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Band 117

 

Exodus der Liduuri

 

von Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Nachdem der Astronaut Perry Rhodan im Jahr 2036 auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, einigt sich die Menschheit – es beginnt eine Zeit des Friedens. Doch im Jahr 2049 tauchen beim Jupiter feindliche Raumschiffe auf. Rhodan verfolgt die Angreifer und entdeckt: Es sind Maahks, und sie planen einen Krieg gegen das Imperium der Arkoniden.

Rhodan spürt dieser Gefahr nach; in der Folge verschlägt es ihn mit seinem Raumschiff CREST in den Leerraum außerhalb der Milchstraße. Er begegnet einer aggressiven Roboterzivilisation – den Posbis.

Um zu verhindern, dass sie die gesamte Milchstraße attackieren, sucht Rhodan Verbündete. Dabei gerät er mitsamt der CREST in die Fänge einer Splittergruppe der Posbis. Die Nabedu sind mit mörderischem Hass auf alles organische Leben erfüllt und drohen, den Untergang der Erde herbeizuführen ...

1.

22. Juni 2049, NEMEJE

 

Perry Rhodan verharrte für einen Moment wie gelähmt. Was hatte Aashra, der finstere zehnte Nabedu mit dem unheimlichen, rot leuchtenden Auge, da gerade gesagt?

»Du solltest dich freuen, Perry Rhodan. Ich bringe dich nach Hause ...«

Obwohl der Urposbi ungeachtet seines Plasmaanteils sicherlich keine Ahnung davon hatte, was Hohn bedeutete, konnte das nicht anders interpretiert werden.

Denn gemeint war damit: Die von den Posbis übernommene CREST sollte mit der planetenzerfetzenden Bombe Bujun bestückt werden, und der Weg des Schiffs sollte ohne Umwege zur fast 300.000 Lichtjahre entfernten Erde führen. Um sie zu erobern. Und anschließend sollte es weiter nach Achantur gehen, wohin vor mehr als fünfzigtausend Jahren »die Schöpfer« geflohen waren, die geheimnisvollen Liduuri, die nach Aashras Ansicht für ihren Hochmut bestraft gehörten.

Rhodans Gedanken rasten, während sein Körper wie eingefroren stehen blieb. Das Schott zur Zentrale der NEMEJE schloss sich soeben hinter ihm, während eine Phalanx erwachter Nabedu ihn und seine Begleiter erwartete.

Was konnten sie tun? Die Posbis hatten den Menschen nicht einmal die Waffen abgenommen – lediglich ihre Kampfroboter waren desaktiviert worden und in der Schiffszentrale zurückgeblieben. Gegenwärtig waren die irdischen Waffen ohnehin völlig nutzlos, von Aashra stillgelegt. Noch war nicht absehbar, über wie viele Fähigkeiten der Nabad, der Anführer der Nabedu, verfügte, doch das Bisherige war schon beeindruckend genug. Im negativen Sinne. »Nabad« bedeutete übersetzt »Gefahr« und »Nabedu« so viel wie »schlecht, übel, böse«. Nomen est omen im wahrsten Sinne des Wortes.

Bevor Rhodan auch nur ansatzweise überlegen konnte, welche Chancen zur Flucht bestanden, gab es einen so lauten Knall, dass selbst die hartgesottenen Soldaten Schablonski und Rainbow zusammenfuhren. Tani Hanafe duckte sich mit schreckgeweiteten Augen, und auch Rhodan zuckte unwillkürlich zurück. Dann begriff er, dass es kein Schuss gewesen war, und als Nächstes, dass Aashra und seine Artgenossen regungslos erstarrt waren.

Genau wie zuvor Atju und Kaveri, die nun jedoch unvermittelt wieder putzmunter wurden.

»Auf geht's!«, krähte Kaveri und sauste los.

»Worauf wartet ihr?«, blubberte Atju.

Rhodan hatte die Schrecksekunde überwunden. »Rainbow, Rückendeckung!«, befahl er, und zu Schablonski: »Sie gehen zusammen mit Hanafe in der Mitte, ich folge als Erster unseren Freunden.«

Die beiden Urposbis, vor gut fünfzigtausend Jahren als Nummer eins und Nummer zwei erschaffen, waren schon einige Meter voraus und beschleunigten zusehends. Rhodan und seine Leute mussten sich beeilen, um an ihnen dranzubleiben.

Die Menschen rannten los, den kleinen Robotern hinterher. An der ersten Gangkreuzung öffnete Atju ein Schott, das statt zum Hangar tiefer ins Schiffsinnere führte, und spornte die Terraner an, so schnell wie möglich zu folgen. Der Anführer der rebellischen Maácheru, sonst eher düster und misstrauisch wirkend, war nun nicht minder hektisch wie sein verspielter, sanfter »Bruder«.

»Wie habt ihr das gemacht?«, rief Rhodan, nachdem sich das Schott hinter ihnen geschlossen hatte und sie bereits in den nächsten Gang abbogen. »Was habt ihr gemacht?«

»Nicht reden, rennen!«, rief Kaveri. »Oder schweben, fliegen, na ja, was auch immer!«

»Und das so schnell und weit wie möglich«, rasselte Atju schlürfend. »Die Starre wird nicht lange vorhalten.«

»Sie sind orientierungslos, aber nur kurz«, ergänzte Kaveri. »O weh, o weh, jetzt wird Aashra megasauer sein ...«

»Das war er doch schon immer.«

»Aber jetzt ist er nicht mehr Bruderfreund, sondern Bruderfeind!«

»Auch das war er schon immer.«

Rainbow rief von hinten: »Warum habt ihr ihn dann geweckt, verdammt noch mal?«

»Weil er unser Bruder ist und wir ihn gegen Anich brauchen«, antwortete Atju. Und fügte mit einem verschleimten Hustengeräusch, das vielleicht Verlegenheit ausdrücken sollte, hinzu: »... dachte ich.«

Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Hatte noch nie funktioniert. Aber diese Erfahrung besaßen die Posbis natürlich nicht und hatten die Möglichkeit deshalb nicht berechnen können. Roboter mit einer biologischen Komponente waren ganz offensichtlich nicht unfehlbar. Hinzu kam, dass die Taal-Seuche sie langsam, aber sicher von innen her wie ein Krebsgeschwür zersetzte und ihren Verstand in den Wahnsinn trieb. Taal – der Fluch der Allianz, ein Virus, das gezielt und mit zerstörerischer Wirkung Halatium und durch Halatium veränderte Materialien attackierte.

Nach Aashras erstem Angriff auf Anich hatte die Zentralentität zurückgeschlagen und den Nabad sowie seine Anhänger auf der NEMEJE in Stasis versetzt. Nicht vernichtet, denn nicht einmal in diesem Fall kam das Zerstören wertvoller Ressourcen infrage.

Anich, das planetenumspannende Plasma, zugleich Kind der Urposbis und Mutter aller Nachfolgenden, hatte durch regelmäßigen Teilaustausch der Bakmaátu-Plasmakomponenten den Fortschritt des Taal bei den Posbis aufhalten können. Doch leider war sie durch ihre eigene Verseuchung, da sie aus infiziertem Gewebe stammte, größenwahnsinnig und hasserfüllt geworden. Anich verlangte unbedingte Unterwerfung von »ihrem Volk« und wollte alles »unwahre« organische Leben vernichten.

Deshalb hatte Atju fliehen müssen und war zum Rebellenführer geworden, im vollen Bewusstsein, dass damit seine Lebensfrist gezählt war. Er konnte nicht mehr am »Habal« teilnehmen und würde unausweichlich eines Tages dem Taal vollständig zum Opfer fallen.

Anich erschien als die potenziell größere Gefahr, das zumindest hatte Atju angenommen, als er sich entschloss, Aashra und die übrigen hundertfünf Brüder nach der Vernichtung seines Rebellenstützpunkts zu erwecken. Doch offenbar hatte das Taal auch während der Stasis weiter in dem Nabad gewütet und ihn noch mörderischer werden lassen.

Atju hatte durch dieses nicht ganz logische Handeln etwas gezeigt, das man eigentlich nur organischen Wesen zusprach: Hoffnung. Die Hoffnung, dass Aashra letztlich zu bekehren war und dass durch seine Unterstützung Anich aufgehalten, wenn nicht ebenfalls bekehrt werden könnte.

»Mit Vernunft ist dem jedenfalls nicht beizukommen!« Kaveri, der vorausflog, verharrte abrupt und kam eilig wieder zurück. »Falsch! Falsch! Da entlang!« Und verschwand in einem anderen Gang.

Die Posbis hatten den alten Liduurikugelraumer kaum modifiziert. Sie hatten lediglich alles »Überflüssige« entfernt, das jemals auf schöngeistige Wesen wie die Liduuri hingewiesen hatte, sodass das Innere des Schiffs nun kahl und von tristem Grau beherrscht war. Wäre die NEMEJE die ganze Zeit über in Betrieb geblieben, wären von den Posbis sicherlich nach und nach auch die typischen fragmentartigen, chaotisch wirkenden Änderungen vorgenommen worden, doch das Schiff war nach der Festsetzung der Nabedu durch Anich desaktiviert worden und hatte seither stumm und ungenutzt im Leerraum verharrt.

»Wohin wollen wir denn von hier aus fliehen?«, fragte Rhodan. »Wir können ihnen schließlich auf dem Schiff nicht entkommen ...«

»Doch, doch, wenn wir schnell genug sind!«, versicherte Kaveri.

»Gibt es irgendwo noch ein Beiboot?«, fragte Rainbow.

»Ja ... nein ... weiß nicht. Unwichtig!«

Rhodan warf einen Blick zurück und sah, dass Tani Hanafe gut mithielt. Die Mutantin sah besorgt und ängstlich aus, aber sie lief zügig neben Schablonski, der genauso wie Rainbow beständig in alle Richtungen sicherte und seinen Handstrahler bereithielt. Auf den Sergeant und den Captain war Verlass, das wusste Rhodan. Er vertraute sonst so leicht niemandem, aber diese beiden hatten sich in mittlerweile bereits mehreren gemeinsamen Einsätzen hundertprozentig bewährt.

Obwohl die zwei Raumsoldaten sich bestimmt Gedanken machten, hatten sie bei der Einsatzbesprechung Rhodans Entscheidung, die scheue, psychisch labile Mutantin Tani Hanafe mitzunehmen, nicht infrage gestellt. Doch bisher schlug sich die achtundzwanzigjährige, sehr zierliche Frau gut, genau wie Rhodan es erwartet hatte. John Marshall hatte sie zu seinem besonderen Schützling erkoren und war dabei, neben ihrer einzigartigen Mutantenfähigkeit auch ihr Selbstwertgefühl zu schulen. Zum »Training on the Job« gehörten Außeneinsätze, da führte kein Weg darum herum. Zudem war Rhodan überzeugt, dass gerade bei diesem heiklen Unterfangen Hanafes Kohäsionsschwimmen, wie ihre Fähigkeit, sprichwörtlich »durch Wände zu gehen«, bezeichnet wurde, von großem Nutzen war.

Um ihr mehr Sicherheit zu verschaffen und vor allem ihren unberechenbaren Angstattacken vorzubauen, hatte Rhodan Tim Schablonski gebeten, auf die Mutantin zu achten und ihr nötigenfalls bevorzugt Schutz zu geben. Der Sergeant hatte anfangs nicht erfreut gewirkt, doch Rhodan hatte deutlich gemacht, dass er keine Diskussion darüber wünschte. »Zum einen kann ich sehr gut auf mich selbst aufpassen, zum anderen ist Captain Rainbow zu meinem Schutz ausreichend.«

Vor allem wollte Rhodan weitere Verluste vermeiden – es hatte einfach schon zu viele gegeben. Das sah auch Schablonski ein, und inzwischen schien es ihm schon gar nicht mehr aufzufallen, dass er beständig an Hanafes Seite blieb. Tatsächlich wirkte die Mutantin ausgeglichener und konzentrierter. Sie schien zaghaftes Vertrauen zu dem Deutschpolen zu fassen.

Das war wichtig, gerade in einer Situation wie dieser – auf der Flucht.

 

Wenn Rhodans Orientierungsgefühl ihn trotz der unterwegs zahlreichen Abbiegungen nicht trog, näherte sich ihre Gruppe wieder dem Zentrum der Innenkugel. Er dachte nicht weiter darüber nach, die beiden Roboter hatten sicherlich ihre Gründe, und früher oder später würde er erfahren, was sie vorhatten.

»Hier, hier!« Kaveri hopste aufgeregt vor einem Antigravschacht auf und ab. »Da runter, und gleich sind wir da!«

Der Schacht war nicht in Betrieb, aber die Menschen würden ihre Anzugsysteme einsetzen und so hinuntergelangen können.

Schlagartig erlosch das Licht ringsum.

Schablonski stieß einen unverständlichen Fluch aus, den er weder übersetzen noch den Grund erklären musste. Sie merkten alle, was es für weitere Konsequenzen gab.

Aashra war wieder erwacht und hatte keine Zeit verloren. Er desaktivierte das Bordlicht und störte zugleich die terranischen Anzugsysteme. Nicht allein, dass die Waffen unbrauchbar waren, die Menschen konnten weder den Anzugantigrav aktivieren noch auch nur ein Licht einschalten. So standen sie sekundenlang ratlos im Stockfinstern.

»Er will uns lebend.« Schablonski flüsterte überflüssigerweise, doch Dunkelheit bewirkte auch im dritten Jahrtausend, dass man instinktiv die Stimme dämpfte, um keine Raubtiere anzulocken.

Rhodan pflichtete ihm bei. Denn die Sauerstoffversorgung, der Luftdruck und die Schwerkraftverhältnisse blieben unverändert. Möglicherweise würde bald ein Narkotikum aus den Schächten strömen, um die Raumfahrer außer Gefecht zu setzen und dann in aller Ruhe einsammeln zu können. Noch schien es, als sähe der Nabad in den Menschen irgendeinen Nutzen. Beispielsweise für die Charade nach der Rückkehr der CREST ins heimatliche System, um die Erde zu erobern und anschließend Achantur mit der Bujun zu vernichten. Doch darauf durften die Menschen sich nicht verlassen. Der Nabad war auf seine Weise nicht nur tendenziell »böse«, sondern auch noch verrückter und daher unberechenbarer als Atju und Kaveri. Aashra mochte zwar glauben, dass seine Gedankengänge völlig logisch und konsequent waren, aber das stimmte eben nicht. Doch wie sollte er davon überzeugt werden?

Plötzlich flammte Licht auf. Atju und Kaveri trugen viele Geheimnisse in ihrem Innern – und konnten auch mit kleinen Scheinwerfern dienen. Da Roboter Licht meist nicht benötigten, hatte wohl ihr Schöpfer, der liduurische Wissenschaftler Dorain di Cardelah, an alles gedacht.

Nur nicht daran, dass seine eigene Schöpfung sich gegen ihn wenden könnte.

Ein Schlürfen und Rasseln erklang. »Die Montageleitern.«

»Kein Problem, wenn ihr uns den Weg beleuchtet.« Rhodan trat an den Schacht heran, fand die Leiter und ließ sich auf die erste Sprosse hinab. Er verbiss sich gerade noch die Frage, ob Hanafe sich in der Lage fühlte, hinunterzuklettern. Durch derartige Bevormundung würde er sie in ihrer Verunsicherung nur bestätigen. Die beiden Soldaten fragte er ja auch nicht ständig nach ihrem Befinden. Sicher, Tani Hanafe war sehr klein und schmächtig, sie wirkte eher wie ein junges Mädchen, das unwillkürlich den Beschützerinstinkt auslöste. Und schließlich trug Rhodan die Verantwortung für sie. Aber sie besaß gewaltige Kräfte – und tief in sich einen starken Willen, der sie diese Fähigkeiten kontrollieren ließ. Als Protektor hatte er sie in dieses Team geholt, also musste er in der Mutantin ein vollwertiges Mitglied sehen und sie auch so behandeln.

»Ich gehe als Zweiter«, äußerte Schablonski.

»Drei«, sagte Hanafe.

»Vier«, kam es von Rainbow.

»Huiiiiiii!« Der kleine Urposbi sauste ein Stückweit nach unten, verhielt und leuchtete mit einem schmalen Lichtstrahl die Leiter aus.

Rhodan wollte gerade mit dem Abstieg beginnen, da erklang eine schnarrende, von Klicklauten durchsetzte Stimme aus dem Bordfunk. »Ergebt euch, und euch wird nichts geschehen.« Das wirkte ja schon fast sonor.

»Lüge, Lüge!«, fistelte Kaveri.

Atju, der langsam neben ihm hinabschwebte, schwieg.

»Ihr könnt von diesem Schiff nicht entkommen, und das wisst ihr genau.« Ein freundlich ermahnender Vater. Aashras Stimmpalette erweiterte sich schnell.

»Ha, hi«, machte Kaveri. Auf der schwarzen Projektionsscheibe seines Kopfs erschien ein schadenfroh blickendes Narrengesicht mit rollenden Augen und herausgestreckter Zunge. Er schien anderer Ansicht zu sein.

Rhodan erkannte, dass die beiden Urposbis tatsächlich einen Fluchtplan hatten und nicht einfach kopflos herumirrten, wie er ursprünglich befürchtet hatte. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wie dieser Plan aussah – da sie sich statt zu einem Hangar am Ringwulst oder zur Außenschale mehr und mehr nach innen bewegten.

»Ich kann euch zudem orten«, fuhr der Nabad fort.

»Aber nicht erreichen«, blubberte Atju, und Rhodan konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Maácheru schadenfroh klang. »Ich habe alle Schotten mit Überrangkode versperrt. Noch bin ich auch Wahed, der Erste, selbst wenn ich heute lieber Atju bin. Die anderen haben erst mal zu tun.«

»Und wenn sie die Schotten sprengen?«, fragte Hanafe von oben.

»Hier im Schiffszentrum? Nix da!«, erwiderte Kaveri. »Schiff der Schöpfer. Bujun an Bord. Ein paar Hemmungen hat selbst er. Oder zumindest unsere anderen Brüder. Die machen da nicht mit. Bringt nix, das Transportmittel vor dem Ziel zu sprengen.«

Rhodan winkte seinen Teamgefährten. »Halten wir uns nicht auf.« So schnell es ging, stieg er die Leiter hinunter, die anderen folgten. Hanafe hatte es dabei am schwersten; die Durchschnittsgröße der Liduuri lag weit über ihren 1,52 Metern. Auch der kaum zehn Zentimeter größere Schablonski musste ein wenig nach den Sprossen hangeln, wohingegen Rhodan und Rainbow keinerlei Schwierigkeiten hatten, zügig Stufe um Stufe abzusteigen.

Aashra gab noch nicht auf. Vermutlich hatte er gerade mitbekommen, dass seine beiden älteren Brüder ihm mit den Schotten einen Streich gespielt hatten. »Es hat keinen Sinn, sich gegen das Unausweichliche zu stellen. Außerdem biete ich nach wie vor die Heimreise, die euch andernfalls nicht möglich wäre. So oder so fliegen wir die CREST an und setzen den Plan fort.«

»Eben deswegen hauen wir ja ab«, säuselte Kaveri mit Kleinmädchengesicht.

»Wir werden all das verhindern«, ergänzte Atju schmatzend.

Rhodan hielt kurz inne und drehte sich halb zu ihnen. »Und wisst ihr auch, warum ihr das tut? Warum seid ihr anders als eure übrigen hundertsechs Brüder? Weshalb kann Aashra euch nicht genau wie sie beeinflussen?«

Ausgiebiges Schlürfen und Rasseln. »Keine Fragen, keine Lügen.«

»Hoho«, schloss Kaveri.

»Eine kurze Frage, Sir!« Schablonski über ihm, breit grinsend.

»Keine Fragen, keine Lügen«, antwortete Rhodan und kletterte weiter. Nein, es interessierte ihn nicht, wie sie in diese Lage geraten waren. Nur, wie sie da wieder herauskommen wollten. Und die Antwort schien weiter entfernt denn je.

 

»Ich finde euch!« Ein ungeduldiges Kreischen überlagerte nun das Klicken und Schnarren und spornte die Fliehenden an.

»Ja, ja, später.«

»Gar nicht!«

Die zwei Urposbis wiesen endlich zu einem Ausgang, und die Menschen fühlten erleichtert wieder festen Boden unter den Füßen und lockerten die strapazierten Armmuskeln.

»Wo sind wir?«, fragte Rhodan und erhielt überraschenderweise Auskunft von Atju.

»Unterhalb der Zentrale. Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Sie liefen einen weiteren der vielen Gänge entlang und waren bei der nur in schmalen Bahnen aufgehellten Finsternis froh um die Kargheit der Einrichtung – keine Hindernisse, über die sie stolpern oder an denen sie sich stoßen konnten.

Es war kaum zu glauben, aber bislang blieben sie tatsächlich unbehelligt. Atju und Kaveri standen dem finsteren Aashra in nichts nach – wenn sie ihm nicht sogar überlegen waren. Immerhin hatten sie ihn und die übrigen Brüder für kurze Zeit außer Gefecht gesetzt und führten ihn weiterhin an der langen Nase herum.

Der Bordfunk schwieg mittlerweile; der Nabad hatte wohl eingesehen, dass Reden keinen Sinn hatte. Vielleicht dachte er ein wenig über Diplomatie nach und dass er möglicherweise zuvor schon andere Formulierungen hätte vorbringen müssen, um gar nicht erst in eine solche Situation zu geraten. Gewissermaßen saß er durchaus in der Klemme. Es würde sich nicht gut machen, wenn die CREST mit einer Menge merkwürdiger Roboter mit Plasmakomponente an Bord zur Erde zurückkehrte, jedoch ohne Perry Rhodan. Stattdessen mit über dreißig würfelförmigen Fremdraumern im Gefolge.

Rhodan wusste, dass sein äußerst misstrauischer bester Freund Reginald Bull auf der Stelle die höchste Alarmstufe ausrufen und der CREST den Einflug ins Solsystem verweigern würde, bis sämtliche Umstände geklärt wären. Gewiss waren die Posbis technisch weit überlegen, doch Aashra hatte keine simple Vernichtung, sondern eine Bestrafungsaktion vor. Und die CREST war im Gegensatz zu den Fragmentraumern angreifbar, weil sie nicht über denselben hohen technischen Standard verfügte. Das mochte sich problematisch erweisen mit einer Gravitationsbombe an Bord, wenn man sich nicht gerade selbst sprengen wollte.

Der Nabad hatte zwar die Datenbanken der CREST abgerufen, aber ob er bereits dazu in der Lage war, die komplizierten Zusammenhänge sozial lebender Menschen vollständig zu erfassen, war fraglich. Vermutlich deshalb hatte er die Mannschaft der CREST und das kleine Team auf der NEMEJE bisher am Leben gelassen. In jedem Fall aber hatte er anhand der gespeicherten Informationen begriffen, von welcher Bedeutung Perry Rhodan für die Menschen und weitere Völker der Milchstraße war, so wie er als Nabad für die Nabedu, und den Protektor deswegen nicht sofort exekutiert. Da gab es noch einige unbekannte Faktoren, die der Nabad zunächst definieren musste, bevor er seinen Feldzug begann.

Also würde er nun an einem Plan tüfteln, um die Bujun ohne weitere Verzögerung auf die CREST zu bringen und dann so schnell wie möglich Rhodans habhaft zu werden.

Rhodan schluckte. Aashra würde darauf kommen, wie. In höchstens einer Stunde. Viel Zeit blieb der Einsatzgruppe wirklich nicht mehr, da musste Rhodan den beiden robotischen Helfern recht geben.

 

Die vier Menschen wurden noch einmal zu einem Schacht geführt, der diesmal verborgen hinter einer Lüftungsverkleidung oben in der Gangdecke lag und nur sehr kurz war, wie das Scheinwerferlicht zeigte. Die Montageleiter musste entriegelt und heruntergezogen werden. Der Schacht war sehr eng, und zum ersten Mal war Tani Hanafe mit Leichtigkeit nach oben unterwegs. Rainbow zog als Letzter die Leiter wieder hoch und sicherte sie, gleichzeitig klappte die Verkleidung automatisch zu. Sie bewegten sich nun durch einen Horizontalgang, der im Scheinwerferlicht schmaler und niedriger erschien als alle bisherigen.

»Das ist aber nicht der übliche Weg, oder?«, fragte Rhodan.

Kaveri drehte sein Gesicht zu ihm, während er selbst schaukelnd weiterschwebte. »Nein, das ist der Montagezugang, von dem nur der Wartungsdienst Kenntnis hatte. Aashra kennt diesen Weg nicht. Es gibt natürlich einen offiziellen Zugang direkt von der Zentrale aus, aber dort könnte er uns orten.«

»Hier nicht?«

»Nein. Abgeschirmt. Absicht.«

»Ich habe den offiziellen Zugang gesperrt«, fügte Atju hinzu. »So wie alle anderen Schotten auch. Er kann lange nach uns suchen. Wo wir jetzt hingehen, findet er uns nicht.«

»Und er sucht und sucht und sucht.« Kaveri kicherte und vollführte einen Purzelbaum, mit dem er haarscharf an der Decke vorbeischrammte. Seine Angst vor dem finsteren Bruder schien mehr und mehr zu verfliegen.

Rhodan sah noch keinen Grund dazu. Im Gegenteil, sämtliche Alarmglocken schrillten nun in ihm. Er wich zur Seite, als er eine Bewegung bei sich spürte, und sah auf Tani Hanafe hinab, die nicht mehr als ein matt beleuchteter Schemen war.

»Soll ich mich umsehen, Sir?«, fragte sie nervös.

Sie hatte seine Unruhe gespürt. Und sofort reagiert. John Marshall wäre in diesem Moment stolz auf sie gewesen.

»Noch nicht«, antwortete Rhodan. Er wusste, wie viel Kraft es die Mutantin kostete, quasi durch Materie zu gehen, ganz abgesehen von den verheerenden Begleiterscheinungen wie den unkontrollierbaren Angstzuständen. »Ich vertraue unseren Roboterfreunden.« Er hatte eigentlich »Verbündete« sagen wollen, doch das andere Wort war ihm einfach so von den Lippen geglitten.

»Geben Sie nur Bescheid.« Und schon wich sie wieder von ihm zurück. Sie konnte Tim Schablonskis Nähe inzwischen ertragen, aber noch nicht seine. Rhodan begann allmählich zu verstehen, womit diese hochsensible Frau zu kämpfen hatte und weshalb das immer wieder zu Panikattacken führte.

»Würdet ihr mir endlich verraten, wohin wir ...« Rhodan führte den Satz nicht zu Ende, denn ein Schott schälte sich aus der Finsternis und rückte ins Scheinwerferlicht. Es sah stärker aus als die bisherigen, was Rhodan umso mehr wunderte, als es sich um ein Schott für den Wartungsdienst handelte. Vermutlich wegen der Abschirmung. Was mochte dahinterliegen? Wie sollte dadurch ihre Flucht gelingen?

Atju verharrte direkt vor dem Schott, das kurz darauf ein Klicken von sich gab und zur Seite in eine Wandvertiefung rollte.

»Augenblick, Sir!«, sagte Cel Rainbow streng und schob sich vor Perry Rhodan, bevor der den Raum dahinter betreten konnte.

Rhodan trat lächelnd beiseite; der Captain hatte völlig recht, ihn zurechtzuweisen.

Mit angelegter Waffe ging der Captain voran. Momentan mochte sie nicht funktionieren, aber sie war schwer genug, um damit auch jemandem den Schädel einschlagen zu können. Abgesehen davon bekam der Thermostrahler durch die Abschirmung vielleicht wieder Leistung.

»Freie Bahn«, kam es gleich darauf zurück. »Und Sie werden staunen, Mister Rhodan!«

Neugierig und angespannt zugleich, betrat Rhodan den Raum – und fand sich in einer kleinen, etwa dreißig Meter durchmessenden und acht Meter hohen Halle wieder. Es war hell.

In der Mitte stand ein mächtiges, fast vier Meter hohes und zwei Meter breites Gebilde, das entfernt an einen romanischen Kirchbogen mit kräftigen, dreiteiligen Standfüßen erinnerte.

Ein Transmitter – und er war aktiv!

 

»Na, das nenne ich aber mal eine Überraschung!«, konstatierte Tim Schablonski. »Darauf hätten wir eigentlich von Anfang an kommen können.«

»Weil nichts sonst aktiv war ...«, meinte Rainbow und umkreiste das in der Mitte undurchsichtige, an den Rändern leicht flimmernde Gebilde.

Rhodan wusste, die Transporttechnik befand sich in den wie Verzierungen aussehenden Aufbauten des Bogens verteilt. Sie projizierte ein kontinuierliches Transmitterfeld. Und bezog ihre Energie offenbar aus einer eigenen Quelle, abgekoppelt vom Schiffssystem.

»Seht ihr?« Kaveri wippte auf und ab und zeigte ein fröhliches Strichmännchengesicht. »Hier kommt er nicht rein, und er weiß es auch nicht. Hat ihm nie einer gesagt, hat er nicht rausgefunden, bevor er schlafen gelegt wurde. Und jetzt findet er's nicht heraus, weil es nicht verzeichnet ist.«

»Aber er wird irgendwann draufkommen«, mahnte Atju. »Lasst uns hindurchgehen, jetzt gleich. Nur so können wir das Schlimmste verhindern.«

»Einen kurzen Moment.« Rhodan hob die Hand. »Eure Sorge gilt jetzt vorwiegend Aashra – nicht Anich?«

»Der Nabad ist doch viel schlimmer«, murmelte Kaveri. »Der wahre Butzemann.«

Atju rasselte erschreckender denn je, als fiele er jeden Moment auseinander. »Und schneller. Er wird das Soltsystem noch vor Beginn von Anichs Invasion der Galaxis erreichen und erobern. Es war ein Fehler, ihn zu wecken. Aber wir konnten es vorher nicht wissen.«

Rhodan winkte ab. »Es ist müßig, darüber zu debattieren. Es ist geschehen.« Sie hatten es nun einmal im guten Glauben getan, um ihre Brüder als Verbündete im Kampf gegen das Urplasma Anich zu gewinnen – an sich eine völlig vernünftige Überlegung. Dass Aashra schon von Anfang an gefährliche Tendenzen gezeigt hatte, hatten die beiden Ersten möglicherweise nach den fünfzigtausend Jahren im Exil verdrängt oder nicht damit gerechnet, dass der dunkle Bruder extremer geworden war. Nicht zu vergessen, dass Atju und Kaveri durch die Taal-Infizierung längst nicht mehr alle Schrauben beisammen hatten und ihr Logiksystem ebenfalls nicht mehr richtig funktionierte.

Rhodan rieb sich das Kinn. »Wohin bringt uns der Transmitter?«

»Hierher«, antwortete Kaveri.

»Was soll das heißen?«

»Wie er sagte.« Atju wedelte mit den biegsamen Armen mit den achtfingrigen Greifklauen. »Geht hindurch, bitte!«

»Ich kann nicht aufs Geratewohl ins Ungewisse gehen«, beharrte Rhodan. »Und außerdem ...« Er verstummte. Thora und Tom. Er konnte sie doch nicht einfach im Stich lassen ...

»Ja, dann bleib halt, was macht das schon ...« Kaveri war durch Rhodans Widerstand offensichtlich überfordert und drehte Pirouetten. Auf seinem Gesichtsdisplay zeigten sich die gewohnten wirren Muster, wie sonst auch, wenn es ihm zu viel wurde. Möglicherweise fiel er sogar wieder in Starre.

Atju war der Vernünftigere der beiden – kein Wunder. Er hatte die ganze Zeit die Maácheru im Widerstand gegen Anich angeführt. Und nun waren ihm seine eigenen Anhänger auf den mitgeführten Fragmentraumern in den Rücken gefallen, weil Aashra sie übernommen und umgepolt hatte.

»Du kannst natürlich bleiben«, sagte Atju, ohne zu schlürfen. »Aber dann änderst du nichts. Und wir wollen doch retten, nicht wahr?«

»Selbstverständlich. Du behauptest also, wenn ich gehe ...« Rhodan führte den Satz absichtlich nicht zu Ende.

Atju verstand die Aufforderung. »Dann haben wir vielleicht alle noch eine Chance. Du, die CREST, das Soltsystem, die ganze Milchstraße.«

»Der Durchgang wird also sicher sein?« Rhodan wiederholte die Frage nicht, wohin die Reise ging. Er wusste, er würde keine Antwort darauf erhalten. Abgesehen von dem »Hierher«.

»Er ist ganz sicher. Du kannst mir vertrauen. Unser Weg musste uns hierher führen.«

»Du hast dich schon einmal geirrt.«

»Der Nabad ist etwas anderes. Das hier steht fest, es ist unverrückbar, es muss geschehen.«

»Alle Wege führen nach Rom ...«, trällerte Kaveri, über ihnen kreiselnd.

Daraufhin konnte sich Rhodan doch nicht zurückhalten. »Wohin ...«

»Hierher! Hab ich doch gesagt!«, scholl es von oben.

Rhodan schüttelte den Kopf. »So kann ich das nicht.«

»Du wirst es müssen«, erwiderte Atju. »Er wird es bald wissen.«

 

Kaveri sank plötzlich herab, und das kleine Gesicht auf seinem Display ließ Rhodans Magen sich zusammenziehen, weil es mit wenigen Strichen nur allzu vertraut war. »Tom«, wisperte der kleine Urposbi.

Rainbow trat näher heran. »Sir ...«

Rhodan hob die Hand. »Ja, Captain. Ja. Geben Sie mir noch eine halbe Minute.« Er wandte sich ab.

»Aber nicht mehr«, sagte Atju. »Wirklich, die Zeit verrinnt. Und dann ist es zu spät. Alles.«