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Band 112

 

Ozean der Dunkelheit

 

Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Nachdem der Astronaut Perry Rhodan im Jahr 2036 auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, beginnt sich die Menschheit zu einigen. Eine Zeit des Friedens bricht an, die Terranische Union wird gegründet. Doch im Jahr 2049 tauchen beim Jupiter fremde Raumschiffe auf und greifen sofort an.

Rhodan setzt sich auf die Spur der Invasoren und stößt auf die Maahks. Diese Methanweltbewohner rüsten sich zu einem Feldzug gegen das mächtige Imperium der Arkoniden.

Um die Hintergründe dieser Bedrohung weiter zu erhellen, dringt Rhodan mit der CREST, seinem Raumschiff, tiefer ins All vor. Ein sogenannter Sonnentransmitter schleudert die Terraner in den Leerraum – weit außerhalb der Milchstraße. Hier werden sie von mysteriösen Fragmentraumschiffen angegriffen und müssen fliehen.

Auch das Team um Eric Leyden ist in der sternenleeren Weite jenseits der Milchstraße gestrandet. Die Forscher stoßen auf eine Anlage, die Unsterblichkeit verheißt, im Ozean der Dunkelheit ...

1.

Taui, 30. Mai 2049

Das Schlagen ihrer Schwingen

 

Das dröhnende Brausen raste so schnell heran, dass die eigenen Worte bald nicht mehr verstanden werden konnten. Und da waren sie. Die Tiere stießen hörbare Schreie aus und solche, die bis in den Ultraschallbereich reichten und nur noch teilweise als schrille, in den Ohren schmerzende Töne vernommen werden konnten. Doch dafür wurden sie umso heftiger empfangen – wie Faustschläge.

Obwohl die Forscher darauf gefasst gewesen waren, traf es sie wie ein Schock, und für eine Sekunde verharrten sie schreckerstarrt. Es mussten zwanzig, dreißig, nein, viel mehr Kalongs sein, die nun angriffen, die Menschen umschwirrten, nach ihnen schnappten und mit ledrigen Schwingen nach ihnen schlugen.

»Zusammen!«, brüllte Tuire Sitareh so laut, dass ihn alle einigermaßen verstehen konnten. »Waffen raus!«

Das Kommando rüttelte sie auf, alle handelten reflexartig. Das Team um Eric Leyden zog die Hand-Kombiwaffen, während weitere Befehle folgten, innerhalb von höchstens zwei Sekunden.

»Schwenken!«, schrie der Aulore als Nächstes. »Dauerfeuer!«

Sie mussten zuerst die Aktivierung suchen; zwar waren sie inzwischen mit der Funktion dieser Waffen vertraut, dennoch waren sie keine Soldaten und hatten nicht die entsprechende Übung, um alle Funktionen blind betätigen zu können. Doch dann hatten sie die Taste gefunden und hielten die Mündungen in die jeweils gleiche Richtung, damit sie sich nicht versehentlich gegenseitig erschossen.

Sie wichen den hektisch umherflatternden Nachtraubtieren aus, die noch unentschlossen schienen, ob sie zum Kontaktangriff übergehen sollten, stellten sich Rücken an Rücken, um einander Deckung zu geben, hielten nach oben, lösten die Sicherung und drückten ab.

Sie schwenkten nach Tuires Anweisungen jeweils von links nach rechts und holten bereits mit der ersten Salve ein Dutzend Kalongs aus der Luft. Dabei konnte kaum gezielt werden, allein die schiere Menge an Munition tötete die angreifenden Tiere.

Kurz innehalten, nachladen, weiterschießen, das nächste Dutzend herunterholen. Es blieb keine Zeit zum Nachdenken, alles ging ganz automatisch – und dann war es auch schon vorbei.

Zwei Minuten, mehr nicht, bis die Flattertiere sich abrupt zurückzogen und verschwanden, und mit ihnen das Rauschen. Genauso schnell, wie sie gekommen waren.

 

Rauch und Staub verzogen sich, das Echo der Schüsse verklang, sie waren allein.

Für einen Moment herrschte Schweigen, und die Menschen lauschten in die Dunkelheit hinaus. Hinter dem flackernden Lichtkreis, den das Lagerfeuer schlug, herrschte beinahe lichtlose Nacht – und Stille. Selbst der Wind schwieg und brachte weder die leisen Geräusche des Meeres noch Salzgeruch mit.

Die Forscher veränderten ihre Stellungen, gingen herum, um festzustellen, ob sie sich nicht getäuscht hatten, und blieben dann wieder stehen, ihre Silhouetten nur einseitig matt beleuchtet vom Feuerschein. Der eine oder andere rieb sich Arme, Beine oder auch das Gesicht, wo sie von den kinetischen Schreien »getroffen« worden waren.

»Ich glaube nicht, dass es das schon gewesen ist«, wisperte Belle McGraw so leise, dass sie garantiert nicht von der ganzen Runde verstanden werden konnte. Belle hoffte, dass diese kurze Äußerung nicht schon zu viel gewesen war, um die Gefahr wieder anzulocken.

Wie die berüchtigte Ruhe vor dem Sturm. Trügerisch. Eine Vorbereitung auf die Katastrophe.

Für den Augenblick hatten sie, wie beim ersten Angriff an diesem Morgen, die Kalongs vertrieben. Die Fernwirkung der Waffen und der plötzliche gleichzeitige Tod so vieler Artgenossen hatte die Tiere wohl verunsichert, aber das würde diesmal sicher nicht lange vorhalten. Die Flughunde waren auf der Jagd und damit ganz bestimmt nicht endgültig vertrieben. Vielleicht war dies zudem nur eine Vorhut gewesen, um festzustellen, wie stark die Beute war.

Das Feuer bekümmerte das nicht, es fraß gierig das hingeworfene Holz, das die Forscher mühsam zusammengesammelt und in einer Sandkuhle entzündet hatten, und präsentierte dafür die vielfältigsten, farbigen Flammen mit bis zu vierzig Zentimetern Höhe. Der halbe Durchmesser des Lichtkreises bis zu seinem ausfasernden Rand betrug dreieinhalb Meter, einen Trost vor der ungewissen Dunkelheit dahinter bildete dieser schmale Rahmen kaum.

Belle drehte langsam den Kopf und sah sich um, ohne ihre angespannte Haltung zu verändern. Waren sie noch alle da? Sie erblickte auf ihrer Höhe, auf der anderen Seite des Feuers, Eric Leyden, den Anführer ihrer Gruppe. Ein genialer Wissenschaftler mit seltsamen Marotten. Im Augenblick schien es, als wäre er im Stehen eingeschlafen, die Lider waren halb geschlossen und seine Miene völlig ausdruckslos. An seinem linken Arm war der Anzug aufgerissen und an den Rändern rot gefärbt von einer frischen Wunde.

Schräg hinter ihm, am Rand des Lichtbereichs, wachsam wie immer, Abha Prajapati. Er hatte eine Wunde am Bein davongetragen. Die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere bildete die besten Voraussetzungen für ständige Auseinandersetzungen zwischen Belle und Abha – obgleich oder gerade auch weil sie beide eine teils indische Ahnenreihe hatten.

Mit Eric stritt sowieso jeder und andauernd, doch zwischen Abha und ihr war das etwas anderes. Manchmal ging Belle das gehörig auf die Nerven; andererseits aber wusste sie, dass ihr etwas fehlen würde, sollten die Frotzeleien aufhören. Ganz abgesehen davon, dass sie sich auf den Kollegen verlassen konnte – wie auf jeden der kleinen Truppe, denn sie hatten in der kurzen Zeit sehr viel gemeinsam durchgemacht. Das schweißte zusammen, ob man sich privat nun nahestand und sich mochte oder nicht. Sie waren alle Wissenschaftler – und Profis.

Wie Luan Perparim, die nach Belles Ansicht Eric eine Menge voraushatte. Sie war eine überaus kompetente Frau mit zweifachem Doktortitel. Luan war alles, was Belle nicht war – gelassen, selbstbewusst, schlank und sportlich. Immerhin, Belle konnte getrost von sich sagen, dass auch sie über ein kluges Köpfchen verfügte. Auf ihrem Fachgebiet machte ihr so leicht keiner was vor, auch ohne doppelten Doktor. Belle hatte durchaus versucht, Luan zu hassen, aber vergeblich. Es war ausgeschlossen, Luan nicht zu mögen. Sie bildete den ruhenden Pol der »Chaos-Truppe«, sie war ein Mensch, den man gernhatte, ob man wollte oder nicht. Klug, gebildet und schön, und unvoreingenommen nett noch dazu.

Belle musste innerlich über sich selbst lachen, woran sie in diesen Sekunden der Panik dachte. Reine Ablenkung, um sich den Moment schönzudenken, mit fröhlich flackernden Flammen und der Erinnerung an den Klang von Lagerfeuerliedern früherer Zeiten. Den Schmerz ignorieren, der an einigen Stellen pochte. Irgendetwas musste sie tun, während sie dastand, horchte und wartete. Es gab sonst nichts, sie waren ausgeliefert, befanden sich auf dem Präsentierteller.

Luan hatte sich mehr in den inneren Kreis des Feuers zurückgezogen. Sie war körperlich fit, aber hauptsächlich – wie jeder im Team – Wissenschaftlerin. Ein ausgiebiges Überlebens- und Kampftraining hatte bei keinem von ihnen auf dem Lehrplan gestanden. Geschweige denn nach ihrer Berufung in diese Gruppe. Wissenschaftler gerieten nicht in Gefahr, Punkt.

Bei ihnen passte das Klischee allerdings nicht. Und das sprichwörtlich andauernd.

Zuerst beim Jupiter, auf dem Mars, anschließend wieder im Jupiter, dann auf Sede, und nun waren sie erneut verschollen, außerhalb des Rettungsbereichs der CREST oder welchem terranischen Schiff auch immer. Sie hatten bewusst das Risiko auf sich genommen, an Bord eines fremdgesteuerten Raumschiffs zu gehen, und nun hatte die DROP sie hierhergebracht, wo auch immer dieses Hier sein mochte.

Ins System der Doppelsonne mit dem neuen Taufnamen Wepesch und dem einzigen Planeten Taui. Hor – das war Tauis Mond und durfte daher nicht fehlen – Wepesch Taui, also bitte, wenn Belle eines nicht mehr hören konnte, dann diesen Namen! Aber sie hatte ja keiner gefragt. Fragen wollen. Stattdessen hatten Abha und Luan die Namensgebung unter sich ausgemacht und Erics Vorschlag »Leydensystem« rundheraus abgeschmettert. Hierin hatte der Exzentriker ausnahmsweise mal nachgegeben.

Belle hielt in ihrem gedanklichen Monolog inne, lauschte und spähte in die Dunkelheit. Ein kurzer Blick auf den Chrono zeigte, dass die verstrichene Zeitspanne zwischen dem Angriff und dem Rückzug nur geschätzt werden konnte, da auch der Zeitmesser ausgefallen war.

Eine Minute. Höchstens. Gedanken waren sehr schnell, gerade wenn sie so vollgefüllt waren wie diese.

Belle lenkte sich weiter ab; das Warten wurde unerträglich, und ihre Angst steigerte sich. Aber sie musste professionell bleiben. Klar denken. Am Leben bleiben.

Ja, sie hatten wieder einmal großartige Entdeckungen gemacht, aber ob sie diese jemals würden mit anderen teilen können, war ebenso »wieder einmal« fraglich.

Obwohl sie seit den Ereignissen beim Jupiter praktisch ständig um ihr Leben kämpften, waren ihre Handlungen immer nur Improvisationen gewesen und hatten sie im Hinsicht auf ihre Außeneinsatzkompetenzen kaum weitergebracht. Dazu brauchte es schlichtweg professionelles Training.

Belle spürte, wie ihr ein Schweißtropfen die Schläfe hinabrann, obwohl es nächtlich kühl war und das Feuer, das ohnehin nur eine Seite erwärmte, allmählich herunterbrannte. Sie wischte mit dem Handrücken darüber und bemerkte mit einem kurzen Blick, dass es Blut war. Die Wirkung eines Ultraschall-Schreis, vergleichbar mit einem heftigen Faustschlag durch einen wie mit Sandpapier aufgerauten Handschuh, der nicht nur eine Schwellung, sondern auch Abschürfungen erzeugte.

Sie blinzelte und schüttelte leicht den Kopf; ihr war etwas schwindlig.

Wie lange noch? Um nicht der Versuchung zu erliegen, den anderen ihre Angst zu offenbaren, flüchtete sie sich wieder in Gedanken und suchte im Stillen nach einem Ausweg.

Wo war sie doch gleich stehen geblieben? Ach ja, die Waffen, richtig.

Die Waffen waren kombiniert und entsprachen durch ihre Handlichkeit dem neuesten Standard, nur leider nützte das nichts, wenn innerhalb dieser merkwürdigen Zone, in der sich das Team aktuell befand, keinerlei energetische Technik funktionierte! Innerhalb eines Radius von drei Kilometern waren sie auf ihre bloßen Hände angewiesen. Und nicht nur das, es kam obendrein zu seltsamen Halluzinationen, als würden sich verschiedene Zeitebenen verschieben oder überlappen.

Der Aulore hatte nach einem Erinnerungsschub enthüllt, dass es keine Halluzinationen wären, sondern Auswirkungen von »Chronofrakturen«, ausgelöst durch Zeitbomben, die er selbst gezündet hatte. Warum, wusste er nicht. Die Schäden zeitigten auch nach vierhundert Jahren noch Auswirkungen, weil die Chronofrakturen sich wellenförmig sowohl Richtung Zukunft als auch Richtung Vergangenheit ausbreiteten. Wie weit die Wirkung reichte, war ungewiss.

Aus diesem Grund funktionierte die Anzugtechnik nur noch teilweise, und auch das nur ab und zu, höchstens sekundenweise. Der Kombistrahler konnte eingesetzt werden, aber nur mechanisch.

Was nützte es also, endlich einmal an alles gedacht zu haben – wenn es gar nicht einsetzbar war?

Es waren diese Momente, die Belle verfluchte. Und dabei am meisten sich selbst hasste, weil sie sich auf dieses blödsinnige Abenteuer mit einem egomanischen Wissenschaftler eingelassen hatte. Aber hinterher, wenn sie es überlebt hatte und sich wieder in Sicherheit befand, würde sie wahrscheinlich verdammt stolz auf sich sein und auf die Ergebnisse, die sie mitgebracht hatte.

Man konnte indes alles überreizen. Zum wievielten Mal stand sie innerhalb weniger Wochen am Rand ihrer Existenz?

War es nun so weit?

Die hiesigen Kalongs glichen den fast ausgestorbenen Flughunden auf der Erde und hatten deshalb von Abha diese Bezeichnung erhalten. Die Flughunde der Heimat waren kleine, niedliche, Früchte verschlingende Wesen. Die Tiere hier auf Taui hingegen waren einen Meter hoch, wogen etwa fünfzehn Kilo und verfügten über eine Flügelspannweite von fast fünf Metern. Und sie waren nachtaktive Karnivoren. Fleisch und Blut. Das fanden sie lecker.

Es gab keine Deckung in dieser Ebene, die Forscher hatten auch kein Zelt oder einen ähnlichen Schutz, sondern präsentierten sich den Beutejägern völlig offen.

Belle rieb sich erneut die pochende Stirnwunde, sie wurde müde ...

Moment! Wo war Tuire Sitareh? Belle konnte ihn innerhalb des Lichtkreises nicht mehr sehen. Wann hatte der Aulore sich davongemacht? Natürlich nicht aus Feigheit, dessen war Belle sicher, doch es konnte sein, dass er wieder einen seiner Anfälle hatte. Bewusstseinsstörungen, Erinnerungsschübe. Dieses Fremdwesen, das so menschlich aussah und sich als »Aulore« bezeichnete, war kaum einzuschätzen. Ein explosiver Unsicherheitsfaktor.

Damit passte er im Grunde gut in diese seltsame Truppe. Trotzdem ... was war mit ihm los? Brauchte er Hilfe? Sollte man nicht nach ihm suchen?

Erics Aufgabe, er war der Chef. Aber der stand weiterhin scheinbar verträumt da. Die anderen beiden, Abha und Luan, die an sich pragmatisch waren und nach der Vernunft handelten, rührten sich ebenfalls nicht und schienen nicht über einen Begleiter nachzudenken, der nicht zum Kernteam gehörte.

Belle schluckte. War sie die Einzige, die sich Sorgen machte? Die ... Angst hatte? Oder befand sie sich auf einmal in einer anderen Zeitlinie, gefangen in einer Chronofraktur, dass sie deshalb ihre Begleiter so regungslos wahrnahm?

War alles schon geschehen, und sie steckte immer noch fest in der Schleife?

Hermes.

Der Kater. Ein Haustier, das immer mit dabei war. Inzwischen regte sich niemand mehr darüber auf, denn ... der Taschentiger hatte anscheinend eine Aufgabe, und sei es auch nur, Erics Verstand in geraden Bahnen zu halten und ihn auf den richtigen Weg zu führen. Ob eine mentale Verbindung zwischen ihnen bestand oder nicht – Hermes hatte bisher positiv zu den Einsätzen beigetragen, und er war auch nicht im Weg, schien immer zu wissen, was er zu tun hatte. Fast wie ein Hund. Auch emotional glättete er oft die Wogen durch sein Schnurren und Um-die-Beine-Streichen, er beruhigte, ja befriedete.

Und ist jetzt genauso wenig im Feuerkreis anwesend wie Tuire.

Belle wusste, wie mutig der Kater war. Katzen waren im Gegensatz zu Hunden Lauerjäger – und zwar im Verborgenen. Und Hermes war nicht da.

O weh, o weh, o weh, dachte Belle, und ihr Puls schnellte impulsartig hoch.

Da! Belle hielt den Atem an. Sie war sicher, etwas gehört zu haben, ein leises, sich näherndes Geräusch.

 

Die Geologin und Astronomin drehte den Kopf und erkannte, dass in die anderen längst Bewegung gekommen war. Sie hatte also tatsächlich etwas verpasst! Alle schrien durcheinander und hantierten hektisch an ihren Waffen.

Belle riss ihr eigenes Kombigerät hoch und tastete nach dem Ersatzmagazin, um nachzuladen, was sie sträflicherweise nicht gleich getan hatte.

Dann wusste sie wieder, warum. Sie hatte keine Munition mehr. Alles verschossen.

»Belle!« Luan stand plötzlich neben ihr und rüttelte sie an der Schulter. »Bist du endlich wieder bei dir?«

»Ja ... Ja ...«, murmelte Belle verstört und strich eine Haarsträhne zurück. »Entschuldige, war ich lange weggetreten?«

»Nein, bestimmt nicht mehr als geschätzte zwei Minuten. Aber du hast wie zur Salzsäule erstarrt dagestanden und auf nichts reagiert.«

»Den Eindruck hatte ich von euch auch!«

»Wirklich?« Nun wirkte Luan irritiert. Sie blickte auf ihren Chrono und hämmerte darauf herum. »Stimmt die Anzeige nun oder nicht?«

Belles Schwindel war völlig verflogen. »Wahrscheinlich waren es nur 8,42 Sekunden, in denen wir gefangen waren«, meinte sie.

»Möglich!« Eric rannte an ihnen vorbei. »Aber wen interessiert's, wenn hier gleich alles zusammenbricht? Wo ist dieser verdammte Aulore? Und Hermes?«

Belle blinzelte irritiert, es kam ihr so vor, als habe sie Eric schon einmal so gesehen, irgendwann an diesem Tag, und gedacht, Eric würde vor einem Kalong fliehen. Sie machte eine wischende Handbewegung, unwichtig. »Ich habe keine Munition mehr!«, bekannte sie.

»Ruhe!«, zischte Abha so scharf, dass seine drei Kollegen zusammenfuhren und verharrten. Dann sahen sie es auch.

 

Am Rand des Lichtscheins bewegte sich etwas. Kam näher. Ein Kalong. Unbeholfen stakste er, vorn auf die kleinen, aber mit scharfen Krallen bewehrten Greiffinger gestützt. Die gewaltigen Schwingen waren hochgestellt, die Spitzen überkreuzten sich über seinem Kopf. Er hielt inne, hob den hundeartigen Kopf, zog die Lefzen zurück und fauchte die Menschen mit geblecktem Gebiss an.

Abha riss den Waffenarm hoch und drückte mehrfach den Abzug.

Nichts.

Der Kalong zischte und verschwand abrupt in der Dunkelheit, schneller, als er herangekrochen war.

»Wunderbar, Abha!«, sagte Eric und meinte genau das Gegenteil. »Nun wissen sie es!«

»Ihr habt auch keine Munition mehr?«, flüsterte Belle.

»Warum hast du überhaupt geschossen?«, fragte Luan. »Er hat uns doch nicht angegriffen!«

»Ich wollte ja gar nicht, aber es ging mit mir durch, es war wie ein Reflex!«, gestand der indischstämmige Exobiologe zerknirscht, mit wütendem Gesichtsausdruck. »Völlig idiotisch, ich wusste doch, dass ich gar nichts mehr habe. Tut mir leid, gerade mir sollte das nicht passieren ...«

»Ach, es spielt im Grunde keine Rolle«, winkte Eric ab. »Er hätte vermutlich sowieso angegriffen, um festzustellen, wie wehrhaft wir noch sind.«

Belle war konsterniert. »Du meinst, er hätte sich geopfert?«

»Ja, so was kommt schon mal vor, wenn im Verband gejagt wird«, bestätigte Abha. »Einer testet, ob der Angriff Sinn hat oder nicht. Schließlich muss ja ein Anfang gemacht werden.«

»Sch-scht ...«, machte Luan und hob den Finger. »Hört ihr ...?«

Es war zuerst nur ein fernes Rauschen, wie das nicht weit entfernte Meer. Und was da heranrollte, war auch eine Flut, jedoch nicht die des Wassers. Rasch kam sie näher und zersplitterte in Hunderte, wenn nicht Tausende Flügelschläge.

2.

CREST, 31. Mai 2049

Erinnerungen

 

An: Maéri. Von: Tom. Datum: 31. Mai 2049.

»Liebe Maéri, ich habe keine Ahnung, wann und wie du meine Nachricht erhalten wirst, weil ich sie jetzt gar nicht abschicken kann. Vermutlich erst nach meiner Rückkehr. Vielleicht lese ich sie dir auch vor. Oder ich vernichte sie vorher, weil ich nur kindisch daherquatsche.

Oder ich bin tot. Ich bin nämlich in großer Gefahr. Schon wieder. Wirklich! Aber diesmal bin ich nicht entführt worden, und ich bin nicht allein, sondern ich befinde mich in der großen CREST, in der ich mich sicher fühlen sollte. Aber ... genau: Aber!

Wir sind im Leerraum und haben einen Angriff von zwei ›Fragmentraumern‹ überstanden. Die sind uns haushoch überlegen, wie ich mitgekriegt habe (Conrad wird hoffentlich nie merken, wie leicht ich mich ins System einhacken kann), aber trotzdem haben wir überlebt, weil wir nämlich abgehauen sind, und zwar so zackig wie möglich. Diese Alien-Raumschiffe werden so genannt, weil sie zunächst wie riesige, schrundige Würfel daherkommen, aber in haufenweise Einzelteile zerfallen können, die wiederum unabhängige Raumschiffe sind. Klasse, was? Dad hat den Begriff geprägt, und Professor Oxley hat's mir erklärt. Der poltert zwar oft, ist aber gar kein so übler Kerl. Mir gefällt auch, dass er genauso gern nascht wie ich. Machen wir natürlich nicht öffentlich, das ist unser Geheimnis.

Mutter war während des Angriffs außer sich, weil die EXPLORER nämlich noch nicht zurück war, doch dann hat Vater sich gemeldet und gesagt, dass sie unterwegs seien. Seitdem ist Mom böse auf Dad, weil er überhaupt mit in den Außeneinsatz nach Uno gegangen ist, aber sie sagt natürlich nichts. Ich weiß nicht, ob er es überhaupt merken würde, so beschäftigt, wie er die ganze Zeit ist, aber ich sehe es ihr an, wenn sie sauer ist, auch wenn sie keine Miene zu verziehen scheint. So guckt sie nämlich, wenn sie rauskriegt, dass ich heimlich losgezogen bin, ohne Sicherheitsbegleitung ... du weißt schon. Zum Glück erwischt sie mich selten. Wenn die wüsste, wie oft ich das mache! Und ich hoffe, sie kriegt nie raus, dass ich darüber an dich schreibe, ist doch eigentlich alles streng geheim, weil ich ja soo prominente und kreuzwichtige Eltern habe, die ständig die Welt retten und all so was.

Versteh das nicht falsch, ich mag meine Eltern sehr, und ich finde es toll, was sie machen, und bewundere sie. Aber es ist nicht leicht für mich, und manchmal wünschte ich mir, wir wären nur ganz einfache Leute, Handwerker oder so was, und Mom wäre auch keine Arkonidin und ich nicht ... na ja, du weißt schon. Man sieht es mir fast nicht an. Aber ein bisschen eben doch. Das finden nicht alle gut, vor allem wegen der Besatzungszeit, die noch nicht so lange her ist, und nicht alle wollen, dass die Arkoniden jetzt unsere Freunde sein sollen. Ich bekomme mit, wie sie auf meinen Dad schimpfen, als Kolli... Kollo... na, eben als jemanden, der, wie sie sagen, ›vergisst, wohin er gehört, und sich anbiedert‹. Sie sagen noch andere Sachen, aber die wiederhole ich nicht, falls Mom doch auf meine Briefe an dich rankommt. Das würde ihr nur wehtun. Und Dad auch. (Wenn ich groß bin, gebe ich denen allen eins drauf, dass sie nicht mehr so schnell aufstehen.)

Deswegen soll ich ja auch nicht allein und ohne Schutz raus, aber ich will nicht eingesperrt sein und dauernd in irgendwelche Pflichten eingespannt. Mom und Dad haben eh so wenig Zeit für mich. Und außerdem wüsste ich sonst gar nicht, wie es ›da draußen‹ überhaupt aussieht. Weißt du, hier an Bord hören sie alle auf Dad und bewundern ihn und so, und auf Mom natürlich auch, da redet keiner schlecht über sie. Aber das ist was anderes, wir sind ja auch im All unterwegs und aufeinander angewiesen, und die Leute wurden speziell für diesen Job ausgesucht.

Aber daheim ... ist das einfach anders. Das wissen die beiden bloß nicht, weil sie auf einer ganz anderen Ebene sind. Ich hab darum fest vor, dagegen was zu unternehmen. Und bis dahin muss ich aufpassen, dass mir meine Eltern nicht draufkommen. Die wissen davon nichts, weil sie immer so viel zu tun haben.

Ist echt nicht so einfach, etwas vor Mutter geheim zu halten. Andererseits, sonst könnte sie auch nicht Botschafterin sein, oder? Der Titel klingt nach nicht viel, aber ich weiß, dass Mom mit allem zu tun hat, was nicht öffentlich werden darf, da geht's nicht nur um Händeschütteln und Partys.

Oh, ich muss Schluss machen. Gerade kam die Durchsage, dass wir eine Transition durchführen, vermutlich, um diese Gigantwürfel endgültig loszuwerden. Dad ist nämlich vor einer halben Stunde mit der EXPLORER eingeschleust worden, und jetzt machen wir uns vom Acker.

Ich wollte Vater gleich begrüßen, aber wieder mal war alles hochwichtig und streng geheim und ›nichts für Achtjährige‹, aber der Prof hat mir auf unserer geheimen Schokoladenfrequenz zugeflüstert, dass Vater jemanden mitgebracht hat. Und der Prof hat auch noch gesagt, dass etwas ganz Schlimmes passiert sei, dann war Schluss.

Deswegen hab ich dir jetzt geschrieben, weil ich ziemlich sauer war und das jetzt loswerden musste. Nicht mal in die Zentrale durfte ich, Zimmerarrest, ja, so nenne ich das, die brauchen das gar nicht schönreden von wegen ›Schutz‹ und so.

Ich werd mal schauen, dass ich nach der Transition bei Mutter vorbeischaue und sie überrede, gemeinsam zu Vater zu gehen. Erstens mal hab ich als Sohn das Anrecht, mich über seine wohlbehaltene Rückkehr zu freuen (das hab ich schön gesagt, nicht wahr? Hab ich aus einem Buch), und außerdem können wir so rauskriegen ... oder ich zumindest ... wen er mitgebracht hat und was da Schlimmes passiert ist. Ich werde dir berichten.«

 

Er war nur ein kleines Ding, kaum über einen Meter groß und plump. Die kurzen Arme endeten in vier beweglichen Greifzangen, auf der Brustplatte befanden sich zwei schwarze Vertiefungen, hinter denen sich vermutlich so manche Geheimnisse verbargen. Der Rumpf war auf einer breiten Basis verankert, mit der sich der kleine Roboter zumeist wenige Zentimeter über dem Boden schwebend bewegte.

Er sah alt und schäbig aus, seine ursprünglich weiße Außenhaut war grau, stellenweise wie von Rost und dicken Krusten überzogen, mit zahlreichen Schrammen und Beulen.

Tim Schablonski hatte ihn sofort, noch während des Notstarts der Korvette, in einen Fesselschirm gehüllt, der jegliche Bewegung unmöglich machte. Der Roboter hatte nicht dagegen protestiert, er hatte auch nicht versucht, sich zu befreien. Nachdem er sich vorgestellt hatte mit »Ich bin Kaveri« und seiner anschließenden Frage »Aber wer seid ihr?«, hatte er, seit der Schirm aktiviert worden war, geschwiegen.

Wie die an Bord befindlichen Menschen auch, aber aus anderem Grund.

Perry Rhodan hatte sich sofort nach der Einschleusung der EXPLORER in die CREST mit Conrad Deringhouse in Verbindung gesetzt. Der Kommandant hatte unverzüglich Rhodans Vorschlag zugestimmt, eine Transition über hundert Lichtjahre durchzuführen, um sicherzugehen, dass die unbekannten Fragmentraumer die CREST nicht sofort wieder aufspürten.

Sie brauchten Zeit. Um sich zu sammeln, wiederzufinden, die Erkenntnisse zu verarbeiten, sich mit dem kleinen Roboter zu beschäftigen und das weitere Vorgehen zu planen.

Ungestörte Ruhe war dafür notwendig, denn allen war klar, dass sie in einem Ameisenhaufen herumgestochert und dabei den Ameisenlöwen geweckt hatten.

Die schlimme Nachricht, dass Amanda Heikkinen auf Uno umgekommen war, und das auch noch kurz bevor sie die Korvette erreicht hatte, hatte auf der CREST schnell die Runde gemacht.

Tiefe Betroffenheit herrschte allerorts, und die meisten wussten nicht so recht, wie sie damit umgehen sollten. Beileidsbekundungen trafen in der Zentrale ein, verbunden mit der Bitte, diese an Amandas Familie weiterzuleiten.

Perry Rhodan hatte nach einer Schweigeminute zum stillen Gedenken das Team von der EXPLORER vorerst freigestellt; er selbst konnte sich keine lange Trauer gestatten. Es ging um die Sicherheit aller an Bord der CREST. Die Fragmentraumer hatten sich als technisch weit überlegen herausgestellt, und niemand wusste, wie viel Zeit den Menschen blieb, bevor sie erneut entdeckt wurden. Der Protektor hoffte darauf, dass der kleine Roboter, der bei ihnen Asyl gesucht hatte, würde Aufschluss geben können, mit wem man es überhaupt zu tun hatte.

Der Schirm um den Roboter blieb aktiviert, der wiederum schien sich völlig in sich zurückgezogen zu haben. Er sprach nicht, und das »Gesichts«-Oval an der Vorderseite des Kopfes zeigte eine glänzende, schwarze Fläche. Widerstandslos ließ der »Gast« sich in die wissenschaftliche Station transportieren, in Professor Oxleys Bereich. Er wurde in ein Labor gebracht, das höchsten Sicherheitsstandards entsprach und komplett abgeschottet werden konnte. Sämtliche Personen verließen den Raum, der verriegelt wurde. Anschließend wurde der Fesselschirm abgeschaltet und man nahm erste Messungen vor. Wie es aussah, war der Roboter nicht als getarnte Bombe an Bord gekommen.

Und das machte er auch deutlich. Kaum war der Schirm weg, aktivierte sich sein schwarzes Gesichtsfeld, und er zeigte ein angedeutetes menschliches Gesicht, ähnlich einem Strichmännchen, mit einem freundlichen Lächeln.

»Ich bin Kaveri«, wiederholte er mit Kinderstimme seinen ersten Satz bei der Begegnung auf Uno. »Ich bin Freund.«

Rhodan schaltete die Sprechanlage ein. »Hast du dir den Namen gegeben?«

»Aber nein. Ich habe eine Identifikationsnummer, wie alle.«

»Und wie lautet die?«

»Das darf ich dir nicht sagen.« Die Stimme wechselte zu Bass. »Es ist gut, dass ihr die Verwirrten zurückgelassen habt! Gefährlich sind die. Sehr gefährlich.«

»Wer hier verwirrt ist, möchte ich wissen«, murmelte Oxley, der neben Rhodan stand, die holografisch angezeigten Messdaten studierte und ab und zu Eingaben machte.

»Wer hat dir dann diesen Namen gegeben?«, fragte Rhodan weiter.

»Die Liebenswerte«, antwortete der Roboter mit verträumter Frauenstimme. Und dann, mit täuschend echter Tonlage, die Rhodan sofort wiedererkannte und ihm einen Stich ins Herz versetzte: »Amanda.«

Der Protektor presste die Lippen zusammen. »Amanda Heikkinen? Sie war in unserem Team.«

»Ja? Nein? Ich auch. Freund!«, quäkte Kaveri. Sein Fortbewegungsmodul aktivierte sich, und er schwebte knapp über dem Boden durch den Raum. Vor der nach beiden Seiten transparenten Scheibe verhielt er, flog hoch bis zur Decke und kam langsam wieder herab, bis er mit Rhodan auf Augenhöhe war. »Bist du auch Freund?«

»Ja, selbstverständlich«, antwortete der Angesprochene, ohne zu zögern. »Mein Name ist Perry.«