetzt ist alles vorbereitet, und ich finde zum ersten Mal Zeit, darüber nachzudenken.«

Sein Gegenüber lachte gekünstelt.

»Ich hasse diese Welt und hasse das Leben, das ich mit achtzehn Milliarden anderen teilen muß. Und ich sehe es als meine Hauptaufgabe an, dies zu ändern.«

»Dazu müßten Sie alles zerstören und auf den Trümmern neu aufbauen. Ist es das wert? So schlecht geht es uns doch gar nicht, oder? Wir leben im fünfundzwanzigsten Jahrhundert, in einer Zeit des sozialen Fortschritts. Der Weltfriede ist seit Jahrhunderten Wirklichkeit, die eskalierende Kriminalität erheblich gedämpft, und die Völker der Erde schlossen sich zu einem Staatenbund zusammen. Die überwundene Katastrophe und die daraus resultierende Krise wurde glücklich überwunden, auch deshalb, weil die alten Machthaber rechtzeitig das Weite gesucht haben und somit die Erneuerung nicht stören, geschweige denn verhindern konnten. Jetzt endlich dürfen die Völker wieder die Weltregierung stellen, nach demokratischen Wahlen - und nicht mehr nach dem alten Machtprinzip der Weltkonzerne.

Die gewählten Vertreter der Völker bilden die neue Weltregierung, die mit nur ihr unterstellten Staatsorganen die allgemeine Ordnung aufrecht erhält.«

»Ja, das stimmt - wenn erforderlich, auch mit drakonischen Maßnahmen. Und damit sind wir bei den Schattenseiten angelangt. Es herrscht eine allgemeine Unzufriedenheit, geboren aus der Rolle, die das Einzelindividuum in der Massengesellschaft spielt. Da ist die Tatsache, daß man die über alle Maßen hohe Bevölkerungsquote einfrieren mußte. Zwangsläufig führte man eine drastische Geburtenkontrolle ein. Wer ein Kind haben will, muß dieses offiziell beantragen und eine Menge Peinlichkeiten über sich ergehen lassen, bis dem Antrag stattgegeben wird - oder auch nicht. Und darin liegt eines der größten Probleme unserer modernen Gesellschaft. Durch die strenge Kontrolle wird der Nachwuchs zu einem Privileg sondergleichen und durch das Verbot für die Masse der Bevölkerung zum praktisch Begehrenswertesten überhaupt. Solche Umstände müssen zwangsläufig zur Eskalation führen, zumal der Ausweg zu den Kolonien zur Zeit versperrt ist - was man wiederum der neuen Weltregierung anlastet.«

Der Besucher wuchs förmlich aus seinem Sessel hoch.

»Eine Eskalation, die von Ihnen gefördert wird!« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich begreife es erst jetzt.«

»Erst jetzt?«

»Ich war einer der Männer, die für eine Abhilfe gesorgt haben.«

»Sie sind wahrlich wahnsinnig. Haben Sie mich kommen lassen, um mir das alles zu sagen?«

»Das ist nicht wahr!«

Schreiend rannte der Besucher zur Tür und riß sie auf. Aber dieser Fluchtweg war versperrt. Ein Uniformierter bedrohte den Fliehenden mit gezückter Waffe.

»Damit kommen Sie nicht durch!«

Der Besucher warf sich nach vorn. Er wollte in seiner Verzweiflung dem anderen an die Kehle. Doch dieser brauchte dem Uniformierten nur einen Fingerzeig zu geben. Der machte mit seiner Waffe ein Ende.

Er wollte das Chaos über die Welt bringen - nachdem die vergangene Katastrophe das letztlich doch nicht geschafft hatte.