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Nr. 2644

 

Die Guerillas von Terrania

 

Menschen im Widerstand – Beistand kommt von unbekannter Seite

 

Verena Themsen

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Seit dem dramatischen Verschwinden des Solsystems mit all seinen Bewohnern hat sich die Situation in der Milchstraße grundsätzlich verändert.

Die Region um das verschwundene Sonnensystem wurde zum Sektor Null erklärt und von Raumschiffen des Galaktikums abgeriegelt. Fieberhaft versuchen die Verantwortlichen der galaktischen Völker herauszufinden, was geschehen ist. Dass derzeit auch Perry Rhodan mitsamt der BASIS auf bislang unbekannte Weise »entführt« worden ist, verkompliziert die Sachlage zusätzlich. Um die LFT nicht kopflos zu lassen, wurde eine neue provisorische Führung gewählt, die ihren Sitz auf dem Planeten Maharani hat.

Während Perry Rhodan und Alaska Saedelaere gegen die aus langem Schlaf erwachende Superintelligenz QIN SHI kämpfen müssen, befindet sich das Solsystem abgeschottet vom Rest des bekannten Universums in einer Anomalie und muss sich gegenüber drei fremden Völkern behaupten: Die Spenta hüllen Sol ein, die Fagesy besetzen Terra, und die Sayporaner entführen Kinder. Nachdem die Regierung vor den Fremden kapituliert hat, regt sich ein erster Widerstand in Form der GUERILLAS VON TERRANIA ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Barisch Ghada – Der Terraner übernimmt eine Führungsrolle.

Sharoun Beffegor – Eine Exagentin wird zur Guerilla-Ausbilderin.

Fydor Riordan – Ein Assistent beweist sich den neuen Machthabern.

Chossom – Der Fagesy stört sich an den Aktionen der Terraner.

Der Schatten – Der Widerstand erhält Hilfe.

1.

Solare Residenz

12. Oktober 1469 NGZ

 

»Härte! Wir brauchen mehr Härte im Umgang mit diesen starrsinnigen Lateralen!«

Der Hohe Marschgeber Chossom fuhr mit einem seiner fünf um die Zentralscheibe angeordneten Arme heftig durch die Luft. Das normalerweise orangefarbene Wellenmuster, das die türkisgrüne Gestalt des Fagesy bis in die Armspitzen zierte, pulsierte in kräftigem Rot. Sein Unmut war nicht zu übersehen.

Marrghiz fragte sich, wie viel Anteil daran die Tatsache hatte, dass selbst fünf Tage nach ihrer gemeinsamen Machtübernahme im Solsystem noch immer nicht alle Räume der Solaren Residenz mit für Fagesy geeigneten Sitzmöbeln ausgerüstet waren. Ausgerechnet der ehemalige Konferenzraum, den der Sayporaner zu seiner Arbeitsstätte erkoren hatte, zählte dazu.

»Die Aufregung wird sich bald legen«, sagte Marrghiz. Sorgfältig passte er die Schwingungen seiner Stimmbänder an jene Frequenzen an, die von den Fagesy als beruhigend empfunden wurden. »Die Terraner mögen stur sein, aber nicht dumm. Sie wissen, dass es keinen anderen Weg gibt, als mit uns zusammenzuarbeiten. Bald werden sie begreifen, dass alles nur zu ihrem Besten geschieht.«

Chossom rieb zwei Arme aneinander und erzeugte ein obszön klingendes Geräusch. »Was interessiert mich das Beste dieser widerlichen Wesen. Meine Leute verschwinden, wahrscheinlich werden sie umgebracht. Die Terraner verüben feige aus dem Hinterhalt Anschläge auf unsere Patrouillen! Das ist kein Krieg, sondern Sumpflaufen! Und wir wissen immer noch nicht, wohin diese feigen Diebe ALLDARS Körper verschleppt haben. Lass uns die Regierungsleute in Plauderkammern stecken. Dort würden wir sie schnell zum Reden bringen!«

»Sofern sie überhaupt etwas wissen!«, hielt Marrghiz dagegen. »Wir haben bereits darüber gesprochen. Der Diebstahl ALLDARS könnte die Tat Einzelner gewesen sein, womöglich der gleichen, die die Versetzung dieses Sonnensystems in die Anomalie verursacht haben. Ein Vorgehen, wie du es vorschlägst, hätte nur zweifelhafte Aussicht auf Erfolg und würde uns zugleich unseres besten Mittels zur Einflussnahme auf die Terraner berauben.«

Entrüstet stemmte der Hohe Marschgeber den Zentralkörper auf Marrghiz' Augenhöhe hoch. Er musste dafür nicht einmal die Hälfte seiner Armlängen heranziehen und aufrichten. Selbst für einen Fagesy war Chossom groß.

»Wie sollte jemand so eine Tat ohne das Wissen seiner Regierung vollbringen können? Das ist eine lächerliche Annahme!«

»Nicht bei diesem Volk. Terraner gelten als eigensinnig und stur. Das zeigt sich gerade an den Übergriffen auf Fagesy, obwohl ihre Regierung kapituliert hat. Die terranische Geschichte ist voll von Eigenmächtigkeiten Einzelner.«

Chossom bewegte seine Arme so, dass all seine Sehzellen auf Marrghiz gerichtet waren. Die Bewegung machte den Sayporaner wachsam. Normalerweise vermieden die Fagesy es, die für sie ekelhaft aussehenden Achsensymmetrischen anzusehen.

»Was weißt du über die schwarze Sphäre, die sie um ihre Sonne gelegt haben? Was verbergen sie darin? Ist ALLDAR dort? Falls ja, warum sagst du es mir nicht?«

Marrghiz wurde der Diskussion müde. Schon gar nicht hatte er vor, Chossom darüber aufzuklären, dass nicht die Terraner diese Sphäre erschaffen hatten. Auch wenn nach außen hin Chossom und Marrghiz gemeinsam die Geschicke des Solsystems lenkten – es gab viele Dinge, die der Fagesy zum allgemeinen Besten nicht wissen sollte und durfte.

Mit einer Hand drehte der Sayporaner seinen Rückenköcher ein wenig zur Seite und zog mit der anderen die Phenube heraus. Sie war nicht das optimale Instrument im Umgang mit Fagesy, doch es zeigte durchaus Wirkung.

»Du musst lernen, dich in Geduld zu üben«, sagte er, während eine lautlose Druckpumpe den Luftsack des Instrumentes füllte. »Sichere Informationen erfordern zunächst sichere Kontrolle. Und diese erlangen wir nur, wenn wir die Dinge Schritt für Schritt angehen.« Die schlanken Finger schlossen sich um das dunkle Holz des Flötenrohrs und glitten auf die Tasten, mit denen die Tonlöcher geöffnet wurden.

»Du kannst leicht Geduld fordern! Ich habe bislang von keinem einzigen verschwundenen Sayporaner gehört.«

»Bist du sicher, dass du darüber alles weißt?« Luft strömte in das gebogene Holzrohr. Irisierende Schimmer glitten über die Haut auf Marrghiz' Händen, als er ein sanftes Lied anstimmte.

»Ich weiß nicht einmal, wie viele Sayporaner hier sind.« Die Antwort klang wie eine Mischung aus Protest und Zugeständnis.

»Also kannst du auch nicht wissen, ob welche davon fehlen.«

Die Sprechmembran des Fagesy vibrierte unter einem heftigen Luftausstoß und erzeugte einen pfeifenden Ton. Marrghiz wand seine Melodie darum, band das Geräusch perfekt in sein Spiel ein und ließ es darin zu einem Seufzer ausklingen.

»Vermutlich hast du recht«, murmelte Chossom. »Doch das muss ein Ende haben.«

»Das wird es.« Marrghiz ließ einen Triller einfließen, das hoffnungsvolle Tirilieren eines Aquat im Morgenrot. »Alles wird gut. Nur ein wenig Geduld.«

 

*

 

Marrghiz hörte auch dann nicht sofort auf zu spielen, als Chossom den Raum verlassen hatte. Er mochte den Klang der Phenube und arbeitete daran, sein Spiel zur Perfektion zu treiben. Währenddessen dachte er über die kommenden Schritte nach.

Der Klang des Interkoms riss ihn aus seinen Betrachtungen. Mit einem Wink nahm er das Gespräch an.

Ein Sayporaner erschien in der Holodarstellung. Ein Botschafter, wie Marrghiz sich erinnerte. Stradnaver. Er hatte nach der Übernahme des Solsystems die zentrale Koordination in Terrania übernommen.

»Entschuldige die Störung«, sagte der Botschafter mit einer Neigung des Kopfes. »Aber ich denke, die Sache ist wichtig. Es gab eine unplanmäßige Aktivierung des Transitparketts.«

»Unplanmäßig?« Marrghiz legte die Phenube beiseite.

»Die Plattform wurde aktiv vorgefunden, obwohl sie nach dem letzten Transit abgeschaltet worden war. Die Aufzeichnungen zeigen einen Transfer, aber wir können nicht bestimmen, wie lang er dauerte und wie viel transportiert wurde.«

»Einkommend oder ausgehend?«

»Einkommend.«

Marrghiz stand auf. »Untersucht die Sache so gründlich wie möglich. Meldet mir jede Einzelheit, egal wie unbedeutend sie euch scheint. Ich werde sehen, ob ich von hier aus ebenfalls etwas in Erfahrung bringen kann. Und stellt sicher, dass so etwas nicht noch einmal passieren kann.«

Er verabschiedete sich mit einer knappen Kopfbewegung und schaltete das Gerät auf Rufmodus um. Nur einen Augenblick später erschien das Holobild des Mannes, den er angerufen hatte. Blassblaue Augen in einem farblosen Gesicht richteten ihren Blick auf die Aufnahmetaster, vor denen für ihn Marrghiz' Bild hing.

»Wie kann ich dir helfen?«

»Fydor Riordan. Bitte, komm in mein Büro.«

Es war alles andere als eine Bitte, und er war sicher, dass der Assistent das trotz der sanften Stimme und des Lächelns verstand.

Der Terraner nickte knapp und schaltete ab.

 

*

 

»Es liegt also eine unautorisierte Nutzung eurer Transit-Technologie vor«, fasste Riordan zusammen. Er saß Marrghiz gegenüber, die schmalen Hände auf dem Tisch gefaltet.

»Und wie genau soll ich in dieser Angelegenheit helfen? Meine Ahnung von Technologie im Allgemeinen hält sich in engen Grenzen, und bei Sayporaner-Technologie ist sie gleich null. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, diese Lücke zu füllen ...«

»Du brauchst kein Wissen über die Technologie«, antwortete Marrghiz. »Für diese Seite haben wir unsere eigenen Spezialisten. Du sollst für uns herausfinden, wer dahinterstecken könnte.«

»Ihr verdächtigt Terraner?«

»Es ist die einzige Möglichkeit. Niemand sonst hätte einen Grund für solch einen Transit.«

»Die Richtung spricht dagegen.«

Marrghiz hob die Hände. »Wer sagt, dass es das erste Vorkommnis dieser Art war? Vielleicht ist jemand gegangen und wiedergekommen, und wir haben es beim ersten Mal lediglich nicht festgestellt. Seit wir begonnen haben, dein Volk anzuleiten, sind viele Dinge geschehen, die so etwas begünstigt haben könnten. Andererseits könnte auch nichts dergleichen passiert sein. Wir wissen nur, dass das Parkett für diese Richtung aktiviert war. Wir können über das Ausmaß des Transports nichts mit absoluter Sicherheit sagen.«

Marrghiz beobachtete Riordans Gesicht, doch er fand keinerlei Regung darin. In mancher Hinsicht fand er Merkmale an diesem Mann, die Menschen auch Sayporanern zuschrieben: undurchschaubar und unbeschreiblich. Während Sayporaner der irisierende Schimmer ihrer Haut auszeichnete, sah Riordan aus, als habe man ihm alle Farbe entzogen. Er wirkte grau und unauffällig, Durchschnitt in jeder Hinsicht, ein typischer Büromensch.

Auch sein bisheriger Vorgesetzter Attilar Leccore hatte unauffällig gewirkt, aber Riordan gab dieser Unauffälligkeit eine ganz neue Qualität. Dank des Verschwindens Leccores war Riordan quasi automatisch und ohne Reibungsverluste zum TLD-Chef aufgestiegen. Riordan ergab daher einen Regierungsassistenten, der selbst direkt an den Schalthebeln saß und sich nicht erst mit dem Widerstand eines anderen Terraners auseinandersetzen musste. Das machte ihn so besonders wertvoll für Marrghiz.

»Wer könnte so etwas geplant haben?«, fragte der Sayporaner. »Wer hätte die Möglichkeiten und die Eigenschaften, die so etwas erfordert?«

Fydor Riordan senkte den Blick auf die Hände, löste deren Verschränkung und breitete die Finger auf der Tischplatte aus.

»Es erfordert hohes technisches Wissen, eine fremde Technologie so schnell zu durchschauen. Von allen in der Solaren Residenz kommt dafür am ehesten der stellvertretende Residenz-Minister für Wissenschaft infrage.«

»Staatssekretär von Strattkowitz?«

Riordan sah wieder auf. »Ihm traue ich es zu. Schon von Amts wegen müsste er an jeder neuartigen Technologie interessiert sein, und er ist definitiv nicht vertrauenswürdig. Bedenke auch, dass ein Residenz-Minister am ehesten über Mittel und Möglichkeiten verfügt, den Schutz eurer Geräte zu überwinden.«

Marrghiz nickte langsam. »Urs von Strattkowitz also. Es stimmt, er zeigt zumindest starke Sympathie für die Leute, die sich uns passiv verweigern. Womöglich sucht er nach Wegen, uns aktiv bei unserem Tun zu behindern, ohne zu erkennen, dass es für alle das Beste ist. – Ich werde ihn im Auge behalten.«

»Ich werde ebenfalls mein Möglichstes tun. Allerdings ist das im Moment nicht allzu viel. Das Aufspüren der Gruppierungen, die sich nicht auf passiven Widerstand beschränken, wird wohl weiter Vorrang haben, nehme ich an?«

»Auf jeden Fall. Das ständige Verschwinden von Fagesy facht Chossoms Zorn an. Ich werde ihn nicht endlos bändigen können. Ich wünschte, er ließe seine Truppen nicht so offen Dominanz demonstrieren.« Während seiner Worte war Marrghiz aufgestanden. Er hob die Hand, um die Tür für Riordan öffnen zu lassen, als dieser eine unerwartete Frage stellte.

»Wirklich?«

Marrghiz ließ die Hand wieder sinken und musterte Riordan. »Was meinst du damit?«

Auch Riordan war aufgestanden. Im Gegensatz zu den meisten Terranern überragte er den Sayporaner auch im Stehen nicht. Ein weiterer Faktor, der dazu beitrug, dass er übersehen wurde.

»Ich hatte bislang den Eindruck, dass es den Sayporanern recht gelegen kommt, wie die Fagesy alle Wut auf sich ziehen«, sagte er. »Ein äußerst praktischer Blitzableiter. Zudem lassen die Gewaltausbrüche eure Predigten von einer besseren Zukunft noch attraktiver erscheinen.«

Stumm musterte Marrghiz den Assistenten. Schließlich hob er erneut die Hand. Riordan begriff, nickte knapp und verließ den Raum.

2.

Ghada-Wohnetage

12. Oktober 1469 NGZ

 

Das Trivid lief. Es lief meistens in der Wohnetage der Ghadas. Das machte die Einsamkeit irgendwie erträglicher, selbst wenn es wie in diesem Augenblick leise geschaltet war.

Jemand hatte wieder einmal Bilder eines eingestürzten Hauses eingefangen. Barisch Ghada fragte sich, wen sie damit aus dem Entspannungsmodul herauslocken wollten. Die Effekte, unter denen alle Bewohner des Solsystems seit dessen Versetzung in ein fremdes Universum litten, waren längst Alltag. Keinen interessierten die neuesten Opfer von Aussetzern oder Überschwingern der Schwerkraft oder dem Materie auflösenden Nirwana-Effekt. Man musste damit leben, es kam, wie es kam.

Eine an der Seite eingeblendete Statistik weckte sein Interesse: Die Häufigkeit der Ereignisse hatte abgenommen, Tendenz weiter sinkend.

»Scheint, als hätte unsere schöne neue Welt uns langsam angenommen«, murmelte Barisch. Er schüttelte den Kopf. »Zap!«

Gehorsam schaltete die Steuerung auf das nächste Programm. Eine Liebesschnulze. Das brauchte er gerade überhaupt nicht.

»Zap!«

Tanzende Ferronen.

»Zap!«

Ein Bericht über eine Safari auf Oxtorne.

»Zap!«

Das Gesicht von Phaemonoe Eghoo sprang ihm entgegen, ganz blonde Locken und zahnreiches Lächeln zwischen ihren sicher wieder scharf gefeilten Worten. Gott, wie er diese Frau hasste!

Ihretwegen hatte er SIN-TV auf seinem Gerät gesperrt. Doch seit ihrer Kollaboration mit den Invasoren konnte man ihr nicht mehr ausweichen. Es war Barisch egal, wie oft behauptet wurde, ihre Berichterstattung sei durchaus kritisch – sie würde ganz sicher niemals den Grad an Kritik überschreiten, den die neuen selbst ernannten Herren des Solsystems ihr zugestanden.

»Zap.«

»Besucher sind eingetroffen.« Die neutrale Männerstimme gehörte der Wohnungssteuerung. Es war ein einfaches Modell, passend für die schlichte, aber geräumige Wohnetage in dem eher unbedeutenden Stadtteil Ostterranias. Aber sie tat ihren Dienst. Barisch brauchte keine Steuerung mit tausend Sonderausstattungen und Gesäßmassagefunktion.

»Wer?«

»Eudo Misper und Xanno Piegasch.« Holos der beiden jungen Studenten erschienen neben dem Trivid.

»Können reinkommen. Ebenfalls direkt zugangsberechtigt: Sharoun Beffegor und Bhacc Nieslin. Sollten innerhalb der nächsten halben Stunde kommen.«

»Registriert. Ich werde sie einlassen, sobald sie sich anmelden.«

Barisch räumte das Modellhaus zur Seite, an dem er am Morgen gebaut hatte, und stand auf. Am Küchenservo wählte er einige Snacks und drei Bier. Kaum stand alles auf der Anrichte, glitt die Tür auf, und die beiden jüngeren Männer traten ein.

»Hey«, grüßte Barisch und hielt ihnen die zwei für sie bestimmten Biergläser entgegen.

»Hey, Alpha«, antwortete Eudo. Er warf seine mit kleinen blaugrünen Karos bedruckte Jacke in ein gelb leuchtendes Garderobenfeld, nahm sein Glas und hielt sofort auf die Couch zu.

Xanno nickte nur, während er sein Bier annahm. Er sprach nicht mehr viel, seit seine beiden Brüder den Auguren gefolgt waren.

Sayporaner, korrigierte Barisch sich innerlich. Nur wir haben sie Auguren genannt wegen ihrer seltsamen Prophezeiungen. Und nun ist alles in Erfüllung gegangen. Kein Wunder. Ihre Prophezeiungen waren nichts als die Ankündigung ihrer Pläne. Aber wer hätte ahnen können, dass sie uns nicht nur die Kinder und Jugendlichen, sondern auch das Sonnenlicht und unser ganzes Universum wegnehmen können?

Barisch presste die Lippen aufeinander. Man hatte die Menschheit mal wieder mit einer Serie von Tritten in die Weichteile bedacht.

Wenigstens bin ich im Gegensatz zu vielen am Leben und habe ein Dach über dem Kopf. Es geht mir gut, es geht mir gut, und darum werde ich umso mehr zurücktreten für all die, die es nicht mehr können.

»Sieht nett aus, das Häuschen«, rief Eudo von der Couch her. Er schob die Präzisionsarme der hologesteuerten Mikromecha-Werkbank weg, um die im Maßstab 1:40 gebaute Modellvilla in perseidischem Stil besser betrachten zu können.

»Wer plant denn so etwas?«

Barisch zuckte die Achseln. »Ein alter Auftrag. Keine Ahnung, was aus den Leuten geworden ist, aber man muss sich ja irgendwie beschäftigen. Ich mochte den Entwurf. Vielleicht finde ich neue Kunden dafür – egal ob fürs Haus oder nur das Modell.«

»Erstaunlich, dass es so viele Leute gibt, denen das virtuelle Modell nicht reicht.« Eudos schiefes Lächeln passte zu seiner immer etwas zur Seite geneigten Haltung, als lausche er.

»Die Aufträge kommen von überall her, teilweise von anderen Architekten. Es hat sich herumgesprochen, dass ich solche Sonderwünsche erfülle. Ich habe schon Leute erlebt, die das Modell hinterher ihren Kindern als Puppenhaus überlassen oder es in einen Barschrank umgewandelt haben. Mir war es immer gleich, solange der Galax klickte.«

»Irgendwann wird alles wieder so werden, wie es war«, versicherte Eudo und ließ sich auf die Couch fallen. »Wenn erst diese Invasoren weg sind ...«

... und die Sonne wieder scheint, unsere Freunde und Geschwister zurück sind und wir in unser angestammtes Universum zurückkehren ... oder wir alle tot sind ...

»Sicher.«

Barisch sah zur Außenfront. Xanno hatte die Scheiben auf transparent geschaltet und starrte hinaus. Der Untergang des Kunstsonnenpulks, der seit fast zwei Wochen die verdunkelte Sonne ersetzte, bescherte ihnen ein besonderes Schauspiel. Über dem Punkt, an dem die letzte Kunstsonne gerade versank, stand als Halo ein orangerotes Flammen am Himmel, das nach außen in ein dunkleres, blutiges Rot mit schwarzen Schlieren überging. Wolken bedeckten den größten Teil des Himmels, und am südlichen Horizont zuckte ein Blitz zu Boden. Seit die Klimakontrolle zur Energieeinsparung abgeschaltet worden war, häuften sich die Gewitter. Vermutlich stellten sie Geburtswehen einer Rückkehr zu einem natürlich geregelten Wetter dar.

Barisch bezweifelte allerdings, dass Xanno den so passend dramatischen Ausblick überhaupt wahrnahm. Der junge Mann starrte in den Himmel, als könnte sein Blick die Wolken durchdringen. Irgendwo dort oben leuchtete ein Stern, der seinen beiden Brüdern gegenwärtig als Sonne diente. Sie waren beide über das Transitparkett in eine unbekannte andere Welt gegangen, so wie auch Barischs Bruder.

Er fühlt sich ebenso schuldig wie ich. Hat ebenso das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Warum konnten sie einfach weggehen? Warum haben wir nicht besser aufgepasst? Wie konnten diese ...

»Guten Abend, Barisch Ghada.«

Barisch fuhr herum. Vor ihm stand eine hagere Frau in einem langen grünen Mantel, die einen halben Kopf größer war als er. Das kupferfarbene Haar trug sie kurz und an den Seiten ausrasiert. Mit einem schmalen Lächeln sah sie ihn an.

»Schnellere Reaktion, als ich erwartet hätte. Aus dir könnte noch etwas werden, Alpha.«

Unwillkürlich fasste Barisch an seinen vorgewölbten Bauch. »Eine fliegende Kanonenkugel zum Beispiel«, knurrte er. »Aber wenigstens muss ich nicht wie du aufpassen, nicht durch einen Spalt in den Wartungsschacht zu rutschen.«

Das Lächeln der Frau wurde breiter. »Es würde dem Wartungsschacht schlecht bekommen. – Bin ich die Letzte?«

»Nein. Wir warten noch auf Bhacc Nieslin. Xanno hat ihn eingeladen.«

»Und wen haben wir bisher hier?«

Barisch sah zu den anderen und machte eine Handbewegung in Richtung Couch.

»Das ist Eudo Misper. Ich habe ihn vorletztes Jahr beim Unisport kennengelernt. Er studiert Xenobiologie, hat den ersten Abschluss hinter sich und steuert schnell auf den zweiten zu. Eudo, das ist Sharoun Beffegor, eine alte Freundin der Familie. Ursprünglich die Fitnessberaterin meiner Eltern. Hat sich an mir allerdings die Zähne ausgebissen.«

Eudos wasserblaue Augen zeigten rege Neugier. »Du wirkst aber gar nicht zahnlos. Nett, dich kennenzulernen. Hier ist noch Platz auf der Couch.«

»Später vielleicht.« Ihr Blick glitt emotionslos über die Gestalt des Studenten, als schätze sie den Wert eines neuen Servobots ab.

»Und da beim Fenster ...«

»Ich bin Xanno.«

Vor Überraschung ließ Barisch beinahe sein Bier fallen, als der junge Mann sprach. Xanno hatte sich umgedreht und schob eine Strähne seines schulterlangen blonden Haares hinter das Ohr.

»Xanno Piegasch. Lemurische Paläo-Linguistik und Archäologie. Also eine Menge kramen in altem Staub. Ich wohne zwei Etagen tiefer. Alpha – Barisch – ist über mich gestolpert, als er wieder in die Wohnung seiner Eltern eingezogen ist.«

Wortwörtlich, erinnerte Barisch sich. Der Karton in seiner Hand hatte ihm die Sicht auf den wie ein Häufchen Elend im Gang kauernden Xanno versperrt. Der Karton mit allem darin, was er noch aus seiner von Meteoriten zerschlagenen Wohnung hatte retten können.

»Der alte Staub scheint dir aber nicht den Blick für die Realitäten vernebelt zu haben, wenn du hier bist. Willst du jetzt auf andere Art welchen aufwirbeln?«

Ein Hauch Röte überzog Xannos Wangen unter den leicht mandelförmigen braunen Augen. Er verschränkte die Arme hinter dem Körper und empfand auf einmal anscheinend höchstes Interesse an den eigenen Schuhspitzen.

»Ich will nur meine Brüder wieder zurück«, murmelte er. »Dafür tue ich alles, was notwendig ist.«

»Das Band da an deinem Arm – meinst du das ernst?«

Erst jetzt fiel Barisch das weiße Band auf, das Xanno um den rechten Oberarm gebunden hatte. Es verschwand fast ganz in den Falten seines gelben Hemdes. Barisch wusste so gut wie jeder andere im Raum, dass es das Zeichen des passiven Widerstandes war, der sich in den Tagen seit der Machtübernahme der Fremden gebildet hatte.

Passend, dass der Archäologe unter uns sich auf eine Strömung einlässt, die auf historischen Ereignissen aufbaut. Barisch rekapitulierte das Wissen aus dem schon ein Jahrzehnt zurückliegenden Geschichtsunterricht. 1304 NGZ, die Gruppe »Sanfter Rebell« um Roi Danton, die während der Besatzung Terras durch die Arkoniden diesen auf ihre Weise das Leben sauer gemacht hatte. Auf gewaltfreie Weise.

Aber dieses Mal reicht das nicht aus. Das hier sind keine Arkoniden, und das hier ist nicht mehr die Milchstraße. Sie haben uns die Sonne und die Kinder gestohlen, und Unzählige in der Zona Mexico umgebracht!

»Es war die einfachste Art, etwas zu tun«, antwortete Xanno. »Ich könnte weggehen wie so viele andere. Aber ...«

»Aber im Gegensatz zu ihnen weißt du, dass dieses Problem sich nicht von selbst auflösen wird.«

Xanno nickte.

»Freunde dich schon einmal mit dem Gedanken an, eine neue Farbe für dein Tuch zu finden.«

»Schätze, am passendsten wäre Rot«, überlegte Barisch. »Rot wie Blut.«

Eudo löste den Blick vom Trivid ab. »Ist Fagesy-Blut überhaupt rot?«

Sharoun lächelte schmal. »Wer weiß, vielleicht wirst du Gelegenheit bekommen, das herauszufinden.«

 

*