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Dr. Hartmut Sommer, geboren 1952, hat nach einem Studium der Erziehungswissenschaft und Philosophie zahlreiche Beiträge zur pädagogischen Psychologie, Philosophie und Theologie veröffentlicht, unter anderem Bücher über die Dichterphilosophen des 20. Jahrhunderts und die Wirkungsstätten großer Mystiker sowie mehrere Hörbücher zur Mystik und Philosophie. Er lebt in Bad Honnef und arbeitet als freier Autor, Erwachsenenbildner und pädagogischer Berater.

Zum Buch

Die Mystik ist ein nie versiegender spiritueller Kraftquell, der immer wieder dazu beigetragen hat, die Gottesbeziehung des Menschen von innen her zu verlebendigen. Der Band führt zunächst in die Grundzüge der christlichen Mystik ein. Siebenundzwanzig Kapitel zu den bedeutendsten christlichen Mystikern zweier Jahrtausende zeigen dann anhand von Zeugnissen spirituellen Lebens und deren theologischer Ausdeutung die tiefe Übereinstimmung hinter der Vielfalt der mystischen Wege. Behandelt werden das frühe Mönchtum und die Kirchenväterzeit mit Augustinus und dem geheimnisvollen syrischen Mönch Dionysius Areopagita, die Zisterzienser mit Bernhard von Clairvaux, die mittelalterliche Frauenmystik mit großen unabhängigen Frauen wie Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg, die Armutsbewegung des Franziskus von Assisi, Meister Eckhart und seine Schule, die niederländische Mystik, die spanische Mystik mit Ignatius von Loyola, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz und die Mystik der Neuzeit mit wieder herausragenden Frauen wie Edith Stein und Simone Weil.

Hartmut Sommer

Die bedeutendsten Mystiker

Hartmut Sommer

Die bedeutendsten
Mystiker

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
nach der Gestaltung von Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0318-2

www.marixverlag.de

Der Rückzug in die Wüste kann aus fünf Stationen Untergrundbahn am Schluss eines Arbeitstages bestehen, an dem wir den Schacht zu diesen kurzen Augenblicken gebohrt haben. Dagegen kann uns die Wüste selber keine Sammlung bieten, wenn wir gewartet haben, um erst in ihr die Begegnung mit dem Herrn zu ersehnen.

Madeleine Delbrêl
La Joie de Croire

INHALT

VORWORT

EINFÜHRUNG IN DIE CHRISTLICHE MYSTIK

Nähe und Berührung Gottes im Seelengrund

Die Sinne der Seele und der Leib

Mystische Visionen

Der mystische Aufstieg

Die Grenzen der mystischen Erfahrung

Tätiges und kontemplatives Leben

KIRCHENVÄTERZEIT UND FRÜHES MÖNCHTUM

Origenes (um 185–253)

Augustinus (354–430)

Dionysius Areopagita (um 500)

Gregor der Große (um 540–604)

ZISTERZIENSISCHE MYSTIK

Bernhard von Clairvaux (1090–1153)

Wilhelm von St. Thierry (um 1085–1148)

MITTELALTERLICHE FRAUENMYSTIK

Hildegard von Bingen (1098–1179)

Mechthild von Magdeburg (um 1207–1282)

Die Frauen von Helfta

Marguerite Porete († 1310)

FRANZISKUS UND SEINE ARMUTSBEWEGUNG

Franziskus von Assisi (1181–1226)

Bonaventura (1221–1274)

Die ersten Brüder des Franziskus und die Spiritualen

DIE DOMINIKANER: MEISTER ECKHART UND SEINE SCHULE

Meister Eckhart (um 1260–1328)

Johannes Tauler (um 1300–1361)

Heinrich Seuse (1295/97–1366)

NIEDERLÄNDISCHE MYSTIK

Jan van Ruysbroeck (1293–1381)

Geert Grote, Thomas von Kempen und die Devotio moderna

SPANISCHE MYSTIK

Ignatius von Loyola (1491–1556)

Teresa von Ávila (1515–1582)

Johannes vom Kreuz (1542–1591)

MYSTIKER DER NEUZEIT

Franz von Sales (1567–1622)

Angelus Silesius (Johannes Scheffler) (1624–1677)

Anna Katharina Emmerick (1774–1824)

Edith Stein (1891–1942)

Simone Weil (1909–1943)

Thomas Merton (1915–1968)

NACHWORT: MYSTIK HEUTE

VORWORT

Mit der Unmittelbarkeit ihrer religiösen Erfahrung ist die Mystik der glühende Kern im Erbe des Christentums, der darauf wartet, von der Asche des Vergessens befreit zu werden. Sie ist ein geistiger Schatz, der wirklich und wahrhaftig bereichert, während die unsäglichen Rezepte der Esoterik, vom Kartenlegen bis zur Engelbeschwörung, die heute vor allem die Regale der Buchläden füllen, nur Falschgold bieten, nichts als kommerzielle Angebote für die schnelle Selbstbeglückung. Ihre Versprechungen erweisen sich bald als Mogelpackung und oft sogar als gefährlich und seelisch verstörend.

Der vorliegende Band behandelt vor allem Mystiker im engeren Sinne, die entsprechende eigene Erfahrungen hatten, aber auch einige große Theologen, die zum Verständnis der mystischen Schau beigetragen haben. Mit unglaublicher Authentizität und Frische treten uns selbst noch die frühchristlichen und mittelalterlichen Mystiker in ihren Schriften entgegen, insbesondere in autobiografischen Zeugnissen wie den Bekenntnissen des Kirchenvaters Augustinus oder den Aufzeichnungen der großen Begine Mechthild von Magdeburg mit dem Titel Das fließende Licht der Gottheit, die immer noch unmittelbar und eindringlich zu uns sprechen. Der Schauspieler Gérard Depardieu etwa, der lange Jahre ein seelisch zerrissener Sucher war, hat in der Begegnung mit Augustins Bekenntnissen etwas gefunden, was ihn in seinem Innersten umwandelte. Es war für Depardieu ein Anliegen, mit einer öffentlichen Lesung in der Pariser Kathedrale Notre-Dame davon Zeugnis zu geben. Zu den ersten Sätzen, die er vortrug, gehörten die berühmten Zeilen: „Denn auf dich hin [Gott] hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“

Es sind die Schriften der Mystiker selbst, auf die sich der vorliegende Band vor allem stützt. Schlüsseltexte daraus werden im Anschuss an die Kapitel zitiert, um auch die Stimmen der Mystiker selbst in ihrer Eigenheit erklingen zu lassen. Als Gesamtdarstellungen wurden insbesondere herangezogen: Bernhard McGinn: Die Mystik im Abendland. Bd. 1–4, Freiburg i.B., 1994–2008 und Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 1–4, München 1990–1999. Für das theologische Verständnis der mystischen Erfahrung ist besonders eine Schrift von Karl Rahner über Visionen und Prophezeiungen erhellend, 1958 in Freiburg in der Reihe Quaestiones Disputatae erschienen.

Hinweisen möchte ich auch auf mein Buch Die großen Mystiker – Orte ihres Wirkens, Darmstadt, 2008. Es erschließt Leben und Werk großer Mystiker ausgehend von der einfühlenden Imagination in ihre Lebenswelt an den Orten ihres Lebens und Wirkens.

Bad Honnef im März 2013

EINFÜHRUNG IN DIE CHRISTLICHE MYSTIK

Alles nebelhaft Unklare oder auch die Restmenge des beunruhigend Unerklärlichen wird heute gerne mit dem Etikett „Mystik“ belegt und damit zugleich abgelegt und auf Distanz gehalten. Hier schimmert nur noch eine Ahnung auf vom eigentlichen mystischen Erleben, mit dem Jenseitiges, Göttliches, ja Gott selbst in unsere Erfahrungswelt einbrechen. Die großen Mystiker aller Zeiten und Religionen haben es erfahren und versucht, uns das Unsagbare dieser Erfahrungen in Bildern und Symbolen mitzuteilen. Mystik ist danach die Begegnung mit dem ganz Anderen, dem alles Übersteigenden, jenseits von Endlichkeit, von Raum und Zeit.

Eine Vorstufe der Mystik ist die religiöse Erfahrung im allgemeinen Sinne. Dabei handelt es sich um Bewusstseinsblitze, die uns unvermittelt aus unserem alltäglichen, selbstverständlichen Leben wecken und im Innersten erschüttern. Diese Erfahrung kann beglückend sein, wenn wir uns mit einem sogenannten ozeanischen Gefühl aufgehoben fühlen im Ganzen der Natur oder auch beängstigend, wenn wir verunsichert meinen, dass wir willkürlich in dieses Leben geworfen sind und einsam vor der Frage stehen, wozu wir hier sind. In der Literatur finden sich vielfältige Berichte über solche Erfahrungen, und die meisten Menschen können auf Ähnliches zurückblicken. Damit meldet sich bereits etwas an, was unsere raum-zeitliche, natürliche Welt übersteigt; es weist auf etwas Jenseitiges, Übernatürliches hin, das sich jedoch noch nicht selbst zeigt.

NÄHE UND BERÜHRUNG GOTTES IM SEELENGRUND

In der Mystik dagegen berührt den Menschen das Jenseitige selbst. Nach christlicher Sicht zeigt sich damit die seltene und nur gnadenhaft erfahrbare Nähe Gottes, die sich unmittelbar im innersten Seelengrund dem Menschen mitteilt. Es ist die Begegnung der menschlichen Person mit dem Du des personalen und dreieinigen Gottes. In dieser göttlichen Berührung werden liebende Einheit und Nähe erfahren, ohne dass der Unterschied von Geschöpf und Schöpfer aufgehoben wird. Mystik in diesem Sinne meint nicht Auflösung des Ich im Göttlichen wie ein Tropfen im Meer, sondern Einheit in Liebe. Wäre die Begegnung mit dem Göttlichen ein Verlöschen des bewussten Ich in der Vereinigung mit einem All-Einen, wie es asiatische Heilslehren anstreben, könnten wir nach dem flämischen Waldmönch und Mystiker Jan van Ruysbroeck (1293–1381) in der mystischen Erfahrung nicht seliger sein als ein Stein.

Die mystische Theologie spricht nach altchristlicher Lehre auch von der Gottesgeburt im tiefsten Seelengrund und von der Ankunft des göttlichen Wortes. Meister Eckhart (1260–1328) nennt den dafür empfänglichen Teil der Seele das Bürglein oder das Seelenfünklein. Tastend nach Worten und Bildern versuchen die Mystiker das Unsagbare ihrer Erfahrung doch mitzuteilen. In Predigten über das Hohelied, eine in den Kanon des Alten Testamentes aufgenommene altorientalische Liebesdichtung, verwendet Bernhard von Clairvaux (1090–1153) das Gleichnis der Brautschaft für die zarte Annäherung von Seele und göttlichem Wort. Unfasslich und nur andeutbar ist für Jan van Ruysbroeck die Begegnung mit dem göttlichen Bräutigam; sie ist geistliche Hochzeit, letztlich unerreichbares Geheimnis der Anwesenheit des dreieinigen Gottes in der Verborgenheit des Geistes. Für Mechthild von Magdeburg (1207–1282) ist es vor allem das Bild des Fließens oder das fließende Licht, das ihr besonders angemessen erscheint, um die liebende Nähe Gottes zu umschreiben. Darum nannte sie ihr Buch, in dem sie davon berichtet, Das fließende Licht der Gottheit. Verschwenderische, fließende, quellende göttliche Fülle ist auch für die Helftaer Mystikerin Mechthild von Hackeborn (1241–1299) ein Grunderleben ihrer Gottesbegegnung. Teresa von Avila (1515–1582), die große spanische Mystikerin, vergleicht die Seele mit einer Burg, in deren verborgener innerster Kammer man Gott begegnen kann.

DIE SINNE DER SEELE UND DER LEIB

Was der Mystiker erfährt, kommt nicht von außen durch die Augen oder die Ohren herein, wie Bernhard von Clairvaux verdeutlicht, denn es ist nicht durch die äußeren Sinne vermittelt, sondern bildet sich im Seelengrund als direkte Einwirkung der göttlichen Berührung. Von dort steigt es vermittelt über die inneren geistlichen Sinne der Seele auf in das Bewusstsein. Die Lehre von den geistlichen Sinnen der Seele hat vor allem der frühchristliche Theologe Origenes (um 185–254) entfaltet, aber schon im Alten Testament spricht der Psalmist vom Schmecken Gottes. Die Selbstzeugnisse der Mystiker bestätigen diese geistliche Sinnlichkeit der mystischen Erfahrung mit vielfältigen Vergleichen und bildhaften Annäherungen. Und sie weisen immer wieder darauf hin, dass die göttliche Berührung ganzheitlich ist, Seele und Leib erfasst, bis in die tiefsten Tiefen durchdringt, durchströmt, durchglüht.

Zarteste, anschmiegende Berührung ist die göttliche Nähe bei Gertrud von Helfta (1256–1302). Hildegard von Bingen (1098–1179) sieht bei ihren Schauungen mit den Augen der Seele und hört mit den inneren Ohren. Die geistliche Sehkraft ist auch nach Bernhard von Clairvaux ein besonderes Vermögen, das uns die mystische Schau ermöglicht. In seinen Predigten über das Hohelied erklärt er es am Bild von den Taubenaugen der Braut als Fähigkeit der Seele, die ihr in der Einigung mit dem himmlischen Bräutigam geschenkt wird. Nach den mystischen Selbstzeugnissen Heinrich Seuses (1295–1366) zeigt sich die göttliche Nähe in himmlischem Glanz und Duft. Licht, Wonnegefühl und durchdringenden Geschmack erfährt der Mystiker nach Jan van Ruysbroeck mit den inneren, geistlichen Sinnen im Zustand der mystischen Erhebung. Meister Eckhart verwendet das biblische Bild vom Schmecken Gottes im Gegensatz zu einem nur gedachten Gott. Und er spricht, wie viele andere Mystiker auch, von den inneren Augen der Seele. Wonneschmerz während der mystischen Erfahrung wie von einer heftigen inneren Verwundung wird von vielen Mystikern berichtet, unter anderem von Heinrich Seuse und Teresa von Ávila. Darin zeigt sich das Überfließen eines kaum fasslichen seelischen Erzitterns bis in den Leib. Das Erwecken der geistlichen Sinne durch den Glauben an Christus ist für Bonaventura (1221–1274) ein entscheidender Schritt auf dem Pilgerweg zur Gottesschau.

MYSTISCHE VISIONEN

Kern der mystischen Erfahrung ist die unmittelbar über die geistlichen Sinne wahrgenommene göttliche Berührung im Seelengrund. Treten dabei Visionen auf, von denen vor allem die mittelalterlichen Mystiker berichten, sind sie nur Begleiterscheinung der viel innerlicheren Gottesbegegnung. Als ihr Abglanz und seelischer Widerhall können sie jedoch etwas von der überströmenden Fülle des Erfahrenen in sinnlichen Bildern übermitteln. Die von visionären Mystikern überlieferten Texte zeigen ihr Ringen mit dem kaum Mitteilbaren und ihre vorsichtige Annäherung an das mystische Erleben. Und gerade die großen Meister bleiben nüchtern und selbstkritisch, sie warnen vor Fehldeutungen, da echte mystische Visionen nur schwer von Erinnertem und Eingebildetem zu unterscheiden sind. Visionen werden von ihnen daher nur mit großer Zurückhaltung gedeutet. Jan van Ruysbroeck etwa sieht die Gefahr der Selbsttäuschung, wenn Falsches und Subjektives leichtgläubig für göttliche Eingebung gehalten wird. Wahr kann an solchen Visionen nur sein, was mit der biblischen Botschaft in Einklang steht. Prüfstein für die Echtheit einer mystischen Erfahrung – und auch hierin sind sich die großen Meister der Mystik einig – ist die Umwandlung des Menschen zum Guten, eine liebevolle Gelassenheit, die sich danach einstellt. Bleibt sie aus, ist eher Täuschung oder Einbildung anzunehmen. So lehrten es unter anderem Teresa von Ávila und die Begine Mechthild von Magdeburg.

Während der moderne Mensch seine Empfangsfrequenzen nur noch auf das rational Fassbare und Erklärbare eingestellt hat, war die Antenne des mittelalterlichen Menschen vor allem auf das Jenseits ausgerichtet, voller Sorge um das eigene Seelenheil. Was bei uns Heutigen im Rauschen der Alltagsbetriebsamkeit untergeht oder rasch als Fehlleistung des Nervensystems beiseite geschoben wird, hat der mittelalterliche Mensch mit hoher Empfindsamkeit und Aufmerksamkeit wahrgenommen. Wenn es dem modernen Menschen aber gelingt, sein inneres Auge für das Göttliche zu öffnen, das ihn ansprechen will, erfährt er die mystische Begegnung eher bildlos und damit durchaus näher am Eigentlichen dieses höchst innerlichen Geschehens. Der Mathematiker und Physiker Blaise Pascal (1623–1662) notierte sich nach einem mitternächtlichen Zustand der Entrückung: „Feuer … Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede.“ Simone Weil (1909–1943), sozialistische Aktivistin und Philosophin, spricht von der Gegenwart einer Liebe, Dag Hammarskjöld (1905–1961), schwedischer Politiker und zweiter UN-Generalsekretär, von einer alle Grenzen auflösenden Geborgenheit, die Philosophin und Karmelitin Edith Stein von einem belebenden Zustrom.

DER MYSTISCHE AUFSTIEG

Die christliche Mystik versteht sich im Unterschied zu asiatischen Heilslehren nicht als Weg, den wir selbst aus eigener Kraft bis zu Ende gehen können, denn mystische Erfahrung ist immer göttliches Geschenk. Aber die Meister der Mystik wollen mit ihren Schriften den Weg dahin ebnen, indem sie beschreiben, wie sich die Seele bereit machen soll für die Einkehr des göttlichen Gastes. Vor allem muss die Lebensumkehr des Menschen am Anfang stehen, mit einer Konzentration auf das Wesentliche. Allerdings machen sie sehr deutlich, dass sich dabei auch mit noch so frommen Gebets- oder Meditationsmethoden nichts erzwingen lässt. Der christliche Weg ist Aufbruch einer Suche nach dem eigentlichen Sinn, der nur in Gott zu finden ist. Damit ist er ein Heilsweg, auch wenn nur wenigen Menschen die göttliche Nähe in der außerordentlichen Form einer mystischen Vereinigung geschenkt wird. Der altüberlieferte Dreischritt des mystischen Weges beginnt dementsprechend mit der Reinigung, also mit einer grundlegenden Läuterung, dann erst folgen Erleuchtung und Einigung. Die Mystiker beschreiben verschiedene Stufenwege des mystischen Aufstiegs, die bis zu einer tiefen Versenkung und Sammlung führen können, aber nie zur eigentlichen mystischen Einigung und Schau, die wir nur durch gnadenhaftes Herabneigen Gottes erlangen können. Gänzliche Weltabkehr, übertriebene Askese, ja Selbstkasteiung bis hin zur Selbstzerstörung waren bei vielen mittelalterlichen Mystikern ein unchristliches Bestreben, sich damit mystische Gnaden verdienen zu wollen. Die große Teresa von Ávila warnt vor solchen übertriebenen Bußübungen und künstlichen Meditationstechniken, die von der schlichten Aufmerksamkeit für das, was uns im Innersten ansprechen will, nur ablenken kann. Aber nicht nur in der Innenwelt der Seele lässt sich Gott finden. Insbesondere die von Franziskus von Assisi (1181–1226) beeinflussten Mystiker sehen in der vielgestaltigen Schönheit der Natur zugleich Bild und Gleichnis des göttlichen Schöpfers.

DIE GRENZEN DER MYSTISCHEN ERFAHRUNG

Endliches aber kann Absolutes nie vollkommen erfassen. Eine wesenhafte Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht, von der an manchen Stellen im Alten Testament die Rede ist, muss daher im übertragenen Sinne verstanden werden. Die großen Meister der Mystik wussten das und haben es in ihren Selbstzeugnissen immer wieder betont. Heinrich Seuse etwa erläutert als erfahrener Mystiker, dass die Fassungskraft der menschlichen Seele begrenzt ist und Gott sich daher nur sanft vor den inneren Blick der Seele stellt, seinen Sonnenglanz in milden menschengemäßen Bildern verhüllend wie in ein Tuch. Hildegard von Bingen hat in einer sehr präzisen Selbstanalyse ihrer mystischen Erfahrungen erklärt, dass sie das göttliche Licht nicht direkt schauen kann, so wie man nicht direkt in die Sonne zu sehen vermag. Auch der flämische Waldmönch Jan van Ruysbroeck vergleicht das Überwältigende der göttlichen Berührung mit dem blendenden Licht der Sonne. Gott gibt sich uns daher in der mystischen Erfahrung so, wie es unserer seelischen Sehkraft gemäß ist. Mechthild von Magdeburg hat das Beseligende der mystischen Erhebung erfahren, kennt aber auch deren Grenzen. Gott, so sagt sie, mildert seinen unendlichen Lichtglanz herab, damit die endliche Seele nicht vor ihm vergeht. Erst im Auferstehungsleib, im jenseitigen Leben wird uns die wahre Schau Gottes zuteil. In diesem Leben, so Bernhard von Clairvaux in Übereinstimmung mit der christlichen Theologie und den großen Meistern der Mystik, können wir nur verschiedene gleichnishafte Hindeutungen erkennen, die dem begrenzten Vermögen unserer leib-seelischen Natur gemäß sind. Der Apostel Paulus schon fasst dies im ersten Korintherbrief (13,12) in das Bild des Spiegels, in dem wir nur rätselhafte Umrisse erkennen können. Meister Eckhart, der Gott wesenhaft in seinem tiefsten Grund erfassen will, weicht damit vom großen Hauptstrom der christlichen Mystik ab.

TÄTIGES UND KONTEMPLATIVES LEBEN

Die christlichen Mystiker geißeln das egoistische Kreisen um sich selbst, das andächtige Gefühle und spirituelle Sensationen um ihrer selbst willen herbeizuführen versucht. Reines Streben nach spiritueller Beglückung, mit welchen Mitteln auch immer, ist für sie nichts als unreifes Haften am eigenen Ich. Man bleibt nach einem Bild des Johannes vom Kreuz (1542–1591) darin gefangen „wie die Fliege, die am Honig klebt“. Das unterscheidet die christliche Mystik grundlegend vom kommerziellen Esoterikrummel, dessen abstruse Praktiken immer nur die schnelle Selbstbeglückung im Blick haben. Nicht die Selbstbeglückung, sondern die Liebe ist für alle christlichen Mystiker der Schlüssel zur Vervollkommnung – die Liebe zu Gott und die Liebe zum Mitmenschen, denn beides gehört zusammen und findet im Ausgleich des tätigen und des kontemplativen Lebens ihren harmonischen Zusammenklang – so predigt es etwa Johannes Tauler (1300–1361). Aus der überwältigenden Liebeserfahrung der göttlichen Berührung wachsen den Mystikern Kräfte zu, mit denen sie in tätiger Mitmenschlichkeit in die Welt wirken und dabei auch vor unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten nicht zurückschrecken. Die Lebensumkehr und Wandlung eines Menschen zum Guten nach einer mystischen Erfahrung ist für sie sogar das wichtigste Kennzeichen dafür, dass es sich dabei um eine wirkliche göttliche Berührung gehandelt hat.

KIRCHENVÄTERZEIT UND FRÜHES MÖNCHTUM

Die Suche nach den geheimsten göttlichen Mysterien ist Ausdruck einer allgemeinmenschlichen Sehnsucht, die zurückreicht bis in das Dunkel vorgeschichtlicher Zeit. Gottesschau und Gottesbegegnung waren auch in den Jahrhunderten vor Christus das Anliegen griechisch-orientalischer Mysterienkulte, platonisch-philosophischer Spekulation und jüdischer Überlieferung. Das radikal Neue des Christentums ist die Botschaft, dass Gott selbst sich in seinem Sohn den Menschen offenbart hat, in Jesus Christus. Mit dem Sakrament der Eucharistie, das Jesus im Brotbrechen des letzten Abendmahles gestiftet hat, ist nach christlichem Glauben seine bleibende Gegenwart verbürgt. Wer Christus in Liebe und im Glauben nachfolgt, erlangt Anteil am göttlichen Leben, denn der Gottessohn und Gottvater sind eins – wie es Jesus in seiner Fürbitte für alle Glaubenden ausgedrückt hat: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind.“ (Joh 17,21–22) Im christlichen Glauben war damit von Anfang an ein mystischer Zug, der seine theologischen Lehrer bereit machte für die Aufnahme mystischen Gedankengutes aus anderen religiösen Strömungen und philosophischen Lehren. Insbesondere neuplatonische Vorstellungen von der Rückkehr der Seele zum absoluten Einen Gottes auf dem Wege der Versenkung, wie sie Plotin (205–270) ausgeformt hat, lieferten philosophische Denkmuster, die zur Entfaltung einer christlichen Theologie der Mystik beigetragen haben.

Schon die großen Theologen der ersten Jahrhunderte, die sogenannten Kirchenväter, steckten dabei klar den Rahmen ab, in dem Mystik als christlich zu bezeichnen ist. Sie haben überlieferte philosophisch-theologische Lehren ihrem Denken anverwandelt, soweit dies für ein christliches Verständnis der Mystik hilfreich war, vom Unvereinbaren jedoch grenzten sie sich scharf ab. Origenes (um 185–253) formulierte bereits im dritten Jahrhundert wichtige theologische Grundlagen der Mystik. Bei Augustinus (354–430) im vierten Jahrhundert ist die reife christliche Mystik bereits da. Gregor der Große (540–604) im sechsten Jahrhundert hat sie weiterentwickelt und zur Mystik des Mittelalters übergeleitet, die im zwölften und dreizehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hat. Außerordentlich einflussreich waren Schriften, die wahrscheinlich ein syrischer Mönch des sechsten Jahrhunderts unter dem Pseudonym Dionysius Areopagita geschrieben hat. Seine vom Neuplatonismus angeregte sogenannte negative Theologie, nach der man sich dem dunklen, schweigenden Urgrund Gottes nur über die Erkenntnis dessen annähern kann, was er nicht ist, wurde von den Mystikern angesichts der Unsagbarkeit ihrer Erfahrung vielfach herangezogen.

Die Kirchenväter waren es auch vor allem, die immer wieder theologische Irrlehren korrigierten, denn erst langsam entstand in den ersten Jahrhunderten nach Christi Kreuzestod und Auferstehung ein festes gemeinsames Fundament der Christenheit: Der Kanon der Schriften des Neuen Testaments war Ende des zweiten Jahrhunderts festgeschrieben, und es entwickelte sich eine ausgeformte Liturgie mit der Feier der Eucharistie als Mittelpunkt. Die Konzilien von Nizäa (325), Konstantinopel (381) und Chalcedon (451) schafften Klarheit darüber, wie die Dreieinigkeit Gottes und die Göttlichkeit Christi zu verstehen seien. Insbesondere die wild wuchernde Spekulation der sogenannten Gnosis griff vielfach auf die noch ungefestigten christlichen Gemeinden über. Deren geheimnisvoll erscheinende, aus verschiedensten Mysterien und eigenwillig umgeformtem christlichem Gedankengut gewobene Lehre versprach einen sicheren Weg zur Selbsterlösung und zur Vergöttlichung der in die Geheimnisse Eingeweihten. Zentralgedanke ist die dualistische Vorstellung, nach der in der Welt ein böses und ein gutes Prinzip miteinander ringen. Die materielle Welt, unsere leibliche Existenz eingeschlossen, gehört zur Welt des Bösen, aus der die Seele erlöst werden muss. Bis ins Hochmittelalter waren entsprechende Lehren verbreitet. Sekten wie die besonders in Südfrankreich aktiven Katharer konnten zeitweise in ihrem Einflussbereich die Kirche fast vollständig verdrängen. Die Bewegung der Brüder und Schwestern des freien Geistes fand Anhänger selbst in christlichen Klöstern. Auch christliche Mystiker wie Marguerite Porete und hochgelehrte Theologen wie Meister Eckhart ließen sich von ihren Vergottungsfantasien anstecken und gerieten in das Fahrwasser problematischer Irrlehren. In Abgrenzung gegen die fantastische Spekulation und schwärmerische Übersteigerung dieser Bewegungen festigte sich früh die gemäßigte, theologisch höchst durchdachte Position der christlichen Mystik. Gottes Gegenwart wird danach allen Glaubenden in kirchlicher Gemeinschaft im Sakrament der Eucharistie geschenkt, nicht nur wenigen Auserwählten, die in eine Geheimlehre eingeweiht sind. Mystische Erhebungen als seltene und außerordentliche Erscheinungen sind ein besonderes Geschenk göttlicher Gnade, aber nicht heilsnotwendig.

In den ersten Jahrhunderten der Kirche entstand auch das Mönchtum als besonderer Mutterboden der christlichen Mystik. Seine Urform waren lose Zusammenschlüsse von Eremiten, die sich ab dem 3. Jahrhundert zum einsamen, Gott hingegebenen Leben in die Wüsten Ägyptens und Syriens zurückgezogen hatten. Die überlieferten Weisheiten dieser sogenannten Wüstenväter sind ein Schatz christlicher Spiritualität. Aus der Notwendigkeit, das Gemeinschaftsleben besser zu gestalten und die mönchische Lebensform auch für diejenigen zu öffnen, die dem harten Eremitenleben nicht gewachsen waren, entstanden organisierte Klöster. Von den unterschiedlichen Regelwerken, die sich die Mönchsgemeinschaften gaben, setzte sich schließlich die Regula Benedicti durch. Benedikt von Nursia (um 480–547) hat sie für sein 529 auf dem Monte Cassino gegründetes Kloster verfasst. Gregor der Große lebte bereits aus ihrem Geist. Sie wurde die allgemein für das Klosterwesen bestimmende Regel, und das Benediktinertum blieb als Kulturträger die vorherrschende Form des Mönchtums bis in das 12. Jahrhundert, in dem dann zahlreiche Reformbewegungen zu einer Neubestimmung des mönchischen Lebens aufbrachen.

ORIGENES (UM 185–253)

Origenes hat als theologischer Lehrer in den Gemeinden von Alexandria und Cäsarea gewirkt, als die junge Christenheit noch eine verfolgte Minderheit war. Der römische Staat betrachtete die christlichen Gemeinden als Fremdkörper und Bedrohung, weil sie die religiöse Verehrung des Kaisers verweigerten. Origenes selbst ist Opfer der immer wieder aufflammenden Christenverfolgungen geworden. Auch die theologischen Grundlagen der sich lebhaft über Kleinasien, Syrien und Ägypten ausbreitenden Kirche waren noch längst nicht gesichert. Um viele Grundfragen wurde heftig gestritten, und fremdes Gedankengut aus der hellenistischen Philosophie und den wild wuchernden Spekulationen der Gnosis drohten das ursprünglich Christliche zu überformen. Origenes hat den Wesenskern des christlichen Glaubens gegenüber den konkurrierenden philosophisch-theologischen Richtungen abgegrenzt, zugleich aber auch ihre Denkmuster übernommen, insbesondere die der platonischen Philosophie, wenn er damit das christliche Denken vertiefen konnte. Obwohl sein Werk nicht von Irrwegen frei ist und später in Teilen verurteilt wurde, blieb es über die Jahrhunderte äußerst fruchtbar für die Theologen nach ihm. Zum Verständnis der mystischen Erfahrung hat Origenes vor allem mit seiner Lehre von den geistlichen Sinnen der Seele beigetragen, und entsprechende Selbstzeugnisse lassen darauf schließen, dass er selbst ein erfahrener Mystiker war.

Immer bedroht und von einer unbeugsamen Gläubigkeit geprägt war das christliche Leben, in das Origenes um 185 in Alexandria als Sohn kirchentreuer, christlicher Eltern hineingeboren wurde. Zwanzig Jahre vor seiner Geburt war der bedeutende christliche Philosoph Justin den Märtyrertod gestorben. 202 wurde Origines’ Vater Opfer der unter Septimius Severus (146–211) erneut verschärften Verfolgungen. Der erst siebzehnjährige Origenes konnte nur mit Mühe von seiner Mutter davon abgehalten werden, ihm freiwillig in das Martyrium zu folgen. Enthusiastisch und unter Anspannung all seiner Energien widmete er sich fortan dem Studium und der Verbreitung christlicher Lehren. Und er strebte nach radikaler Verwirklichung einer christlichen Lebensform, zu der nach seinem Verständnis die äußerste Bedürfnislosigkeit und gänzliche Abkehr von allem Weltlichen gehörte. Lange hielt sich das Gerücht, das wohl seine Gegner in Umlauf setzten, er habe sich selbst entmannt.

Die Grundlagen für seine umfassende theologisch-philosophische Bildung hat ihm der Athener Philosoph Clemens (140/150–vor 216) vermittelt, der um 200 in Alexandria eine freie christliche Gelehrtenschule eröffnete. Origenes wurde sein bedeutendster Schüler und Nachfolger. Diese sogenannte Schule von Alexandria hat in der Auseinandersetzung mit den hellenistisch-gnostischen Lehren die Theologie außerordentlich bereichert und zentrale Fragen der konkurrierenden geistigen Strömungen, etwa die nach der Entstehung der Welt und dem Aufbau des Kosmos, aus christlicher Sicht behandelt. Von Origenes wurde mit dem Gedanken, dass die Seele wieder zurück zu Gott aufsteigen will, ein platonisches Element in das christliche Denken eingeführt, das zum Grundmotiv der Mystik geworden ist. Anders als etwa im Neuplatonismus, dessen Gründer Plotin (205–270) ebenfalls in Alexandria, aber in der Philosophenschule des Platonikers Ammonios Sakkas († 242/243) studiert hat, bedeutet dieses christlich gewendete Motiv keine Selbsterlösung. Man kann sich jedoch für den Aufstieg der Seele bereit machen, indem man sein Leben christlich ordnet, „Geld und Reichtümer und selbst die Erde und den Himmel“, die doch vergehen werden, gering schätzt und sich in die Liebe zu Gott vertieft. Zuletzt aber muss Gott seiner Geliebten, der Seele, entgegenkommen und zu ihr herabsteigen zur geistlichen Umarmung, also der mystischen Einigung als dem Ziel des Aufstiegs der Seele. In seinen Predigten zum Hohenlied, einer orientalischen Liebesdichtung aus dem Kanon der alttestamentlichen Schriften, hat Origenes die mystische Einigung in Bildern dieser Dichtung ausgelegt. Schon in der jüdischen Tradition war das Hohelied allegorisch auf einen geistlichen Sinn hin ausgelegt worden. Man deutete das liebende Spiel von Braut und Bräutigam symbolisch als Bild für das innige Verhältnis Gottes zu seinem auserwählten Volk Israel. Nach der christlichen Auslegung dieses Textes sah man in der Braut die Kirche oder die menschliche Seele, im Bräutigam Christus den Logos, das Wort Gottes. In diese Bilder übersetzt, ist für Origenes die höchste Stufe des Aufstiegs der Seele zu Gott der Empfang des kommenden Bräutigams, also des Gottessohnes, der sich zu seiner Braut, der Seele herabneigt.

Die liebende Annäherung des göttlichen Bräutigams im mystischen Erleben wird nach Origenes durchaus sinnlich erfahren und damit bewusst, allerdings im übertragenen Sinne einer geistlichen, „unsinnlichen“ Sinnlichkeit der Seele, über die Gott dem Menschen seine Gegenwart mitteilen kann. Auf diese Sinne des Herzens ist Origenes auch in seinen Predigten und Bibelkommentaren immer wieder zurückgekommen. Die Seele erfährt so die Ankunft ihres göttlichen Bräutigams als Kuss und Umarmung, als Duft, der alle Duftstoffe übertrifft, als Süßigkeit und wahre Speise des göttlichen Logos, als Anblick „geheimnisvoller und verborgener Schätze“ im Gemach des Königs, also in unmittelbarer Gegenwart Gottes, als gesungene „Worte der Liebe“, als Wonneschmerz sehnender Gottesliebe, als sei man von einem „Pfeil verwundet“. Die Seele also sieht, hört, schmeckt, riecht, und ertastet ohne die Vermittlung körperlicher Sinne auf eine geistliche Weise die Nähe des göttlichen Bräutigams. Origenes hat damit der Theologie ermöglicht zu verstehen, wie der Mensch in seiner endlichen leiblichen Existenz berührt werden kann vom unendlich ihn übersteigenden geistigen Sein Gottes. Auch die Gottesgeburt in der Seele als ein Bild für die mystische Einigung ist bei Origenes bereits vorgebildet, also tausend Jahre vor Meister Eckhart, dessen Name damit vor allem in Verbindung gebracht wird. In seinen Predigten hat Origenes dieses zentrale Bild der christlichen Mystik geprägt. So heißt es bei ihm: „Wird nun also der Erlöser immerdar … vom Vater geboren, so gebiert auch dich, wenn du den Geist der Sohnschaft empfangen hast, Gott in ihm bei jeglichem Werke, bei jeglichem Sinnen, und also geboren wirst du immerdar als Sohn Gottes in Christus Jesus.“

Origenes hat seine umfassenden Kommentare der biblischen Schriften und seine zahlreichen Predigten auf sechstausend Papyrusrollen niedergelegt. Immer suchte er hinter der wörtlichen Bedeutung den innersten geistlichen Sinn der von ihm ausgelegten Schriftstellen und ist damit wegweisend für die Exegese geworden. Der wohlhabende Christ Ambrosius unterstützte Origenes, indem er dessen Schriften kopieren und verbreiten ließ. Bischof Demetrios von Alexandria († 231/232) förderte ihn zunächst und berief ihn zum Katecheten, also zum Lehrer für die Unterweisung der dem christlichen Glauben zahlreich zuströmenden Taufbewerber. Die Kirche in Ägypten sollte bald hundert Bischofssitze zählen. Als Origenes aber um das Jahr 230 während einer Reise in Cäsarea ohne Genehmigung seines Bischofs die Priesterweihe empfing, wandte sich der verärgerte Demetrios von ihm ab. Er setzte durch, dass die Weihe für ungültig erklärt wurde und Origenes nicht mehr als kirchlicher Lehrer in Alexandria wirken durfte. So seines Lebenssinns beraubt, ging Origenes nach Cäsarea, wo ihm der dortige Bischof wohlgesinnt war, sodass er seine Lehrtätigkeit fortsetzen konnte. Origenes stand mit sechsundvierzig Jahren auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft und blieb weitere zwanzig Jahre außerordentlich produktiv tätig, weiter gefördert durch den Laienchristen Ambrosius, der ihm Schreiber zu seiner Unterstützung an die Seite stellte.

Es war keine geruhsam-beschauliche Zeit, in der Origenes seine letzten Jahre verbrachte. Unter Kaiser Maximinus Thrax (235–238) wurden wieder christenfeindliche Gesetze erlassen, was Origenes veranlasste, die Gläubigen mit einer seiner Schriften zur Standhaftigkeit zu ermutigen und auf das Martyrium vorzubereiten. Mit den antichristlichen Thesen des platonischen Philosophen Celsus (2. Jh.) setzte er sich in einer um 248 entstandenen ausführlichen Gegenschrift auseinander. Bei aller literarischen Wirksamkeit und rastlosen Lehr- und Predigttätigkeit führte Origenes ein verinnerlichtes religiöses Leben. In seiner Hohelied-Auslegung, die spätere große Mystiker wie Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von Thierry inspiriert hat, findet sich einer der eindringlichen Berichte christlicher Mystiker über eigene Gottesbegegnungen: „Allerdings kann man das [die Begegnung von göttlichem Bräutigam und seiner Braut, der Seele] nicht erkennen, wenn man es selbst nicht erleidet. Häufig, Gott ist mein Zeuge, sah ich den Bräutigam sich mir nahen und ganz nahe bei mir sein. Doch plötzlich zog er sich zurück, und ich konnte ihn dann nicht finden, den ich suchte. Daher sehnte ich mich von Neuem nach seiner Ankunft, und manchmal kommt er wieder. Und wenn er erschienen ist und ich ihn mit meinen Händen erfasst habe, dann entgleitet er wieder. Wenn er entglitten ist, wird er von mir wieder gesucht. Und das tut er häufig, bis ich ihn wirklich festhalte und hinaufsteige.“

Im Jahr 250 flammten unter Kaiser Decius (249–251) die Christenverfolgungen erneut auf. Papst Fabian erlitt gleich zu Beginn in Rom den Märtyrertod. Origenes wurde verhaftet und gefoltert. Zwar ließ man ihn wieder frei, doch er starb wenige Jahre später, 253 oder 254, an den Folgen der Misshandlungen. Die Theologen nach ihm bauten auf seinem riesigen Werk auf. Unklarheiten in seiner Lehre der Dreieinigkeit über das Verhältnis der drei göttlichen Personen – Vater, Sohn und Heiliger Geist –, die zu Origenes’ Zeiten allerdings noch gar nicht voll entfaltet war, gaben im 4. und 6. Jahrhundert Anlass für heftige theologische Auseinandersetzungen um sein Werk. Origenes sah im Gegensatz zur später erst festgeschriebenen Lehre den Sohn als dem Vater untergeordnet. Auch manche Theorien der Gnosis sind in seine Lehre eingegangen, etwa die von der vorgeburtlichen Existenz der Seele und der Beseelung der Himmelskörper. 553, auf dem Konzil von Konstantinopel, wurden Teile seines Werkes als Irrlehren verurteilt und der Vernichtung überantwortet. Nur ein Drittel seiner Schriften ist daher überliefert.

Schlüsseltext aus dem Werk des Origenes:

Origenes hat mit seiner Lehre von den geistlichen Sinnen der Seele eine der wichtigsten Grundlagen für das Verständnis der mystischen Erfahrung geschaffen. Bilder der geistigen Sinnlichkeit, also des Sehens, Hörens, Schmeckens, Riechens, Fühlens der göttlichen Anwesenheit auf geistliche Weise, prägen die christliche Mystik. Origenes hat sie als Erster in aller Klarheit gesehen:

Obwohl Christus in seinem Wesen einer ist, so gibt er sich doch jedem Einzelnen verschieden, je nach dem Bedürfnis dessen, in dem er wirkt. Und es braucht nicht verwunderlich erscheinen, dass Christus, so wie er „Quell“ ist und „Ströme lebendigen Wassers“ aus ihm „fließen“, wie er „Brot“ ist und „das Leben gibt“, er auch „Narde“ ist und „duftet“ und „Salbe“ ist, mit der gesalbt man zum „Christ“ wird – wie es im Psalm heißt: „Rührt meine Christe nicht an!“ Und vielleicht macht sich Christus für solche, die nach dem Apostel „geübte Sinne zur Unterscheidung des Guten und Bösen“ haben, jedem einzelnen der Seelen-Sinne zu etwas Eigenem. Darum nämlich wird er „Wahres Licht“ genannt, damit die Seelen Augen haben, durch die sie eingestrahlt werden können, darum „Wort“, damit sie „Ohren haben zu hören“, darum „Brot“, damit die Seelen einen Geschmack haben zu schmecken, darum wird er also auch „Salböl“ oder „Narde“ genannt, damit der Geruchssinn der Seele offen sei dem Dufte des WORTES. Darum wird das WORT, das „Fleisch geworden“, auch „tastbar“ und „mit Händen berührbar“ genannt, damit die innere Hand der Seele „etwas vom Wort des Lebens ertasten“ könne. Aber alles dies ist ein und dasselbe WORT Gottes, das, in jeder dieser [Erscheinungen] den Neigungen des Gebetes angestaltet, keinen seelischen Sinn von seiner Gnade unberührt lässt. (Origenes: Geist und Feuer. Eine Auswahl aus seinen Schriften von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln, 1991, S. 262f)

AUGUSTINUS (354–430)

Augustinus hat die christliche Theologie und Philosophie zu einem ersten Höhepunkt geführt. Er übte bis zu seinem Tod nur das bescheidene Amt eines Bischofs im unbedeutenden nordafrikanischen Hippo aus, aber die tiefgründigen Fragen, die er aufgeworfen und durchdacht hat, etwa nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und Gottes vorausschauendem Wirken, beschäftigen die Theologie bis heute. Vor allem das Vorbild seiner radikalen Umkehr in der Lebensmitte, getrieben von der Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben und erschüttert von der Erfahrung göttlicher Nähe, hat die Mystiker nach ihm auf den Weg geschickt. Seine um das Jahr 400 verfassten „Bekenntnisse“ sind eine Lebensbeichte, die seinen Weg von verzweifelter Orientierungslosigkeit bis zur befreienden Glaubenssicherheit schildert. Es ist ein außerordentliches Dokument religiöser Innerlichkeit, das bis heute mit zeitloser Unmittelbarkeit berührt. Leitstern seines Lebens waren die berühmten einleitenden Worte seiner „Bekenntnisse“: „Auf dich hin [Gott] hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“

Augustinus stand Anfang seiner Dreißigerjahre, etwa um 385, an einem Scheideweg: Sollte er die ungeahnten Möglichkeiten ergreifen, die ihm einen Aufstieg bis in höchste Verwaltungsämter versprachen, oder seiner immer lauter sich meldenden inneren Stimme folgen, die ihn zu einem einfachen, sinnhaften Leben rief, fern von der Oberflächlichkeit eines an Macht und Geltung orientierten Strebens? Einflussreiche Freunde hatten dem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Nordafrikaner den Weg nach Mailand, in das damalige Machtzentrum des weströmischen Reiches, geebnet, indem sie ihm eine Anstellung als Rhetoriklehrer und Redenschreiber am kaiserlichen Hof verschafften. Einerseits war das der gesellschaftliche Erfolg, den er angestrebt hatte. Er trennte sich sogar von seiner langjährigen Lebensgefährtin, mit der er einen bereits zehnjährigen Sohn hatte, da diese nicht standesgemäße Liaison für seinen weiteren Aufstieg nachteilig gewesen wäre. Andererseits aber quälten ihn bereits länger Zweifel an seinem Weg, und ihm war klar, dass er mit seiner Tätigkeit als Rhetor am verlogenen, äußeren Schein weltlicher Eitelkeiten mitwirkte. Er selbst hatte schon immer nach einer Orientierung gesucht, die seinem Sehnen nach einer höheren, geistigen Erfüllung ein Ziel geben konnte. Als Kind war er von seiner Mutter christlich erzogen worden und fand Halt in einer naiven Gläubigkeit. Als junger Student der Rhetorik in Karthago entfernte er sich dann vom christlichen Glauben, denn die einfache Volksreligiosität, die er in seinem provinziellen Heimatort Thagaste (heute Souk Ahras in Algerien) kennengelernt hatte, konnte seinem intellektuellen Anspruch nicht mehr genügen. Er schloss sich den Manichäern an, einer aus Persien stammenden religiösen Strömung, die intellektuell-philosophisch argumentierte und mit einer esoterischen Geheimlehre ihren Adepten das Gefühl gab, Auserwählte zu sein, die den Schlüssel zur Selbsterlösung hatten. Sie lehrten, dass nur eine böse Seinsmacht die unvollkommene materielle Welt geschaffen haben könne. Diese böse Seinsmacht liege in einem unausgesetzten Kampf gegen das göttliche Gute, aus dem das lichthafte, geistige Sein stamme. Die Seele des Menschen gehöre dem guten, geistigen Sein an, sei aber mit ihrem Körper in der bösen materiellen Welt gefangen. Durch strenge Enthaltsamkeit allen weltlichen Begierden gegenüber könne die Seele sich wieder dem Lichtreich des Guten annähern, um mit ihm zu verschmelzen. Augustinus verkehrte neun Jahre in den Zirkeln der Manichäer und erwarb sich ihre Anerkennung, obwohl die Enthaltsamkeit, insbesondere die sexuelle, nicht seine Sache war. Schließlich aber erkannte er den grundlegenden inneren Widerspruch der manichäischen Lehre: Zwei widerstreitende göttliche Schöpfermächte sind nicht möglich, denn könnte eine gleichwertige Macht Gott gegenüberstehen, wäre er nicht Gott. Trotzdem ließ sich Augustinus gerne von seinen manichäischen Freunden weiter protegieren und nach Rom und schließlich nach Mailand empfehlen.

Mit schonungsloser Offenheit blickt Augustinus in seinen Bekenntnissen